Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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II

Pierre und Herr von Guersaint schritten draußen langsam dahin mitten in der unaufhörlich wachsenden Flut der sonntäglich gekleideten Menge. Der Himmel war von einem leuchtenden Blau, die Sonne setzte die ganze Stadt in Flammen, und in der Luft lag eine festliche Fröhlichkeit, jene lebhafte Freude, die auf großen Jahrmärkten herrscht, die das Leben eines ganzen Volkes ins volle Licht setzen. Als sie die mit Menschen überfüllte Avenue de la Grotte hinuntergegangen waren, sahen sie sich an der Ecke des Plateau de la Merlasse aufgehalten, derart staute sich dort das Gewühl unter dem Stampfen der Pferde und dem Gerassel der den Weg versperrenden Wagen.

»Wir brauchen nicht zu eilen«, sagte Herr von Guersaint. »Meine Absicht ist, zur Place du Marcadal in der alten Stadt hinaufzusteigen. Denn das Mädchen im Hotel hat mir gesagt, dort droben wohne ein Barbier, dessen Bruder um billigen Preis Wagen vermietet. Macht es Ihnen nichts aus, mitzugehen?«

»Mir!« rief Pierre, »o nein, ich begleite Sie, wohin Sie wollen!«

»Gut! Und bei dieser Gelegenheit werde ich mich gleich rasieren lassen.«

Sie gelangten auf die Place du Rosaire und vor die Rasenplätze, die sich bis zum Gave ausdehnen, als eine Begegnung sie von neuem aufhielt. Frau Desagneaux und Raymonde von Jonquière befanden sich dort und plauderten lustig mit Gérard von Peyrelongue. Alle beide trugen helle Kleider, und ihre weißseidenen Sonnenschirme blinkten im hellen Sonnenschein.

»Nein, nein!« wiederholte Frau Desagneaux, »wir können Ihrem »Kasino« nicht einen Besuch abstatten, im Augenblick, da alle Ihre Kameraden beim Essen sind.«

Gérard beharrte auf seiner Bitte und wandte sich sehr artig hauptsächlich an Raymonde, deren etwas volles Gesicht heute von einem strahlenden Reiz der Gesundheit erhellt wurde.

»Aber ich versichere Sie, es ist sehr merkwürdig zu sehen. Man wird Sie vortrefflich empfangen, gnädiges Fräulein! Sie dürfen sich mir anvertrauen. Übrigens werden wir dort gewiß Herrn Berthaud finden, der entzückt sein wird, Sie zu empfangen.«

Raymonde lächelte, und ihre hellen Augen sagten, daß sie wohl möchte. Da näherten sich Pierre und Herr von Guersaint, um die Damen zu begrüßen. Sie wurden sogleich in Kenntnis gesetzt von dem, was man vorhatte. Das »Kasino« nannte man eine Art Restaurant, eine Speiseanstalt, die die Mitglieder von Notre-Dame de Salut, die Sänftenträger, die Pfleger der Grotte, der Weiher und Spitäler gegründet hatten, um gemeinschaftlich und billig zu essen. Da viele von ihnen nicht reich waren – die Pflegerschaft war aus Leuten aus allen Klassen zusammengesetzt –, waren sie übereingekommen, drei gute Mahlzeiten zu halten, indem jeder drei Frank für den Tag bezahlte. Es blieben ihnen sogar noch Speisen übrig, die sie an die Armen verteilten. Aber sie verwalteten alles selbst, kauften die Vorräte ein, stellten einen Koch und Kellner an und scheuten nicht vor der Notwendigkeit zurück, in Person mitzuhelfen, um das Lokal instand zu halten.

»Das muß sehr interessant sein!« rief Herr von Guersaint aus. »Vorwärts, das wollen wir sehen, wenn wir nicht zu viele sind.«

Daraufhin gab auch die kleine Frau Desagneaux ihre Zustimmung.

Wenn wir alle zusammen hingehen, bin ich ganz damit einverstanden. Ich fürchtete nur, es schickt sich nicht.«

Und weil sie lachte, fingen alle zu lachen an. Sie hatte den Arm des Herrn von Guersaint genommen, während Pierre links von ihr ging, von Sympathie für diese lustige kleine Frau ergriffen, die so lebhaft und reizend war mit ihren zerzausten blonden Haaren und ihrem milchweißen Teint.

Hinter ihnen kam Raymonde am Arm Gérards, den sie mit ernsthafter Stimme als ein sehr gescheites Mädchen, das das Aussehen der sorglosen Jugend hatte, unterhielt. Und da sie endlich den so sehr erträumten Gatten in ihrer Nähe hatte, nahm sie sich fest vor, ihn diesmal zu erobern. Sie berauschte ihn auch mit dem Duft eines schönen, gesunden Mädchens und setzte ihn zugleich durch ihr Verständnis für das Hauswesen und die Sparsamkeit in kleinen Dingen in Verwunderung. Denn sie ließ sich Erklärungen über ihre Einkäufe geben und bewies ihm, daß sie ihre Ausgaben noch hätte einschränken können:

»Sie müssen schrecklich müde sein?« fragte Herr von Guersaint Frau Desagneaux.

Diese widersprach und stieß einen Ruf aufrichtigen Zornes aus.

»O nein! Stellen Sie sich vor, die Müdigkeit hat mich gestern um Mitternacht im Hospital in einen Armsessel niedergeworfen. Und die Damen haben es über das Herz gebracht, mich schlafen zu lassen!«

Man fing aufs neue zu lachen an. Aber sie war noch außer sich. Darum fuhr sie fort:

»So habe ich wie ein Klotz bis zum Morgen geschlafen. Und dabei hatte ich geschworen, die Nacht durchzuwachen!«

Endlich gewann die Lachlust auch bei ihr wieder die Oberhand. Sie brach los und zeigte ihre schönen weißen Zähne.

»Bin ich nicht eine hübsche Krankenwärterin? Die arme Frau von Jonquière ist aufgeblieben. Ich habe eben versucht, sie zu verführen und sie mit uns zu nehmen. Aber sie hat es vorgezogen, einen Augenblick zu Bett zu gehen.«

Raymonde hatte zugehört und erhob jetzt ihre Stimme.

»O ja, die arme Mama! Sie konnte sich nicht mehr auf den Füßen halten. Ich habe sie gezwungen, sich ins Bett zu legen, und habe ihr gesagt, daß sie ruhig schlafen könnte und daß alles ganz gut gehen würde.«

Sie hatte für Gérard einen klaren, lachenden Blick. Er glaubte sogar einen unmerklichen Druck des frischen, runden Armes zu fühlen, als ob sie sich hätte glücklich darüber zeigen wollen, daß sie allein mit ihm war und daß sie miteinander, ohne von jemand gestört zu werden, ihre kleinen Angelegenheiten regeln konnten. Das entzückte ihn, und er setzte ihr auseinander, weshalb er diesen Tag nicht mit seinen Kameraden gegessen hatte. Eine abreisende befreundete Familie hatte ihn zu zehn Uhr eingeladen, und so war er erst nach der Abfahrt des Zehneinhalbuhrzuges wieder frei geworden.

»Die lustigen Kameraden!« fuhr er in seiner Rede fort. »Hören Sie sie?«

Man kam näher und vernahm in der Tat den lauten Lärm junger Leute. Er ging von einer Baumgruppe aus, unter der sich das alte Gebäude verbarg, in dem man das »Kasino« untergebracht hatte. Zuerst führte er sie in die Küche, einen weiten, sehr gut eingerichteten Raum, der von einem großen Herd und einem breiten Tisch eingenommen wurde. Er machte sie darauf aufmerksam, daß selbst der Koch, ein vollwangiger, heiterer Mann, das rote Kreuz auf seiner weißen Jacke trug, denn auch er nahm teil an der Pilgerfahrt. Dann stieß er eine Tür auf und geleitete sie in den gemeinschaftlichen Saal.

Es war ein langer Saal, in dem eine doppelte Reihe einfacher Tische aus Tannenholz aufgestellt war. Es waren keine anderen Möbel darin, nur noch ein Tisch für den Nachtisch und Wirtshausstühle mit Strohsitzen. Aber die mit Kalk getünchten Wände und der Backsteinfußboden von leuchtendem Rot, alles zeigte sich sauber in dieser beabsichtigten Einfachheit eines Klosterspeisesaals. Was den Eintretenden gleich beim Überschreiten der Schwelle fesselte, war die hier herrschende kindliche Fröhlichkeit. Ungefähr hundertundfünfzig Gäste jedes Alters saßen beim Essen, sie hatten guten Appetit, lachten und spendeten mit vollem Mund denen Beifall, die sangen. Eine außerordentliche Brüderlichkeit vereinigte diese Menschen, die von überall, aus allen Ständen, aus allen Vermögensverhältnissen, aus allen Provinzen hier zusammengekommen waren. Viele kannten sich nicht. Sie saßen hier jedes Jahr während dreier Tage Ellenbogen an Ellenbogen beisammen, lebten als Brüder, reisten wieder ab und wußten den Rest des Jahres nichts voneinander. Nichts war reizender, als sich in der Ausübung der Barmherzigkeit wiederzufinden und einige Tage gemeinschaftlicher großer Plage, aber auch heiterer Freude zu verleben, nicht zu rechnen, daß das ein wenig zum Vergnügungsplan großer, gleichzeitig sich selbst überlassener Jungen gehörte, die glücklich sind, wenn sie sich aufopfern und lachen dürfen. Und alles, die einfachen Speisen, der Stolz, sich selbst zu versorgen und das zu essen, was man selber gekauft und hatte kochen lassen, trug zur allgemeinen guten Laune bei.

»Sie sehen«, erklärte Gérard, »daß wir nicht traurig sind, trotz des harten Berufs, den wir ausüben. Die Pflegerschaft zählte mehr als dreihundert Mitglieder, aber es sind kaum hundertundfünfzig Tischgenossen anwesend. Denn man mußte zwei aufeinanderfolgende Mahlzeiten ansetzen, um den Dienst in der Grotte und den Spitälern zu erleichtern.«

Der Anblick der kleinen Gruppe von Besuchern, die auf der Schwelle stehengeblieben waren, schien aller Freude verdoppelt zu haben. Berthaud, der Vorsteher der Sänftenträger, der an einem Ende des Tisches saß, erhob sich höflich, um die Damen zu empfangen.

»Da riecht es ja sehr gut!« rief Frau Desagneaux in ihrer unbesonnenen Art. »Wollen Sie uns nicht einladen, morgen Ihre Küche zu versuchen?«

»Ach nein, keine Damen!« antwortete Berthaud lachend. »Aber wenn die Herren morgen mit uns speisen wollten, so würden sie uns das größte Vergnügen bereiten.«

Mit einem einzigen Blick hatte er das gute Einverständnis bemerkt, das zwischen Gérard und Raymonde herrschte. Er schien entzückt, er wünschte diese Heirat sehr für seinen Vetter. Darum lachte er über die Heiterkeit des jungen Mädchens, das ihn ausfragte.

»Ist das dort unten nicht der Marquis von Salmon-Roquebert, zwischen den beiden jungen Leuten, die man für Hausdiener halten möchte?«

»Vielleicht«, antwortete Berthaud, »es sind die Söhne eines kleinen Papierhändlers aus Tarbes. Und es ist der Marquis, Ihr Nachbar in der Rue de Lille, der Besitzer eines königlichen Palastes, einer der reichsten und edelsten Männer Frankreichs. Sehen Sie, wie er sich an unserem Hammelragout gütlich tut!«

So war es wirklich. Der Marquis mit seinen Millionen schien ganz glücklich, sich mit drei Frank im Tage zu beköstigen und demokratisch in Gesellschaft von kleinen Bürgern und sogar Arbeitern, die es nicht gewagt hätten, ihn auf der Straße zu grüßen, an einem Tisch zu sitzen. War diese dem Zufall anheimgegebene Tischordnung nicht die soziale Gemeinschaft in voller christlicher Liebe? Er hatte diesen Morgen um so größeren Hunger, als er mehr als sechzig, mit allen abscheulichen Leiden der traurigen Menschheit behaftete Kranke in den Weihern gebadet hatte. Und um ihn herum konnte er die Verwirklichung der evangelischen Gemeinschaft beobachten, aber ohne Zweifel war sie nur deshalb so reizend und so fröhlich, weil sie nicht länger als drei Tage dauerte.

Obwohl Herr von Guersaint vom Frühstück kam, war er doch neugierig, das Hammelragout zu kosten. Er erklärte es für vorzüglich. Während dieser Zeit hatte Pierre den Baron Suire, den Vorsteher der Pflegerschaft, entdeckt, der zwischen den zwei Tischreihen wichtig hin und her ging, als ob er es sich zur Aufgabe gemacht hätte, alles im Auge zu behalten, sogar die Art und Weise, wie sich sein Personal ernährte. Da erinnerte sich der Priester plötzlich des von Marie geäußerten, glühenden Wunsches, die Nacht vor der Grotte zuzubringen. Und er dachte, der Baron könnte ihm die gewünschte Erlaubnis bewilligen.

Dieser war bedenklich geworden.

»Gewiß«, antwortete er, »wir gestatten das bisweilen, aber es ist immer eine mißliche Sache! Sie versichern mir doch wenigstens, daß die junge Person nicht schwindsüchtig ist? Gut. Weil Sie sagen, daß sie so sehr darauf besteht, werde ich mit dem Pater Fourcade darüber reden, und ich will auch Frau von Jonquière davon in Kenntnis setzen, damit sie Ihnen gestattet, die Kranke fortzubringen.«

Im Grunde war er ein braver, guter Mann, trotzdem er sich das Ansehen gab, als wäre er unentbehrlich und mit der schwersten Verantwortlichkeit überhäuft. Er hielt die Besucher zurück und gab ihnen eine bis ins kleinste gehende Schilderung von der Organisation der Pfleger. Er führte die gemeinsam gesprochenen Gebete auf, dann sprach er von den täglich stattfindenden zwei Sitzungen des Verwaltungsrats, an denen alle Vorsteher des Dienstes sowie die. Patres und gewisse Geistliche teilnahmen. Man kommunizierte so oft als möglich. Es ergaben sich verwickelte Arbeiten, ein außerordentlicher Wechsel des Personals fand statt, kurz, es befand sich da eine ganze Welt, die zu regieren eine feste Hand beanspruchte. Er sprach wie ein General, der jedes Jahr einen großen Sieg über den Geist des Jahrhunderts davonträgt, und er schickte Berthaud zurück, um sein Frühstück zu beenden, da er die Damen bis in den kleinen, mit Sand bestreuten und von schönen Bäumen beschatteten Hof zurückführen wollte.

»Sehr interessant, sehr interessant!« wiederholte Frau Desagneaux. »Wir danken Ihnen sehr für Ihre Gefälligkeit!«

»Bitte sehr, bitte sehr, gnädige Frau. Ich bin entzückt, die Gelegenheit gehabt zu haben, Ihnen mein kleines Volk zu zeigen.« Gérard hatte Raymonde nicht verlassen. Herr von Guersaint und Pierre berieten sich bereits mit den Blicken, um sich endlich auf die Place du Marcadal zu begeben, als Frau Desagneaux sich erinnerte, daß eine Freundin sie beauftragt hatte, ihr eine Flasche Wasser von Lourdes zu übersenden. Sie fragte Gérard, wie sie das anzufangen hätte. Dieser begann zu lachen.

»Wollen Sie mich wiederum als Führer annehmen? Aber halt! Wenn diese Herren uns begleiten, werde ich Ihnen vor allem das Lager zeigen, in dem man die Flaschen füllt, zupfropft, in eine Schachtel legt und dann verschickt. Es ist sehr merkwürdig.«

Herr von Guersaint war sofort einverstanden. Die fünf Personen machten sich wieder auf den Weg. Frau Desagneaux ging zwischen dem Architekten und dem Priester, während Raymonde und Gérard hinter ihnen schritten. Die Menge wurde im brennenden Sonnenschein immer größer, die Place du Rosaire floß über von einem Strom gaffender Leute, wie am Tag einer öffentlichen Lustbarkeit.

Die Werkstätte befand sich übrigens da, zur linken Hand unter einem der Bogen. Sie bestand aus einer Reihe von drei sehr einfachen Sälen. Im ersten füllte man die Flaschen auf die gewöhnlichste Weise von der Welt. Ein kleines, grün angestrichenes, einem Bewässerungsfaß ziemlich ähnliches Zinkfäßchen kam voll Wasser aus der Grotte. Dann wurden die Flaschen aus weißem Glas ganz einfach Stück für Stück am Hahn gefüllt, ohne daß der Arbeiter im Kittel immer darüber wachte, daß kein Wasser überfloß. Eine kleine Pfütze entstand auf dem Boden. Die Flaschen trugen kein Etikett, nur die Bleikapsel über dem Pfropfen aus schönem Kork hatte eine die Herkunft anzeigende Inschrift, und man überstrich dieselbe mit einer Art Bleiweiß, ohne Zweifel der besseren Erhaltung wegen. Die zwei anderen Säle dienten zum Verpacken und waren eine wirkliche Packerwerkstätte mit den dazugehörigen Werktischen, Geräten und Haufen von Hobelspänen. Man verfertigte darin hauptsächlich Holzschachteln für eine oder zwei Flaschen, sehr hübsch gearbeitete Schachteln, in die die Flaschen auf ein Bett aus feinen Spanschnitzeln niedergelegt wurden. Das Ganze glich etwa den Versandgeschäften für Blumen in Nizza und für eingemachte Früchte in Grasse.

Gérard gab mit ruhiger und befriedigter Miene Erklärungen.

»Sie sehen«, sagte er »das Wasser kommt in der Tat aus der Grotte, was die im Umlauf befindlichen, übel angebrachten Spöttereien erledigt. Und es gibt da keine Verwicklungen, alles ist natürlich und geht am hellen Tage vor sich. Ich mache Sie überdies darauf aufmerksam, daß die Patres kein Wasser verkaufen, wie man sagt. So kostet eine hier gekaufte volle Flasche nur zwanzig Centimes. Wenn Sie sie versenden lassen, tritt natürlich die Verpackung und der Versand dazu. Sie wird Sie auf einen Frank und siebzig Centimes zu stehen kommen. Übrigens steht es Ihnen frei, alle Kannen und etwaigen sonstigen Gefäße, die es Ihnen mitzubringen beliebt, an der Quelle zu füllen.«

Pierre überlegte, daß der Gewinn der Patres nicht groß sein konnte. Denn sie verdienten fast nur an der Verpackung der Schachteln und an den Flaschen, von denen sie, tausendweise bezogen, das Stück sicher nicht zwanzig Centimes kostete. Aber Raymonde und Frau Desagneaux und auch Herr von Guersaint mit seiner lebhaften Einbildungskraft erlebten eine große Enttäuschung angesichts des kleinen grünen Fäßchens, der mit Bleiweiß verklebten Kapseln und der um die Werktische herum angehäuften Hobelspäne. Sie hatten sich wohl Zeremonien, einen gewissen Ritus vorgestellt, mit dem das wunderbare Wasser in die Flaschen gefüllt würde. Und Pierre dachte schließlich angesichts dieses gewöhnlichen Flaschenlagers und des alltäglichen Packraumes an die wirksame Kraft des Glaubens. Wenn eine von den Flaschen in weiter Ferne in das Zimmer eines Kranken kommt, wenn man sie auspackt und er auf die Knie fällt, wenn er sich beim Beschauen und Trinken dieses reinen Wassers begeistert, bis er die Heilung seines Leidens hervorruft, so bedarf es dazu wahrhaftig eines außerordentlichen Sprungs in das Gebiet der allmächtigen Illusion.

»Halt!« rief Gérard, als alle hinausgingen, »wollen Sie, ehe wir zur Verwaltung hinaufsteigen, sich nicht das Kerzenlager ansehen? Es sind nur zwei Schritte.«

Er wartete nicht einmal ihre Antwort ab, sondern zog sie mit sich auf die andere Seite der Place du Rosaire. Im Grunde wünschte er nur, Raymonde angenehm zu unterhalten. Das Schauspiel, das das Kerzenlager bot, war aber in Wirklichkeit noch weniger ergötzlich als die Packwerkstätten, aus denen sie herauskamen. Das Lager lag unter einem der Bogengänge rechter Hand und bestand aus einer Art Kirchengruft, einem tiefen Gewölbe, das Bauhölzer in weite Fächer abteilten. In diesen Fächern war der außerordentlichste Vorrat an Wachskerzen aufgeschichtet, die nach ihrer Größe ausgesucht und sortiert wurden. Hier schlief die Überfülle der der Grotte geschenkten Kerzen, die täglich so zahlreich gespendet wurden, daß besondere Wagen, in die die Pilger sie beim Gitter niederlegten, mehrmals in die Fächer entleert werden mußten. Dann fuhren sie zurück, um aufs neue gefüllt zu werden. Es war Grundsatz, daß jede geopferte Kerze zu den Füßen der Jungfrau verbrannt werden sollte. Aber es waren zu viele: zweihundert von allen Größen konnten Tag und Nacht flammen, aber niemals erschöpfte man diese schrecklichen Vorräte, deren Flut ohne Unterlaß stieg. Es ging das Gerücht, die Patres seien genötigt, wieder Wachs zu verkaufen. Gewisse Freunde der Grotte gestanden mit einer kleinen Beimischung von Stolz, der Ertrag aus den Kerzen sei hinreichend, um die ganze Geschichte im Gang zu erhalten.

Die Menge allein verblüffte Raymonde und Frau Desagneaux. Welche Masse von Kerzen! Namentlich die kleinen, die zehn Sous bis zu einem Frank kosteten, waren in unberechenbarer Zahl aufgestapelt. Herr von Guersaint, der Ziffern verlangte, hatte sich in eine Statistik vertieft, in der er sich verlor. Pierre betrachtete stumm diese Haufen Wachs, die dazu bestimmt waren, zur Ehre Gottes im hellen Sonnenschein zu verbrennen. Und obwohl ihm der Nutzen nicht das höchste war, obgleich er den Luxus der Freude und der trügerischen Vergnügungen begriff, die den Menschen in gleicher Weise wie das Brot ernähren, so konnte er sich doch des Gedankens an die Almosen nicht entschlagen, die man mit dem Geld für all dieses Wachs, das in Rauch aufging, hätte geben können.

»Und meine Flasche, die ich absenden soll?« fragte Frau Desagneaux.

»Wir gehen ins Büro«, antwortete Gérard. »Das ist eine Angelegenheit von fünf Minuten.«

Sie mußten die Place du Rosaire wieder überschreiten und die Treppe hinaufsteigen, die zur Basilika führte. Das Büro befand sich oben links, gerade am Eingang des Weges zum Kalvarienberge. Es war ein sehr ärmliches Gebäude, eine Hütte aus Brettern und Gips, vom Wind und Regen beschädigt. Sie trug eine hölzerne Tafel mit den Worten:

»Wegen Messen, Geschenken, Bruderschaften wende man sich hierher. Versand von Lourdeswasser. Bestellungen auf die ›Annalen Unserer Lieben Frau von Lourdes‹ werden hier entgegengenommen.«

Wie viele Millionen waren durch dies armselige Büro gegangen, das noch aus der Zeit zu stammen schien, da man den Grundstein zur benachbarten Basilika noch nicht gelegt hatte!

Alle waren begierig, es zu sehen, und traten ein. Aber sie sahen nur einen Verschlag mit einem Schiebefenster. Frau Desagneaux mußte sich bücken, um die Adresse ihrer Freundin aufzugeben. Und nachdem sie einen Frank und siebzig Centimes bezahlt hatte, streckte man ihr eine winzige Quittung heraus, ein Stück Papier, das der Güterbeamte auf den Bahnhöfen abnimmt.

Als sie wieder draußen waren, fuhr Gérard in seinen Erklärungen fort. Er zeigte auf ein weites Gebäude in zwei- oder dreihundert Meter Entfernung.

»Betrachten Sie dort die Wohnung der Patres.«

»Aber man sieht die Patres niemals«, bemerkte Pierre.

Der junge Mann stand einen Augenblick still, ohne zu antworten.

»Man sieht sie nie«, erwiderte er dann, »weil sie alles, die Grotte und das übrige, während der nationalen Pilgerfahrt an die Patres von Mariä Himmelfahrt abtreten.«

Pierre betrachtete das aus behauenen Steinen aufgeführte Wohnhaus, das einem festen Schloß glich. Die Fenster wären geschlossen, man hätte glauben können, das Haus sei verlassen. Und doch ging alles von ihm aus und alles führte wieder zu ihm zurück. Während Pierre die stumme, furchtbare Bewegung eines Rechens zu vernehmen glaubte, der sich über das ganze Tal ausstreckte, das herbeigelaufene Volk zusammenraffte und das Gold und Blut der Massen zu den Patres brachte, fuhr Gérard mit leiser Stimme fort:

»Und da! Sie sehen wohl, daß sie sich zeigen. Da kommt gerade der ehrwürdige Pater Rektor Capdebarthe.«

In der Tat ging ein Ordensmann vorüber, ein Bauer mit knorrigem Leib und einem dicken, wie mit Beilhieben zugehauenen Kopf. In seinen undurchsichtigen Augen war nichts zu lesen, und sein trügerisches Gesicht hatte eine fahle Gesichtsfarbe, einen roten und finsteren Widerschein des Erdbodens. Monsignore Laurence hatte seinerzeit eine wirklich kluge Wahl getroffen, als er die Einrichtung und den Betrieb der Grotte diesen zähen und rauhen Missionaren von Garaison anvertraute, die fast alle Söhne von Gebirgsbewohnern sind und die den Boden ihrer Heimat leidenschaftlich lieben.

Die fünf gingen dann über das Plateau de la Merlasse wieder hinab, den breiten Wall, der sich links um die Rampe schlingt und der in die Avenue de la Grotte mündet. Es war schon ein Uhr, aber das Frühstück dauerte in der ganzen, von Volk überströmenden Stadt noch fort. Die fünfzigtausend Pilger und Neugierigen hatten an den zur Verfügung stehenden Speisetischen noch nicht alle Platz nehmen und sich sättigen können. Pierre, der im Gasthof eine vollbesetzte Tafel verlassen und soeben gesehen hatte, wie wohlgemut sich die Pfleger am Tische des »Kasinos« zusammenzwängten, fand überall wieder Eßtische, nur Eßtische. Überall wurde gegessen und immer wieder gegessen. Hier, unter freiem Himmel, auf beiden Seiten der breiten Straße fiel das niedrige Volk über die Tische her, die man auf dem Bürgersteige gedeckt hatte, einfach aus langen, auf beiden Seiten mit Sitzbänken versehenen Brettern bestanden und von einem engen Leinwandzelt überdeckt wurden. Es wurden darin Fleischbrühe und Kaffee zu zwei Sous die Tasse ausgeschenkt. Die Brötchen in hohen Körben kosteten ebenfalls zwei Sous. An den Stäben aufgehängt, die das Zelt trugen, baumelten Stränge von dicken Würsten, Schinken und Fleischwürstchen. Einige dieser fliegenden Speisewirte brieten Kartoffeln in der Pfanne, andere richteten geringe Fleischsorten mit Zwiebeln zu. Ein beißender Rauch und starke Gerüche, mit dem Staub vermischt, den das fortwährende Getrampel der Spaziergänger aufwirbelte, stieg in die sonnenheiße Luft empor. Vor jedem Speisezelt bildeten die Kunden eine lange Reihe und warteten geduldig, die Tischgäste lösten einander ab und ließen sich auf den Bänken nieder, auf dem der Breite nach kaum zwei Suppenteller Platz fanden. Alle beeilten sich und aßen gierig infolge jener unersättlichen Eßlust, die sich nach großen moralischen Erschütterungen einstellt. Da kam das Tier wieder zum Vorschein, und es stopfte sich voll, nachdem es sich in unzähligen Gebeten erschöpft und im Himmel der Legenden die leiblichen Bedürfnisse vergessen hatte. Es entwickelte sich unter dem strahlenden Himmel dieses schönen Sonntags ein wahres Jahrmarktstreiben: man konnte die Gefräßigkeit eines Volkes in seiner Vergnügungslust und trotz der abscheulichen Krankheiten und der nur allzu selten eingetretenen Wunder die Freude am Leben beobachten.

»Was wollen Sie? Sie essen und unterhalten sich!« sagte Gérard, der die Betrachtungen der liebenswürdigen Gesellschaft erriet, die er spazierenführte.

»Ach!« murmelte Pierre, »das ist ganz gerecht und billig. Die armen Leute!«

Er war lebhaft berührt von der Rache, die die Natur nahm. Aber als sie sich wieder unten am Wall befanden, auf dem Weg zur Grotte, wurde er durch die Zudringlichkeit der Kerzen- und Blumenverkäuferinnen verletzt, die unter den Vorübergehenden herumschweiften und sie mit eroberungslustiger Ungeschliffenheit überfielen. Es waren meistens junge Frauen in bloßen Haaren oder mit einem Taschentuch auf dem Kopf, die sich überaus unverschämt zeigten. Die alten Weiber waren aber kaum bescheidener. Alle trugen ein Bündel Kerzen unter dem Arm, schwangen sie in der Luft herum und drückten ihre Ware den Spaziergängern in die Hände. »Mein Herr! Gnädige Frau! Kaufen Sie mir eine Kerze ab, das wird Ihnen Glück bringen!« Ein Herr, der von drei der Jüngsten angerempelt und umringt worden war, hätte fast die Schöße seines Rockes dabei eingebüßt.

Genau so war es mit den Blumensträußen, mit dicken, runden, kohlkopfähnlichen Sträußen, die roh mit Bindfaden umwickelt waren. »Einen Blumenstrauß, gnädige Frau! Einen Strauß für die Heilige Jungfrau!« Wenn die Dame entschlüpfte, hörte sie hinter sich grobe Schimpfreden. Der Handel, der schamlose Handel drängte sich an die Pilger bis zu den Zugängen zur Grotte. Nicht genug, daß er sich sieghaft in allen Krambuden einrichtete, von denen sich eine an die andere zwängte, so daß sie jede Straße in einen Basar verwandelten, er schwärmte auch auf dem Pflaster herum, versperrte den Weg und fuhr auf Handkarren seine Rosenkränze, Medaillen, Statuetten und Heiligenbilder von Ecke zu Ecke. Überall wurde gekauft, um von dieser heiligen Kirmes ein Andenken mitzubringen. Und als lebhafter Ton, als heitere Zugabe zu dieser Handelsgier und dem Gedränge von allem möglichen Kram kamen noch die durch die Menge brechenden Jungen, die das »Journal de la Grotte« ausriefen. Mit dünner, scharfer Stimme drang es zu aller Ohren: »Das Journal de la Grotte! Die Nummer von heute morgen! Zwei Sous, das Journal de la Grotte!«

Durch das Gedränge der ohne Unterlaß sich bewegenden Menschenflut wurde die Gesellschaft getrennt. Raymonde und Gérard blieben zurück. Beide hatten mit einer Miene lächelnder Vertraulichkeit wie verloren und allein unter diesen Leuten leise zu plaudern begonnen. Frau Desagneaux mußte stehenbleiben und sie rufen.

»Kommen Sie doch nach, wir werden uns sonst verlieren!«

Während sie sich näherten, hörte Pierre das junge Mädchen sagen:

»Mama ist so beschäftigt! Sprechen Sie mit ihr vor unserer Abreise!«

»Gern, Sie machen mich sehr glücklich!«

Die Heirat war also während dieses reizenden Spaziergangs zwischen den Wunderdingen von Lourdes errungen und fest beschlossen worden. Sie hatte gesiegt, und er war, als er sie heiter und verständig an seinem Arme fühlte, endlich zu einem Entschluß gekommen.

Herr von Guersaint jedoch hob die Augen und rief:

»Sind das da oben auf diesem Balkon nicht die reichen Leute, die mit uns gereist sind? Sie wissen doch, die junge, kranke Frau, die von ihrem Mann und ihrer Schwester begleitet war?«

Er sprach von den Dieulafays, und in der Tat standen sie auf dem Balkon der Wohnung, deren Fenster auf die Rasenplätze vor der Rosenkranzkirche hinausgingen. Sie hatten hier den ersten Stock inne, der mit allem Luxus ausgestattet war, den Lourdes hatte bieten können, mit Vorhängen und Teppichen, ganz abgesehen von dem Dienstpersonal, das man schon im voraus von Paris hierher geschickt hatte. Da es schönes Wetter war, hatte man die in einem großen Armsessel liegende Kranke an die freie Luft gerollt. Sie war in ein Hauskleid aus Spitzen gehüllt. Der Gatte, immer im tadellosen Gehrock, stand an ihrer rechten Seite, während die Schwester lächelnd zu ihrer Linken saß und sich manchmal zu ihr neigte, um zu plaudern. Sie erhielt jedoch keine Antwort.

»Wissen Sie!« erzählte die kleine Frau Desagneaux, »ich habe oft von Frau Jousseur sprechen hören. Sie ist die Frau eines Diplomaten, der sie trotz ihrer großen Schönheit verlassen hat. Man hat letztes Jahr viel von der Leidenschaft gesprochen, die sie für einen jungen, in der Pariser Welt wohlbekannten Oberst gefaßt hatte. Aber die katholischen Salons behaupten, sie habe diese Leidenschaft durch die Religion besiegt.«

Alle sahen nach oben und betrachteten sie.

»Sollte man glauben«, fuhr Frau Desagneaux fort, »daß ihre Schwester, die Kranke, die Sie dort sehen, ihr leibhaftiges Ebenbild war? Sie hatte sogar einen unendlich weicheren Zug von Güte und Fröhlichkeit in ihrem Gesicht. Betrachten Sie sie jetzt! Sie ist für die Welt gestorben, die Arme!«

Hierauf versicherte Raymonde, daß Frau Dieulafay, die seit kaum zwei Jahren verheiratet war, alle Juwelen ihres Brautschmuckes mitgebracht habe, um sie Unserer Lieben Frau von Lourdes zum Geschenk zu machen. Gérard bestätigte dies, indem er auf Einzelheiten einging. Am Morgen hatte man ihm gesagt, die Juwelen sollten dem Schatz der Basilika übergeben werden, ganz zu schweigen von einer goldenen, mit Edelsteinen eingefaßten Laterne und einer für die Armen bestimmten großen Geldsumme, die sie außerdem gestiftet hatte. Aber die Heilige Jungfrau hatte sich noch nicht rühren lassen, denn der Zustand der Kranken schien sich eher zu verschlimmern.

Von diesem Augenblick an sah Pierre nur noch diese junge Frau auf dem verschwenderisch ausgestatteten Balkon, dieses in seinem Reichtum so bedauernswerte Geschöpf, das über der fröhlichen Menge und über Lourdes thronte. Die zwei Wesen, die zärtlich über sie wachten, die Schwester, die ihre Erfolge in der Gesellschaft verlassen hatten, und der Gatte, der seine Bank vernachlässigte, deren Millionen nach allen vier Enden der Erde rollten, trugen durch ihre tadellose Erscheinung noch zum peinlichen Eindruck der Gruppe bei. Für Pierre waren nur diese drei Personen noch vorhanden, die so unendlich reich und so unendlich elend zugleich waren!

Aber die fünf Spaziergänger, die auf der Straße standen und sich selbst vergaßen, waren jeden Augenblick in Gefahr, zermalmt zu werden. Ohne Unterlaß kamen auf den breiten Wegen Fuhrwerke daher, hauptsächlich rasch fahrende, mit vier Pferden bespannte Landauer, deren Schellen lustig klingelten. Es waren Touristen, Besucher der Bäder von Pau, Barèges und Cauterets, die die Neugier hierherführte. Sie waren entzückt vom schönen Wetter und erfreut durch die lebhafte Fahrt über die Berge. Da sie sich nur einige Stunden aufzuhalten gedachten, liefen sie in ihren für den Landaufenthalt berechneten Kleidern nach der Grotte und in die Basilika. Dann reisten sie wieder ab, lachend und zufrieden damit, alles gesehen zu haben. Familien in heller Sommertracht, Gesellschaften von jungen Frauen mit aufsehenerregenden Sonnenschirmen schwärmten unter der grauen Masse der Pilger herum.

Auf einmal stieß Frau Desagneaux einen Schrei aus.

»Wie! Du bist es, Berta?«

Und sie umarmte eine große, reizende Brünette, die mit drei anderen, laut lachenden und sehr lebhaften jungen Damen aus einem Landauer stieg. Die Stimmen klangen durcheinander, leise Rufe ließen sich vernehmen, alles war entzückt, sich auf diese Weise getroffen zu haben.

»Wir sind in Cauterets, meine Liebe! Da haben wir den Plan gefaßt, alle vier hierherzufahren, wie alle Welt. Dein Mann ist wohl auch bei dir?«

Frau Desagneaux verneinte.

»Ach nein! Du weißt ja, er ist in Trouville. Am Donnerstag werde ich wieder mit ihm zusammenkommen.«

»Ja, ja, es ist wahr!« verbesserte sich die große Brünette, die gleichfalls das Aussehen einer liebenswürdigen, unbesonnenen Frau hatte. »Ich vergaß, du bist bei der Pilgerfahrt. Aber sag einmal –«

Wegen Raymonde, die lächelnd dabei stand, dämpfte sie ihre Stimme.

»Sag einmal... wie steht es mit dem Kleinen, das so lange ausbleibt. Du hast doch die Heilige Jungfrau darum gebeten?«

Frau Desagneaux errötete ein wenig und flüsterte ihr ins Ohr:

»Ja, allerdings, schon seit zwei Jahren, und ich versichere dich, es ärgert mich recht, daß sich so lange nichts zeigt. Aber dieses Mal glaube ich, ist es so weit. Lache nicht! Ich habe ganz bestimmt etwas gespürt, als ich diesen Morgen in der Grotte betete.«

Das Lachen gewann jedoch die Oberhand über sie selbst, alle schrien durcheinander und belustigten sich wie Närrinnen. Unmittelbar darauf erbot sie sich, ihnen als Führer zu dienen, sie versprach, ihnen alles in weniger als zwei Stunden zu zeigen.

»Kommen Sie doch mit uns, Raymonde! Ihre Mutter wird sich nicht beunruhigen.«

Sie tauschten Grüße mit Pierre und Herrn von Guersaint. Auch Gérard verabschiedete sich, er drückte zärtlich die Hand des jungen Mädchens, wie um sie sich endgültig zu verpflichten. Dann entfernten sich die Damen und schlugen die Richtung nach der Grotte ein. Es waren ihrer sechs, die sich glücklich fühlten, zu leben und den köstlichen Reiz ihrer Jugend mit sich herumtrugen.

Als Gérard ebenfalls weggegangen und zu seinem Dienst zurückgekehrt war, sagte Herr von Guersaint zu Pierre:

»Und unser Barbier auf der Place du Marcadale? Ich muß doch zu ihm gehen. Sie begleiten mich doch, nicht wahr?«

»Gewiß, wohin Sie wollen. Ich gehe mit Ihnen, weil Marie unser nicht bedarf.«

Sie gingen durch die Alleen von weiten Rasenplätzen, die sich vor der Rosenkranzkirche ausbreiten, und erreichten die neue Brücke. Dort kam es aufs neue zu einer Begegnung, sie trafen den Abbé des Hermoises, der zwei jungen Damen, die am Morgen von Tarbes angekommen waren, als Führer diente. Er ging in ihrer Mitte mit der Miene eines artigen Weltpriesters, zeigte und erklärte ihnen Lourdes und vermied es, sie auf dessen unangenehme Seiten aufmerksam zu machen, auf die Armen, die Kranken, den ganzen Geruch des tiefen menschlichen Elends, das an diesem schönen, sonnigen Tag beinahe verschwunden war.

Beim ersten Wort des Herrn von Guersaint, der ihm vom Mieten eines Wagens für den Ausflug nach Gavamie sprach, schien er zu befürchten, seine hübschen Begleiterinnen verlassen zu müssen. Denn er sagte eilig:

»Ganz wie Sie wollen! Bitte, besorgen Sie das, und Sie haben ganz recht, zum billigsten Preis. Denn ich werde zwei arme Geistliche mit mir nehmen. Wir werden dann vier sein. Lassen Sie mich nur heute abend in meinem Gasthof die Stunde der Abfahrt wissen!«

Dann schloß er sich wieder seinen Damen an und führte sie nach der Grotte, indem er die schattige Allee einschlug, die den Gave einsäumt, eine kühle und verschwiegene Allee für Liebende. Pierre hatte sich abseits gehalten, und sich müde an die Brustwehr der neuen Brücke gelehnt. Zum erstenmal fiel ihm die außerordentliche rasche Überhandnähme der Priester unter der Menschenmasse auf. Er betrachtete sie, wie sie überaus zahlreich über die Brücke gingen. Alle Spielarten kamen vorüber, die richtigen, mit der Pilgerfahrt eingetroffenen Priester, die man an ihrem sicheren Auftreten und ihren reinlichen Soutanen erkannte; die armen, zaghaften, oft schlecht gekleideten Landpfarrer, die kein Opfer gescheut hatten, um hierherzukommen, und bestürzt weggingen; und schließlich der Schwarm von unbeschäftigten Geistlichen, die nach Lourdes geraten waren, man wußte nicht woher, die hier unbedingte Freiheit genossen, und von denen man nicht einmal wußte, ob sie jeden Morgen ihre Messe lasen. Die Freiheit mußte ihnen so süß erscheinen, daß die größte Zahl sich gewiß wie der Abbé des Hermoises hier befand, in Ferien, jeder Pflicht ledig, und glücklich darüber, daß sie einmal wie einfache Menschen leben konnten. Vom jungen, wohlgepflegten, gut aussehenden Priester bis zum alten Geistlichen in schmutziger Soutane und in armseligen Schuhen war die ganze Gattung vertreten – dicke, fette, magere, große und kleine Priester, solche, die der Glaube herbeiführte und die vor Eifer brannten, solche, die einfach ihren Beruf als brave Leute ausübten, und solche, die Ränke schmiedeten und nur aus Weltklugheit anwesend waren. Pierre war überrascht von diesem Strom von Priestern, der vor ihm vorbeizog, jeder mit einem besonderen Anliegen, und die alle zur Grotte eilten, wie man zu einer Pflicht geht oder zu einem Gegenstand gläubiger Verehrung, zu einem Vergnügen oder zu einem Frondienst. Er bemerkte einen darunter, sehr klein, schmächtig und schwarz, von stark italienischem Aussehen, dessen leuchtende Augen den Plan von Lourdes aufzunehmen schienen, ähnlich den Spionen, die vor der Eroberung einer Teilung eintreffen. Er sah einen andern, übermäßig dick und mit väterlicher Miene, er keuchte, weil er zuviel gegessen hatte, blieb vor einer alten kranken Frau stehen und ließ ihr endlich hundert Sous in die Hand gleiten.

Herr von Guersaint trat wieder zu ihm.

»Wir haben nur noch über den Wall und durch die Rue Basse zu gehen«, sagte er.

Pierre begleitete ihn, ohne zu antworten. Auch er fühlte die Soutane auf seinen Schultern, und noch nie hatte er sie so leicht getragen wie in diesem Getümmel der Pilgerfahrt. Er lebte in einer Art Taumel und Bewußtlosigkeit und hoffte trotz des dumpfen Mißbehagens, das in ihm zunahm, immer auf den Blitzstrahl, der seinen Glauben wieder entzünden sollte! Die wachsende Flut der Priester verletzte ihn nicht mehr, er fand wieder ein brüderliches Gefühl für sie. Wie viele erfüllten gleich ihr rechtschaffen ihre Sendung als Führer und Tröster, ohne zu glauben!

Herr von Guersaint erhob seine Stimme.

»Sie wissen, daß diese Straße neu ist? Was man seit zwanzig Jahren für Häuser gebaut hat, das ist fast unglaublich. Es steht da wahrhaftig eine ganze neue Stadt.«

Rechts hinter den Häusern floß der Lapaca vorbei. Sie waren neugierig, wagten sich in eine kleine Straße hinein und stießen auf die alten, seltsamen Gebäude, die am Ufer des unbedeutenden Baches stehen. Die Räder mehrerer, alten Mühlen wurden hintereinander sichtbar. Man zeigte ihnen auch die, die Monsignore Laurence Bernadettes Eltern nach den Erscheinungen zum Geschenk gemacht hatte.

Der Marcadal-Platz war ein langer, dreieckiger Platz, der belebteste und prächtigste Platz der alten Stadt, auf dem sich die Kaffeehäuser, die Apotheken und schönen Kaufläden befanden. Unter allen stach ein hellgrün angemalter, mit hohen Spiegeln versehener Laden hervor, über dem sich ein breites Geschäftsschild zeigte, das in goldenen Buchstaben die Inschrift trug: »Cazaban, Barbier.«

Herr von Guersaint und Pierre waren eingetreten. In der Barbierstube war jedoch niemand anwesend, und sie mußten warten. Ein schreckliches Gabelgeklapper drang aus dem angrenzenden Raum, dem gewöhnlichen Speisezimmer, zu ihren Ohren. Dort befand sich ein allgemeiner Mittagstisch, und trotzdem es bereits zwei Uhr war, frühstückten noch über zwanzig Personen. Der Nachmittag schritt vor, und trotzdem wurde immer noch gegessen, von einem Ende der Stadt Lourdes bis zum andern. Auch Cazaban vermietete wie die anderen Hauseigentümer in der Stadt, ohne Rücksicht auf ihre religiösen Ansichten, während der Pilgerzeit das eigene Zimmer und verließ seinen Speisesaal, um sich in den Keller zu flüchten. Dort aß, schlief und wohnte er mit seiner Familie in einem Loch ohne Luft von drei Quadratmeter Fläche. Das kam von der Erwerbssucht: die Bevölkerung verschwand wie die einer eroberten Stadt, indem sie den Pilgern alles, sogar Betten der Frauen und Kinder preisgab, sie an ihre Tische setzte und sie aus ihren Tellern essen ließ.

»Ist niemand da?« rief Herr von Guersaint.

Endlich erschien ein kleiner Mann, das Urbild eines lebhaften und knorrigen Pyrenäenbewohners, mit langem Gesicht und hervorspringenden Backenknochen. Die Gesichtsfarbe war sonnenverbrannt und zeigte rote Flecke. Seine großen Augen standen nie still, und über seine ganze magere Gestalt lief ein Zittern, eine ununterbrochene Fülle von Gebärden und Worten.

»Ich werde den Herrn bedienen – rasieren, nicht wahr? Ich bitte um Verzeihung, aber mein Gehilfe ist ausgegangen, und ich befand mich bei meinen Gästen. Wenn der Herr sich niedersetzen will, werde ich ihn so schnell wie möglich bedienen.«

Und Cazaban geruhte, persönlich Hand anzulegen. Er schlug die Seife zu Schaum und zog das Rasiermesser ab. Er warf einen unruhigen Blick auf die Soutane Pierres, der, ohne ein Wort zu sagen, sich gesetzt und eine Zeitung geöffnet hatte.

Es traf ein kurzes Schweigen ein. Aber Cazaban litt darunter, und deshalb begann er, als er das Kinn seines Kunden einseifte, sofort wieder:

»Stellen Sie sich vor, mein Herr! Meine Gäste haben sich so lange in der Grotte verspätet, daß sie jetzt erst frühstücken. Hören Sie sie? Ich blieb aus Höflichkeit bei ihnen. Aber, nicht wahr? Ich muß auch meine Kunden besorgen. Man muß alle Welt zufriedenstellen.«

Herr von Guersaint, der ebenso gern plauderte, forschte ihn aus.

»Sie nehmen Pilger in Pension?«

»Oh, wir alle beherbergen welche«, antwortete der Barbier offenherzig. »Es ist so der Landesbrauch.«

»Und Sie begleiten sie in die Grotte?«

Sofort empörte sich Cazaban gegen diese Zumutung, und indem er das Rasiermesser in die Höhe hielt, sagte er sehr würdig:

»Nie, mein Herr, nie! Fünf Jahre sind es jetzt, daß ich nicht mehr in die neue Stadt, die sie bauen, hinuntergegangen bin.«

Er hielt sich noch zurück und betrachtete aufs neue die Soutane Pierres, der hinter der Zeitung verschwunden war. Auch der Anblick des auf Herrn von Guersaints Kleid befestigten roten Kreuzes machte ihn vorsichtig. Aber seine Zunge ging mit ihm durch.

»Hören Sie, mein Herr! Alle Meinungen sind frei. Ich achte die Ihrigen, aber ich, ich gebe nichts auf diese Gaukelspiele. Und ich habe auch nie ein Geheimnis daraus gemacht. Unter dem Kaiserreich, mein Herr, war ich schon republikanisch gesinnt und ein Freidenker. Wir waren zu jener Zeit nur vier in der Stadt. Ja! Ich mache mir eine Ehre daraus.«

Er hatte die linke Wange in Angriff genommen, er triumphierte. Von diesem Augenblick an floß ein unerschöpflicher Wortschwall über seine Lippen. Zuerst wiederholte er alle Beschuldigungen, die Majesté gegen die Väter der Grotte vorgebracht hatte: den Schacher mit religiösen Gegenständen, die unredliche Konkurrenz, die den Verkäufern von geweihten Artikeln, den Gasthofbesitzern und Zimmervermietern gemacht wurde. Ach, auch er hatte einen großen Haß auf die blauen Schwestern von der Unbefleckten Empfängnis! Denn sie hatten ihm zwei Mieterinnen weggenommen, zwei alte Damen, die jedes Jahr drei Wochen in Lourdes zubrachten. Und man fühlte aus seinen Reden heraus, wie sich langsam ein Groll in ihm angesammelt hatte, der heute zum Überfließen kam, der Groll der alten Stadt gegen die neue, gegen die auf der andern Seite des Schlosses schnell aufgeschossene reiche Stadt mit ihren Häusern, in denen alles Leben, alle Pracht und alles Geld zusammenströmte, so daß sie sich unaufhörlich vergrößerte und bereicherte, während die ältere, altväterische und arme Bergstadt mit den kleinen verlassenen Straßen, in denen Gras wuchs, ihren Todeskampf kämpfte. Trotzdem wurde der Wettstreit noch fortgesetzt. Die alte Stadt wollte nicht sterben, sie mühte sich ab, die undankbare jüngere Schwester zur Teilung zu zwingen, indem auch sie Pilger beherbergte und Läden eröffnete. Aber die Geschäfte bekamen nur dann Kunden, wenn sie sich nahe bei der Grotte befanden. Dieser ungleiche Kampf vergrößerte den Bruch und machte die obere und untere Stadt zu unversöhnlichen Feinden, die sich in fortwährenden Kämpfen verzehrten.

»Ach nein! Mich wird man gewiß nicht in ihrer Grotte sehen«, begann Cazaban wiederum wütend. »Sie sollen die Leute ruhig mit der Grotte zum Narren halten und sie in alle Brühen tunken! Eine solche Götzendienerei, ein so grober Aberglaube im neunzehnten Jahrhundert! Fragen Sie sie doch, ob sie seit zwanzig Jahren einen einzigen Kranken der Stadt geheilt hat! Und trotzdem haben wir genug Krüppel in unseren Straßen. Im Anfang waren es die hiesigen Leute, die aus den ersten Wundern Gewinn zogen. Aber es scheint, ihr Wunderwasser hat seit langer Zeit alle Kraft für uns verloren, wir sind zu nahe dabei, man muß weit her kommen, wenn man will, daß das Ding wirken soll! Wahrhaftig, es ist zu dumm. Sie werden mich nicht dazu bringen, da hinunterzugehen, nicht für hundert Frank!«

Die Unbeweglichkeit Pierres schien ihn zu reizen. Er ging gerade zur rechten Wange seines Kunden über und zog nun gegen die Patres von der Unbefleckten Empfängnis los, deren Geldsucht die einzige Ursache des Zwists war. Diese Patres wohnten auf ihrem eigenen Grund und Boden, denn sie hatten der Gemeinde die Plätze, auf denen sie bauen wollten, abgekauft. Aber sie hielten den mit der Stadt abgeschlossenen Vertrag nicht, denn sie hatten sich darin verpflichtet, jeden Handel und den Verkauf des Wassers und der geweihten Artikel zu unterlassen. In jedem Fall hätte man Prozesse gegen sie anstrengen können. Aber sie machten sich lustig darüber. Sie fühlten sich so stark, daß sie dem Kirchspiel kein einziges Geschenk mehr zugehen ließen, so daß alles gesammelte Geld sich anhäufte und nach der Grotte und der Basilika strömte.

Cazaban rief offenherzig:

»Wenn sie wenigstens entgegenkommend wären und einwilligten, daß es geteilt würde!«

Als dann Herr von Guersaint sich gewaschen und wieder gesetzt hatte, fuhr er fort:

»Und wenn ich Ihnen erst sagte, was sie aus unserer armen Stadt gemacht haben! Ich versichere Sie, vor vierzig Jahren waren die hiesigen Mädchen überaus sittsam. Ich erinnere mich, daß, wenn in meiner Jugendzeit ein junger Bursch einen Spaß haben wollte, es nur drei oder vier schamlose Weibsbilder hier gab, um ihn zu befriedigen. Ich sah, wie an den Markttagen die Männer vor ihren Türen Schlange standen. Mein Ehrenwort darauf! Aber die Zeiten haben sich geändert und die Sitten sind nicht mehr die nämlichen. Beinahe alle Töchter des Landes geben sich jetzt mit dem Verkauf der Kerzen und Blumensträuße ab. Haben Sie gesehen, wie sie die Vorübergehenden anhalten und ihnen ihre Ware mit Gewalt in die Hände drücken? Solche Weiber sind eine wahre Schande! Sie verdienen viel, gewöhnen sich an die Faulheit, tun im Winter nichts mehr und warten, bis die Zeit der großen Pilgerfahrten wiederkommt. Und ich versichere Sie, heute finden die herumschwärmenden Burschen Mädchen, die mit sich reden lassen! Nehmen Sie noch die nicht seßhafte, verdächtige Bevölkerung dazu, von der wir überfallen werden, sobald die ersten schönen Tage sich einstellen – die Kutscher, Händler, Marketender, ein ganzes Nomadenvolk, das von Roheit und Laster trieft, dann haben Sie die ehrbare neue Stadt, die sie uns beschert haben, mit den Menschenmassen, die zu ihrer Grotte und in ihre Basilika kommen!«

Pierre ließ ganz betroffen seine Zeitung fallen. Er hörte zu, und zum erstenmal standen in anschaulicher Wahrheit zwei Lourdes vor ihm, das alte Lourdes, ehrenhaft und fromm in seiner ruhigen Einsamkeit, und das neue Lourdes, verderbt und entartet durch die wachsende Flut von Fremden, die die Stadt im Eilschritt durchwanderten, durch die verhängnisvolle Fäulnis der Menschenanhäufung und die Ansteckung der bösen Beispiele. Welche Wendung, wenn man an die arglose Bernadette zurückdachte, die vor der ursprünglichen wilden Grotte kniete, und an den ganzen naiven Glauben und die reine Inbrunst der ersten Arbeiter am Werke! Hatten sie wirklich gewollt, daß das Land derart durch Gewinnsucht und Schmutz der Menschen vergiftet würde? Es genügte, daß die Völkermassen kamen, gleich brach die Pest aus!

Da Cazaban sah, daß Pierre zuhörte, machte er eine letzte drohende Gebärde, als ob er all diesen vergiftenden Aberglauben wegfegen wollte. Dann frisierte er Herrn von Guersaint schweigend.

»Bitte sehr, mein Herr!«

Erst jetzt sprach der Architekt über den Wagen. Anfangs entschuldigte sich der Barbier, er gab vor, seinen Bruder auf der Gemeindewiese besuchen zu müssen. Zuletzt willigte er ein, den Auftrag anzunehmen. Ein zweispänniger Landauer nach Gavarnie kostete fünfzig Frank. Da er aber ganz glücklich darüber war, daß er so viel hatte plaudern können, und weil es ihm schmeichelte, als ehrenhafter Mann behandelt zu werden, so ließ er ihn schließlich für vierzig Frank. So fielen, da man zu vieren war, auf jede Person zehn Frank. Man kam überein, nachts gegen zwei Uhr abzufahren, so daß man tags darauf, am Montag abend, rechtzeitig wieder zurück sein konnte.

»Der Wagen wird zur Zeit vor dem Hotel des Apparitions stehen«, wiederholte Cazaban nachdrücklich. »Sie können sich darauf verlassen.«

Da spitzte er die Ohren. Das Geklapper des hin und her geschobenen Tischgeräts im Nebenzimmer hörte nicht auf. Man aß dort noch immer, wie überall, in der gefräßigen Gier, die von einem Ende der Stadt bis zum andern wütete. Eine Stimme erhob sich, es wurde Brot verlangt.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Cazaban lebhaft, »meine Gäste rufen nach mir.«

Seine Hände waren noch schmierig vom Kamm, doch er stürzte fort. Als die Tür eine Sekunde lang offenblieb, bemerkte Pierre an den Wänden des Eßzimmers fromme Bilder, die ihn überraschten, namentlich eine Ansicht der Grotte. Ohne Zweifel hängte sie der Barbier nur während der Zeit der Pilgerfahrten auf, um seinen Gästen ein Vergnügen zu machen.

Es war gleich drei Uhr. Als Pierre und Herr von Guersaint wieder draußen waren, setzte sie der volle Glockenklang in Erstaunen, der in der Luft schwebte. Beim ersten Beginn des in der Basilika angestimmten Vesperläutens antwortete die Pfarrkirche, dann kamen die Klöster nacheinander und stimmten in das wachsende Geläute ein. Die kristallreine Glocke der Karmeliter mischte sich in den dumpfen Ton der Kirche von der Unbefleckten Empfängnis und die fröhlichen Glocken der Schwestern von Nevers und der Dominikanerinnen erklangen gleichzeitig. An den schönen Festtagen waren die Glocken vom Morgen bis zum Abend in Bewegung, und ihre Töne schwangen sich mit vollen Flügeln über die Dächer von Lourdes. Es gab nichts Heiteres als diesen hellen Sang des Erzes unter dem weiten blauen Himmel, über dieser gefräßigen Stadt, die endlich gefrühstückt hatte und sich nun zur Verdauung im Sonnenschein erging.


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