Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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V

Als sie gleich darauf die Rampen hinabstiegen, sagte Doktor Chassaigne zu Pierre:

»Sie sahen soeben den Triumph, ich werde Ihnen jetzt zwei große Ungerechtigkeiten zeigen.«

Und er führte ihn nach der Rue des Petits-Fossés in das Zimmer der Bernadette, in die niedrige und dunkle Kammer, aus der sie am Tag, da ihr die Heilige Jungfrau erschien, herausgekommen war.

Die Rue des Petits-Fossés zweigt von der alten Rue du Bois, der heutigen Rue de la Grotte, ab und schneidet die Rue de Tribunal. Sie bildet ein kleines, winkliges, sehr trauriges Gäßchen mit leichtem Gefälle. Selten sah man dort Leute gehen, sie wird nur von langen Mauern, armseligen Häusern und düstern Fassaden eingefaßt, in denen sich kein Fenster öffnet. Ein Baum in einem Hofraum ist alles, was sie an Heiterem besitzt.

»Wir sind da«, sagte der Doktor.

Das Gäßchen wurde an dieser Stelle sehr schmal und eng, und das Haus befand sich gegenüber einer hohen, grauen und nackten Scheunenmauer. Beide hoben den Kopf und betrachteten das kleine Haus.

Es schien ausgestorben zu sein, hatte enge Fensterkreuze und einen groben bläulichen Kalkbewurf von blöder, armseliger Häßlichkeit. Unten der Hausgang war ganz dunkel, nur ein schmächtiges, altväterisches Gitter schloß ihn ab. Den zu ihm hinaufführenden Tritt bespülte der Bach, wenn er von Gewitterregen angeschwollen war.

Der Doktor fuhr fort:

»Treten Sie ein, mein Freund! Treten Sie ein! Sie brauchen nur das Gitter aufzustoßen!«

Der Gang war tief, und Pierre folgte der feuchten Mauer mit der Hand, da er fürchtete, irgendeinen Fehltritt zu tun. Es schien ihm, als stiege er in voller Dunkelheit in einen Keller hinab, und er hatte die Empfindung, der schlüpfrige Boden unter ihm sei stets vom Wasser benetzt. Am Ende des Hausgangs wandte er sich auf eine neue Weisung des Doktors nach rechts.

»Bücken Sie sich, denn Sie könnten sich stoßen, die Tür ist sehr niedrig ... So, da sind wir!«

Wie die Straßentür stand auch diese Zimmertür weit offen, man kümmerte sich nicht um diesen verlassenen Raum. Pierre, der in der Mitte des Zimmers zögernd stehenblieb, weil seine Augen noch an die lebhafte Helle gewöhnt waren, die draußen herrschte, unterschied gar nichts. Er war in eine vollständige Finsternis hineingeraten. Eine eisige Frische, ähnlich der Empfindung, die nasse Wäsche verursacht, erfaßte ihn an den Schultern.

Nach und nach gewöhnten sich aber seine Augen an die Dunkelheit. Die zwei Fenster von ungleicher Größe gingen auf einen engen innern Hof hinaus, in den nur grünliches Licht wie in die Tiefe eines Brunnens einfiel. Um am hellen Mittag in diesem Zimmer zu lesen, hätte es einer Kerze bedurft. Die Kammer, etwa vier Meter auf dreieinhalb Meter groß, war mit großen rauhen Steinen gepflastert, der Hauptbalken und die Durchzüge der Zimmerdecke hatten sich im Laufe der Zeit mit einer schmutzigen Rußfarbe bedeckt. Der Tür gegenüber befand sich der Kamin, ein elender Kamin aus Gips, dessen Sims ein altes, von den Würmern zerfressenes Brett bildete, und zwischen dem Kamin und dem einen Fenster ein Gußstein. Von den mit nassen Flecken bedeckten, zerfetzten und zersprungenen Wänden schuppte sich der alte Mörtel ab, sie wurden schwarz und unsauber wie die Zimmerdecke. Möbel waren nicht mehr vorhanden, der Raum schien verlassen, und man sah nur undeutlich und verworren einige ungewöhnliche Gegenstände, die man im tiefen Schatten, der alle Winkel erfüllte, nicht erkennen konnte.

Nach längerem Schweigen begann der Doktor zu sprechen.

»Ja«, sagte er, »das ist das Zimmer, und von hier ist alles ausgegangen ... Nichts ist geändert worden, nur die Möbel sind nicht mehr da. Ich habe versucht, sie im Geist an ihre früheren Plätze zu stellen. Die Betten befanden sich sicherlich an der Wand gegenüber den Fenstern. Es waren wenigstens drei Betten, denn die Soubirous' waren sieben Personen: der Vater, die Mutter, zwei Knaben und drei Töchter ... Denken Sie! Drei Betten füllten dieses Zimmer aus, und sieben Personen lebten auf diesen paar Quadratmetern! Und dieser Haufen war wie lebendig begraben, ohne Luft, ohne Licht und fast ohne Brot! Welch tiefes Elend und welche Erniedrigung armer, beklagenswerter Wesen!«

Aber er wurde unterbrochen. Ein Schatten, den Pierre zuerst für eine alte Frau hielt, trat ein. Es war ein Priester, der Vikar des Kirchspiels, der gegenwärtig das Haus bewohnte. Er kannte den Doktor.

»Ich habe Ihre Stimme gehört, Herr Chassaigne«, sagte er, »und bin deshalb gekommen ... Sie zeigen also das Zimmer noch jemandem?«

»In der Tat habe ich mir das erlaubt, Herr Abbé! ... Es stört Sie doch nicht?«

»Oh, ganz und gar nicht! ... Kommen Sie, sooft es Ihnen gefällt, und bringen Sie Leute mit, soviel Sie wollen!«

Er lachte verbindlich und begrüßte auch Pierre, der ihm, von seiner ruhigen Sorglosigkeit überrascht, die Frage vorlegte:

»Fallen Ihnen die hierherkommenden Leute nicht bisweilen lästig?«

Nun schien der Vikar überrascht zu sein.

»Gewiß nicht!« antwortete er, »es kommt ja niemand ... Dies Zimmer ist hier kaum bekannt. Alle Welt bleibt drunten in der Grotte ... Ich lasse die Tür offen, um nicht stets rennen und laufen zu müssen. Aber es vergehen Tage ohne daß ich nur das leiseste Geräusch einer Maus höre.«

Die Augen Pierres gewöhnten sich mehr und mehr an die Dunkelheit, und er erkannte endlich in den alle Winkel erfüllenden, unbestimmten und beunruhigenden Gegenständen alte Fässer, Trümmer von Hühnerkäfigen, zerbrochene Geräte und alle Arten von Lumpen, die man zusammen auskehrt und in die Tiefe der Keller wirft. Dann bemerkte er an den Durchzugsbalken aufgehängte Eßvorräte, einen Salatkorb voll Eier und Stränge dicker rosenfarbiger Zwiebeln.

»Wie ich sehe«, begann er mit einem leichten Beben aufs neue, »haben Sie geglaubt, das Zimmer benützen zu müssen.«

Der Vikar geriet in Verlegenheit.

»Gewiß ... so ist es... Ja, was soll ich tun? Das Haus ist klein, ich habe so wenig Platz. Und dann haben Sie auch keine Idee, wie feucht dieser Raum ist, es ist ganz unmöglich, ihn zu bewohnen ... Mein Gott! Da hat sich denn da alles nach und nach von selbst angehäuft, ohne daß man es wollte.«

»Und so wurde das Zimmer zu einer Rumpelkammer«, schloß Pierre.

»O nein, doch nicht! ... Es ist ein unbewohntes Zimmer, und wenn Sie darauf bestehen, meinetwegen ja, eine Rumpelkammer!«

Seine mit etwas Scham gemischte Verlegenheit nahm zu. Doktor Chassaigne blieb still und trat nicht dazwischen. Aber er lächelte und war augenscheinlich entzückt darüber, daß sein Gefährte sich gegen die menschliche Undankbarkeit auflehnte.

Dieser konnte sich nicht beherrschen und fuhr fort:

»Entschuldigen Sie, Herr Vikar, wenn ich wirklich darauf bestehe. Aber bedenken Sie doch, daß Sie Bernadette alles zu verdanken haben und daß Lourdes ohne sie eine der unbekanntesten Städte Frankreichs wäre ... Und meiner Ansicht nach hätte die Dankbarkeit des Kirchspiels dieses elende Zimmer wahrhaftig in eine Kapelle umwandeln müssen ...«

»Oh, in eine Kapelle!« unterbrach ihn der Vikar, »es handelt sich doch nur um ein menschliches Wesen, und die Kirche könnte ihm keinen Kultus weihen.«

»Nun gut! Sagen wir nicht eine Kapelle, sondern sagen wir, es müßten hier Lichter, Blumen und Rosensträuße aufgestellt sein, die durch die Pietät der Einwohner und Pilger fortwährend zu erneuern wären ... Mit einem Wort: ich möchte ein wenig Zärtlichkeit, ein von gerührten Herzen gespendetes Andenken, ein Bild der Bernadette oder irgend etwas sehen, was in zarter Weise Zeugnis ablegt von dem Platz, den sie in aller Herzen behaupten muß ... Dieses Vergessen, die Vernachlässigung und der Schmutz, in den man das Zimmer verfallen ließ, sind abscheulich!«

Der Vikar, ein armer, unwissender und leicht beunruhigter Mann, trat sofort Pierres Ansicht bei.

»Im Grunde haben Sie tausendmal recht. Aber ich habe keine Macht, ich selber kann nichts in der Sache tun! ... Sobald man das Zimmer von mir begehrt, um es einzurichten, werde ich es hergeben. Ich werde meine Fässer fortschaffen, obgleich ich wirklich nicht weiß, wo ich sie unterbringen soll ... Aber ich wiederhole, das hängt nicht von mir ab. Ich kann nichts, gar nichts in der Sache tun!«

Unter dem Vorwand, daß er einen Weg zu machen habe, nahm er in Eile Abschied und machte sich aus dem Staube, indem er zum Doktor Chassaigne aufs neue sagte:

»Bleiben Sie! Bleiben Sie, solange es Ihnen gefällt. Sie stören mich nie.«

Als der Doktor sich mit Pierre wieder allein befand, faßte er im überströmenden Erguß einer freudigen Empfindung dessen Hände.

»Ach, mein teures Kind!« sagte er, »welches Vergnügen haben Sie mir soeben bereitet! Wie haben Sie ihm gesagt, was schon seit langem in meinem Herzen kocht! ... Ich, wahrhaftig, hatte die Idee, jeden Morgen Rosen hierher zu bringen. Ich hätte einfach das Zimmer reinigen lassen und würde mich begnügt haben, zwei dicke Rosensträuße auf den Kamin zu stellen. Sie wissen ja, ich habe Bernadette eine unendliche Zärtlichkeit gewidmet, und es schien mir, diese Rosen würden hier das Aufblühen, den Glanz und Duft ihres Andenkens darstellen ... Aber, aber ...«

Er machte eine hoffnungslose Gebärde.

»Mir hat stets der Mut dazu gefehlt ... Ja, ich sage der Mut. Noch niemand hat es gewagt, sich offen gegen die Patres von der Grotte zu erklären ... Man zögert, man weicht zurück vor einem religiösen Ärgernis. Denken Sie, welchen beklagenswerten Skandal es verursachen würde. Darum sind die, die sich gleich mir entrüsten, gezwungen zu schweigen, und bleiben lieber still.«

Schließlich fügte er noch hinzu:

»Mein liebes Kind! Um die Undankbarkeit und die Raubgier der Menschen ist es eine sehr traurige Sache. Sooft ich hierher in dieses dunkle Elend komme, wird mir das Herz so schwer, daß ich meine Tränen nicht zurückhalten kann.«

Er hörte auf zu reden. Beide sprachen kein Wort mehr, beide waren von einer von dem Zimmer ausgehenden, drückenden Schwermut befallen. Finsternis umhüllte sie, die Feuchtigkeit inmitten der verfallenden Wände und des Staubs der angehäuften alten Lumpen ließ sie erbeben. Wiederum tauchte der Gedanke in ihnen auf, daß ohne Bernadette nichts von den Wundern bestehen würde, die aus Lourdes eine Stadt gemacht hatten, wie es in der Welt keine zweite gibt. Denn ihre Stimme hatte die wunderbare Quelle hervorsprudeln und die im Licht der Kerzen flammende Grotte öffnen lassen. Ungeheure Arbeiten wurden ausgeführt, neue Kirchen wuchsen aus dem Boden hervor, riesige Rampen führten zu Gott, und eine ganze neue Stadt wurde gegründet mit Gärten und Spazierwegen, mit Quais und Brücken, mit Läden und Gasthöfen. Die entferntesten Völker der Erde strömten in Massen herbei, und es fiel ein so starker Millionenregen nieder, daß es schien, als ob die junge Stadt ins endlose wachsen und schließlich das ganze Tal von einem Ende der Berge bis zum andern anfüllen müsse. Wenn Bernadette nicht gewesen wäre, würde das alles nicht da sein. Das außerordentliche Abenteuer zerfiele in nichts, und das unbekannte alte Lourdes schliefe zu Füßen des Schlosses noch immer seinen seit Jahrhunderten andauernden Schlaf. Bernadette war die einzige, die das geschaffen hat, sie war die Schöpferin des Werkes. Und nun war dieses Zimmer, diese eigentliche Wiege des Wunders und des wunderbaren künftigen Glücks, es war herabgewürdigt, dem Ungeziefer zur Beute überlassen, gerade gut genug, um Zwiebeln und leere Fässer darin aufzuheben.

Da erhob sich der Widerspruch im Geiste Pierres mit solcher Stärke, daß er den Triumph noch einmal sah, dem er soeben beigewohnt hatte, daß er wieder sah, wie überaus hoch man die Grotte und die Basilika verehrte, und wie Marie ihren Wagen ziehend, unter dem Jubelgeschrei der Menge hinter dem heiligen Sakrament aufwärts stieg. Aber alles überstrahlte die Grotte. Sie war nicht mehr die alte, wilde Felsenhöhle am wüsten Ufer des Gebirgsbachs, vor der das Kind ehemals niedergekniet war, sondern die mit Reichtümern ausgestattete, im Lichterglanz brennende Kapelle, vor der die Nationen vorüberzogen. Aller Lärm und aller Glanz, alle Anbetung und alles Geld machten sich dort inmitten der Pracht eines fortwährenden Siegeszuges breit. Aber hier in der Wiege des Ganzen, in diesem eiskalten, düsteren Loch befand sich keine Seele. Da brannte keine Kerze, da erschallte kein Gesang, da gab es keine Blume. Niemand kam hierher, niemand kniete hier nieder und betete. Nur einige empfindsame Besucher hatten, um ein Andenken mitzunehmen, kleine Splitter von dem als Kaminsims dienenden halbverfaulten Brette mit ihren Fingern abgebröckelt. Der Klerus wollte nichts wissen von diesem Ort des Elends, zu dem sich die Prozessionen wie zu einem Altar der Verklärung hätten begeben müssen. Denn hier hatte das arme Kind seinen Traum begonnen, als es in einer kalten Nacht von einem Anfall seiner Krankheit ergriffen wurde und die ganze Familie in tiefem Schlafe lag. Von hier war es ausgegangen und hatte unbewußt diesen Traum mitgetragen, der im vollen Tageslicht aufs neue in ihm erstand, um so lieblich zu einer Legende aufzublühen. Und nun machte kein Mensch mehr diesen Weg. Vergessen und der Finsternis überlassen war die Krippe, in der das kleine, unscheinbare Samenkorn gekeimt hatte, dessen wunderbare Ernten jetzt mit großartigen, pomphaften Zeremonien eingeheimst wurden.

Pierre, dessen menschenfreundliches Gemüt diese ganze Geschichte erregte, faßte endlich seine Gedanken in ein Wort zusammen, indem er halblaut sagte:

»Ein Bethlehem!«

»Ja«, antwortete Doktor Chassaigne, »in armseliger Wohnung, in elendem Asyl werden die neuen Religionen des Duldens und des Mitleids geboren. Ich frage mich bisweilen, ob nicht alles besser so bleibt, wie es ist, und ob man dies Zimmer nicht lieber in seiner Armut und Vernachlässigung erhalten soll. Mir scheint, daß Bernadette dadurch nichts verliert, denn wenn ich hier eine Stunde verbringe, fühle ich mich noch mehr zu ihr hingezogen.«

Er schwieg wieder, dann sagte er mit einer Gebärde der Empörung:

»Doch nein! Ich kann die Undankbarkeit nicht verzeihen, sie bringt mich außer Fassung. Ich habe Ihnen schon gesagt, ich bin davon überzeugt, daß Bernadette freiwillig nach Nevers ins Kloster ging. Und dieselben Leute, die die Herren zu sein wünschen, bieten auch heute alle Mittel auf, um die Erinnerung an Bernadette zum Schweigen zu bringen. Ach, wenn ich Ihnen alles sagen würde!«

Nach und nach erleichterte er sich, indem er weiter erzählte. Die Patres von der Grotte fürchteten die tote Bernadette, deren Werk sie so gierig ausbeuteten, noch mehr als die lebende. Solange sie am Leben war, bestand ihr größter Schrecken sicherlich darin, daß sie nach Lourdes zurückkommen könnte, um die Beute mit ihnen zu teilen. Sie wurden einzig und allein durch ihre Demut beruhigt, denn sie war durchaus nicht herrschsüchtig, sondern hatte selber das Dunkel der Entsagung gewählt, worin sie verlöschen sollte. Jetzt aber zitterten sie noch mehr bei dem Gedanken, daß ein anderer Wille die Reliquien der Seherin zurückbringen könnte. Gleich am Tag nach dem Tode war dem Stadtrat der Gedanke gekommen, die Stadt sollte ein Grabmal errichten, und man sprach von der Eröffnung einer Subskription. Die Schwestern von Nevers schlugen es aber glatt ab, den Leichnam, der ihnen gehörte, auszuliefern. Damals hatte alle Welt den Einfluß der sehr beunruhigten Patres gefühlt, die hinter den Schwestern standen, handelten und sich mit ihrer ganzen Macht dieser Rückkehr der verehrten Asche widersetzten, denn sie witterten darin eine mögliche Konkurrenz für die Grotte. Man stelle sich, vor, was ihnen drohte! Ein Grabmal auf dem Friedhof, zu dem die Pilger sich in Prozession begeben, dessen Marmor die Kranken fieberhaft küssen würden und an dem sich unter heiliger Inbrunst Wunder vollziehen könnten! Das bedeutete eine wirkliche, unheilvolle Konkurrenz, die Verlegung der Andacht und des Wunders an einen andern Ort. Und immer wieder kam die große, die einzige Furcht, teilen zu müssen, wenn die nunmehr klug gewordene Stadt aus dem Grabmal ihren Vorteil zu ziehen wüßte.

Man sagte den Patres sogar einen Plan voll tiefer Arglist nach. Sie sollten den heimlichen Gedanken gefaßt haben, den Leichnam der Bernadette für sich selbst aufzusparen, und die Schwestern von Nevers hätten sich einfach verpflichtet, ihn für sie im Frieden ihrer Kapelle zu hüten. Aber sie warteten die Zeit ab und wollten ihn erst dann hierherbringen, wenn der Andrang der Pilger abzunehmen beginne. Was nützte diese feierliche Überführung jetzt, da immer zahlreichere Volksmassen herbei strömten? Wenn aber der außergewöhnliche Erfolg Unserer Lieben Frau von Lourdes wie alle Dinge dieser Welt auf die Neige ginge, so konnte man sich denken, welch neues Erwachen des Glaubens die feierliche, überall widerhallende Zeremonie verursachen würde, eine Zeremonie, bei der die Christenheit sehen sollte, wie die Überreste der Auserwählten wieder Besitz ergriffen von der heiligen Erde, der sie so viele Wunder hatte entsprießen lassen. Und auf dem Marmor ihres Grabes, vor der Grotte oder im Chor der Basilika, würden die Wunder von neuem ihren Anfang nehmen!

»Sie können lange suchen«, fuhr Doktor Chassaigne fort, »aber Sie werden in Lourdes kein einziges, mit geistlicher Genehmigung aufgestelltes Bild der Bernadette finden. Man verkauft ihr Bildnis, aber nirgends, in keinen Heiligtum ist eines zu sehen. Dieses Vergessen ist die Frucht eines Systems. Und dieses System entspringt dem nämlichen Gefühl dumpfer Besorgnis, das das traurige Zimmer, in dem wir uns befinden, in Schweigen und Verlassenheit hat versinken lassen. Wie man die Möglichkeit eines Kults auf ihrem Grabe fürchtet, so fürchtet man es möchte das Volk hierherkommen und auf die Knie fallen, sobald eines Tages auf dem Kamin zwei Kerzen brennen und zwei Rosensträuße blühen würden. Und wenn dann eine Gelähmte aufstünde mit dem Ruf, daß sie geheilt sei, welch ein Ärgernis, welche Unruhe in den Seelen der guten Handelsleute von der Grotte, die ihr Vorrecht bedroht sähen! Sie sind die Herren und beabsichtigen, die Herren zu bleiben, und sie wollen nichts aus der Hand geben. Und dennoch zittern sie. Ja, sie zittern vor dem Andenken an die Arbeiter der ersten Stunde, an das kleine Mädchen, das im Tod so groß ist und dessen ungeheures Erbe sie mit solcher Begehrlichkeit erfüllt, daß sie nicht einmal wagen, seinen eingekerkerten Leichnam wieder hierherzubringen!«

Ach, wie kläglich war das Schicksal dieses armen Wesens, das von den Lebenden abgesondert wurde und dessen Leichnam man nun mit der Verbannung belegte! Wie sehr bedauerte Pierre das armselige Geschöpf, das nur auserwählt zu sein schien, um im Leben und im Tod zu leiden! In den Augen Pierres blieb sie die Auserwählte und Märtyrerin, und wenn er auch nicht mehr glauben konnte, wenn die Geschichte dieser Unglücklichen auch hinreichte, um den Glauben in ihm ganz zu vernichten, so erschütterte sie trotzdem sein brüderliches Gefühl, indem sie ihm eine neue Religion offenbarte, die Religion des menschlichen Lebens und des menschlichen Leidens.

Gerade vor dem Verlassen des Zimmers rief Doktor Chassaigne:

»Hier, mein liebes Kind, werden wir zum Glauben gezwungen! Betrachten Sie dies dunkle Loch, und denken Sie an die glänzende Grotte, die triumphierende Basilika, an die ganze neu gebaute Stadt, an diese neu geschaffene Welt und die zusammenströmenden Völkermassen! Wenn aber Bernadette nur eine Närrin war, ist dann das Abenteuer nicht noch erstaunlicher und unerklärlicher? Wie? Der Traum einer Wahnsinnigen hätte genügt, um die Nationen derart in Bewegung zu setzen? Nein, nein! Das Wehen eines göttlichen Hauchs war hier bemerkbar, und das allein vermag das Wunder zu erklären!«

Pierre stand im Begriff, eine lebhafte Antwort zu geben. Ja, es war so! Das Wehen eines Hauchs, das Schluchzen des Schmerzes, die unauslöschliche Sehnsucht nach der erhofften Unendlichkeit hatte gewaltet. Wenn der Traum eines leidenden Kindes genügt hatte, um die Völker herbeizuführen, Millionen regnen und eine neue Stadt aus dem Boden wachsen zu lassen, geschah dies nicht deshalb, weil dieser Traum den Hunger der armen Menschen, ihr unersättliches Bedürfnis, betrogen und getröstet zu werden, einigermaßen stillte? Bernadette hatte ohne Zweifel in einem sehr günstigen geschichtlichen Augenblick das Unbekannte wieder erschlossen, und die Massen hatten sich darauf gestürzt. Oh, wenn man doch im Geheimnisvollen seine Zuflucht fände, da die Wirklichkeit zu hart ist! Wenn man dem Wunder vertrauen dürfte, da die grausame Natur doch nur voller Ungerechtigkeit zu sein scheint! Aber es ist vergeblich, das Unbekannte zu organisieren, es in Dogmen zusammenzufassen und als offenbarte Religion darzustellen. Im Grunde ist es immer nur der Ruf des Leidens, der Aufschrei des Lebens, das Gesundheit, Freude und Glück verlangt und bereit ist, diese Güter in einer andern Welt anzunehmen, wenn es sie auf dieser Erde nicht haben kann. Was nützt also der Dogmenglaube? Ist es nicht genug, wenn man weint und liebt?

Aber Pierre kleidete seine abweichende Meinung nicht in Worte. Er hielt die Antwort, die ihm auf die Lippen stieg, zurück. Übrigens war er der Überzeugung, daß das ewige Bedürfnis nach dem Übernatürlichen in dem vom Schmerz heimgesuchten Menschen den ewigen Glauben lebendig erhält. Das unmöglich zu beweisende Wunder sollte das für die Menschheit unentbehrliche Brot sein. Und hatte er sich nicht zugeschworen, in barmherziger Liebe niemanden mehr durch seine Zweifel zu betrüben?

»Ein großes Wunder, nicht wahr?« beharrte der Doktor auf seiner Ansicht.

»Gewiß!« antwortete er endlich. »In diesem armseligen, feuchten und schwarzen Zimmer hat sich das ganze menschliche Drama abgespielt, alle unbekannten Kräfte haben darin mitgewirkt.«

Sie verharrten noch einige Minuten im Schweigen. Dann gingen sie nochmals an den Wänden entlang, erhoben die Augen zur verräucherten Zimmerdecke und warfen einen letzten Blick in den engen, von grünlichem Licht erfüllten Hofraum. Diese verfallene Dürftigkeit mit ihren Spinnengeweben, diese alten Fässer, außer Gebrauch gesetzten Werkzeuge und Trümmer, die in den Winkeln verfaulten, waren wirklich tief betrübend. Und langsam gingen sie schließlich, ohne ein Wort zu sagen, fort, da ihnen eine unsagbare Traurigkeit die Kehle zusammenschnürte.

Erst auf der Straße schien Doktor Chassaigne wieder zu erwachen. Er beschleunigte seine Schritte und sagte:

»Wir sind noch nicht zu Ende, folgen Sie mir, lieber Pierre. Wir wollen jetzt die Stätte der andern großen Ungerechtigkeit in Augenschein nehmen.«

Er sprach vom Abbé Peyramale und seiner Kirche. Sie überschritten die Place du Porche und bogen in die Rue Saint-Pierre ein. Sie waren bald an Ort und Stelle. Das Gespräch kam jetzt wieder auf die Patres von der Grotte zurück, sowie auf den schrecklichen Krieg, den der Pater Sempeé, ohne Pardon zu geben, gegen den ehemaligen Kuraten von Lourdes geführt hatte. Dieser war besiegt worden und in schrecklicher Verbitterung gestorben. Und nachdem man ihn durch Gram ums Leben gebracht hatte, hatte man auch seine Kirche, die er unausgebaut, ohne Dach, dem Wind und Wetter geöffnet, hinterlassen hatte, ganz vernichtet. Mit welch herrlichen Träumen hatte diese monumentale Kirche die letzten Jahre seines Daseins erfüllt! Seitdem man ihn aus dem Besitz der Grotte vertrieben, seit man ihn aus dem für Unsere Liebe Frau von Lourdes errichteten Werk verjagt hatte, bildete diese Kirche seine Vergeltung, seinen Protest gegen die ihm widerfahrene Unbill, seinen eigenen Anteil am Ruhme. Sie sollte das Haus Gottes werden, in dem er triumphieren und aus dem er endlose Prozessionen führen wollte. Der Herrscher und Gebieter, der im tiefsten Innern seines Wesens lebte, der Hirt großer Volksmassen und der Tempelerbauer hatte eine ungeduldige Freude, wenn er die Arbeiten beschleunigen konnte. Dabei war er unvorsichtig wie alle leidenschaftlichen Menschen, kümmerte sich nicht um die Schulden und ließ sich von den Unternehmern bestehlen, wenn er nur stets ein Volk von Arbeitern auf den Baugerüsten fand. Und er sah seine Kirche wachsen, im Geiste sah er sie schon fertig gebaut, wie sie ganz neu dastand und an einem schönen Sommermorgen im Licht der aufgehenden Sonne glänzte.

Ach, diese unablässig heraufbeschworene Vision gab ihm allein den Mut zum Kampf inmitten des heimlichen Mords, von dem er sich umgeben fühlte. Vor seinem geistigen Auge erhob sich endlich die den weiten Platz beherrschende Kirche in riesiger Majestät. Er hatte sie in romanischem Stil sehr groß, aber einfach, neunzig Meter lang und hundertundvierzig Meter hoch, gewünscht. Am Abend vorher hatte man sie von den letzten Gerüsten befreit, und nun glänzte sie in ihrer Jugendfrische, mit ihren breiten regelmäßig aufgebauten Steinschichten im hellen Sonnenlicht. Die Dächer des Schiffs, des Querschiffs und des Chors befanden sich in gleicher Höhe über dem Gesims, das mit einfachen Verzierungen ausgeschmückt war. Ebenso wiesen die Fensteröffnungen der Seitenschiffe und des Hauptschiffs keinen andern Schmuck auf als von Pfeilern getragene Skulpturen. Im Geiste stand er still vor den großen Glasfenstern des Querschiffs, deren Rosetten funkelten, dann setzte er seinen Rundgang fort, hinter der runden Chorwölbung vorbei, an die die Sakristei mit zwei Reihen kleiner Fenster angebaut war. Er kam zurück und konnte sich nicht satt sehen an der königlichen Gliederung des Baues, den erhabenen Linien, die sich am blauen Himmel abzeichneten, den übereinander geschichteten Dächern und dieser ganzen ungeheuren Masse, deren Festigkeit den Jahrhunderten Trotz bot. Wenn er aber die Augen schloß, dann beschwor er mit stolzem Entzücken die Fassade und den Glockenturm herauf: unten die dreifache Halle, die beiden Hallen rechts und links mit ihren eine Terrasse bildenden Dächern, während der aus der mittleren Halle herauswachsende Glockenturm sich mit mächtigem Schwung in die Lüfte erhob. Auch da trugen die auf Sockeln ruhenden Säulen nur verzierte Gesimse. Auf der Spitze einer Zinne zwischen den zwei hohen Fensteröffnungen des ersten Stockwerks stand unter einem Baldachin die Statue Unserer Lieben Frau von Lourdes. Und es schien dem Abbé, als sei seine glühende Priesterseele gewachsen, es schien ihm, als habe sie sich emporgeschwungen, um dort oben ganz nahe bei Gott durch alle Zeitalter hindurch Zeugnis von seinem Glauben abzulegen.

Zu anderen Zeiten war er von einer andern Vision noch stärker entzückt. Er glaubte dann das Innere seiner Kirche an dem Tage zu sehen, da er seine erste feierliche Messe darin zelebrieren würde. Die farbigen Glasfenster warfen feurige Lichter, die wie Edelsteine glänzten, die zwölf Kapellen der Seitenschiffe strahlten im Kerzenglanz. Er selber stand am marmornen, mit Gold verzierten Hochaltar. Die vierzehn Säulen des Schiffs, jede aus einem einzigen Block pyrenäischen Marmors und alles herrliche Geschenke aus allen Weltgegenden der Christenheit, schwangen sich in die Höhe und stützten das Gewölbe, das die dröhnenden Stimmen der Orgel mit einem Freudengesang erfüllten. Ein Volk von Gläubigen kniete auf den Fliesen vor dem Chor, das ein mit bewundernswerter Holzschnitzerei bedecktes Gitter umgab. Die Kanzel, das königliche Geschenk einer hohen Dame, war ein aus einem ganzen Eichenstamm herausgemeißeltes Wunder der Kunst. Den Taufstein hatte ein Künstler von großem Talent in harten Stein gehauen. Meisterhafte Gemälde schmückten die Wände, Hostienkelche, kostbare Monstranzen und glänzende heilige Gewänder waren in der Tiefe der Sakristeischränke aufgehäuft. Welch herrlicher Traum war es, Hohepriester eines solchen Tempels zu sein, darin zu herrschen, nachdem man ihn mit leidenschaftlicher Begeisterung erbaut hatte, und die aus der ganzen Welt herbeigeeilten Volksmassen zu segnen, während das volltönende Geläute des Glockenturms der Grotte und der Basilika verkünden würden, daß sie unten im alten Lourdes eine Nebenbuhlerin und sieghafte Schwester besaßen, in der Gott ebenfalls seine Triumphe feierte!

Nachdem sie einen Augenblick der Rue Saint-Pierre gefolgt waren, bogen der Doktor Chassaigne und sein Begleiter in die kleine Rue de Langelle ein.

»Wir sind gleich dort«, sagte der Doktor.

Pierre schaute sich um, sah aber nichts von einer Kirche. Man sah nur elende Hütten, die ein mit schmutzigen Bauwerken angefülltes, armseliges Vorstadtviertel darstellten. Ferner bemerkte er im Hintergrunde einer Sackgasse einen alten, halb verfaulten Pfahlzaun, der noch das weite, viereckige Gebiet zwischen der Saint-Pierre-, Baguères-, Langelle- und Jardinsstraße einschloß.

»Wir müssen uns links halten«, begann der Doktor wieder, der sich in einen engen, zwischen den Schutthaufen führenden Gang hineingewagt hatte. »Da sind wir jetzt.«

Plötzlich zeigte sich die Ruine mitten in ihrer häßlichen und armseligen Umgebung.

Das ganze mächtige Gerippe des Hauptschiffs und der Seitenschiffe, des Querflügels und der Chorwölbung stand vor ihnen. Die Mauern erhoben sich überall bis zum Beginn der Gewölbe. Man trat ein wie in eine wirkliche Kirche, konnte darin nach Belieben herumgehen und erkannte die gewöhnlichen Abteilungen eines Gotteshauses. Aber wenn man die Augen hob, dann sah man den Himmel: die Bedachung fehlte, der Regen fiel herein, und der Wind fegte frei darin herum. Bald waren es fünfzehn Jahre, seitdem die Arbeiten aufgegeben worden und die Dinge im gleichen Zustand geblieben waren, in dem sie der letzte Arbeiter verlassen hatte. Zunächst traten dem Beschauer die zehn Säulen des Schiffs und die vier Chorpfeiler entgegen. Man hatte diese herrlichen, je aus einem einzigen Block pyrenäischen Marmors gefertigten Säulen mit einem Brettermantel bekleidet, um sie gegen jede Beschädigung zu schützen. Die Säulenfüße und Kapitelle waren noch roh und harrten der Bildhauer. Diese mit Holz überkleideten Säulen riefen einen recht traurigen Eindruck hervor. Wie Schwermut stieg es auch von dem ganzen, ummauerten, weit offenstehenden Raum und vom Gras auf, das den wüsten, holperigen Boden der Seitenschiffe und des Hauptschiffs überwucherte, – ein dichtes Friedhofsgras, durch das die Frauen der Nachbarschaft mit der Zeit Fußpfade getreten hatten. Sie kamen hierher, um ihre nasse Wäsche auszubreiten. In den letzten, durch die leeren, breiten Fensterhöhlen einfallenden Sonnenstrahlen trocknete gerade eine aus dicken Tüchern, zerfetzten Hemden und Kinderwindeln bestehende Armenwäsche.

Ohne zu sprechen, machten Pierre und Doktor Chassaigne einen langsamen Rundgang um das Innere der Kirche. Die zehn Kapellen der Seitenschiffe bildeten Abteilungen voller Schutt und Trümmer. Den Boden des Chors hatte man zementiert, ohne Zweifel um die darunterliegende Krypta vor dem Eindringen des Wassers zu schützen. Leider aber senkten sich die Gewölbe, es hatte sich da eine Vertiefung gebildet, die das Gewitter der vorigen Nacht in einen kleinen See verwandelt hatte. Im übrigen hatten diese Teile des Querschiffs und des Chors am wenigsten gelitten. Nicht ein Stein war von seiner Stelle gewichen, die großen Rosetten über dem Triforium schienen auf ihre Glasfenster zu warten. Aber als sie wieder zurückgegangen waren und ins Freie hinaustraten, um die Fassade zu betrachten, da zeigte sich erst der klägliche Verfall dieser jungen Ruine. Auf dieser Seite hatte man die Arbeiten viel weniger gefördert, nur die dreifache Vorhalle war ausgebaut. Fünfzehn Jahre der Vernachlässigung hatten jedoch den Winterstürmen genügt, um das Schnitzwerk, die kleinen Säulen und die Verzierungen anzufressen, eine wahrhaft seltsame Zerstörungsarbeit war da vor sich gegangen: es schien, als ob der stark angefressene Stein unter Tränen verfallen wäre. Das Herz krampfte sich beim Anblick dieser Zerstörung zusammen, die sich an dem Werk vergriff, noch bevor es vollendet war.

Sie gingen ins Schiff zurück, ergriffen von der schrecklichen Traurigkeit dieses Mordes. Das weite, wüste Grundstück im Innern war von den Trümmern der Baugerüste versperrt, die man halb verfault hatte abschlagen müssen. Man fürchtete, durch ihren Einsturz könnten Menschen erschlagen werden. Mitten im hohen Gras lagen überall Bretter, Gerüststangen und Bogen umher, alte Seile, die die Feuchtigkeit zerfraß. Auch das schmächtige Gestell einer Welle war vorhanden, das sich wie ein Balkenträger in die Höhe reckte. Schaufelstiele und Stücke von Schubkarren lagen noch zwischen vergessenen Materialien und Haufen grünlicher, mit Moosflecken bedeckter Ziegelsteine, auf denen Schlingpflanzen blühten. Unter den Brennesseln, die den Boden bedeckten, sah man stellenweise die Schienen der kleinen Eisenbahn, die man für die Materialzufuhr eingerichtet hatte. Ein dazu gehöriger Wagen ruhte umgestürzt in einem Winkel. Das traurigste unter all diesen der Vernichtung geweihten Dingen war aber die Lokomobile, die unter dem Dach des Schuppens, der ihr ein Obdach gewährte, zurückgeblieben war. Seit fünfzehn Jahren stand sie dort, erkaltet, tot. Der Schuppen war schließlich über ihr eingefallen, breite Löcher ließen dem Regen einen Weg, um sie bei jedem Guß zu durchnässen. Ein Ende des die Welle in Bewegung setzenden Transmissionsriemens hing schlaff an ihr herab, gleich dem Faden einer Riesenspinne. Und auch ihre Stahl- und Kupferteile gingen unter Rost und Flechten zugrunde und waren mit im Laufe der Zeit entstandenen Gewächsen bedeckt. Gelbliche Flecken gaben ihr das Aussehen einer ganz alten Maschine, die mit Gras überwuchert und von vielen Wintern schlimm zugerichtet worden war. Diese tote, kalte Maschine mit ihrem erloschenen Herd unter ihrem stummen Dampfkessel war einst die Seele dieser Arbeiten, die davongeflogen war in der vergeblichen Erwartung des großmütigen und mildtätigen Herzens, das Heckenrosen und Brombeerbüsche durchbrechen sollte, um die Dornröschenkirche aus ihrem tiefen Ruinenschlaf zu wecken!

Endlich sprach Doktor Chassaigne wieder.

»Ach«, sagte er, »wenn man bedenkt, daß fünfzigtausend Frank gereicht hätten, um ein solches Unglück zu verhindern! Mit fünfzigtausend Frank konnte man eindecken, der Rohbau war gerettet, und man hätte Zeit genug gehabt, das Weitere abzuwarten. Aber sie wollten das Werk vernichten, wie sie den Menschen getötet hatten.«

Mit einer nach unten weisenden Gebärde bezeichnete er die Patres von der Grotte als die, von denen er sprach, die er aber zu nennen vermied.

»Und dabei heißt es, daß sie jährlich achtmalhunderttausend Frank einnehmen! Sie schicken Geschenke nach Rom, um mächtige Freundschaften zu unterhalten.«

Wider seinen Willen zog er gegen die Widersacher des Kuraten Peyramale abermals ins Feld. Die ganze Geschichte erfüllte ihn mit einem gerechten heiligen Zorn. Angesichts der kläglichen Ruine setzte er noch einmal die Tatsachen zusammen: der Kurat warf sich enthusiastisch auf den Bau seiner Kirche, stürzte sich in Schulden und ließ sich bestehlen, während der Pater Sempé auf der Lauer stand, aus jedem seiner Fehler Vorteil zog, ihn beim Bischof in Mißkredit brachte, endlich den Strom der Almosen unterband und dann die Arbeiten einstellen ließ. Nach dem Tode des Besiegten kamen die endlosen Prozesse, fünfzehn Prozeßjahre, die dem schlechten Wetter Zeit gelassen hatten, das Werk anzufressen. Jetzt befand es sich in einem so kläglichen Zustand und die Schuld war zu einer so bedeutenden Höhe gestiegen, daß nun alles aus zu sein schien. Der langsame Tod, die Vernichtung der Steine vollendete sich, die vom Regen zerschlagene, vom Moos angefressene Lokomobile fiel unter ihrem eingestürzten Schuppen bald in Trümmer.

»Ich weiß wohl, sie triumphieren jetzt, denn nur sie allein sind noch da. Das wünschten sie so sehnlich, die absoluten Herren wollten sie sein und alle Macht und alles Geld für sich allein behalten. Ich kann Ihnen sagen, daß ihr Schrecken vor einer Konkurrenz sie sogar dazu getrieben hat, die religiösen Orden von Lourdes fernzuhalten, die sich hier niederzulassen beabsichtigten. Jesuiten, Dominikaner, Benediktiner, Kapuziner und Karmeliter haben darum angehalten, aber den Patres von der Grotte ist es stets gelungen, sie fernzuhalten. Sie dulden nur die Frauenorden, sie wollen nur eine Herde. Und ihnen gehört auch die Stadt, sie unterhalten Läden darin und treiben Handel mit Gott im großen und kleinen.«

Langsam war er zwischen den Schutthaufen in die Mitte des Hauptschiffs zurückgekehrt. Nun zeigte er mit einer großen Gebärde auf ihre verwüstete Umgebung.

»Betrachten Sie dieses traurige, schreckliche Elend! Die Rosenkranzkirche und die Basilika da drüben haben mehr als drei Millionen gekostet.«

Wie in dem schwarzen, kalten Zimmer der Bernadette, sah Pierre auch hier die in ihrem Triumph erstrahlende Basilika sich erheben. Nicht hier hatte sich der Traum des Abbé Peyramale verwirklicht, nicht hier, wo er als amtierender Priester das kniende Volk segnen wollte, während die dröhnende Orgel ein Freudenlied anstimmte. Vor seinem geistigen Auge stieg die Basilika auf, in der alle Glocken läuteten, die von dem Ausbruch übermenschlicher Freude über ein Wunder erdröhnte, und die ganz in Flammen loderte – die Basilika mit ihren Fahnen und Lampen, ihren goldenen und silbernen Herzen, mit ihrem in Gold gekleideten Klerus und ihrer einem goldenen Gestirn ähnlichen Monstranz. Wie in Glut getaucht leuchtete sie in der untergehenden Sonne und berührte mit ihrer Turmspitze den Himmel, während Milliarden von Gebeten, die ihre Mauern erschütterten, aus ihr sich emporschwangen. Hier dagegen zerfiel eine Kirche in Staub, die unterging, noch ehe sie ganz erstanden war, eine Kirche, die durch bischöfliche Verordnung mit dem Verbot belegt worden war und die, allen Wänden preisgegeben, offenstand. Jedes Gewitter riß ein wenig von den Steinen mit fort, große Fliegen summten in den Brennesseln, die den Boden des Schiffs überwucherten, und in ihr sah man keine anderen Andächtigen als die Frauen aus der Nachbarschaft, die herkamen, um ihre auf dem Gras ausgebreitete armselige Wäsche umzuwenden. Mitten in dem düsteren Schweigen schien es, als ob eine Stimme dumpf schluchzte, vielleicht war es die Stimme der Marmorsäulen, die unter ihrem Brettermantel ihre unnütze Pracht beweinten. Bisweilen flogen Vögel durch die öde Chorwölbung und stießen Schreie aus. Ganze Banden von ungeheuren Ratten, die unter den Trümmern der abgeschlagenen Baugerüste eine Zuflucht gefunden hatten, bissen sich herum und hüpften in einem Schreckensgalopp aus ihren Löchern hervor. Man konnte sich nichts Beklemmenderes, nichts Niederdrückenderes vorstellen als diese mit Absicht gewollte Ruine gegenüber ihrer triumphierenden Nebenbuhlerin, der von Gold strahlenden Basilika.

Wiederum sagte Doktor Chassaigne einfach:

»Kommen Sie!«

Sie traten vor die Kirche hinaus, gingen längs des linken Seitenschiffes hin und kamen vor eine aus etlichen zusammengenagelten Brettern plump hergestellte Tür. Als sie eine hölzerne, halb zerbrochene Treppe, deren Stufen unter ihren Tritten schwankten, hinabgestiegen waren, befanden sie sich in der Krypta.

Es war ein niedriger Saal mit platten Gewölben, genau in der Anordnung des Chors. Die im rohen Zustand gelassenen kurzen, dicken Säulen harrten ebenfalls der Bildhauerarbeiten. Materialien lagen da und dort umher, Holzstücke verfaulten auf der Erde, der ganze weite Saal hatte nur einen weißen Gipsbewurf, die vernachlässigten, abgenutzten Maurerarbeiten wurden nie zu Ende geführt Drei im Hintergrund angebrachte Fensteröffnungen, die ehemals mit Glasscheiben versehen waren, von denen aber keine einzige mehr übrig war, beleuchteten die trostlose Nacktheit der Wände mit hellem, kalten Licht.

Und dort in der Mitte schlief der Leichnam des Kuraten Peyramale. Liebevolle Freunde hatten die rührende Idee gehabt, ihn in der Krypta seiner unvollendeten Kirche zu begraben. Das auf einem breiten Tritt ruhende Grabmal bestand ganz aus Marmor. Die Inschriften in goldenen Buchstaben gaben den Gedanken seiner Freunde kund, die sich an der Errichtung des Grabmals beteiligt hatten. Sie waren der Ausdruck der Wahrheit und Genugtuung, der vom Denkmal ausging. Auf der Vorderseite war zu lesen: »Mit frommen Gaben, die aus der ganzen Welt zusammengeflossen sind, wurde diese Gruft dem gesegneten Angedenken des großen Dieners Unserer Lieben Frau von Lourdes errichtet.« Rechts standen folgende Worte aus einem Breve Pius' IX.: »Du hast Dich ganz und gar hingeopfert, um der Muttergottes einen Tempel zu bauen.« Und links das Wort des Evangeliums: »Selig sind, so Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen.« War dies nicht die wahrhaftige Klage, die berechtigte Hoffnung des Besiegten, der so lange gekämpft hatte, nur weil er die ihm von Bernadette überbrachten Befehle der Jungfrau streng auszuführen wünschte? Und unsere Liebe Frau von Lourdes war da. Eine kleine, unscheinbare Statue war oberhalb der Grabinschrift an der Mauer angebracht, die nur einige an Nägeln aufgehängte Perlenkränze schmückten. Vor dem Grabmal standen wie vor der Grotte fünf oder sechs Bänke für die Gläubigen, die sich setzen wollten.

Mit einer neuen Gebärde der Entrüstung und des Erbarmens zeigte aber jetzt Doktor Chassaigne dem jungen Priester einen ungeheuren feuchten Fleck, der die hintere Wand grün färbte. Pierre erinnerte sich des kleinen Sees, den er oben auf dem vom Chor losgetrennten Zement bemerkt hatte. Er bestand aus einer beträchtlichen Wassermasse, die das Gewitter der vorigen Nacht zurückgelassen hatte. Offenbar sickerte das Wasser durch. Wenn zeitweise starker Regen fiel, so floß eine wirkliche Quelle herab, die die Krypta überschwemmte. Allen beiden tat das Herz weh, als sie bemerkten, wie das Wasser in dünnen Fäden die Wölbung entlang rann und in großen, regelmäßigen Tropfen auf das Grab niederfiel.

Pierre stand, von einer Art heiligen Entsetzens erfaßt, unbeweglich da. Der Tote, der hier unter diesen herabfallenden Tropfen lag, den Stürmen ausgesetzt, die im Winter durch die zerbrochenen Fensterscheiben eindringen mußten, erschien ihm beklagenswert und tragisch. Er nahm eine wilde Größe an, in seinem reichen Marmorgrab mitten unter dem Schutt und den zerfallenden Ruinen seiner Kirche. Er war der einsame Hüter dieser Kirche. Der schlafende und träumende Tote bewachte ihre leeren, allen Nachtvögeln offen stehenden Räume. Er lag hier als stummer, hartnäckiger, ewiger Protest und wartete. Im Sarg liegend, mit der Ewigkeit vor sich, um sich in Geduld zu fassen, wartete er unverdrossen auf die Arbeiter, die vielleicht an einem schönen Aprilmorgen zurückkommen würden. Wenn es auch zehn Jahre dauern würde, er war da. Und wenn es ein Jahrhundert dauerte, war er auch noch da. Er wartete darauf, daß die oben im Grase des Hauptschiffs verfaulten Baugerüste, durch ein Wunder gleichsam vom Tode auferweckt, wieder an den Mauern aufgestellt würden. Er wartete darauf, daß die mit Moos bedeckte Lokomobile plötzlich wieder geheizt sein und ihr Leben und ihre Kraft wiedererlangen würde, um die Dachbalken in die Höhe zu ziehen. Sein geliebtes Werk, der Riesenbau, stürzte ihm auf das Haupt, er aber bewachte mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen den Schutt und wartete.

Mit halblauter Stimme erzählte der Doktor die grausame Geschichte, wie man auch das Grab des Kuraten Peyramale verfolgte, nachdem man ihn und sein Werk verfolgt hatte. Ursprünglich war eine Büste des Kuraten dagewesen, und fromme Hände unterhielten vor dieser Büste die kleine Flamme einer Lampe. Als aber einmal eine Frau mit dem Gesicht auf die Erde fiel und sagte, sie habe die Seele des Verstorbenen erblickt, da gerieten die Patres von der Grotte in Aufregung. Sollten sich etwa Wunder ereignen? Schon brachten einige Kranke ganze Tage auf den Bänken vor dem Grabe zu. Andere knieten dort, küßten den Marmor und flehten um ihre Heilung. Das war ein Schrecken! Wenn diese Leute gesund würden und die Grotte einen Konkurrenten bekäme in diesem Märtyrer, der mitten unter alten, von den Mauern zurückgelassenen Werkzeugen einsam dalag! Da veröffentlichte der von der Sache verständigte, durch die Patres bearbeitete Bischof von Tarbes die Verordnung, die die Kirche mit dem Verbot belegte, jeden Gottesdienst am Grabe des vormaligen Kuraten von Lourdes sowie jede Wallfahrt und Prozession verbot. Wie es bei Bernadette geschehen war, wurde nun auch das Andenken an den Abbé Peyramale geächtet. So erbittert die Patres von der Grotte den lebenden Mann verfolgt hatten, ebenso erbittert verfolgten sie das Gedächtnis des großen Toten. Sie verfolgten ihn bis in sein Grab. Sie allein verhinderten es und verhindern es noch heute, daß die Arbeiten an der Kirche wieder aufgenommen werden, sie legen diesem Vorhaben fortwährend Hindernisse in den Weg, weil sie sich weigern, ihre reiche Ernte zu teilen. Und es scheint, sie erwarten, daß die eindringenden winterlichen Regengüsse das Werk der Zerstörung vollenden, daß die Gewölbe und Mauern und der ganze riesige Bau auf das Marmorgrab, auf den Leichnam des Besiegten herabstürzen, damit er darunter zermalmt und verschüttet werde!

»Ach«, flüsterte der Doktor, »und ich habe ihn in seiner Tapferkeit und in seiner Begeisterung für alle edlen Werke selbst gekannt! Und jetzt, Sie sehen es, jetzt regnet es auf sein Grab!«

Mühsam ließ er sich auf die Knie nieder und beruhigte sich in einem langen Gebet.

Pierre, der nicht beten konnte, blieb stehen. Ihn hatte in seiner Menschenliebe eine solche Bewegung erfaßt, daß sein Herz überströmte. Er hörte, wie die schweren, vom Gewölbe herabfallenden Tropfen nacheinander in langsamem Rhythmus auf dem Grabe zerplatzten, und sie schienen in dem tiefen Schweigen die Sekunden der Ewigkeit zu zählen. Er gedachte des ewigen Elends dieser Welt, auf der immer die Besten zum Leiden auserwählt sind. Die zwei großen Arbeiter Unserer Lieben Frau von Lourdes, Bernadette und der Abbé Peyramale, lebten wieder auf vor ihm als zwei beklagenswerte Opfer, die man im Leben gepeinigt und nach ihrem Tod verbannt hatte. Gewiß, das hatte den Glauben in ihm ganz getötet, denn Bernadette war, wie er am Ende seiner Untersuchung jetzt gefunden hatte, nur ein menschliches Wesen, eine mit allen Schmerzen beladene Schwester. Und zwei Tränen rollten langsam über seine Wangen.


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