Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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V

Der Zug verließ Bordeaux nach einem Aufenthalte von einigen Minuten, den die, die noch nicht zu Mittag gegessen hatten, dazu benützten, sich in aller Eile Vorräte einzukaufen. Die Kranken bekamen etwas Milch zu trinken und hörten nicht auf, wie Kinder um Biskuit zu bitten. Sobald sich der Zug von neuem in Bewegung gesetzt hatte, klatschte Schwester Hyacinthe in die Hände und rief:

»Vorwärts, beeilen wir uns! Das Abendgebet!«

Dann folgte beinahe eine Viertelstunde ein wirres Gemurmel der Paternoster und Aves, eine Gewissensprüfung, eine Bußübung, die gänzliche Hingabe an Gott, an die Heilige Jungfrau und an die Heiligen, ein Dankgebet für den glücklich verbrachten Tag, das mit einer Fürbitte für die Lebenden und für die Verstorbenen schloß.

»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes ... Amen!«

Es war acht Uhr zehn Minuten, die Abenddämmerung sank auf das Land nieder, auf eine unermeßliche Ebene, die durch den Abendnebel vergrößert wurde, und in der von fern her aus vereinzelt gelegenen Häusern helles Licht freundlich herüberleuchtete. Die Lampen im Wagen flackerten unruhig hin und her und beleuchteten mit ihrer gelblichen Flamme das zahlreiche Gepäck und die Pilger, die durch die schaukelnden Bewegungen durcheinander gerüttelt wurden.

»Ihr wißt, meine lieben Kinder«, begann Schwester Hyacinthe, die stehengeblieben war, »daß ich in Lamothe, ungefähr eine Stunde von hier, Ruhe anordnen werde. Ihr habt also noch eine Stunde, um euch zu unterhalten. Aber seid vernünftig und regt euch nicht zu sehr auf! Und dann nach Lamothe, versteht mich wohl, kein Wort mehr, nicht eine Silbe! Denn ich will, daß ihr alle gut schlafen sollt!«

Diese Worte brachten sie zum Lachen.

»Ja, das ist die Regel, und ihr seid sicherlich zu vernünftig, um nicht zu gehorchen.«

Sie hatten seit dem Morgen pünktlich das Programm der religiösen Übungen ausgeführt, die für jede Stunde bestimmt waren. Jetzt, wo alle Gebete gesprochen, die Rosenkränze hergesagt und die frommen Lieder gesungen waren, der Tag also sein Ende erreicht hatte, blieb noch eine Stunde vor der Nachtruhe der Erholung gewidmet. Aber sie wußten nicht, was sie anfangen sollten.

»Liebe Schwester«, sagte Marie, »wollen Sie nicht vielleicht den Herrn Abbé beauftragen, uns etwas vorzulesen? Er liest vortrefflich, und ich habe da ein kleines Buch, eine hübsche Geschichte der Bernadette ...«

Man ließ sie nicht vollenden, alle riefen ungestüm und leidenschaftlich wie Kinder, denen man ein schönes Märchen versprochen hatte:

»O ja, liebe Schwester! O ja, liebe Schwester!« .

»Selbstverständlich gestatte ich es«, erwiderte die Nonne, »da es sich um ein gutes Buch handelt.«

Pierre mußte einwilligen. Aber er wollte unter der Lampe sitzen und mußte deshalb mit Herrn Guersaint den Platz wechseln, der von der Ankündigung einer Geschichte ebenso entzückt war wie die Kranken. Als der junge Priester den passenden Platz gefunden und erklärt hatte, daß er gut sehen könnte, öffnete er das Buch. Ein Zittern durchlief den Wagen, alle Köpfe reckten sich in die Höhe, alle sammelten ihre Gedanken und spitzten die Ohren. Glücklicherweise hatte er eine deutliche und starke Stimme, mit der er den Lärm der Räder übertönte, die durch die endlose Ebene dahinrollten.

Bevor Pierre jedoch mit dem Lesen anfing, prüfte er das Buch. Es war eines jener kleinen Kolportagebücher, die von katholischen Buchhandlungen herausgegeben und in einer Unzahl von Exemplaren in der ganzen Welt verbreitet werden. Schlecht gedruckt und auf billigem Papier, trug es auf seinem blauen Umschlag ein Bild unserer lieben Frau von Lourdes, ein naives Kunstwerk von steifer, unbeholfener Grazie. Eine halbe Stunde würde sicherlich genügen, es vorzulesen, ohne sich dabei zu übereilen.

Und Pierre begann mit seiner schönen, klaren Stimme, die einen angenehmen, durchdringenden Ton hatte:

»Es war in Lourdes, einer kleinen Stadt in den Pyrenäen, am Donnerstag, den 11. Februar 1858. Das Wetter war kalt und der Himmel etwas bedeckt. Es fehlte in dem Hause des armen, aber ehrlichen Müllers, Francois Soubirous, an Holz, um das Essen zu bereiten. Seine Frau, Louise, sagte zu ihrer zweiten Tochter Marie: ›Geh an das Ufer des Gave oder in den Gemeindewald und suche Holz!‹ Der Gave ist ein Gebirgsbach, der durch Lourdes fließt.

Marie hatte eine ältere Schwester, Bernadette mit Namen, die vor kurzem vom Lande zurückgekehrt war, wo sie bei braven Bauersleuten als Schäferin gedient hatte. Sie war ein schwaches, zartes Kind von großer Unschuld, dessen ganzes Wissen darin bestand, daß es den Rosenkranz hersagen konnte. Louise Soubirous trug wegen der Kälte Bedenken, sie mit ihrer Schwester in das Holz zu schicken. Aber auf die inständigen Bitten Mariens und einer kleinen Nachbarin, Jeanne Abadie mit Namen, ließ sie sie mitgehen.

Die drei Gefährtinnen, die den Gebirgsbach hinaufkletterten, um trockenes Holz zu sammeln, befanden sich einer Grotte gegenüber, die in das Innere eines großen Felsens hineinführte, den die Bewohner des Landes Massabielle nannten ...«

Als Pierre beim Vorlesen zu dieser Stelle gekommen war, hielt er, das Blatt umwendend, inne und ließ das kleine Buch zurücksinken. Die Kindlichkeit der Erzählung und all die leeren, nichtigen Redereien machten ihn ungeduldig, ihn, der die vollständigen Akten über diese außerordentliche Geschichte in den Händen gehabt, der mit leidenschaftlichem Eifer die unbedeutendsten Einzelheiten geprüft hatte und tief in seinem Herzen innige Liebe und unendliches Mitleid für Bernadette hegte. Er hatte sich gerade wieder gesagt, daß er die entscheidende Untersuchung, deretwegen er einst davon geträumt hatte, nach Lourdes zu gehen, schon am folgenden Tage würde beginnen können.

Und von neuem erwachte all seine Wißbegierde. Er hätte gar zu gerne diese wunderbare Geschichte zerlegt und erklärt. Sie log gewiß nicht, sie hatte die Erscheinung gehabt, Stimmen gehört wie Jeanne d'Arc, und wie Jeanne d'Arc befreite sie, nach der Ansicht der Katholiken, Frankreich. Welches war die Kraft, die sie und ihr Werk hervorgebracht hatte? Wie hatte die Vision bei diesem Kinde entstehen, wie hatte sie alle gläubigen Seelen in solche Aufregung versetzen können, daß sich die Wunder der Urzeit wieder erneuerten und man fast eine neue Religion stiftete in einer heiligen Stadt, mit einem Male um Millionen erbaut und überschwemmt von gläubigen Menschenmassen, wie man sie seit der Zeit der Kreuzzüge nicht mehr gesehen hatte?

Er las nicht weiter vor, sondern erzählte das, was er wußte, das, was er erraten und sich selbst hinzugedacht hatte. Er kannte das Land, die Sitten und die Gebräuche sehr genau, dank der langen Gespräche, die er mit seinem Freunde, dem Doktor Chassaigne, darüber geführt hatte. Er besaß eine wohltuende Leichtigkeit des Sprechens und ein durch und durch reines Feuer aufrichtiger Begeisterung, Gaben, die er schon vom Seminar her in sich fühlte, ohne daß er jemals Gebrauch davon gemacht hätte. Als man in dem Wagen sah, daß er die Geschichte viel besser und viel ausführlicher kannte als das kleine Buch, und daß er sie mit einer so begeisterten Stimme vortrug, steigerte sich die Aufmerksamkeit von neuem, und die schmerzensreichen Gemüter, die nach Glück dürsteten, gaben sich ihm mit ganzer Seele hin.

Zuerst kam die Kindheit Bernadettes, die sie in Bartrès verbracht hatte. Sie war dort bei ihrer Amme, der Frau Lagûes, die, nachdem ihr neugeborenes Kind gestorben war, den Soubirous' die Gefälligkeit erwiesen hatte, ihr Kind zu nähren und bei sich zu behalten. Dieses Dorf von vierhundert Seelen lag eine Meile von Lourdes entfernt, weit ab von allen Verkehrswegen, mitten im Grünen verborgen. Der Weg führte steil abwärts, die wenigen Häuser standen in ziemlicher Entfernung voneinander, mitten auf Grasflächen, die mit Walnuß- und Kastanienbäumen bepflanzt waren, während klare Bäche, die niemals schwiegen, den Abhängen plätschernd folgten. Die kleine, alte, romanische Kirche stand, alles beherrschend, auf einem mit den Gräbern des Friedhofes bedeckten Hügel. Nach allen Seiten steigen bewaldete Abhänge wellenförmig empor. Das Dörfchen ist wie ein Loch in dem blühenden Pflanzenteppich voll köstlichen Wohlgeruchs und tiefen Grüns. Bernadette, die, nachdem sie ein großes Mädchen geworden war, ihren Unterhalt damit bezahlte, daß sie die Schafe hütete, führte diese monatelang auf den waldigen Abhängen umher, ohne daß sie einer menschlichen Seele begegnete. Nur zuweilen erblickte sie von dem Gipfel eines Hügels den Pic du Midi oder den Pic de Viscos. Sie sah auch, wie andere, in Dunst gehüllte Berge sich riesenhaft vergrößerten und zu unklaren und verschwommenen Erscheinungen wurden. Das Haus der Lagûes war ein einsames, stilles Haus, das letzte im Dorfe. Eine Wiese breitete sich davor aus, bepflanzt mit Apfel- und Birnbäumen. In dem niedrigen und feuchten Hause befanden sich zur Rechten und Linken der Holztreppe, die auf den Speicher führte, zwei große, mit Steinplatten belegte Räume, deren jeder vier bis fünf Betten enthielt. Die kleinen Mädchen schliefen zusammen und schlummerten jeden Abend in der Betrachtung der schönen, an die Wand geklebten Bilder ein, während die große Uhr in ihrem Gehäuse aus Tannenholz mit ernsten Schlägen in der tiefen Stille die Stunden ankündigte.

Ach, diese Jahre in Bartrès, in welch seligem Entzücken hatte Bernadette sie verlebt! Sie wuchs nur langsam und war immer krank, da sie an nervösem Asthma litt, das sie bei dem geringsten Wehen des Windes zu ersticken drohte. Im Alter von zwölf Jahren konnte sie weder lesen noch schreiben und sprach nur den Dialekt der Umgegend. Sie war ein gutes kleines Mädchen, sehr sanft und sehr artig, im übrigen ein Kind wie jedes andere, nur nicht schwatzhaft. Sie liebte es vielmehr, zuzuhören als selbst zu reden. Obgleich sie nicht begabt war, zeigte sie natürlichen Verstand und hatte sogar bisweilen eine schlagfertige Antwort bei der Hand, ein einfaches Scherzwort, das Lachen verursachte. Man hatte unendliche Mühe gehabt, ihr den Rosenkranz beizubringen. Als sie ihn endlich auswendig wußte, schien sie ihr ganzes Wissen darauf beschränken zu wollen. Sie sagte ihn während des ganzen Tages, vom Morgen bis zum Abend, her, so daß man sie schließlich bei ihren Schafen nur noch mit dem Rosenkranz in der Hand antraf, die Pater und Aves betend. Wie viele Stunden hatte sie so auf den grasigen Abhängen der Hügel verlebt, umwogt von dem geheimnisvollen Rauschen der Blätter, während sie von der Welt nichts weiter sah als nur auf kurze Augenblicke in weiter Ferne die höchsten Gipfel der Berge, in strahlendes Licht getaucht, wie ein Traumbild rasch entschwindend. Die Tage schwanden dahin, und immer begleitete sie bei ihrem Herumziehen der engbegrenzte Traum, das einzige Gebet, das sie fortwährend wiederholte und welches ihr keine andere Gefährtin und Freundin gab als die Heilige Jungfrau mitten in dieser frischen, kindlich-naiven Einsamkeit. Welch schöne Abende verlebte sie dann während des Winters in dem saalartigen Raume links von der Treppe, in dem ein Feuer brannte! Ihre Amme hatte einen Bruder, der Priester war und ihnen manchmal wunderbare Geschichten vorlas, Geschichten von heiligen Männern und Frauen, von ungeheuerlichen Abenteuern, die einen vor Angst und Freude zittern machten, von Erscheinungen des Paradieses auf der Erde, während der halbgeöffnete Himmel den Glanz der Engel offenbarte. Die Bücher, die er mitbrachte, waren oft voll von Bildern, sie zeigten den lieben Gott in seiner ganzen Glorie, die zarte und freundliche, lichtumflossene Gestalt Jesu Christi, vor allem aber die Heilige Jungfrau, die immer wiederkehrte, glänzend und weiß, azurblau und gold gekleidet. Die Bibel war das Buch, das man am fleißigsten las, eine alte, vergilbte Bibel, die sich seit hundert Jahren in der Familie vererbt hatte. An jedem Spinnstubenabend nahm der Pflegevater, der lesen gelernt hatte, eine Nadel, steckte sie auf gut Glück in die Bibel und fing dann oben zu lesen an unter der gespannten Aufmerksamkeit der Frauen und Kinder, die schließlich den Text auswendig wußten und hätten fortfahren können, ohne sich um ein Wort zu irren.

Bernadette zog die frommen Bücher vor, in denen die Heilige Jungfrau mit ihrem Lächeln vorkam. Doch fand sie auch Gefallen an einer andern wunderbaren Geschichte, an der von den vier Haimonskindern. Auf dem gelben Einbande des Buches sah man in einem naiven Stiche die vier ritterlichen Helden, Renaud und seine Brüder, die alle vier zusammen auf Bayard, ihrem berühmten Schlachtroß, saßen, mit dem sie einst von der Fee Orlande königlich beschenkt worden waren. Ferner erblickte man die Erbauung und Belagerung von Festungen, blutige Kämpfe, schreckliche Gefechte zwischen Roland und Renaud, der endlich auszog, das Heilige Land zu befreien, nicht zu vergessen den Zauberer Maugis mit seinen wunderbaren Zauberkünsten, und die Prinzessin Clarisse, die Schwester des Königs von Aquitanien, die schöner war als der Tag. Wenn ihre Einbildungskraft erregt war, kostete es Bernadette zuweilen viel Mühe, einzuschlafen, besonders an den Abenden, an denen man die Bücher beiseiteließ und einer von den Anwesenden eine Hexengeschichte erzählte. Sie war sehr abergläubisch, und man hätte sie niemals dazu bringen können, nach Sonnenuntergang an einem Turme in der Nachbarschaft vorüberzugehen, den der Teufel öfters besuchen sollte. Die ganze Gegend war sehr fromm und einfältig und wimmelte von Geheimnissen, von Bäumen, welche sangen, von Steinen, aus denen Blut perlte, von Kreuzwegen, an denen man drei Vaterunser und drei Aves beten mußte, wenn man nicht dem wilden Tiere mit den sieben Hörnern begegnen wollte, das die Mädchen ins Verderben schleppte. Und welcher Reichtum an Märchen! Es gab deren Hunderte, man würde an einem Abend damit gar nicht fertig geworden sein. Zuerst kamen die Abenteuer der Werwölfe, jener unglücklichen Menschen, die von dem Teufel gezwungen werden, in eine Hundehaut zu fahren, in die Haut eines jener großen weißen Berghunde. Wenn man auf den Hund einen Flintenschuß abgibt und wenn eine einzige Kugel ihn trifft, so ist der Mensch erlöst. Wenn die Kugel aber nur den Schatten trifft, dann stirbt der Mensch sofort. Dann folgten die Zauberer und die Hexen. Eine dieser Geschichten hörte Bernadette leidenschaftlich gern, die eines Gerichtsschreibers von Lourdes, der den Teufel sehen wollte, und den eine Zauberin am Karfreitag um Mitternacht auf ein ödes Feld führte. Der Teufel kam, prächtig in Rot gekleidet. Sofort machte er dem Gerichtsschreiber den Vorschlag, seine Seele zu kaufen, worauf jener scheinbar einging. Der Teufel trug unter seinem Arme das Register, in dem die Leute der Stadt eingezeichnet waren, die sich ihm schon verkauft hatten. Aber der schlaue Schreiber zog aus seiner Tasche ein Fläschchen heraus, in dem sich angeblich Tinte befinden sollte, während es nichts anderes als eine Flasche geweihten Wassers war. Er besprengte damit den Teufel, der entsetzliche Schreie ausstieß, während der Schreiber selbst die Flucht ergriff und das Register mitnahm. Dann begann eine tolle Jagd, deren Beschreibung den ganzen Abend hätte in Anspruch nehmen können, eine Jagd über die Berge, durch Täler, durch Wälder, durch Wildbäche. »Gib mir das Register wieder!« – »Nein, das wirst du nicht wiederbekommen.« Und dieses kurze Zwiegespräch fing immer von neuem an. »Gib mir das Register wieder!« – »Nein, das wirst du nicht wiederbekommen!« Dem Gerichtsschreiber, der schon ganz atemlos und nahe daran war, zu unterliegen, kam endlich ein rettender Gedanke: er warf sich auf den Kirchhof in geweihte Erde und verspottete von dort aus den Teufel, indem er das Register lustig hin und her schwenkte. Auf diese Weise hatte er die Seelen all der Unglücklichen gerettet, die darin verzeichnet standen.

Einen ganzen Winter hindurch fand die Spinnstube in der Kirche statt. Der Kurat Ader hatte es erlaubt, und viele Familien kamen, um das Licht zu sparen, ganz abgesehen davon, daß man es auch viel wärmer hatte, wenn alle so beisammen waren. Man las aus der Bibel vor oder man sagte in Gemeinschaft Gebete her. Die Kinder schliefen dabei ein. Nur Bernadette kämpfte bis zum Schluß mutig gegen den Schlaf, glücklich, hier in dem schmalen Schiff der kleinen Kirche verweilen zu dürfen, deren dünnes Balkenwerk rot und blau angestrichen war. Im Hintergrunde erhob sich in gelbroter, etwas barbarischer Pracht der Altar mit seinen gewundenen Säulen und seinen Altarblättern, die Maria und die Enthauptung des heiligen Johannes darstellten. Das Kind mußte in der Schlaftrunkenheit, die es übermannte, die Vision dieser grell gemalten Bilder, mußte das Blut aus den Wunden fließen, die Heiligenscheine strahlen und die Heilige Jungfrau immer wieder kommen sehen, die sie mit ihren lebhaften blauen Augen anschaute, während es ihr vorkam, als ob die Gebenedeite im Begriffe stände, ihre Lippen zu öffnen, um das Wort an sie zu richten. Monatelang verbrachte sie auf diese Art und Weise ihre Abende, vor dem prunkvollen Altar, in einem Halbschlafe, in welchem schon der göttliche Traum begann, den sie dann nach Hause mitnahm, um ihn in ihrem Bett weiter zu träumen, während sie unter dem Schutze ihres guten Engels schlief.

Es war auch in jenem alten, ärmlichen Kirchlein, wo Bernadette anfing, den Katechismus zu lernen. Sie war gerade vierzehn Jahre alt geworden und mußte an ihre erste Kommunion denken. Ihre Pflegemutter, die für geizig galt, schickte sie nicht in die Schule, da sie sie vom Morgen bis zum Abend im Hause verwendete. Der Lehrer, Herr Barbet, sah sie niemals in seiner Klasse. Als er eines Tages die Katechismusstunde in Stellvertretung des erkrankten Abbé Ader abhielt, fiel sie ihm wegen ihrer Frömmigkeit und ihrer Bescheidenheit auf. Der Priester liebte Bernadette sehr. Er sprach oft mit dem Lehrer von ihr und sagte zu ihm, er könnte sie nicht ansehen, ohne daß er an die Kinder der Salette dächte. Denn diese Kinder müßten so ohne Falsch, so gut und fromm wie sie gewesen sein, daß ihnen die Heilige Jungfrau erschienen wäre. Als die beiden Männer sie dann eines Morgens außerhalb des Ortes mit ihrer kleinen Herde von weitem zwischen den großen Bäumen verschwinden sahen, drehte sich der Geistliche nach ihr um und sagte zu seinem Begleiter: »Ich weiß nicht, was in mir vorgehe aber jedesmal, wenn ich dieses Kind treffe, glaube ich Melanie, die kleine Schäferin, die Gefährtin des kleinen Maximin, zu erblicken.« Er war wie besessen von diesem Gedanken, der sich schließlich als eine richtige Prophezeiung erweisen sollte. Und hatte er nicht eines Abends während der Spinnstube in der Kirche jene wunderbare Geschichte erzählt von der Frau in dem blendend weißen Kleide, die über das Gras dahinschritt, ohne es zu krümmen, von der Heiligen Jungfrau, die sich auf dem Berge an dem Rande des Baches der Schäferin Melanie und dem kleinen Maximin gezeigt hatte, um ihnen ein großes Geheimnis anzuvertrauen? Seit diesem Tage heilte eine Quelle, die aus den Tränen der Heiligen Jungfrau entstanden war, alle Krankheiten, während das Geheimnis, einem mit drei Wachssiegeln verschlossenen Pergament anvertraut, in Rom ruhte. Bernadette hatte in fieberhafter Aufmerksamkeit mit dem stummen Antlitz einer wachenden Träumerin diese wunderbare Geschichte angehört und sie dann mitgenommen in die Waldeinsamkeit, in der sie lebte, um sie, wenn sie hinter ihren Schafen her wandelte, sich zu wiederholen, während eine Perle ihres Rosenkranzes nach der andern durch ihre zarten Finger glitt.

So verfloß ihre Kindheit in Bartrès. Was an Bernadette alle entzückte, das waren ihre schwärmerischen Augen, die schönen Augen einer Seherin, an denen die Träume vorüberflogen wie die Vögel an dem klaren Himmelszelte. Ihr Mund war groß, stark entwickelt und verriet Güte. Der breite Kopf mit der geraden Stirn und den dichten schwarzen Haaren würde ohne den Ausdruck liebenswürdigen Eigensinns gewöhnlich ausgesehen haben. Wer ihr aber nicht in die Augen sah, der bemerkte sie gar nicht. Sie war dann nichts anderes als ein gewöhnliches, armes Straßenkind, ein kleines, körperlich zurückgebliebenes Mädchen von einfältigem Verstande. In ihren Blicken lag alles, was in ihr zur Blüte gelangen sollte, das Leiden, das ihren armen Mädchenkörper in der Entwicklung hemmte, die Waldeinsamkeit, in der sie aufgewachsen war, die Sanftmut ihrer Schafe, der englische Gruß, den sie bei ihrem Umherziehen unter freiem Himmel bis zur Verzückung wiederholte, die ungeheuerlichen Geschichten, die sie im Hause ihrer Pflegemutter gehört, die Spinnstubenabende, die sie vor den lebenden Altarbildern der Kirche mitgemacht hatte, und die ganze Atmosphäre urwüchsigen Glaubens, die sie in dieser abgelegenen, von Bergen umschlossenen Gegend eingeatmet hatte.

Am 7. Januar war Bernadette vierzehn Jahre alt geworden, und ihre Eltern, die Soubirous', entschlossen sich, da sie sahen, daß sie in Bartrès nichts lernte, sie ganz zu sich nach Lourdes zu nehmen, damit sie regelmäßig die Katechismusstunden besuchen und sich auf diese Weise auf ihre Kommunion vorbereiten konnte. So war sie schon zwei bis drei Wochen in Lourdes, als am 11. Februar, an einem Donnerstage, bei kaltem Wetter und etwas bedecktem Himmel ...«

Aber er mußte sich hier unterbrechen, denn Schwester Hyacinthe war aufgestanden und sagte, nachdem sie kräftig in die Hände geklatscht hatte:

»Liebe Kinder! Es ist jetzt über neun Uhr ... Also Ruhe! Ruhe!«

Man war in der Tat gerade an Lamothe vorübergefahren, und der Zug rollte durch die endlose Ebene des Landes, die in tiefes nächtliches Dunkel getaucht dalag. Eigentlich hätte man schon seit zehn Minuten im Wagen kein Wort mehr sprechen, sondern nur ruhig seine Schmerzen ertragen oder schlafen sollen. Aber trotzdem erhob sich lauter Widerspruch.

»O liebe Schwester«, rief Marie, deren Augen vor Aufregung funkelten, »nur noch ein kleines Viertelstündchen! Wir sind jetzt gerade an dem interessantesten Punkte.«

Zehn Stimmen, zwanzig Stimmen erhoben sich.

»Oh, bitte! Nur noch ein kleines Viertelstündchen!«

Alle wollten die Fortsetzung hören, sie brannten vor Neugierde und waren von den Einzelheiten rührender Menschlichkeit, die der Erzähler berichtete, so gepackt, als ob sie die Geschichte noch nicht gekannt hätten. Aller Blicke hingen an Pierre, die Köpfe streckten sich nach ihm aus, seltsam beleuchtet von den hin und her schwankenden Lampen. Und es waren nicht nur die Kranken, die in fieberhafter Spannung zuhörten, sondern auch die zehn Frauen am Ende des Wagens wendeten ihre armen, häßlichen Gesichter, die der kindliche Glaube merkwürdig verschönte, dem Erzähler zu, glücklich darüber, daß sie nicht ein einziges Wort verloren.

»Nein, ich kann nicht«, erklärte Schwester Hyacinthe zuerst. »Das Programm ist feststehend. Es muß jetzt Ruhe eintreten.«

Schwester Hyacinthe war jedoch nicht unbeugsam, da sie selbst ihr Herz unter dem Busenschleier klopfen fühlte. Marie fing von neuem inständig zu bitten an, während ihr Vater, Herr von Guersaint, der mit vergnügtem Gesichte zuhörte, erklärte, man würde krank davon werden, wenn die Erzählung nicht fortgeführt würde. Als dann auch Frau von Jonquière nachsichtig lächelte, gab die Schwester schließlich nach.

»Nun, gut! Also noch eine kleine Viertelstunde! Aber nicht mehr als eine kleine Viertelstunde, nicht wahr? Sonst würde ich mich einer Ordnungswidrigkeit schuldig machen.«

Pierre hatte ruhig gewartet. Dann fuhr er mit der gleichen, durchdringenden Stimme zu erzählen fort.

Jetzt begann seine Erzählung in Lourdes, in der Rue des Petits-Fossés, einer engen und krummen Gasse, die zwischen armseligen Behausungen und roh beworfenen Mauern abwärts führte. Im Erdgeschoß eines dieser Gebäude bewohnten die Soubirous' am Ende eines dunklen Ganges ein einziges Zimmer, in dem sieben Personen, der Vater, die Mutter und fünf Kinder zusammengepfercht waren. Man konnte kaum deutlich sehen. In den inneren Hof fiel nur ein grünlicher Schimmer vom Tageslicht. Dort schlief man zusammen, dort aß man, wenn man Brot hatte. Seit einiger Zeit fand der Vater, ein Müller seines Zeichens, nur schwer Arbeit. Und aus diesem tiefen Elend war Bernadette, die älteste, an jenem kalten Donnerstag im Februar fortgegangen, um trockenes Holz zu sammeln, mit ihrer jüngeren Schwester Marie und mit Jeanne, einer kleinen Freundin aus der Nachbarschaft.

Dann ging die schöne Erzählung lange weiter: wie die drei kleinen Mädchen hinunter an das Ufer des Gave geklettert waren, an der andern Seite des Schlosses, wie sie sich schließlich auf der Insel du Chalet befunden hatten, dem Felsen von Massabielle gegenüber, von dem sie nur der enge Kanal der Mühle von Savy trennte. Es war ein wilder Ort, an den der Gemeindehirt die Schweine trieb, die bei plötzlichen Regengüssen Schutz unter jenem Felsen von Massabielle suchten, an dessen Fuße, unter Himbeersträuchern und wilden Rosenstöcken verborgen, sich eine nicht sehr tiefe Grotte befand. Das trockene Holz war selten; Marie und Jeanne durchwateten den Kanal, da sie auf der andern Seite einen ganzen Haufen von trockenen Zweigen bemerkten, die das Wasser dort zusammengetragen hatte. Die zartere Bernadette blieb zurück, da sie es nicht wagte, ihre Füße naß zu machen. Sie hatte einen leichten Ausschlag am Kopfe, und ihre Mutter hatte ihr dringend ans Herz gelegt, sich ja recht sorgfältig in ihr Kopftuch einzuhüllen. Da sie sah, daß ihre Gefährtinnen ihr jede Hilfe verweigerten, entschloß sie sich, ihre Holzschuhe auszuziehen und ihre Strümpfe abzustreifen. Es war gegen zwölf Uhr mittags, die drei Schläge des Angelus mußten bald an der Pfarrkirche ertönen und sich emporschwingen zu dem stillen, weiten Himmelszelt, das von einem feinen Wolkenschleier überzogen war. Da bemächtigte sich ihrer eine heftige Aufregung, es brauste ihr so betäubend in den Ohren, daß sie glaubte, einen Sturm vorüberrasen zu hören. Sie sah die Bäume an und konnte sich vor Verwunderung nicht fassen, denn es regte sich nicht ein einziges Blatt. Dann glaubte sie, sie hätte sich getäuscht, und wollte gerade ihre Holzschuhe aufheben, als von neuem dieses heftige Brausen an ihr vorüber tobte. Aber diesmal traf dieses Sausen nicht ihre Ohren, sondern ihre Augen, Sie sah die Bäume nicht mehr, sie war geblendet von einem weißen Schimmer, von einem grellen Lichte, das sich oberhalb der Grotte an den Felsen zu drücken schien in eine enge und hohe Spalte, die einem Spitzbogen an einer Kathedrale glich. Erschrocken fiel sie auf die Knie nieder. Was war denn das, mein Gott? Nach und nach wurden gewisse Umrisse sichtbar, sie glaubte eine Gestalt zu erkennen, die in dem grellen Lichte ganz weiß aussah. Aus Furcht, es könnte der Teufel sein – ihr Gehirn wurde oft von derartigen Spukgeschichten heimgesucht –, hatte sie sofort angefangen, den Rosenkranz zu beten. Das Licht erlosch dann allmählich, und als sie wieder mit Marie und Jeanne zusammentraf, nachdem sie den Kanal durchwatet hatte, war sie sehr verwundert, daß keine von ihnen, während sie vor der Grotte Holz zusammenlasen, etwas wahrgenommen hatte. Als die drei Mädchen nach Lourdes zurückkamen, erzählten sie davon; Bernadette hätte also wirklich etwas gesehen? Sie wollte keine Antwort geben, sie war unruhig und schämte sich ein wenig. Endlich sagte sie, sie hätte etwas Weißes gesehen.

Seitdem verbreitete sich das Gerücht rasch und wuchs immer weiter. Die Soubirous', die dies erfuhren, wurden der kindlichen Schwätzereien müde und verboten ihrer Tochter, noch einmal an den Felsen von Massabielle zu gehen. Aber schon erzählten sich alle Kinder des Stadtviertels die Geschichte, und so mußten die Eltern denn schließlich nachgeben und Bernadette am Sonntag in die Grotte gehen lassen mit einer Flasche geweihten Wassers, um in Erfahrung zu bringen, ob man es nicht mit dem Teufel zu tun hätte. Sie sah wieder die Helligkeit und die Gestalt, die deutlicher hervortrat und lächelte, ohne Furcht vor dem geweihten Wasser zu haben. Am Donnerstag ging sie in Begleitung von anderen Personen wieder hin. An diesem Tage erst hatte die lichte Glanzerscheinung die Gestalt einer Frau angenommen, die endlich das Wort an sie richtete, indem sie zu ihr sagte: »Tut mir den Gefallen und kommt vierzehn Tage lang hierher.« Allmählich hatte sich so aus der undeutlichen Lichterscheinung eine Frauengestalt entwickelt, aus dem weißen Etwas war eine Jungfrau geworden, schöner als eine Königin, wie man sie nur auf Bildern sieht. Zuerst hatte sich Bernadette den Fragen gegenüber, mit denen die Nachbarschaft vom Morgen bis zum Abend sie überschüttete, sehr zurückhaltend gezeigt, von Zweifeln gepeinigt. Dann hatte es geschienen, als ob unter dem Einfluß dieser Verhöre die Gestalt deutlichere, bestimmtere Formen annähme, als ob sie wirkliches Leben gewänne und Formen und Farben, von denen das Kind bei seinen Beschreibungen nicht mehr abweichen durfte. Die Augen waren blau und sehr sanft, der runde Mund rot und lächelnd, das Oval des Gesichtes zeigte zu gleicher Zeit jugendliche und mütterliche Anmut. Am Rande des Schleiers, der das Haupt bedeckte und bis zu den Knöcheln hinabreichte, sah man kaum das wunderbare blonde Haar. Das schneeweiße, glänzende Gewand mußte von einem auf der Erde unbekannten Stoffe sein, der aus Sonnenstrahlen gewoben schien. Die leicht geschlungene Schärpe von der Farbe des Himmels ließ zwei lange, fliegende Enden herabhängen, mit denen der leise Morgenwind zu spielen schien. Der Rosenkranz, der um den rechten Arm geschlungen war, hatte milchweiße Perlen, während die Gelenke und das Kreuz von Gold waren. Und auf den nackten Füßen, diesen anbetungswürdigen Füßen von jungfräulichem, schneeigen Weiß, blühten zwei goldene Rosen, die mystischen Rosen des unbefleckten Leibes der Gottesmutter. Wo hatte Bernadette sie denn gesehen, diese Heilige Jungfrau, deren einfache Darstellung sich durch Überlieferung fortpflanzte, ganz ohne Schmuck in der ursprünglichen Anmut des im Kindesalter stehenden Volkes? In welchem mit Bildern geschmückten Buche des Bruders ihrer Pflegemutter, des guten Priesters, hatte sie sie schon gesehen? Vielleicht als Statue oder auf einem Gemälde, auf einem gemalten und vergoldeten Kirchenfenster in dem Orte, wo sie aufgewachsen war? Namentlich jene goldenen Rosen auf den nackten Füßen, diese köstliche Liebesphantasie, diese fromme Blüte des Frauenkörpers, aus welchem Ritterromane stammten sie, aus welcher Geschichte, die der Abbé Ader in der Katechismusstunde erzählt hatte, aus welchem Traume, den sie auf ihren Streifereien im Waldesschatten bei Bartrès geträumt hatte, während sie ohne Ende die zehn Verse des englischen Grußes wiederholte?

Die Stimme Pierres war noch rührender geworden, denn wenn er auch den geistig Armen, die ihm zuhörten, nicht alles sagte, so verlieh doch die menschliche Erklärung, die er diesen Wundern zu geben versuchte, seiner Erzählung eine Färbung, durch die brüderliche Sympathie hindurchschimmerte. Er liebte Bernadette wegen des Reizes ihrer Vision, die sie mit so vollendeter Liebenswürdigkeit bei ihrem Erscheinen und Verschwinden begrüßt hatte. Das große Licht zeigte sich zuerst, dann bildete sich die Erscheinung, ging, kam, verneigte sich und bewegte sich in leichter, unmerklicher Weise. Als sie verschwand, blieb das Licht noch einen Augenblick da, dann verlosch es wie ein Stern, der stirbt.

Pierre erzählte dann die anderen Erscheinungen. Die vierte und die fünfte hatten am Freitag und Sonnabend stattgefunden. Die von einem Strahlenkranze umflossene Jungfrau, die ihren Namen noch immer nicht genannt hatte, begnügte sich, zu lächeln und zu grüßen, ohne ein Wort zu sprechen. Am Sonntag weinte sie und sagte zu Bernadette: »Betet für die Sünder!« Am Montag machte sie dem Kinde den großen Kummer, nicht zu erscheinen, ohne Zweifel, um sie zu prüfen. Am Dienstag vertraute sie ihr ein persönliches Geheimnis an, das niemals bekanntwerden durfte. Dann endlich teilte sie ihr den Auftrag mit, den sie ihr erteilen wollte: »Geh und sage den Priestern, daß hier eine Kapelle gebaut werden muß.« Am Mittwoch murmelte sie zu wiederholten Malen: »Buße! Buße! Buße!« was das Kind wiederholte, indem es die Erde küßte. Am Donnerstag sagte sie: »Geh und trinke aus der Quelle und wasche dich darin, und essen sollst du von dem Grase, das daneben steht«, Worte, die die Seherin erst dann begriff, als eine Quelle im Hintergrunde der Grotte hervorsprudelte. Das war das Wunder des Zauberbrunnens. Dann verfloß die zweite Woche. Am Freitag erschien sie nicht, stellte sich aber an den fünf folgenden Tagen pünktlich ein, wiederholte ihre Befehle und betrachtete lächelnd das demütige Mädchen, das sie erwählt hatte und das bei jeder Erscheinung den Rosenkranz betete, die Erde küßte und auf den Knien bis an die Quelle herankroch, um daraus zu trinken und sich darin zu waschen. Endlich am Donnerstag, dem 4. März, dem letzten Tage dieser geheimnisvollen Zusammenkünfte, forderte sie den Bau einer Kapelle, damit die Völker in feierlicher Prozession wallfahrten sollten von allen Punkten der Erde. Dennoch aber hatte sie bis jetzt auf alle Bitten der Bernadette sich geweigert, zu sagen, wer sie wäre; erst drei Wochen später, am Donnerstag, dem 25. März, sagte die Jungfrau, indem sie die Hände faltete und die Augen zum Himmel aufschlug: »Ich bin die Unbefleckte Empfängnis!« Noch zweimal in ziemlich langen Zwischenräumen, am, 7. April und am 16. Juli, erschien sie: das erstemal wegen des Wunders mit der Kerze, über die das Kind aus Unachtsamkeit die Hand gehalten hatte, ohne sich zu verbrennen. Das zweitemal, um Abschied zu nehmen, um ihr das letzte Lächeln und den letzten Gruß voll liebenswürdiger Anmut zu spenden. Das waren achtzehn Erscheinungen. Seitdem zeigte sie sich niemals wieder.

Pierre hatte sich gleichsam geteilt. Während er sein schönes Märchen, das die Unglücklichen so gern hörten, erzählte, erweckte er für sich selbst die bedauernswerte und liebe Bernadette, deren Leidensblume so schön geblüht hatte. Nach dem brutalen Ausspruche eines Arztes war dieses vierzehnjährige Mädchen, das in seiner verspäteten Reife von Schmerzen gequält wurde und vom Asthma zugrunde gerichtet war, nichts als eine geistig und körperlich Entartete. Wie viele Schäferinnen hatten schon vor Bernadette in derselben kindlichen Weise die Heilige Jungfrau gesehen! War es nicht immer dieselbe Geschichte: die lichtumflossene Jungfrau, das anvertraute Geheimnis, die hervorsprudelnde Quelle, die zu erfüllende Mission, die Wunder, deren Zauber die Massen bekehren soll? Und immer war es der Traum eines armen Kindes, dieselbe Schilderung des Pfarrgeistlichen, immer das Ideal, aus Schönheit, Sanftmut und Freundlichkeit gebildet, dieselbe Kindlichkeit der Mittel und der gleiche Zweck, Befreiung von Völkern, Erbauung von Kirchen und Wallfahrt von Gläubigen! Gleichartig sind auch alle vom Himmel gesprochenen Worte, Ermahnungen zur Buße und Verheißungen der göttlichen Hilfe. Hier war etwas Neues hinzugekommen, nämlich die außerordentliche Erklärung: »Ich bin die Unbefleckte Empfängnis!«, die wie die nützliche Anerkennung des Dogmas von Seiten der Heiligen Jungfrau selbst klang, des Dogmas, das drüben am päpstlichen Hofe drei Jahre vorher verkündet worden war. Es war nicht die unbefleckte Jungfrau, die erschienen war, sondern die Unbefleckte Empfängnis, die Abstraktion selbst, die Sache, das Dogma. Daß Bernadette die anderen Worte gehört und in einem unbewußten Winkel ihres Gedächtnisses bewahrt hatte, war möglich. Woher aber stammte denn dieses Wort, daß es dem noch umstrittenen Dogma den gewaltigen Beistand des Zeugnisses der Mutter, die ohne Sünde empfangen hat, lieh? Pierre, der von der vollkommenen Glaubwürdigkeit der Bernadette überzeugt war, der sich dagegen wehrte, sie für das Werkzeug eines Betruges anzusehen, wurde von Unruhe gepeinigt, und sein klares Denken verwirrte sich, da er fühlte, daß seine These ins Schwanken geriet.

In Lourdes war ungeheure Aufregung. Scharen von Menschen strömten herbei, Wunder fingen an zu geschehen, während die unvermeidlichen Verfolgungen nicht ausblieben, die den Triumph der neuen Glaubenssätze bestätigten. Der Kurat von Lourdes, Abbé Peyramale, ein gelehrter, ehrenwerter Mann mit rechtschaffenem Sinne und gesundem Verstande, konnte mit vollem Recht sagen, er kenne dieses Kind gar nicht, da er es noch niemals im Katechismusunterricht gesehen habe. Wo war also die treibende Kraft, die eingelernte Lektion? Es lag nichts anderes vor als die in Bartrès verlebte Kindheit, der erste Unterricht durch den Abbé Ader, vielleicht Gespräche, religiöse Zeremonien zur Ehre des neuen Dogmas oder eine Medaille, wie man sie in Unmengen verbreitet hatte. Niemals durfte der Abbé Ader sich zeigen, der die Mission der Seherin prophezeit hatte. Er sollte der Geschichte der Bernadette fernbleiben, nachdem er der erste gewesen war, der gemerkt hatte, wie diese kleine Seele unter seinen frommen Händen sich zu regen anfing. Die unbekannten Kräfte des weltverlorenen Dorfes, dieses grünen Erdenwinkels, voll von Beschränktheit und Aberglauben, fuhren fort, sich geltend zu machen, indem sie die Sinne verwirrten und die ansteckende Krankheit des Mysteriums verbreiteten. Man erinnerte sich, daß ein Schäfer von Argelès bei einem Gespräche über den Felsen von Massabielle vorausgesagt hatte, daß sich große Dinge dort ereignen würden. Kinder gerieten in Verzückung, wobei ihre Glieder von Krämpfen geschüttelt wurden. Aber sie sahen den Teufel. Ein Wahnsinnsrausch schien die ganze Gegend gepackt zu haben. In Lourdes erklärte eine alte Dame, Bernadette sei nichts als eine Hexe. Sie habe den Krötenfuß in ihrem Auge gesehen. Für die anderen, für die Tausende der herbeigeströmten Pilger war sie eine Heilige, deren Kleider sie küßten. Lautes Schluchzen ertönte und eine wilde Glaubensraserei bemächtigte sich aller Seelen, wenn sie vor der Grotte auf die Knie niederfiel, in der rechten Hand eine brennende Kerze haltend, während sie durch ihre linke Hand die Perlen ihres Rosenkranzes im Gebete gleiten ließ. Sie wurde dann sehr blaß, sehr schön und wie verklärt. Langsam kam Leben in ihre Züge. Sie nahmen einen Ausdruck ungewöhnlicher Seligkeit an, während sich ihre Augen mit Glanz füllten und der halbgeöffnete Mund sich bewegte, als wenn er Worte aussprechen wollte, die niemand hören konnte. Es stand fest, daß sie nicht mehr ihren eigenen Willen hatte, daß ihr Traum sie ganz erfüllte, so daß sie ihn selbst im wachenden Zustand fortträumte, daß sie ihn für die unanfechtbare Wirklichkeit ansah, bereit, diese um den Preis ihres Lebens zu bekennen, sie immer wiederholend und so mit allen Einzelheiten in ihren Gedanken festhaltend. Sie log nicht, denn es lag ihr fern, etwas anderes zu wollen, sie konnte es gar nicht und wollte es auch gar nicht.

Pierre vergaß sich jetzt und entwarf ein reizendes Bild von dem alten Lourdes, dem kleinen, frommen Städtchen, das am Fuße der Pyrenäen schlummerte. Früher war das Schloß, auf einem Felsen am Kreuzungspunkt der sieben Täler des Lavedan gelegen, der Schlüssel der Berge. Jetzt aber ist es geschleift und nur noch ein altes Mauerwerk am Eingange eines engen Tales. Hier stieß das moderne Leben gegen die furchtbare Mauer der gewaltigen schneebedeckten Bergriesen. Nur die transpyrenäische Eisenbahn würde, wenn man sie erbaut hätte, etwas Bewegung in das Leben gebracht haben, das in diesem weltverlorenen Winkel träumte. Von der Welt vergessen, schlummerte Lourdes glücklich und träge in seinem jahrhundertelangen Frieden mit seinen engen Straßen, mit seinen schwarzen Häusern und seiner marmornen Umrahmung. Die alten Häuser gruppierten sich um den östlichen Fuß des Schloßberges, die Straße nach der Grotte, die Rue du Bois hieß, war ein verlassener, unbefahrbarer Weg. Die Häuser gingen nicht bis zum Gave hinunter, der damals seine schäumenden Wellen durch eine tiefe Einsamkeit von Weiden und hohen Gräsern rollte. Auf der Place du Marcadal sah man selten Menschen, Hausfrauen, die rasch dahineilten oder kleine Rentner, die ihre Mußezeit zum Spazierengehen verwendeten. Man mußte warten, bis ein Sonntag oder die Meßzeit kam, um auf dem Gemeindeplatz die sonntäglich gekleidete Bevölkerung zu finden. Während der Badesaison brachten die Badegäste von Cauterets und Bagnères etwas Leben. Zweimal täglich passierten Postwagen die Stadt. Sie kamen auf einem abscheulichen Wege von Pau und mußten den Lapaca, der oft über seine Ufer trat, auf einer Furt durchfahren. Dann ging es den steilen Abhang der Rue Basse hinauf und an der Terrasse entlang, auf der die von hohen Ulmen beschattete Kirche lag. Tiefer Friede herrschte in dieser alten Kirche. Sie war in spanischem Stile erbaut und angefüllt mit alten Skulpturen, Säulen, Bildern und Statuen, bevölkert von goldumwobenen Visionen und von alten Wandbildern, die im Laufe der Zeit so verblichen waren, daß man sie nur wie im Schimmer mystischer Lampen sah. Von der Bevölkerung wurde sie viel besucht, Ungläubige gab es nicht; das Volk hatte seinen Glauben bewahrt. Jede Zunft scharte sich um die Fahne ihres Heiligen; Bruderschaften aller Art vereinigten die ganze Stadt an Feiertagen zu einer einzigen christlichen Familie, Große Sittenreinheit herrschte, einer wunderbaren Blume gleich, die in einer auserlesenen Vase emporgesproßt war. Die jungen Männer fanden keine Gelegenheit, sich, zu vergessen, denn alle jungen Mädchen wuchsen in dem Dufte und der Schönheit der Unschuld unter den Augen der Heiligen Jungfrau auf.

So begreift man, daß Bernadette, eine Tochter dieser frommen Gegend, emporblühte wie eine natürliche Rose; die an den wilden Rosenstöcken am Wegesrande sich entfaltet. Sie war die Blüte dieses Landes altväterlichen Glaubens und altväterlicher Ehrbarkeit. Sie konnte nur dort entstehen. Sie konnte sich nur dort so entwickeln in dem friedlichen Schlummer eines noch im Kindesalter stehenden Volkes unter der moralischen Zucht der Kirche. Und welche Liebe war sofort für sie aufgeflammt, welch blinder Glaube an ihre Sendung, welch unermeßlicher Trost und welche Hoffnungen seit den ersten Wundern! Lauter Jubel der Erleichterung begrüßte die Heilung des alten Bourriette, der sein Augenlicht wieder bekam, und des kleinen Justin Bouhohorts, der in dem eisigen Wasser des Brunnens wieder zum Leben erwachte. Die Heilige Jungfrau trat ins Mittel zugunsten der Verzweifelten und zwang die Rabenmutter Natur, gerecht und barmherzig zu sein. Es war die neue Herrschaft der göttlichen Allmacht, die die Gesetze der Welt umstürzte zum Heile für die Leidenden und für die Armen. Die Wunder vermehrten sich; sie wurden von Tag zu Tag immer außerordentlicher und leuchteten hell und klar als unanfechtbare Beweise der Wahrhaftigkeit der Bernadette.

Pierre war bis dahin gekommen. Er erzählte von neuem die Wunder und wollte eben in seinem Berichte über den Triumph der Grotte fortfahren, als Schwester Hyacinthe plötzlich aus der Verzauberung aufwachte, in der sie die Erzählung gefesselt hielt und rasch aufstand.

»Das ist aber wirklich nicht mehr vernünftig ... Es wird jetzt bald elf Uhr schlagen.«

Es war richtig, man hatte schon Morceux passiert und kam nach Mont-de-Marsan. Schwester Hyacinthe klatschte in ihre Hände.

»Ruhe, meine Kinder, Ruhe!«

Diesmal wagte man nicht zu widersprechen, denn sie hatte recht, es war nicht mehr vernünftig. Aber wie sehr bedauerte man es, daß man mitten in der schönen Geschichte stehenbleiben mußte. Die zehn Frauen in der letzten Abteilung ließen sogar ein Murmeln des Mißfallens laut werden, während die Kranken mit gespanntem Gesicht noch immer zuzuhören schienen. Die Wunder, die ohne Unterbrechung aufeinander folgten, erfüllten sie mit unendlicher, überirdischer Freude.

»Daß ich also jetzt keine einzige Silbe mehr höre!« fügte die Nonne in scherzendem Tone hinzu; »sonst müßte ich strafen.«

Frau von Jonquière lächelte freundlich und sagte:

»Seid folgsam, meine lieben Kinder! Schlaft, schlaft ruhig, damit ihr morgen die Kraft habt, aus vollem Herzen in der Grotte zu beten!«

Dann trat Stillschweigen ein, niemand sprach mehr und man hörte nur das Rasseln der Räder, das Rütteln des Zuges, der durch die tiefschwarze Nacht dahin rollte.

Pierre konnte nicht schlafen. Neben ihm schnarchte Herr von Guersaint und lächelte glückselig trotz der harten Bank. Lange hatte der junge Priester Mariens Augen weit geöffnet gesehen, erfüllt von dem Glänze der Wunder, die er soeben erzählt hatte. Ihre Blicke ruhten heiß auf ihm. Dann hatte sie ihre Augen geschlossen und er wußte nicht, ob sie schlief oder ob sie bei geschlossenen Augenlidern das Wunder noch einmal an ihrem Geist vorüberziehen ließ. Viele von den Kranken träumten laut. Bald lachten sie, bald stießen sie, ohne es zu wissen, Klagen aus. Vielleicht sahen sie, wie die Erzengel in ihr Fleisch schnitten, um ihr Übel herauszureißen. Andere waren von Schlaflosigkeit gequält. Sie warfen sich hin und her, seufzten tief und schwer und starrten unverwandt in das Halbdunkel. Pierre, der sich in großer Aufregung befand, verwünschte schließlich seine Vernunft und war entschlossen zu glauben. Was hatte die physiologische Untersuchung über Bernadette, die so verwickelt und so voller Lücken war, für einen Zweck? Warum wollte er sie denn nicht für eine Auserwählte des göttlichen Unbekannten ansehen? Die Ärzte waren Stümper mit rohen Händen, während es herrlich sein mußte, in dem Glauben der Kinder, in dem Zaubergarten des Unmöglichen einzuschlummern. Er versuchte nicht mehr, sich etwas zu erklären, und nahm die Seherin, wie sie war, mit all ihrem überreichen Gefolge von Wundern und überließ es dem lieben Gott, für ihn zu denken und an seiner Stelle zu wollen. Er blickte durch das Fenster hinaus, das man der Schwindsüchtigen wegen nicht zu öffnen gewagt hatte. Er sah in die tiefe Nacht, die sich auf die Gefilde herabgesenkt hatte, durch die der Zug raste. Der nächtliche Himmel war von einer wunderbaren Reinheit. Helle Sterne funkelten auf dunklem Samt und beleuchteten mit ihrem geheimnisvollen Lichte die stummen Gefilde. Durch die Heiden, durch die Täler und an den Hügeln vorüber rollte der Zug voller Elend und Leiden weiter und weiter, überheiß und verpestet, bejammernswert, inmitten der Reinheit dieser hehren, so schönen und süßen Nacht.

Um ein Uhr morgens hatte man Riscle passiert. Tiefes Stillschweigen herrschte, das nur von den regelmäßigen Stößen der Wagen und von den gelegentlichen Seufzern eines Kranken unterbrochen wurde. Um zwei Uhr in Vic de Bigorre begann dumpfes Stöhnen und Klagen, der schlechte Zustand der Bahn verursachte den Kranken viele Beschwerden. In Tarbes endlich unterbrach man um zwei und ein halb Uhr das Stillschweigen. Man sprach die Morgengebete, obgleich es noch vollständig Nacht war. Das Vaterunser, das Ave und das Credo wurden gebetet und Gott angefleht um das Glück eines ruhmwürdigen Tages. O mein Gott! Gib mir genug Kraft, auf daß ich alles Schlimme vermeiden, alles Gute ausüben und alle Schmerzen ertragen kann!

Jetzt wurde nicht wieder angehalten als in Lourdes selbst. Noch dreiviertel Stunden, und Lourdes zeigte sich, mit seinem hoffnungsreichen Glanze in die lange und bange Nacht hinausstrahlend. Beim Erwachen bemächtigte sich aller eine heftige Aufregung. Die Leiden begannen von neuem.

Besonders beunruhigte sich Schwester Hyacinthe des fremden Mannes wegen. Er hatte bis jetzt noch gelebt. Sie war bei ihm geblieben, ohne einen Augenblick die Lider zu schließen. Auf den leisesten Atemzug hatte sie aufgepaßt, da es ihr sehnlichster Wunsch war, ihn wenigstens noch lebend nach Lourdes zu bringen.

Plötzlich bekam sie Angst und wandte sich daher an Frau von Jonquière mit den Worten:

»Ich bitte Sie, reichen Sie mir rasch die Flasche mit dem Weinessig herüber ... Ich höre ihn gar nicht mehr atmen.«

In der Tat hatte der Mann seit einem Augenblick sein leises Atmen ganz eingestellt. Seine Augen waren immer fest geschlossen und sein Mund halb geöffnet. Seine Blässe aber hatte nicht zunehmen können. Er war kalt und sein Gesicht von der Farbe der Asche.

»Ich werde ihm die Schläfen reiben«, begann die Schwester von neuem. »Bitte, helfen Sie mir.«

Plötzlich fiel der Mann bei einem heftigen Stoße des Wagens mit dem Gesicht nach vorn.

»O mein Gott! Helfen Sie mir doch, richten Sie ihn doch wieder in die Höhe!«

Man richtete ihn wieder empor. Er war tot. Man mußte ihn in eine Ecke zurücksetzen und seinen Rücken gegen die Scheidewand lehnen. Er blieb sitzen, sein Körper war schon steif geworden, nur der Kopf wackelte noch etwas bei jedem Stoße. Der Zug raste weiter, während die Lokomotive gellende Pfiffe ausstieß, die wie ohrenzerreißende Fanfaren durch die Stille der Nacht hallten.

Eine nicht enden wollende halbe Stunde in Gesellschaft des Toten folgte, und dann war die weite Reise zu Ende. Dicke Tränen waren über die Wangen der Schwester Hyacinthe herabgerollt. Dann hatte sie die Hände gefaltet und zu beten angefangen. Der ganze Wagen zitterte vor Entsetzen über diesen schrecklichen Gefährten, den man zu spät zur Heiligen Jungfrau brachte. Aber die Hoffnung war stärker als der Schrecken, der Jubelgesang ertönte nicht weniger laut bei dem Einzug in das Land des Wunders. Die Kranken stimmten unter Tränen, die ihnen ihre Schmerzen auspreßten, das Ave Maria Stella an. Ihr Schmerzensschrei nahm zu, bis sich die Klagen in Hoffnungsschreie auflösten.

Marie hatte die Hand Pierres wieder zwischen ihre kleinen, fieberheißen Finger genommen.

»O mein Gott! Nun ist der Mann gestorben, und ich fürchtete so sehr, sterben zu müssen, bevor wir das Ziel erreichten ... Aber jetzt sind wir da, jetzt sind wir endlich da!«

Der junge Priester zitterte vor tiefer Ergriffenheit.

»Sie müssen geheilt werden, Marie, und auch ich werde wieder genesen, wenn Sie für mich beten.«

Die Lokomotive ließ einen gellenden Pfiff durch die blaue Finsternis erschallen. Man hatte das Ziel erreicht, die Lichter von Lourdes erglänzten am Horizont, und der ganze Zug sang die Geschichte der Bernadette, ein endloses Klagelied, in dem der englische Gruß als Refrain wiederkehrte, ein Gesang, der den Himmel der Verzückung öffnete.


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