Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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IV

Pierre hatte sich Marie angeschlossen und ging neben ihr hinter dem Altarhimmel, gleichsam mit fortgerissen von dem Sturm der Begeisterung, der sie ihren Wagen im Triumph mitführen ließ. Aber es kam jede Minute zu so heftigen Zusammenstößen, daß er sicherlich gefallen wäre, wenn ihn nicht eine feste Hand gehalten hätte.

»Haben Sie keine Furcht, sondern geben Sie mir den Arm. Sie können sich sonst nicht aufrecht halten!«

Er drehte sich um und war überrascht, als er den Pater Massias erkannte, der den Pater Fourcade auf der Kanzel zurückgelassen hatte, um den Altarhimmel zu begleiten. Ein ungewöhnliches Fieber hielt ihn aufrecht und trieb ihn mit der Gewalt eines Felsblocks vorwärts, seine Augen glichen Feuerbränden, und sein mit Schweiß bedecktes Gesicht hatte einen schwärmerischen Ausdruck.

»Geben Sie doch acht! Reichen Sie mir den Arm!« sagte er zu Pierre.

Eine neue Menschenwoge hätte sie beinahe weggefegt. Pierre überließ sich daher diesem schrecklichen Mann, den er im Seminar zum Mitschüler gehabt hatte. Welch eigentümliche Begegnung, und wie gerne hätte auch er diesen ungestümen Glauben, diesen gläubigen Wahnsinn besessen, der den Pater keuchen und aus schluchzender Kehle die ununterbrochene glühende Bitte ausstoßen ließ:

»Herr Jesus, heile unsere Kranken! ... Herr Jesus, heile unsere Kranken!«

Hinter dem Altarhimmel war des Schreiens kein Ende. Dort befand sich stets ein Ausrufer, der den Auftrag hatte, die göttliche Güte nicht in Frieden zu lassen, wenn sie sich allzu langsam zeigte. Bisweilen hörte man ihn mit dumpfer, in Tränen zerfließender, ein anderes Mal mit durchdringender und herzzerreißender Stimme rufen. Die gebieterische Stimme des Paters brach endlich vor seelischer Erregung.

»Herr Jesus, heile unsere Kranken! ... Herr Jesus, heile unsere Kranken! ...«

Das Gerücht von der plötzlichen Genesung Maries, diesem Wunder, dessen glänzender Ruf bald die Christenheit erfüllen mußte, hatte sich schon von einem Ende der Stadt Lourdes bis zum andern ausgebreitet, versetzte das Volk in einen immer noch zunehmenden Taumel und rief eine Krise ansteckenden Wahnwitzes hervor, der das Volk gewaltsam in die Nähe des heiligen Sakraments drängte, das in der fessellosen Springflut des Menschenmeers hin und her schwankte. Jeder gab dem unbewußten Verlangen nach, es zu sehen und zu berühren, um geheilt und glücklich zu werden. Gott ging ja vorüber, und hier gab es nur Kranke mit brennender Lebensbegierde. Sie alle fühlten ein verheerendes Glücksbedürfnis, das sie so aufstachelte, daß ihre blutenden Herzen sich öffneten und ihre Hände sich gierig ausstreckten.

Deshalb hatte auch Berthaud, der vor dem Übermaß dieser Leidenschaft Furcht bekam, seine Leute begleitet. Er gab ihnen Befehle und wachte darüber, daß die Doppelkette der Sänftenträger zu beiden Seiten des Altarhimmels nicht durchbrochen wurde.

»Schließt eure Reihen!« rief er. »Immer noch fester! Und schlingt die Arme fest ineinander!«

Die jungen, aus den kräftigsten Leuten ausgesuchten Männer hatten eine schwere Aufgabe. Die Mauer, die sie bildeten, bog sich jeden Augenblick bei dem unwillkürlichen Anprall der Menge. Niemand glaubte zu drängen, und doch gab es ununterbrochene, mächtige Wogen, die von fern herkamen und alles zu verschlingen drohten.

Als der Altarhimmel sich mitten auf dem Platz der Rosenkranzkirche befand, glaubte der Abbé Judaine sicher, er würde nicht mehr weiter kommen. Auf dem weiten Platz hatten sich mehrere Gegenströme gebildet, die von allen Seiten gegen ihn anstürmten. Der Abbé mußte unter dem Himmel stehenbleiben, der hin und her geworfen wurde wie ein auf hoher See von einem plötzlichen Windstoß gefülltes Segel. Er hielt das heilige Sakrament mit beiden Händen ganz hoch, aus Furcht, ein letzter Stoß könnte es umwerfen. Denn er fühlte wohl, daß die goldene, sonnenglänzende Monstranz die leidenschaftliche Begierde dieses ganzen Volkes bildete: sie war der Gott, den man verlangte, um ihn zu küssen und in ihm aufzugehen, selbst auf die Gefahr hin, ihn zu vernichten. Der Geistliche stand unbeweglich und richtete unruhige Blicke auf Berthaud.

»Laßt niemand passieren!« schrie dieser den Sänftenträgern zu. »Niemand! Der Befehl ist ausdrücklich. Hört ihr?«

Aber da wurden flehende Stimmen laut: armselige Andächtige schluchzten mit ausgestreckten Händen und verzerrten Lippen in dem wahnsinnigen Wunsch, daß man sie näherkommen und zu des Priesters Füßen auf die Knie fallen lassen möge. Welche Gnade, zur Erde geworfen, niedergetreten zu werden und die ganze Prozession über sich hinschreiten zu lassen! Ein Kranker zeigte seine verdorrte Hand: er war überzeugt, sie würde wieder zu neuem Leben aufblühen, wenn man ihm die Monstranz anzurühren gestattete. Eine Stumme teilte mit starken Schultern wütende Stöße aus und drängte sich heran, um das Band ihrer Zunge durch einen Kuß zu lösen. Andere und immer wieder andere schrien, flehten und ballten endlich die Fäuste gegen die Grausamen, die den Leiden ihrer Leiber und dem Elend ihrer Seelen die Heilung verweigerten. Aber der Befehl galt für alle ohne Ausnahme, man fürchtete, es könnten sich sonst die schwersten Unfälle ereignen. »Niemand darf vor!« wiederholte Berthaud; »laßt niemand passieren!«

Es war jedoch eine Frau da, deren Anblick alle Herzen rührte. Armselig gekleidet, barhäuptig und mit tränennassem Gesicht hielt sie einen kleinen Knaben von etwa zehn Jahren auf den Armen, dessen beide Beine gelähmt waren und kraftlos herabhingen. Für ihre Schwäche bildete er eine zu schwere Bürde, aber sie schien sie nicht zu fühlen. Sie hatte ihren Knaben hergebracht und beschwor nun die Sänftenträger mit einem stumpfen Starrsinn, den weder Worte noch Stöße überwältigen konnten, sie durchzulassen.

Endlich rief der Abbé Judaine sehr bewegt sie durch ein Zeichen zu sich. Der barmherzigen Absicht des Geistlichen gehorchend traten, obgleich es gefährlich war, eine Lücke zu öffnen, zwei Sänftenträger auf die Seite. Die Frau stürzte hindurch und warf sich mit ihrer Last vor dem Priester nieder. Einen Augenblick stellte dieser den Fuß des heiligen Sakraments auf den Kopf des kleinen Knaben und die Mutter selbst heftete ihre gierigen Lippen darauf.

Als man sich dann wieder auf den Weg machte, blieb sie hinter dem Altarhimmel. Sie begleitete die Prozession keuchend, mit im Winde flatternden Haaren und taumelnd unter der allzu schweren Bürde, die ihr die Schultern zerbrach.

So überschritt man mit großer Mühe den Platz der Rosenkranzkirche. Dann begann der Aufstieg, der prächtige Aufstieg auf der monumentalen Rampe, während dessen Dauer hoch oben am Rande des Himmelsgewölbes, wo die Basilika ihre dünne Turmspitze in die Höhe streckte, sich harmonische Glockenstimmen aufschwangen, die den Triumph Unserer Lieben Frau von Lourdes in die Welt hinausläuteten. Diesen vergötternden Klängen, dieser hohen Pforte des Heiligtums, die der Unendlichkeit geöffnet schien, schwebte jetzt langsam der Altarhimmel entgegen über dem Meer der unermeßlichen Menge, das unten fortwährend über die Plätze und durch die Alleen brauste. Der in Blau und Silber gekleidete Schweizer war mit dem Prozessionskreuz schon auf der Höhe des Kuppelgewölbes der Rosenkranzkirche, auf dem weiten Vorplatz vor den Dachbauten. Die Abordnungen des Pilgerzuges breiteten sich dort aus, und die Fahnen aus Seide und Samt zeigten im Brand des Sonnenuntergangs ihre lebhaften Farben. Dann kamen die glänzenden Reihen des Klerus, die Priester in schneeweißen Chorhemden und goldenen Meßgewändern, einem Zug vorüberwandelnder Gestirne vergleichbar. Die Rauchfässer schwangen sich hin und her, und der Altarhimmel stieg, ohne daß man die Träger wahrnahm, immer höher, wie wenn eine geheimnisvolle Kraft, wie wenn unsichtbare Engel ihn zur weit geöffneten Himmelspforte emporgehoben hätten.

Gesänge waren angestimmt worden, denn jetzt, da man sich von der Menge losgemacht hatte, begehrten keine schreienden Stimmen mehr die Heilung der Kranken. Das Wunder hatte sich vollzogen, und man feierte es aus vollem Halse unter dem Geläute der in heiterer, zitternder Luft sich schwingenden Glocken.

»Magnificat anima mea Dominum.« Dieses schon in der Grotte gesungene Lob- und Danklied stieg von neuem aus den Herzen auf.

»Et exultavit spiritus meus in Deo salutari meo ...«

Marie beteiligte sich an diesem strahlenden Aufstieg, an dieser Himmelfahrt auf den riesigen Rampen der lichtglänzenden Basilika entgegen mit wachsender, überschäumender Fröhlichkeit. Je höher sie kam, desto mehr schien es ihr, daß sie kräftiger würde und fester auf ihren vom Tode auferstandenen Beinen stünde. Der Wagen, den sie hinter sich her zog, war gleichsam die dem bezwungenen Leiden abgenommene Beute, die Hölle, aus der die Heilige Jungfrau sie erlöst hatte. Und obwohl ihr die Deichsel die Hände zerrieb, wollte sie ihn doch mit hinaufführen, um ihn zu Füßen Gottes niederzusetzen. Kein Hindernis konnte sie aufhalten, sie lachte unter schweren Tränen, ihre Brust hob sich und ihr Gang war wie der eines Kriegers.

Pierre hielt sich am Arm des Paters Massias, der ihn nicht losgelassen hatte, in Maries Nähe. In seine übermäßige Gemütsbewegung verloren, war er unfähig, über etwas nachzudenken. Die mächtige Stimme seines Gefährten betäubte ihn.

»Desposuit potentes de sede et exaltavit humiles ...«

Auf der andern Seite zu seiner Rechten begleitete auch Berthaud, der jetzt beruhigt war, den Altarhimmel. Er hatte seinen Sänftenträgern den Befehl gegeben, die Kette aufzulösen und betrachtete nun mit entzückter Miene das Menschenmeer, das die Prozession soeben durchquert hatte. Je höher man emporstieg, desto weiter breiteten sich unten der Platz der Rosenkranzkirche sowie die Avenuen und Gartenalleen aus und entfalteten sich, schwarz von Menschen, vor den Blicken. Man sah aus der Vogelschau ein ganzes Volk, ein mehr und mehr sich ausbreitendes und in die Ferne rückendes Ameisengewimmel.

»Sehen Sie nur!« sagte er endlich zu Pierre. »Wie großartig! Wie schön! ... Nun, es wird kein schlechtes Jahr geben.«

Für ihn war Lourdes hauptsächlich ein Herd für die Propaganda, in der er seinen politischen Groll befriedigte, und er freute sich über die zahlreichen Pilgerzüge, von denen er annahm, sie wären der Regierung unangenehm. Ach, hätte man doch nur die Arbeiter aus den Städten herbringen und eine katholische Demokratie gründen können!

»Das letzte Jahr«, fuhr er fort, »hat man es kaum auf zweihunderttausend Pilger gebracht. Ich hoffe, diese Ziffer wird in diesem Jahr überschritten.«

Und obgleich er ein leidenschaftlicher Fanatiker war, fügte er mit der heiteren Miene eines Lebemannes hinzu:

»Noch eben, während man sich zerdrückte, war ich ganz zufrieden ... Ich sagte mir: Die Sache geht, die Sache geht vorwärts!«

Aber Pierre hörte nicht auf ihn, da er von der Großartigkeit des Schauspiels gefangen genommen war.

Die Menschenmassen, die sich immer weiter ausdehnten, je mehr man sich über sie erhob, und dieses herrliche Tal zu seinen Füßen, das ihm seine immer weiter sich ausdehnende Tiefe zeigte und den prunkvollen Horizont des Gebirges vor ihm aufrollte, erfüllten ihn mit bebender Bewunderung. Seine Verwirrung war darunter gewachsen: er suchte Maries Blick und zeigte mit einer umfassenden Gebärde auf den unermeßlichen Gesichtskreis. Diese Gebärde wurde von dem jungen Mädchen mißverstanden: in dem geistigen, schwärmerischen Zustand, in dem sie sich befand, sah sie nicht die körperliche Wirklichkeit des Schauspiels, sondern sie glaubte, er nähme die Erde zum Zeugen für die Gnadenwunder, mit denen die Heilige Jungfrau sie beide eben überhäuft hatte. Denn sie bildete sich ein, auch er hätte seinen Anteil am Wunder erhalten, auch er, der ihrem Herzen so nahe stand, hätte sich umfangen gefühlt vom Strahl der Gnade, der ihr Fleisch gesunden ließ und sie auf die Füße stellte. Sie wähnte, er sei durch die nämliche göttliche Kraft gehoben, seine Seele vom Zweifel gerettet und dem Glauben wiedergegeben worden. Wie hätte er bei ihrer außerordentlichen Heilung zugegen sein können, ohne überzeugt zu werden? Überdies hatte sie die vorige Nacht vor der Grotte gebetet! Im Übermaß ihrer Freude erblickte sie auch ihn in einer Verklärung, und glaubte, auch er weine und lache, weil er Gott wiedergegeben sei. Das steigerte ihr Glücksfieber noch mehr, sie zog ihren Wagen mit unermüdlicher Hand, sie hätte ihn meilen- und meilenweit ziehen mögen, immer höher hinauf bis auf unzugängliche Bergesgipfel, bis in den blendenden Glanz des Paradieses, als ob sie auf diesem dröhnenden Aufstieg ihr doppeltes Kreuz getragen hätte, ihre eigene Erlösung und die Erlösung ihres Freundes.

»Pierre!« stammelte sie, »Pierre, wie gut ist es doch, daß uns dies große Glück zusammen, daß es uns miteinander zuteil wurde! Ich hatte es so inbrünstig von ihr begehrt und sie war gnädig. Sie hat auch Sie gerettet, indem sie mich rettete! ... Oh, ich habe gefühlt, wie sich Ihre Seele in meine Seele ergoß. Sagen Sie mir, daß unsere gegenseitigen Gebete erhört worden sind, daß ich Ihr Heil erwirkte, wie Sie mein Heil bewirkt haben!«

Er begriff ihren Irrtum und zitterte.

»Wenn Sie wüßten«, fuhr sie fort, »wie zum Tode betrübt ich wäre, wenn ich so ganz allein zum Licht aufsteigen müßte. Oh, wie schmerzlich wäre es mir, ohne Sie erwählt zu sein, ohne Sie da hinauf zu gehen! Aber mit Ihnen, Pierre, ist es ein Entzücken! ... Gemeinsam gerettet und glücklich für immer! Ich fühle die Kraft in mir, glücklich zu werden. Oh, ich habe Kräfte, um die Welt in die Höhe zu heben.«

Er mußte ihr doch eine Antwort geben, und so log er, weil er sich gegen den Gedanken auflehnte, diese erhabene reine Glückseligkeit zu trüben und zu verderben.

»Ja, ja! Seien Sie glücklich, Marie! Denn ich selbst bin sehr glücklich, und alle unsere Schmerzen sind ausgeglichen.«

Aber durch sein Wesen ging ein tiefer Riß, als ob er plötzlich gefühlt hätte, wie ein roher Beilhieb sie voneinander trennte. In ihren bisherigen gemeinsamen Leiden war sie die kleine Freundin seiner Kindheit geblieben, das erste harmlos begehrte Weib, von dem er wußte, daß er stets ihm gehörte, weil es niemandem angehören konnte. Nun war sie geheilt, er blieb also allein in seiner Hölle und mußte sich sagen, daß sie nie mehr ihm gehören würde. Dieser plötzlich auftauchende Gedanke bestürzte ihn derart, daß er die Augen abwandte. Er war in Verzweiflung darüber, daß das wunderbare Glück, über das sie frohlockte, ihm Leid bereitete.

Der Gesang setzte sich fort, und der Pater Massias stieß, ohne etwas zu hören oder zu sehen, ganz dem glühenden Dankgefühle gegen Gott hingegeben, mit donnernder Stimme den letzten Vers aus:

»Sicut locutus est ad patres nostros et Abraham semini in saecula.«

Noch eine Rampe war zu erklimmen und noch ein Kraftaufwand zu machen, um über die glatten breiten Steinfliesen hin die Höhe des steilen Weges zu erreichen! Die Prozession stieg immerzu aufwärts und vollendete den Aufstieg bei vollem, hellen Tageslicht. Es kam die letzte Biegung und die Räder des Wagens rasselten gegen die Graniteinfassung. Immer höher, immer höher rollte er, er stieß an den Rand des Himmels.

Da erschien auf einmal der Altarhimmel auf dem Gipfel der riesenhaften Rampen, dann vor der Tür der Basilika, und schließlich auf dem steinernen Balkon, der das weite freie Feld beherrschte. Der Abbé Judaine trat hinaus und hielt das heilige Sakrament mit beiden Händen in die Luft. In seiner Nähe hatte Marie ihren Wagen nach vorn gezogen, ihr Herz schlug von der Anstrengung des Marsches und ihr Gesicht flammte im Gold der aufgelösten Haare. Hinten stand der Klerus in Reihen, die Priester in schneeweißen Chorhemden und glänzenden Meßgewändern, während die Kirchenfahnen flatterten wie die Banner und Wimpel, die die weißen Balkongeländer schmückten.

Es war eine feierliche Minute.

Man konnte sich nichts Großartigeres denken als die Aussicht, die man von da oben genoß. Zuerst sah man unten die Menge, das düster flutende Menschenmeer. In der sich unaufhörlich bewegenden, nur auf Augenblicke stillstehenden, wogenden See erkannte man als kleine bleiche Flecken die in Erwartung der Segenserteilung zur Basilika erhobenen Gesichter. So weit der Blick reichte, vom Platz der Rosenkranzkirche bis zum Gave, über die Alleen und Avenuen hin, über alle Kreuzwege, bis zur fernen alten Stadt hin, überall die kleinen blassen, unzähligen Gesichter, die alle mit weit aufgesperrtem Mund die Augen auf den hochheiligen Fleck Erde richteten, über dem sich bald der Himmel öffnen sollte. Dann tauchte das unermeßliche Rundtheater der Anhöhen, Hügel und Berge empor. Es erhob sich von allen Seiten zu zahllosen Gipfeln, die sich in der blauen Luft verloren. Im Norden, jenseits des Gebirgsbachs und auf den ersten Abhängen sah man unter den Bäumen die zahlreichen Klöster der Karmeliter, Assomptonisten, Dominikanerinnen und der Schwestern von Nevers. Der Brand der untergehenden Sonne vergoldete sie mit rosigem Widerschein. Danach bauten sich bewaldete Bergmassen übereinander auf, erreichten die Höhen des Buala, den der Julospaß überragte, der selbst wieder vom Miramont beherrscht wurde. Im Süden öffneten sich andere tiefe Täler und enge Bergschluchten, zwischen Haufen von riesigen Felsen, deren Fuß schon in bläulichem Schatten badete, während ihre Spitzen noch im lächelnden Licht der Abschied nehmenden Sonne funkelten. Auf dieser Seite zeigten sich auch die purpurgefärbten Hügel von Visens, die einem Korallenvorgebirge glichen, das den schlummernden See des Äthers mit einer durchsichtigen Schranke aus Saphir absperrte. Aber geradeaus nach Osten erweiterte sich noch der Horizont, man blickte dort über die Kreuz- und Querwege der sieben Täler selbst hinweg. Das Schloß, das sie ehedem behütet hatte, stand noch auf dem vom Gave bespülten Felsen mit seinem Wartturm und den hohen Mauern, die ihm das Ansehen einer grimmigen altertümlichen Festung verliehen. Diesseits lag die neue Stadt heiter inmitten ihrer Gärten hingebettet, eine üppige, rasch sich vermehrende Anhäufung von weißen Fassaden, großen Gasthöfen, zum Vermieten bestimmten möblierten Häusern und schönen Kaufläden. Die Schaufenster wurden jetzt erleuchtet und glänzten wie Kohlenglut, während sich hinter dem Schloß das alte Lourdes mit seinem Gewirr farbloser Dächer in staubigem roten Licht zur Schau stellte. Zu dieser späten Stunde erschienen der Kleine und der Große Gers, diese zwei ungeheuren, aus nackten, stellenweise mit glattem Gras bedeckten Felsen bestehenden Bergrücken, hinter denen das Tagesgestirn bei seinem Untergang mit königlicher Pracht verschwand, nur noch wie ein verschwommener veilchenblauer Hintergrund, wie zwei am Rande des Horizonts zugezogene Vorhänge.

Angesichts dieser Unermeßlichkeit hob der Abbé Judaine das heilige Sakrament mit beiden Händen höher und höher. Langsam wendete er es nach allen Seiten des Horizonts und ließ es am ganzen Himmel ein großes Kreuzzeichen beschreiben. Links begrüßte es die Klöster, die Höhenzüge des Buala, den Julospaß und den Miramont, rechts die großen Einschnitte der tiefliegenden dunklen Täler und die in Purpur getauchten Hügel von Visens, geradeaus die zwei Städte, das vom Gave bespülte Schloß, sowie den schon eingeschlummerten Kleinen und Großen Gers. Es begrüßte die Wälder, die Waldbäche, die Berge, die unbestimmten Umrisse der fernen Bergspitzen und die ganze innerhalb dieses Rundblicks sichtbare Erde. Friede der Erde, Hoffnung und Trost den Menschen!

Unten war die Menge erbebt, als das große Kreuzzeichen gemacht wurde, das sie alle umfaßte. Ein göttlicher Odem schien zu wehen, der die wogende See der kleinen bleichen Gesichter, die zahlreich waren wie die Wellen eines Ozeans, in Bewegung setzte. Ein Murmeln der Anbetung stieg auf, und jeder Mund öffnete sich, um die Ehre Gottes zu verkünden, als die von der untergehenden Sonne voll getroffene Monstranz abermals wie eine zweite Sonne, wie eine Sonne aus reinem Gold erschien und das Zeichen des Kreuzes wie in Flammenzügen am Rande des Himmels beschrieb.

Die Fahnen, der Klerus und der Abbé Judaine unter dem Baldachin traten bereits in die Basilika zurück, als Marie im Augenblick, da auch sie, ohne die Deichsel ihres Wagens loszulassen, dort eintrat, von zwei Damen angehalten wurde, die sie weinend umarmten. Frau von Jonquière und ihre Tochter waren es, die, um der Segenserteilung beizuwohnen, den Weg heraufgemacht und das Wunder erfahren hatten.

»Ach, mein liebes Kind, welche Freude!« rief die Pflegedame, »und wie stolz bin ich, Sie in meinem Saale zu haben. Für uns alle ist es eine unverhoffte Gnade, daß die Heilige Jungfrau Sie auserwählt hat.«

Das junge Mädchen hatte eine Hand der durch das Wunder Geheilten zwischen ihren Händen behalten.

»Gestatten Sie mir, Sie meine Freundin zu nennen? Ich habe Sie so sehr bedauert und bin nun so erfreut, Sie gehen und schon kräftig und so schön zu sehen. Lassen Sie sich noch einmal von mir umarmen. Das wird mir Glück bringen.«

Marie stammelte entzückt:

»Dank, tausend Dank ... von ganzem Herzen! Ich bin so glücklich, so glücklich!«

»Oh, wir verlassen Sie nicht mehr!« nahm Frau von Jonquière wieder das Wort. »Hörst du, Raymonde? Wir wollen sie begleiten und uns mit ihr auf die Knie werfen! Und nach der Zeremonie werden wir sie wieder zurückführen.«

In der Tat schlossen sich die Damen dem Zug an und gingen an Pierres und des Paters Massias Seite hinter dem Altarhimmel bis in die Mitte des Chors, zwischen den Reihen der schon von den Abordnungen besetzten Stühle. Auf beiden Seiten des Hochaltars wurden nur die Fahnen zugelassen. Auch Marie wagte sich weiter vor und blieb mit ihrem kleinen Wagen, dessen starke Räder auf den Steinfliesen rasselten, erst unten an den Altarstufen stehen. Sie hatte den armseligen Wagen, in dem sie so viele Schmerzen erduldet hatte, dorthin gebracht, wohin der heilige Wahn ihrer Sehnsucht ihn zu ziehen geträumt hatte: in den Glanz des Hauses Gottes, damit er dort stünde als ein Beweis für das Wunder. Gleich bei ihrem Eintritt stimmte die Orgel ein Triumphlied an, in das das beglückte Volk mit donnerndem Jubel einfiel. Daraus löste sich bald eine himmlische Engelsstimme los, voll heller Freude und rein wie Kristall. Der Abbé Judaine hatte soeben das heilige Sakrament auf den Altar niedergesetzt, die Menge füllte das Schiff der Kirche ganz aus, jeder nahm seinen Platz ein, man drängte sich zusammen und wartete auf den Anfang der Zeremonie. Marie war zwischen Frau von Jonquière und Raymonde, deren Augen feucht vor Rührung waren, sogleich auf die Knie gesunken. Auch der Pater Massias, der sich nach der ungewöhnlichen nervösen Spannung, die ihn seit dem Verlassen der Grotte aufrechterhalten hatte, am Ende seiner Kraft befand, brach in Schluchzen aus, warf sich zu Boden und begrub das Gesicht in den Händen. Hinter ihnen standen Pierre und Berthaud, der immer noch die Aufsicht leitete und selbst inmitten der heftigsten Gemütsbewegungen mit spähenden Augen über die gute Ordnung wachte.

Betäubt durch das Orgelspiel, hob Pierre den Kopf und betrachtete in seiner Unruhe das Innere der Basilika. Das Kirchenschiff war eng, hoch und mit lebhaften Farben bunt bemalt. Zahlreiche Fenster überfluteten es mit Licht. Seitenschiffe waren kaum vorhanden, nur ganz verkümmert erschienen sie in einem einfachen schmalen Gang, der zwischen den Pfeilerbündeln und Seitenaltären hinführte. Dieser Umstand schien jedoch den Aufschwung des Schiffes, das Emporstreben des Steins zu dünnen Linien von kindlicher Feinheit noch zu erhöhen. Ein ganz vergoldetes, gleich einem Spitzengewebe durchsichtiges Gitter schloß den Chor ab, in dem der mit Schnitzwerk bedeckte Hochaltar aus weißem Marmor seine jungfräulich reine Pracht entfaltete. Zum Erstaunen war aber besonders der außergewöhnliche Schmuck, der die ganze Kirche zu einem von Stickereien, Juwelierwaren, Fahnen und Votivtafeln überfließenden Schaukasten umwandelte. Ein ganzer Strom von Opfergaben und Geschenken war hierher geflossen und hatte seine Flut an den Wänden abgelagert, die gleichsam von Gold, Silber, Samt und Seide rieselten. Die Kirche stellte ein von der Dankbarkeit unaufhörlich entflammtes Heiligtum dar, sie sang durch den Mund ihrer tausend Reichtümer ein ununterbrochenes Glaubens- und Danklied.

Namentlich an Fahnen war Überfluß vorhanden, sie vermehrten sich zahllos wie die Blätter an den Bäumen. Etwa dreißig waren am Gewölbe aufgehängt. Andere, die oben den ganzen Umbau ausschmückten, erschienen wie von kleinen Säulen eingerahmte Gemälde. Sie breiteten sich längs der Mauern aus, wehten im Hintergrund der Kapellen und umgaben den Chor mit einem Himmel aus Seide, Atlas und Samt. Man zählte sie nach Hunderten, der Blick ermüdete in ihrer Bewunderung. Viele waren berühmt, denn sie waren so kunstvoll gearbeitet, daß sich bedeutende Stickerinnen bemühten, sie zu Gesicht zu bekommen. Dazu gehörte die Unserer Lieben Frau von Fourvières mit dem Stadtwappen von Lyon, die elsässische aus schwarzem Samt mit Goldstickerei, die aus Lothringen, auf der man eine Jungfrau sieht, die mit ihrem Mantel zwei Kinder bedeckt, und die aus der Bretagne, blau und weiß, mit einem blutigen heiligen Herzen inmitten eines Strahlenkranzes. Alle Kaiserreiche, alle Königreiche der Erde fanden sich hier vertreten. Die fernsten Länder, Kanada, Brasilien, Chile, Haiti hatten ihre Banner aufgehängt, mit denen sie der Königin des Himmels fromme Ehrfurcht erwiesen hatten.

Neben den Fahnen war noch ein Wunderding zu sehen, nämlich die Tausende und aber Tausende von goldenen und silbernen, überall angehefteten Herzen, die an den Wänden leuchteten wie die Sterne am Firmament. Sie bildeten dort mystische Rosen, Blumengewinde und Blütenkränze, die an den Säulen emporstiegen, die Fenster einfaßten und die tiefen Kapellen wie Sternbilder erhellten. Man hatte den sinnreichen Gedanken gehabt, mit diesen Herzen die verschiedenen Worte, die die Heilige Jungfrau an Bernadette gerichtet, in großen Buchstaben unter die Kuppel zu schreiben. So zog sich ein langer Fries um das Kirchenschiff herum, der die Freude der kindlichen Seelen ausmachte, die sich angelegentlich mit dem Buchstabieren der Worte beschäftigten. Die unendliche Zahl dieser stets sich vermehrenden lodernden Wunderherzen wirkte erdrückend, wenn man an alle die vor Dankbarkeit zitternden Hände dachte, die sie zum Geschenk gegeben hatten. Übrigens traten viele Votivbilder, und darunter die unerwartetsten, auch als Beigaben zum Kirchenschmuck auf. Unter Glas und Rahmen sah man Blumensträuße von Neuvermählten, Ehrenkreuze, Juwelen, Photographien, Rosenkränze und sogar Sporen. Es waren Offiziersachselstücke und auch Degen dabei. Unter diesen befand sich ein prächtiger Säbel, der als Andenken an eine wunderbare Bekehrung zurückgelassen worden war.

Aber noch andere Reichtümer strahlten auf allen Seiten: Marmorstatuen, mit Diamanten geschmückte Diademe, ein wunderschöner, von den Damen von ganz Frankreich gestickter Teppich, und eine goldene, mit Email verzierte Palme, die der Papst gesandt hatte. Auch die von den Gewölben herabhängenden, teilweise massiv goldenen Lampen von feinster Arbeit waren Weihgeschenke. Man konnte sie nicht mehr zählen, sie schimmerten im Schiff der Kirche gleich kostbaren Gestirnen. Vor dem Tabernakel hing die von Irland gespendete Lampe, ein Meisterwerk der Ziselierkunst. Wieder andere, wie die von Valence, Lille, Macao und die aus dem Innern von China geschickten waren wirkliche Kleinodien und funkelten von edeln Steinen. Welch ein Glanz erstrahlte, wenn bei den großen abendlichen Zeremonien die zwanzig Kronleuchter des Chors angezündet waren, wenn Hunderte von Lampen und Hunderte von Kerzen gleichzeitig brannten! Dann loderte die ganze Kirche, und alle kleinen Flammen des erleuchteten Gotteshauses spiegelten ihre Lichter in den tausend Feuern der Tausende von goldenen und silbernen Herzen wider. Dann entstand ein wunderbares Glühen, die Wände rieselten von lebhaft sprühenden Funken, man trat ein in die blendende Herrlichkeit des Paradieses, und dazwischen entrollten die unzähligen Fahnen auf allen Seiten ihre Seide, ihren Atlas und Samt, bestickt mit blutenden Herzen, sieghaften Heiligen und Bildern der Jungfrau, deren gütiges Lächeln Wunder wirkte.

Ach, wie viele Zeremonien hatten in dieser Basilika schon ihre Pracht entfaltet! Nie hörten Gottesdienst, Gebet und Gesänge darin auf. Von einem Ende des Jahres zum andern brannte der Weihrauch, dröhnte die Orgel und beteten kniende Menschenmassen aus ganzer Seele. Ununterbrochen wurden Messen gelesen, dann kamen die Vesper, die Predigten, die Segensspendungen, ferner die sich täglich wiederholenden Andachtsübungen und die mit einer Pracht sondergleichen gefeierten Feste. Die geringsten Jahrestage wurden zum Vorwand für hochheilige Feierlichkeiten. Jeder Pilgerzug sollte seinen Teil an dem blendenden Schauspiel erhalten. Diese demütigen Dulder, die aus weiter Ferne kamen, mußte man doch getröstet und entzückt in die Heimat entlassen, wenn sie die Vision des halbgeöffneten Himmels mit sich nahmen. Sie hatten die Herrlichkeit Gottes geschaut und würden die Erinnerung daran in ewiger Ekstase bewahren. In der Tiefe armseliger, nackter Kammern und vor elenden Krankenbetten tauchte in der ganzen Christenheit die Basilika mit ihren flammenden Reichtümern auf wie ein Traum der Verheißung und der Gerechtigkeit, ja wie das Glück selbst und der Schatz des künftigen Lebens, in das die Armen nach ihrem langen irdischen Mühsal gewiß eines Tages eingehen würden.

Pierre fand an nichts Freude. Er betrachtete diese glänzenden Dinge ohne Trost und ohne Hoffnung. Sein schreckliches Unbehagen wuchs, und es wurde finster in ihm, so finster wie bei einem Sturm, bei dem Gedanken und Empfindungen tosen und heulen. Von dem Augenblick an, da Marie sich von ihrem Wagen erhoben und gerufen hatte, daß sie geheilt sei, und seitdem sie so kräftig, so lebhaft, wie vom Tode auferstanden umherging, fühlte er eine unermeßliche Traurigkeit sein Inneres erfüllen. Und doch liebte er sie mit leidenschaftlicher, brüderlicher Zuneigung, und als er sie nicht mehr leiden sah, hatte er ein grenzenloses Glück empfunden. Warum verursachte ihm also ihre Glückseligkeit ein solch peinliches Angstgefühl? Er konnte sie jetzt, da sie unter Tränen in ihrer wiedergewonnenen, größeren Schönheit strahlend, dort kniete, nicht mehr betrachten, ohne daß sein armes Herz wie aus einer tödlichen Wunde blutete. Dessenungeachtet wollte er dableiben. Er wandte die Augen weg und suchte sich für den Pater Massias zu interessieren, der noch immer auf den Steinfliesen lag und von Schluchzen erschüttert wurde. Er beneidete ihn um die verzehrende Illusion der göttlichen Anbetung, in der er sich bis zur Vernichtung demütigte. Einen Augenblick schien sogar eine Fahne seine Teilnahme zu erregen, er befragte Berthaud darüber und erbat Erklärungen.

»Welche? Die Spitzenfahne dort unten?«

»Ja, die auf der linken Seite.«

»Das ist eine von Le Puy gestiftete Fahne. Die Wappen darauf sind die mit einem Rosenkranz verbundenen Wappen von Le Puy und Lourdes. Der Spitzenstoff ist so fein, daß man die ganze Fahne in der hohlen Hand halten könnte.«

Jetzt trat der Abbé Judaine vor, und die Zeremonie begann. Die Orgel dröhnte aufs neue, und es wurde ein Lied gesungen, während das heilige Sakrament unter den goldenen und silbernen Herzen als königliches Gestirn auf dem Altar glänzte. Pierre hatte nicht die Kraft, länger zu bleiben. Da Marie Frau von Jonquière und Raymonde als Begleiterinnen bei sich hatte, konnte er weggehen und in einem schattigen Winkel verschwinden, in dem er endlich weinen könnte. Er entschuldigte sich kurz und schützte sein Stelldichein mit Doktor Chassaigne vor. Dann hatte er aber noch eine Besorgnis. Er wußte nämlich nicht, wie er aus der Kirche hinauskommen sollte, so versperrte die Flut der Gläubigen die Pforte. Da kam ihm eine Eingebung: er ging durch die Sakristei und stieg auf der engen inneren Treppe in die Krypta hinab.

Dort umfing ihn plötzlich tiefe Stille. Auf die freudigen Stimmen und den Wunderglanz von oben folgte der Schatten einer Totengruft. Die in den Felsen eingehauene Krypta bestand aus zwei schmalen, durch die Grundmauer, die das Kirchenschiff trug, voneinander geschiedenen Gängen, die unter der Chorwölbung zu einer unterirdischen, Tag und Nacht von kleinen Lampen erhellten Kapelle führten. Ein dunkler Wald von Pfeilern kreuzte sich dort, und in ihrem Halbdunkel herrschte mystischer Schrecken. Die Mauern waren nackt wie der Stein des Grabes, in dessen Tiefe jeder Mensch seinen letzten Schlaf tun muß. In den Gängen sah man an den Wänden, die von oben bis unten marmorne Votivtafeln bedeckten, nur eine doppelte Reihe von Beichtstühlen, denn in diesem totenstillen Erdenwinkel legte man die Beichte ab. Es gab Priester, die in allen Zungen sprachen, um den aus allen Enden der Welt hierhergekommenen Sündern ihre Fehler zu vergeben.

Während sich oben die Menge drängte, war die Krypta zu dieser Stunde ganz verlassen, nicht eine einzige Seele belebte diesen Ort des Schauders. In dieser erhabenen Stille, dieser düsteren kühlen Gruft warf sich Pierre auf die Knie nieder. Er tat es nicht, weil er ein Bedürfnis fühlte, zu beten und Gott zu verehren, sondern weil unter der moralischen Folter, die ihn zerriß, sein ganzes Wesen schwach wurde. Ihn quälte der Drang, sein Inneres klar zu erkennen. Ach, daß er sich nicht noch tiefer in das Nichts der Dinge versenken konnte! Daß er doch überlegen, begreifen und sich endlich beruhigen könnte!

Er durchlebte schreckliche Qualen. Er versuchte, sich jede einzelne Minute wieder zu vergegenwärtigen, seitdem Marie sich von ihrem Schmerzenslager erhoben und den Ruf der Auferstehung ausgestoßen hatte. Warum empfand er, trotzdem er sich brüderlich freute, als er sie wieder stehen sah, sofort ein heftiges Unbehagen, als ob ihn das tödlichste Unglück getroffen hätte? War er denn eifersüchtig auf die göttliche Gnade? Litt er darunter, daß die Jungfrau, indem sie Marie heilte, ihn, dessen Seele so krank war, vergessen hatte? Er erinnerte sich der äußersten Frist, die er sich gegeben, des letzten Stelldicheins, das er dem Glauben festgesetzt hatte für den Augenblick, da das heilige Sakrament vorüberziehen und Marie geheilt würde. Und sie war geheilt worden, und er glaubte noch immer nicht! Und so hatte er auch fernerhin keine Hoffnung mehr, denn er würde nie wieder glauben. In grausamer, blendender Klarheit stand die Gewißheit vor ihm, daß Marie gerettet und daß er verloren war. Das angebliche Wunder, das sie zu einem neuen Leben erweckte, hatte in ihm jeden Glauben an das Übernatürliche vernichtet. Einen Augenblick hatte er geträumt, noch einmal den naiven, beglückenden Glauben eines kleinen Kindes suchen und ihn vielleicht in Lourdes wiederfinden zu können. Das war nicht mehr möglich. Nachdem das Wunder in nichts zusammen fiel und die von Beauclair vorausgesagte Heilung sich nachher von Punkt zu Punkt erfüllt hatte, konnte sein Glaube nicht wieder aufblühen. Eifersüchtig war er nicht, o nein! Aber zerrüttet und todtraurig, daß er so ganz allein in der starren Öde seiner Vernunft ausharren sollte, um sich vergebens zurückzusehnen nach der Illusion, der Lüge und dem Glauben der Einfältigen, dessen sein Herz nicht mehr fähig war.

Ein Strom von Bitterkeit durchflutete Pierre, und Tränen stürzten aus seinen Augen. Von tiefster Seelenangst überwältigt, war er auf das Pflaster niedergeglitten. Es stieg in ihm die Erinnerung auf an die köstliche Zeit, die mit dem Tage ihren Anfang nahm, da Marie die Marter seines Zweifels ahnte. Sie hatte leidenschaftlich an seiner Bekehrung gearbeitet. Sie ergriff im Dunkeln seine Hand und gestand ihm verwirrt, daß sie für ihn beten, ja, aus ganzer Seele beten würde. Sie vergaß sich und bat die Heilige Jungfrau inständig, lieber ihren Freund als sie zu retten, wenn sie von ihrem göttlichen Sohn nur eine einzige Gnade erhalten könnte. Dann kamen ihm die herrlichen Stunden ins Gedächtnis, die sie in der finstern Nacht während des Vorbeizuges der Fackelprozession unter den Bäumen zugebracht hatten. Auch da hatte wieder einer für den anderen gebetet. Und sie hatten sich mit so glühendem Wunsch nach ihrem gegenseitigen Glück ineinander verloren, daß sie einen Augenblick den tiefen Grund jener Liebe berührten, die sich ganz hingibt und sich aufopfert. Und nun endete ihr langjähriges, tränenreiches, zärtliches Verhältnis, die reine Idylle ihrer Leiden, mit einer brutalen Trennung: sie war gerettet und strahlte, von den Gesängen der triumphierenden Basilika umwogt, während er zugrunde gerichtet und vor Elend schluchzend in eisiger Grabeseinsamkeit auf dem Boden der finsteren Krypta lag. Es schien ihm, als hätte er sie ein zweitesmal verloren – verloren für immer!

Plötzlich fühlte Pierre, wie ihm dieser Gedanke einen Stich mitten ins Herz versetzte. Er begriff endlich sein Leiden; Und es kam wie eine jähe Klarheit über ihn, die die schreckliche Krise, gegen die er sich wehrte, scharf beleuchtete. Zum erstenmal hatte er Marie verloren am Tage, da er Priester geworden war. Damals hatte er sich gesagt, er könne leicht darauf verzichten, ein Mann zu sein, da auch sie niemals Weib sein könnte. Jetzt war sie aber geheilt, jetzt wurde sie wieder zur Frau! Er dagegen war tot, er konnte kein Mann mehr werden! Nie würde es ihm gelingen, den Grabstein von sich zu wälzen, der ihn erdrückte und der sein Fleisch ertötete. Sie entwich und ließ ihn zurück in der kalten Erde. Vor ihr tat sich wieder die weite Welt auf, das lächelnde Glück, die auf sonnenhellen Wegen ihr entgegen lachende Liebe, ein Gatte, ohne Zweifel auch Kinder, während er wie bis über die Schultern eingescharrt war und nur sein Gehirn freibehielt, um noch mehr zu leiden. Als sie keinem anderen angehörte, war sie noch sein gewesen, und nur darum lag er seit einer Stunde in so entsetzlicher Qual auf den Knien, weil sie ihm jetzt endgültig entrissen worden war, weil sie diesmal für immer von ihm getrennt wurde.

Eine rasende Wut packte ihn. Er fühlte sich versucht, wieder hinaufzugehen und Marie die Wahrheit ins Gesicht zu schreien. Das Wunder – eine Lüge ist es! Die hilfreiche Güte eines allmächtigen Gottes – reine Täuschung! Die Natur allein hatte gewirkt und das Leben noch einmal den Sieg davongetragen. Er hätte Beweise erbracht und ihr gezeigt, daß einzig und allein das Leben unumschränkt waltet und durch alle irdischen Leiden die Gesundheit wiederherstellt. Dann wären sie miteinander abgereist und weit, recht weit fortgezogen, um glücklich zu werden. Aber da überfiel ihn ein plötzlicher Schrecken. Wie? An diese kleine, reine Seele sollte er rühren, die Gläubigkeit in ihr ertöten und sie mit den Ruinen des Glaubens erfüllen, deren wüste Trümmer ihn selbst zugrunde richteten? Das erschien ihm wie ein schrecklicher Frevel gegen Gott. Er würde sich später darüber entsetzt und geglaubt haben, er hätte sie ermordet, wenn er eines Tags zur Erkenntnis seiner Unfähigkeit gekommen wäre, ihr ein gleiches Glück dafür zu bieten. Vielleicht glaubte sie ihm auch gar nicht. Und überdies, würde sie je einen abtrünnigen Priester heiraten, nachdem sie die unvergeßliche Wonne bewahrte, in der Verzückung geheilt worden zu sein? All das erschien ihm wahnwitzig, widernatürlich und entehrend. Seine Empörung beruhigte sich bereits, er fühlte nur noch eine unendliche Mattigkeit und empfand in seinem armen, zermalmten und zerrissenen Herzen den brennenden Schmerz einer unheilbaren Wunde.

In seiner Verlassenheit und in der Öde, die ihn umgab, marterte ihn noch ein letzter Kampf. Was sollte er tun? Er hätte fliehen mögen, um Marie nicht mehr wiederzusehen, denn sein Leiden hatte ihn feige gemacht. Er begriff gut, daß er jetzt lügen mußte, weil sie ihn auch für gerettet und bekehrt hielt. Sie glaubte, er wäre in der Seele genesen, wie sie am Leibe geheilt war. Während sie ihren Wagen über die Rampen zog, hatte sie ihm ihre Freude darüber mitgeteilt. O wie herrlich, daß ihnen das große Glück gleichzeitig, miteinander widerfahren war! Er hatte schon gelogen und würde gezwungen sein, immerfort zu lügen, um ihr die schöne, unschuldige Illusion nicht zu rauben. Er brachte das letzte, heftige Klopfen seiner Adern zur Ruhe und schwor, die erhabene Barmherzigkeit zu üben, sich zu verstellen, als hätte er den Frieden und die Wonne des Heils gefunden. Er wünschte sie vollkommen glücklich, ohne Betrübnis, ohne Zweifel, in der vollen Heiterkeit des Glaubens und überzeugt davon, daß die Heilige Jungfrau in ihre mystische Vereinigung eingewilligt habe. Was lag ihm an seiner Qual? Vielleicht würde seine Wunde sich später wieder schließen. Und würde ihm in der trostlosen Einsamkeit, zu der ihn seine Vernunft verurteilte, nicht ihre Freude ein wenig Erleichterung bringen, jene Freude, deren ganzen trügerischen Trost er ihr lassen wollte?

Minuten verrannen, und noch immer blieb Pierre wie vernichtet auf den Steinfliesen liegen, um sein Fieber zu besänftigen. In der Erschlaffung des ganzen Wesens, das auf schwere Krisen folgt, konnte er keinen Gedanken mehr fassen: er fühlte nicht einmal mehr, daß er existierte. Da glaubte er, das Geräusch von Schritten zu hören, und hob sich mühsam in die Höhe. Er stellte sich, als läse er die Votivtafeln und die auf den Marmorplatten eingegrabenen Inschriften. Er hatte sich aber getäuscht: es war niemand da. Nichtsdestoweniger setzte er seinen Rundgang fort, zuerst ganz mechanisch und weil er eine Zerstreuung suchte, dann aber, weil er nach und nach von einer neuen Gemütsbewegung überwältigt wurde.

Er sah Dinge, die jeder Vorstellung spotteten. Glaube, Anbetung und Dankbarkeit waren auf diesen Marmorplatten mit goldgravierten Buchstaben in Hunderten und Tausenden von Exemplaren zum Ausdruck gebracht. Darunter fanden sich Inschriften, die in ihrer Einfalt zum Lachen reizten. Ein Oberst hatte seinen Fuß einmeißeln und dazu die Worte setzen lassen: »Du hast ihn mir bewahrt, laß ihn dir dienen!« Weiterhin las man: »Ihr Schutz erstrecke sich auf die Glaswaren!« Oder man ahnte die sonderbaren Bitten aus der freimütigen Unschuld der Danksagungen: »Der unbefleckten Marie dankt ein Familienvater für die wiedergegebene Gesundheit, den gewonnenen Prozeß und die erlangte Beförderung.« Aber das alles verlor sich im Zusammenklang der zum Himmel aufsteigenden Bittrufe. Liebende bitten: »Paul und Anna bitten Unsere Liebe Frau von Lourdes, ihre Vereinigung zu segnen.« Mütter rufen: »Dank Marien! Sie hat mein Kind dreimal geheilt!« – »Dank für die Geburt Marie-Antoinettes, die ich ihr anempfehle, sowie mich und die Meinigen.« – »Der drei Jahre alte P. D. ist der Liebe der Seinigen erhalten geblieben.« Gattinnen, erleichterte Kranke und dem Glück wiedergegebene Seelen rufen: »Schütze meinen Gatten; gib, daß er sich wohl befinde!« – »Ich war an beiden Beinen krank und bin nun geheilt!« – »Wir kamen und hoffen wieder.« – »Ich habe gebetet und geweint, und sie hat mich erhört.« Und noch andere Sprüche waren angebracht, Sprüche voll heimlicher Glut, die lange Romane vermuten ließen: »Du hast uns vereinigt, schütze uns!« – »Dank sei Marien für die größte der Wohltaten!« Dieselben Sprüche wiederholten sich immer wieder, es waren immer die nämlichen Worte leidenschaftlicher Inbrunst: Worte der Dankbarkeit, der Anerkennung und Huldigung, Dankgebete und Danksagungen. Ach, diese Hunderte und Tausende für ewig in Marmor eingegrabenen Worte! Wie riefen sie doch aus der Tiefe der Krypta der Heiligen Jungfrau die immerwährende Verehrung der armseligen Menschen entgegen, denen sie zu Hilfe gekommen war!

Pierre wurde nicht müde zu lesen. Seinen Mund erfüllte Bitterkeit, und er wurde von wachsender Trostlosigkeit befallen. Nur er allein hatte also keine Hilfe zu erwarten? Wo so viele leidende Wesen erhört wurden, hatte er allein sich nicht verständlich zu machen gewußt? Jetzt dachte er an die außerordentliche Menge von Gebeten, die in Lourdes von einem Ende des Jahres bis zum andern gesprochen werden mußten. Er versuchte, deren Zahl abzuschätzen: er dachte an die vor der Grotte verlebten Tage, an die in der Rosenkranzkirche zugebrachten Nächte, an die Zeremonien in der Basilika und an die im Sonnenschein und bei Sternenlicht abgehaltenen Prozessionen. Die ununterbrochenen, zu allen Sekunden aufsteigenden Gebete waren jedoch unberechenbar. Die Gläubigen wollten durch deren ungeheure Masse die Ohren Gottes ermüden und ihm so Gnade und Vergebung entlocken. Die Priester sagten, man müsse Gott die wegen der Sünden Frankreichs geforderte Sühne darbringen, und wenn die Summe dieser Sühngebete hinreiche, würde die Züchtigung Frankreichs aufhören. Wie hart ist es, an die Notwendigkeit dieser Züchtigung zu glauben! Welche grausame Einbildung des schwärzesten Pessimismus! Wie übel beschaffen mußte das Leben sein, daß ein solches Flehen, ein solcher Ruf körperlichen und moralischen Elends zum Himmel aufsteigen konnte!

Aber mitten in seiner unendlichen Traurigkeit fühlte Pierre, wie ihn ein tiefes Mitleid überkam. Ach, diese armselige Menschheit! Er war fassungslos, wenn er daran dachte, wie sie in ihrer Schwäche und Verlassenheit sich ihrer Vernunft begab, um das Glück, das noch möglich war, in einen berauschenden Traum zu setzen. Aufs neue füllten sich seine Augen mit Tränen, er weinte über sich selbst, über die andern und über alle armen gequälten Wesen, die das Bedürfnis fühlten, ihr Leid zu betäuben und einzuschläfern, um der Wirklichkeit dieser Welt zu entfliehen. Es schien ihm, als höre er noch die vor der Grotte kniende Menge ihr glühendes, flehentliches Gebet zum Himmel hinaufschreien, die Menge von zwanzig- bis dreißigtausend Seelen, von der ein inbrünstiges Begehren aufstieg, das man im Sonnenschein wie Weihrauchwolken dampfen sah. Unter dieser Krypta, in der Rosenkranzkirche, loderte wiederum eine andere Glaubensschwärmerei. Dort verbrachte man ganze Nächte im Paradies der Verzückung, unter den stummen Wonnen der Kommunion und unter wortlosen heißen Gebeten, in denen das ganze Geschöpf sich verzehrt, verbrennt und verflüchtigt. Und wie wenn das Geschrei vor der Grotte und die immerwährende Anbetung in der Rosenkranzkirche nicht genügten, fingen die inbrünstigen Bittrufe um ihn herum, an den Wänden der Krypta, sich wieder zu erheben an. Hier aber verewigten sie sich im Marmor und verkündeten das menschliche Elend ohne Unterlaß bis in die fernsten Zeiten. Der Marmor und die Wände beteten, von dem allgemeinen Schauder des Mitleids befallen, der sich sogar auf die Steine erstreckte. Und höher, immer höher stieg das Gebet. Von der über ihm summenden Basilika, die in diesem Augenblick von einem rasenden Volk angefüllt war, dessen ungeheuern Atemhauch er durch die Steinfliesen des Kirchenschiffes hindurch zu vernehmen und in einen hoffnungsreichen Gesang ausbrechen zu hören glaubte, schwang es sich empor. Pierre wurde schließlich selbst mit hingerissen, als ob er sich inmitten der unermeßlichen, rauschenden Gebetsflut befunden hätte, die dem Staub des Erdbodens entquellend die Stockwerke der übereinander gebauten Kirchen hinaufkletterte, sich von Tabernakel zu Tabernakel erweiterte und selbst die Mauern so erweichte, daß auch sie schluchzten und der Ruf des höchsten Elends in den Himmel dringen mußte, von dem sich die weiße Spitze und das hohe, am Ende des Turms angebrachte vergoldete Kreuz der Basilika abhob. O allmächtiger Gott! Göttliches Wesen! Hilfreiche Kraft! Wer du auch sein magst, hab' Erbarmen mit den armen Menschen, mache dem Leiden des Menschengeschlechts ein Ende!

Plötzlich fühlte Pierre sich geblendet. Er war dem Gange zur Linken gefolgt und trat oberhalb der Rampen ins volle Tageslicht hinaus. Sofort umfaßten ihn zwei Arme, die ihn zärtlich festhielten. Doktor Chassaigne war es, dessen Verabredung er vergessen und der ihn da erwartet hatte, um ihn zu Bernadettes Zimmer und zu des Kuraten Peyramale Kirche zu führen.

»Ach, mein Kind!« begann er, »wie groß, muß Ihre Freude sein ... Ich habe die große Neuigkeit von der außergewöhnlichen Gnade, mit der Unsere Liebe Frau von Lourdes Ihre Freundin bedacht hat, soeben erfahren. Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen vorgestern sagte? Ich bin jetzt ruhig, denn Sie selbst sind auch gerettet.«

Der sehr bleich gewordene Priester fühlte eine letzte Bitterkeit. Aber er konnte lächeln und antwortete sanft:

»Ja, wir sind gerettet, ich bin sehr glücklich.«

So nahm die Lüge, die göttliche Illusion, in der er die anderen aus Barmherzigkeit lassen wollte, ihren Anfang.

Die beiden Türflügel der Hauptpforte der Basilika standen weit offen, und der rote Strahl des Sonnenscheins erfüllte das Kirchenschiff von einem Ende bis zum andern. Alles flammte in hellem Glanz: das vergoldete Gitter des Chors, die goldenen und silbernen Votivtafeln, die mit Edelsteinen verzierten Lampen, die glänzend gestickten Fahnen und die geschwungenen, fliegenden, Juwelen ähnlichen Rauchfässer. Ganz hinten im Hintergrund dieser lodernden Pracht, zwischen den schneeigen Chorhemden und den goldenen Meßgewändern, erkannte er Marie in ihren aufgelösten Haaren, die auch wie von Gold schimmerten und deren Flut sie mit einem aus Gold gewobenen Mantel bekleidete. Die Orgel stimmte einen majestätischen Gesang an, das rasende Volk jauchzte zu Gott, und der Abbé Judaine hatte soeben das auf dem Altar stehende Sakrament wieder ergriffen. Zum letztenmal zeigte er es, hoch erhoben und wie in einem Heiligenschein strahlend, dem Volk, und dabei strahlte das Innere der Basilika von Goldglanz, und alle Glocken verkündeten mit lauter, eherner Stimme den wunderbaren Triumph.


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