Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Fünftes Kapitel

Alle Zugänge zum Voreux waren geschlossen worden; die sechzig Soldaten – Gewehr bei Fuß – besetzten die einzige frei gebliebene Tür, die zum Aufnahmesaale führte, über eine schmale Treppe, auf die das Aufseherzimmer sich öffnete. Der Kapitän hatte sie in zwei Reihen an der Ziegelwand des Gebäudes aufgestellt, damit man sie nicht von hinten angreifen könne.

Die aus dem Dorfe herabgestiegene Bergmannschar hielt sich anfänglich fern. Es waren ihrer höchstens dreißig, und sie besprachen sich in heftigen und verworrenen Worten.

Die Maheu, die zuerst angekommen war, ungekämmt, mit einem in aller Hast über den Kopf geworfenen Schnupftuche, die schlafende Estelle im Arme, wiederholte mit fieberhafter Stimme:

»Niemand hinein und niemand heraus! Wir müssen sie da drinnen fassen!«

Ihr Mann stimmte zu. Da kam Mouque von Réquillart her. Man wollte ihn hindern hineinzugehen; allein er wehrte sich und sagte, daß seine Pferde ihr Futter haben wollten und sich wenig um die Revolution kümmerten. Überdies liege unten ein totes Pferd, und man warte nur auf ihn, um es hinaufzuschaffen. Etienne befreite den alten Stallwärter aus den Händen der Bergleute, und die Soldaten ließen Mouque hinein. Eine Viertelstunde später – die Schar der Ausständigen war inzwischen immer größer geworden und hatte eine drohende Haltung angenommen – öffnete sich ein breites Tor im Erdgeschosse, und es erschienen Männer, die das tote Tier auf einem Karren herausführten, eine trübselige Last noch in dem Stricknetz, in dem sie heraufbefördert worden. Sie luden das Aas ab und ließen es mitten in den Pfützen von geschmolzenem Schnee liegen. Die Szene rief eine solche Bewegung hervor, daß man die Arbeiter nicht hinderte, zurückzukehren und das Tor wieder zu verrammeln. Alle hatten das Tier an seinem Kopf erkannt, der jetzt steif nach der Seite hing.

»Es ist Trompete! Es ist Trompete!« ging es flüsternd durch die Menge.

Es war in der Tat Trompete. Das Pferd hatte sich an das Leben in der Grube nicht gewöhnen können. Es war stets verdrossen, unlustig bei der Arbeit, gleichsam von der Sehnsucht nach dem Lichte gequält. Es war vergebens, daß Bataille – der Grubenälteste – sich freundschaftlich an Trompete rieb und ihm den Hals beleckte, um etwas von seiner Ergebung in seine zehn Jahre Grubenleben dem Kameraden einzuflößen. Diese Liebkosungen vermehrten nur seine Trauer; seine Haare zitterten bei den Vertraulichkeiten des Schicksalsgenossen, der in der Finsternis alt geworden. Sooft die beiden Tiere einander begegneten und schnoben, schienen sie sich ihr Leid zu klagen, der Alte, weil er so weit gekommen, sich gar nicht mehr zu erinnern, der Junge, weil er nicht vergessen konnte. Im Stalle waren sie Raufennachbarn und lebten mit gesenkten Köpfen dahin, sich einander in die Nüstern blasend, in einem fortwährenden Austausch ihres Traumes vom Licht, von grünen Matten, von weißen Straßen, von goldiger Sonnenhelle am unendlichen Horizont. Als Trompete, mit Schweiß bedeckt, auf seiner Streu im Todeskampfe lag, beroch ihn der Kamerad in trübseliger Stimmung mit kurzem Schnuppern, das einem Schluchzen glich. Er fühlte ihn erkalten; die Grube nahm ihm seine letzte Freude, diesen aus der Höhe gekommenen Freund, der frisch und wohlriechend, ihn an die schönen Tage seiner im Freien verbrachten Jugend erinnerte. Als er merkte, daß der andere sich nicht mehr rührte, wieherte er entsetzt auf und zerriß die Halfterleine.

Mouque hatte übrigens schon seit acht Tagen den Oberaufseher von der Sache benachrichtigt. Doch in diesem Augenblicke kümmerte man sich wenig um ein krankes Pferd. Die Herren sahen ungern einen Pferdewechsel; jetzt mußte man sich aber doch entschließen, das tote Pferd hinaufzuschaffen. Am vorhergegangenen Tage hatte der Stallwärter, von zwei Arbeitern unterstützt, eine Stunde damit zugebracht, Trompete mit dem Stricknetz festzubinden. Dann ward Bataille vorgespannt, um das Tier bis zum Aufzugsschachte zu schaffen. Langsam zog das alte Pferd an und schleppte den toten Kameraden durch eine Galerie, die so eng war, daß er zuweilen gewaltsam anzerren mußte, auf die Gefahr hin, den toten Gefährten zu schinden. Erschöpft bewegte er den Kopf, als er das andauernde schleifende Geräusch dieser Masse hörte, die vom Schinder erwartet wurde. Als Bataille im Aufnahmesaale losgespannt wurde, folgte er mit seinen trüben Augen den Vorbereitungen zur Hinaufbeförderung, wie der Körper oberhalb der Senkgrube auf Rollen geschoben und dann das Netz unter der Schale befestigt wurde. Endlich gaben die Verlader das Zeichen; Bataille hob den Kopf, um mit anzusehen, wie der Kamerad auffuhr, zuerst langsam, dann plötzlich in der Finsternis verschwindend, für immer dem schwarzen Loche entrinnend. Er blieb eine Weile mit ausgestrecktem Halse dastehen; sein wackeliges Tiergedächtnis erinnerte sich vielleicht der irdischen Dinge. Doch es war aus; der Kamerad werde nichts mehr sehen. Er selbst werde zu einem so jämmerlichen Paket zusammengeschnürt werden an dem Tage, da man ihn durch diesen Schlund hinaufschaffe. Seine Beine begannen zu zittern; die frische Luft, die von den fernen Gefilden kam, erstickte ihn, und er war wie berauscht, als er plump und schwerfällig nach dem Stalle zurückkehrte.

Im Werkshofe standen die Bergleute in ernster Stimmung vor Trompetes Leiche. Ein Weib sagte halblaut:

»Wieder einer hineingegangen! Niemand hindert die Leute anzufahren!«

Doch vom Dorfe her kam eine neue Schar und Levaque, der, gefolgt von seinem Weibe und von Bouteloup, an der Spitze marschierte, schrie:

»Tod den Belgiern! Keine Fremden bei uns! Tod! Tod!«

Alle stürzten hinzu; Etienne mußte ihnen Einhalt gebieten. Er hatte sich dem Kapitän genähert, einem hochgewachsenen, schmächtigen jungen Manne von kaum achtundzwanzig Jahren, mit verzweifeltem, aber entschlossenem Gesichte. Er erklärte ihm die Dinge, suchte, ihn zu gewinnen, und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Wozu ein unnützes Gemetzel wagen? Waren denn die Bergleute nicht in ihrem Rechte? Alle Menschen seien Brüder, und man müsse sich vertragen. Bei dem Worte »Republik« machte der Kapitän eine nervöse Handbewegung. Er bewahrte seine militärische Schroffheit und sagte plötzlich:

»Platz da! Zwingen Sie mich nicht, meine Pflicht zu tun!«

Dreimal wiederholte Etienne seinen Versuch. Hinter ihm murrten die Kameraden. Es ging das Gerücht, daß Herr Hennebeau in der Grube sei, und man sprach davon, ihm mit dem Kopfe voraus hinabzuschicken, um zu sehen, ob er selbst die Kohle brechen werde. Aber das Gerücht war falsch; es waren nur Negrel und Dansaert da, die einen Augenblick an einem Fenster des Aufnahmesaales sichtbar waren. Der Oberaufseher stand hinten, außer Fassung seit seinem Abenteuer mit der Frau Pierron, wahrend der Ingenieur mutig seine Äuglein über die Menge schweifen ließ, lächelnd in seiner spöttischen Geringschätzung, die er für die Menschen und für die Dinge hatte. Als in der Menge sich ein Gejohle gegen sie erhob, verschwanden sie vom Fenster, und man sah an ihrer Stelle nur mehr das weiße Gesicht Suwarins. Er hatte eben Dienst; er hatte seit Beginn des Streiks seine Maschine keinen Tag verlassen, sprach sehr wenig, versank immer mehr in eine fixe Idee, deren stählerner Nagel auf dem Grunde seiner blassen Augen zu funkeln schien.

»Platz da!« wiederholte der Kapitän laut. »Ich will nichts hören; ich habe den Befehl, die Grube zu bewachen, und ich werde sie bewachen... Drängt nicht auf meine Leute ein, sonst werde ich euch zurückzujagen wissen.«

Trotz der Festigkeit seiner Stimme war er bleich und immer unruhiger angesichts der fortwährend anwachsenden Menge der Bergleute. Zu Mittag sollte er abgelöst werden; doch weil er fürchtete, sich bis dahin nicht halten zu können, hatte er soeben einen Stößerjungen nach Montsou gesendet, um Verstärkung zu verlangen.

Lautes Geschrei antwortete ihm.

»Tod den Fremden! Tod den Belgiern! Wir wollen die Herren im eigenen Hause sein!«

Etienne wich trostlos zurück. Es war aus; es blieb nichts anderes übrig, als sich zu schlagen und zu sterben. Er hielt die Kameraden nicht länger zurück; die Bande wälzte sich bis zu der kleinen Truppe heran. Es waren ihrer fast vierhundert; die Nachbardörfer leerten sich; die Leute kamen im Eilschritt herbei. Alle stießen den nämlichen Schrei aus. Maheu und Levaque sagten wütend den Soldaten:

»Geht weg! Wir haben nichts gegen euch! Geht weg!«

»Es geht euch nichts an!« fügte die Maheu hinzu. »Laßt uns unsere Angelegenheiten selber austragen.«

Die Levaque – hinter ihr – schrie noch heftiger:

»Müssen wir euch erst auffressen, um hineinzukommen? Man bittet euch, den Platz zu räumen!«

Man hörte sogar die dünne Stimme Lydias, die sich mit Bebert in das dichteste Gewühl gedrängt hatte, in schrillem Tone sagen:

»Diese Wurstsoldaten!«

Katharina stand einige Schritte abseits und schaute und hörte, völlig betroffen von diesen neuen Tumulten, in die ihr Mißgeschick sie hineingeschleudert hatte. Litt sie nicht ohnehin schon zuviel? Was hatte sie denn verbrochen, daß das Unglück sie nicht zur Ruhe kommen ließ? Noch gestern hatte sie nichts von den Wutausbrüchen des Streiks begriffen; sie dachte, wenn man seine Maulschellen habe, sei es unnötig, andere zu suchen; jetzt aber schwoll ihr Herz von einem Bedürfnis zu hassen; sie erinnerte sich, was Etienne ehemals bei den Abendzusammenkünften erzählte; suchte zu verstehen, was er jetzt den Soldaten sagte. Er nannte sie seine Kameraden; er erinnerte sie, daß auch sie aus dem Volke seien und daher zum Volke halten müßten, um es gegen die Ausbeuter des Elends zu schützen.

Doch in der Menge entstand jetzt ein heftiges Drängen und Stoßen, und ein altes Weib stürzte hervor. Es war die Brulé, furchtbar abgemagert, Hals und Arme entblößt, sie war in so toller Hast herbeigelaufen, daß die grauen Haarbüschel ihr in die Augen fielen und sie fast blendeten.

»Donner Gottes, ich bin auch dabei!« stammelte sie atemlos. »Dieser Verräter Pierron hielt mich im Keller eingeschlossen.«

Unverzüglich fiel sie über die bewaffnete Macht her, Verwünschungen aus dem schwarzen Rachen speiend.

»Ihr Hundsfötter! Ihr Halunken! Das leckt den Vorgesetzten die Stiefel und hat nur Mut gegen die armen Leute!«

Da schlossen die anderen sich ihr an, und es folgten ganze Breitseiten von Beschimpfungen. Einige riefen noch: »Hoch die Soldaten! In den Schacht mit dem Offizier!« Aber bald hörte man nur einen Ruf: »Nieder mit den roten Hosen!« Diese Soldaten, die unempfindlich, mit unbeweglichem, stummem Antlitz die Aufforderungen zur Brüderlichkeit, die freundschaftlichen Anwerbungsversuche anhörten, bewahrten denselben starren Gleichmut unter diesem Hagel von Schimpfworten. Der Kapitän, der hinter ihnen stand, hatte seinen Degen gezogen. Als die Menge immer näher herandrängte und seine Leute an die Wand zu drücken drohte, kommandierte er: »Fällt das Bajonett!« Die Soldaten gehorchten, und eine Doppelreihe von Stahlspitzen starrte den Leibern der Streikenden entgegen.

»Ha, die Halunken!« heulte die Brulé zurückweichend.

Doch sogleich kehrten alle zurück in einer begeisterungsvollen Todesverachtung. Weiber stürzten herbei; die Maheu und die Levaque riefen:

»Tötet uns! Tötet uns doch! Wir wollen unser Recht!«

Auf die Gefahr hin, sich die Hände zu zerschneiden, hatte Levaque ein Bündel Bajonette ergriffen, drei Bajonette, die er schüttelte, die er an sich zog, um sie loszureißen; und er verbog sie mit der verzehnfachten Kraft seiner Wut, während Bouteloup, den es verdroß, dem Kameraden gefolgt zu sein, abseits stand und ruhig zusah, was der andere trieb.

»Drauflos, wenn ihr Mut habt!« rief Maheu. »Drauflos, laßt einmal sehen!«

Er öffnete seine Jacke, tat sein Hemd auseinander, breitete seine nackte Brust aus, sein behaartes, von der Kohle gesprenkeltes Fleisch. Er drängte sich gegen die Stahlspitzen und zwang sie so zurückzuweichen, furchtbar in seiner Tollkühnheit. Eine der Spitzen war ihm in die Brust gedrungen; er war davon wie toll und machte Anstrengungen, daß sie noch tiefer eindringe, damit er seine Seiten platzen höre.

»Feiglinge, ihr wagt es nicht ... Hinter uns gibt es noch zehntausend! ... Ihr könnt uns töten, es kommen zehntausend andere.«

Die Lage der Soldaten wurde kritisch, denn sie hatten den strengen Befehl, sich ihrer Waffen nur im äußersten Falle zu bedienen. Aber wie wollte man diese Wütenden verhindern, sich selber aufzuspießen? Der Raum wurde zudem immer kleiner; die Soldaten waren jetzt knapp an die Mauer gedrängt und konnten nicht weiter zurückweichen. Die kleine Truppe, eine Handvoll Menschen, hielt sich standhaft angesichts der immer mehr anwachsenden Menge der Grubenarbeiter, und führte kaltblütig die knappen Befehle des Kapitäns aus. Dieser stand mit hellen Augen und eingekniffenen Lippen da und hatte nur die eine Furcht, daß die Soldaten durch die Beschimpfungen gereizt, die Geduld verlieren könnten. Ein junger Sergeant, ein langer Magerer, dessen dünner Schnurrbart in drohende Spitzen auslief, begann in beunruhigender Weise zu blinzeln. Neben ihm stand ein alter Knasterbart, dessen Haut in zwanzig Feldzügen gegerbt worden; dieser erbleichte, als er sein Bajonett wie einen Strohhalm sich biegen sah. Ein anderer, ohne Zweifel ein Rekrut, der noch nach der Feldarbeit roch, ward jedesmal sehr rot, wenn er sich einen Halunken und Hundsfott nennen hörte. Die heftigen Reden nahmen kein Ende, die emporgestreckten Fäuste, die Beschimpfungen, die hingeschleuderten Beschuldigungen und Drohungen, die sie gleich Backenstreichen trafen. Die ganze Macht des Befehls war notwendig, um sie mit stummem Antlitz in dem stolzen und traurigen Schweigen der militärischen Disziplin zu erhalten.

Ein Zusammenstoß schien unvermeidlich, als man hinter der Truppe den Aufseher Richomne mit seinem weißen Kopfe eines gutmütigen Gendarmen auftauchen sah. Er war in großer Aufregung und schrie:

»Donner Gottes! Das ist schließlich zu dumm! Solche Dummheiten darf man nicht gestatten!«

Er warf sich zwischen die Bajonette und die Bergleute,

»Kameraden, höret mich! Ihr wißt, daß ich ein alter Arbeiter bin und nie aufgehört habe, einer der eurigen zu sein. Beim Himmel, ich verspreche euch, daß, wenn man ungerecht gegen euch sein sollte, ich es sein werde, der den Herren die Wahrheit sagt ... Aber jetzt ist's zuviel! Es führt zu nichts, diesen braven Soldaten Beschimpfungen zuzuschreien und sich den Leib durchlöchern zu lassen.«

Die Menge hörte ihn an und geriet ins Schwanken. Zum Unglück erschien oben wieder das scharfe Gesicht des kleinen Negrel. Er fürchtete ohne Zweifel, man könne ihn beschuldigen, einen Aufseher zu senden, anstatt sich selber unter die Leute zu wagen, und versuchte zu reden. Doch seine Stimme verlor sich in einem so furchtbaren Lärm, daß er abermals das Fenster verlassen mußte, was er mit einem Achselzucken tat. Nunmehr bat Richomne sie vergebens in seinem Namen und wiederholte vergebens, daß Kameraden sich verständigten müßten: man wies ihn zurück, man verdächtigte ihn. Doch er war eigensinnig und blieb unter ihnen.

»Donner Gottes!« rief er. »Man zerschlage mir den Schädel unter euch; aber ich verlasse euch nicht, solange ihr so dumm seid!«

Etienne, den er bat, er möge ihm helfen, sie zur Vernunft zu bringen, machte eine Gebärde, die besagte, daß er machtlos sei. Es war zu spät; ihre Anzahl stieg jetzt auf mehr als fünfhundert. Es waren nicht bloß Wütende, welche herbeigeeilt waren, um die Belgier zu vertreiben; es waren auch Neugierige da, Spaßvögel, die an dem Rummel sich ergötzten. In geringer Entfernung standen mitten in einer Gruppe Zacharias und Philomene und schauten zu wie im Theater, so ruhig, daß sie ihre beiden Kinder, Achilles und Desiree, mitgebracht hatten. Eine neue Schar kam aus Réquillart, darunter Mouquet und die Mouquette; der erstere ging sogleich zu seinem Freunde Zacharias und schlug ihm lustig auf die Schulter, während die letztere sehr aufgeräumt in der vordersten Reihe der ärgsten Schreier herumtollte.

Der Kapitän wandte sich indes jeden Augenblick nach der Straße von Montsou. Die verlangte Verstärkung kam nicht; seine sechzig Mann konnten nicht länger standhalten. Endlich kam er auf den Einfall, auf die Menge einzuwirken, und befahl, daß vor ihren Augen die Gewehre geladen wurden. Die Soldaten vollzogen den Befehl; allein die Bewegung nahm noch zu: die Prahlereien und Spöttereien wurden immer ärger.

»Schau, die Tagediebe! Sie ziehen zum Scheibenschießen aus!« spotteten die Weiber, die Brulé, die Levaque und die anderen.

Die Maheu, an der Brust den kleinen Körper Estelles, die erwacht war und weinte, kam so nahe heran, daß der Sergeant sie fragte, was sie mit dem armen Wurm da wolle.

»Was hat's dich zu kümmern?« antwortete sie. »Schieße auf das Kind, wenn du es wagst!«

Die Männer schüttelten verächtlich den Kopf; kein einziger glaubte, daß man auf sie schießen könne.

»Sie haben keine Kugeln in ihren Kartuschen«, sagte Levaque.

»Sind wir Kosaken?« schrie Maheu. »Man schießt doch nicht auf Franzosen, Donner Gottes über euch!«

Andere wiederholten, daß man das Blei nicht fürchte, wenn man den Krimkrieg mitgemacht habe. Alle fuhren fort, sich den Gewehren entgegenzuwerfen. Eine Salve würde in diesem Augenblicke die ganze Menge weggefegt haben. In der ersten Reihe gebärdete die Mouquette sich wie toll, weil sie glaubte, daß die Soldaten den Weibern die Haut durchlöchern wollten. Sie hatte ihnen alle ihre Unflätigkeiten zugeschrien, keine Beschimpfung war ihr niedrig genug; und plötzlich – weil sie der Truppe nur mehr diesen tödlichen Schimpf zufügen konnte – zeigte sie den Hintern. Mit beiden Händen hob sie ihre Röcke empor und streckte die Lenden hin, breitete die ungeheure Rundung aus.

»Hier, das ist für euch! Er ist noch zu sauber, ihr Schweinetroß!«

Sie duckte sich, bückte sich, drehte sich, daß jeder seinen Teil bekomme.

»Das ist für den Offizier! das für den Sergeanten! das für die Soldaten.«

Ein wahrer Sturm von Gelächter brach los. Bebert und Lydie wälzten sich vor Lachen, und Etienne selbst – trotz seiner düsteren Haltung – stimmte mit ein beim Anblick dieser scheußlichen Nacktheit. Alle, die Spaßvögel und die Wütenden, johlten jetzt gegen die Soldaten, als ob sie dieselben von Unflat befleckt sähen; nur Katharina, die abseits auf einem Haufen alter Hölzer stand, blieb stumm, fast erstickend, fortgerissen von dem Hasse, dessen Flut sie immer höher steigen sah.

Doch jetzt entstand ein Stoßen und Drängen. Um die Aufregung seiner Leute zu beschwichtigen, entschloß der Kapitän sich endlich, Verhaftungen vorzunehmen. Die Mouquette entkam mit einem Satze, indem sie sich den Kameraden zwischen die Beine warf. Drei Bergleute, Levaque und zwei andere wurden aus der Gruppe der ärgsten Schreier geholt und im Aufseherzimmer einer Wache übergeben. Negrel und Dansaert schrien von oben dem Kapitän zu, sich in das Gebäude zurückzuziehen und sich mit ihnen einzuschließen. Doch er lehnte ab, denn er fühlte, daß dieses Gebäude, das Türen ohne Schlösser hatte, von der Menge im Sturm genommen und er mit seinen Leuten den Schimpf erleben würde, entwaffnet zu werden. Seine kleine Truppe begann ungeduldig zu murren; man konnte doch nicht vor diesem jämmerlichen Volk in Holzschuhen die Flucht ergreifen. Die sechzig Mann mit ihren geladenen Gewehren nahmen wieder an der Wand Aufstellung und fällten das Bajonett.

Zuerst wich die Menge zurück, und Schweigen trat ein. Die Streikenden waren eine Weile verblüfft über diesen Akt der Gewalt. Dann erhob sich ein Geschrei, man forderte die augenblickliche Freigebung der Gefangenen. Einzelne Stimmen riefen, die Gefangenen würden drinnen erwürgt. Ohne Verabredung, von der nämlichen Aufwallung, von dem nämlichen Rachebedürfnis fortgerissen, rannten sie zu den benachbarten Ziegelhaufen, zu diesen Ziegeln, die aus der lehmigen Erde geformt und an Ort und Stelle gebrannt wurden. Die Kinder schleppten sie einzeln herbei; die Weiber füllten ihre Röcke damit. Bald hatte jeder zu seinen Füßen einen Vorrat aufgehäuft, und der Kampf mittels Steinwürfen begann.

Die Brulé eröffnete den Kampf. Sie zerbrach die Ziegel auf ihrem magern, knochigen Knie und schleuderte mit beiden Händen die Stücke. Die Levaque verrenkte sich schier die Schultern; sie war so dick und weich, daß sie ganz nahe herankommen mußte, um zu treffen; vergebens zerrte Bouteloup hinten an ihrem Rocke, um sie wegzuführen, da ihr Mann jetzt im Kühlen saß. Alle Weiber gerieten in die höchste Erregung; die Mouquette hatte nicht mehr die Geduld, die Ziegel an ihren dicken Schenkeln zu zerbrechen und zog es vor, sie ganz zu schleudern. Auch die Kinder traten in die Kampflinie ein; Bebert zeigte Lydia, wie man die Ziegel unter dem Ellbogen hinwegschleudern müsse. Es war ein Hagel von riesigen Wurfgeschossen, deren Krachen man hörte. Plötzlich bemerkte man mitten unter den Furien Katharina, die Fäuste in der Luft, halbe Ziegel schwingend und sie mit der ganzen Kraft ihrer kleinen Arme schleudernd. Sie hätte nicht sagen können, warum; sie erstickte schier vor Begierde, die Leute zu morden. Sollte denn dieses verwünschte Unglücksdasein nicht bald ein Ende nehmen? Sie hatte es satt, von ihrem Manne geohrfeigt und davongejagt zu werden, wie ein verlaufener Hund im Straßenschmutz zu waten, ohne von ihrem Vater einen Löffel Suppe verlangen zu können, da ja auch er selbst mit den Seinen darbte. Es wollte niemals besser werden; es wurde im Gegenteil immer schlechter. Sie zerbrach Ziegel und schleuderte sie vor sich hin mit dem einzigen Gedanken, alles hinwegzufegen, die Augen dermaßen blutunterlaufen, daß sie nicht sah, wem sie mit ihren Steinwürfen die Kinnladen zerschmetterte.

Etienne war vor den Soldaten stehen geblieben, und es wäre ihm beinahe der Schädel gespalten worden. Sein Ohr schwoll an; er wandte sich um und erbebte, als er sah, daß der Wurf von den fiebernden Händen Katharinas gekommen; auf die Gefahr hin getötet zu werden, blieb er auf seinem Platze und schaute ihr zu. Auch viele andere vergaßen sich, leidenschaftlich angeregt durch den Kampf, und verfolgten ihn mit hängenden Armen. Mouquet beurteilte die Würfe, als wohne er einem Kugelspiel bei; dieser war gut, der andere hingegen verfehlt. Er spaßte; er stieß mit dem Ellbogen Zacharias an, mit dem Philomene zankte, weil er Achilles und Desirée geohrfeigt und sich geweigert hatte, die Kinder auf seinen Rücken zu nehmen, damit sie besser sähen. Weiterhin die Straße entlang standen Zuschauer in dichter Masse beisammen. Auf der Höhe des Abhanges erschien am Eingange des Dorfes jetzt der alte Bonnemort, auf einen Stock gestützt, unbeweglich, aufrecht unter dem rostfarbenen Himmel.

Als die ersten Ziegel flogen, stellte sich der Aufseher Richomne zwischen die Soldaten und die Grubenarbeiter. Er bat die einen, er ermahnte die anderen, unbekümmert um die Gefahr, dermaßen verzweifelt, daß schwere Tränen ihm aus den Augen flossen. In dem Lärm wurden seine Worte nicht gehört; man sah bloß seinen dicken, grauen Schnurrbart zittern.

Doch der Ziegelhagel ward immer dichter; dem Beispiele der Weiber folgend, beteiligten sich jetzt auch die Männer daran.

Da bemerkte die Maheu, daß ihr Mann zurückblieb und mit leeren Händen und düsterer Miene hinten stand.

»Was ist dir denn?« schrie sie. »Bist du feige? Willst du deine Kameraden ins Gefängnis abführen lassen? ... Du solltest sehen; wenn ich dieses Kind nicht auf dem Arm hätte!«

Estelle, die sich heulend an ihren Hals geklammert hatte, hinderte sie, sich der Brulé und den anderen anzuschließen; da ihr Mann sie nicht zu hören schien, schleuderte sie ihm mit dem Fuße Ziegelstücke zwischen die Beine.

»Himmelherrgott! Wirst du sogleich diese Steine nehmen? Muß ich dir vor den Leuten ins Gesicht speien, um dir Mut zu machen?«

Sehr rot geworden, zerbrach er die Ziegel und schleuderte die Stücke. Sie geißelte und betäubte ihn mit den wütenden Worten, die sie hinter ihm bellte, wobei sie ihre Tochter, die in ihren gekrümmten Armen an ihrer Brust lag, schier erdrückte. Er rückte immer weiter vor und befand sich jetzt den Gewehrläufen gegenüber.

Die kleine Truppe verschwand schier unter diesem Sturm von Ziegelsteinen. Glücklicherweise warfen sie zu hoch, so daß die Mauer arg zugerichtet wurde. Was war anzufangen? Der Gedanke, sich ins Haus zurückzuziehen, den Rücken zu wenden, färbte einen Augenblick das bleiche Gesicht des Kapitäns; aber es war nicht mehr möglich; man würde sie bei der geringsten Bewegung zerschmettert haben. Ein Ziegelstein hatte soeben den Schirm seines Käppi zerbrochen; Blutstropfen flossen über seine Stirn. Mehrere seiner Leute waren verwundet, und er hatte das Gefühl, daß sie schon außer sich waren in jenem zügellosen Trieb der Selbstverteidigung, wo man aufhört, den Vorgesetzten zu gehorchen. Der Sergeant hatte einen Fluch ausgestoßen; die linke Schulter war ihm schier ausgerenkt worden durch einen Steinwurf, der dumpf auf das Fleisch schlug wie ein Schlägel auf die Wäsche. Der Rekrut war zweimal getroffen worden; der eine Wurf hatte ihm einen Daumen zerschmettert, der andere hatte ihn am rechten Knie verletzt. Sollte man sich diese Nörgelei noch lange gefallen lassen? Als ein von der Mauer abprallender Stein den alten Haudegen unter dem Bauche traf, wurden seine Wangen grün, und sein Gewehr zitterte in den mageren Armen. Dreimal war der Kapitän auf dem Punkte »Feuer!« zu kommandieren. Eine tiefe Angst benahm ihm den Atem; ein endlos scheinender Kampf von wenigen Sekunden jagte in ihm alle Gedanken und Pflichten, alle Überzeugungen des Menschen und des Soldaten durcheinander. Jetzt verdoppelte sich der Steinhagel; er öffnete den Mund, um »Feuer!« zu schreien – da gingen die Flinten von selber los, zuerst drei Schüsse, dann fünf, dann eine ganze Salve, und zuletzt ein einziger Schuß lange nachher mitten in tiefer Stille.

Stummes Entsetzen herrschte in der Menge. Die Leute waren starr und wollten es noch nicht glauben, daß die Soldaten geschossen hatten. Doch bald ertönten gellende Schreie, während der Trompeter »Feuer einstellen!« blies. Es entstand ein tolles Entsetzen, eine wilde Flucht durch den Schmutz des Werkhofes.

Bei den ersten drei Schüssen sanken Bebert und Lydia aufeinander; die Kleine war im Gesicht getroffen, der Knabe hatte eine Wunde unterhalb der linken Schulter empfangen; Lydia war augenblicklich tot; der Knabe bewegte sich noch; er ergriff sie in den Zuckungen des Todeskampfes mit seinen mageren Ärmchen, als wolle er sie wieder umfangen wie in dem finstern Loche, wo sie die letzte Nacht verbracht hatten. Johannes hinkte eben schlaftrunken vom Réquillart herbei und sah, wie jener sein Weibchen umarmte und starb.

Die fünf anderen Schüsse hatten die Brulé und den Aufseher Richomne niedergestreckt. In dem Augenblicke, da er die Kameraden beschwor, im Rücken getroffen, war er auf die Knie gesunken, dann auf die Seite gefallen; jetzt röchelte er am Boden, die Augen noch voll Tränen, die er geweint. Die Alte war – in den Hals getroffen – steif und krachend niedergefallen wie ein Stück trockenen Holzes, einen letzten Fluch in einem Blutstrom ausspeiend.

Dann war die Salve gekommen und hatte den Platz reingefegt, auf hundert Schritte Entfernung die Gruppe von Neugierigen niedergemäht, die sich an dem Kampfe ergötzt hatten. Eine Kugel fuhr Mouquet in den Mund; er stürzte zu den Füßen Zacharias' und Philomenes nieder, beide Kinder derselben mit seinem Blute bespritzend. In demselben Augenblicke wurde die Mouquette von zwei Kugeln im Bauche getroffen. Sie hatte die Soldaten anlegen sehen und sich in ihrer Gutmütigkeit mit einer instinktiven Bewegung vor Katharina geworfen und ihr zugerufen, acht zu haben; sie hatte einen lauten Schrei ausgestoßen und war rücklings niedergefallen. Etienne war herbeigeeilt, wollte sie aufheben und hinwegtragen; doch sie gab ihm mit einer Gebärde zu verstehen, daß alles aus sei. Während ihres Todesröchelns hörte sie nicht auf, ihm und Katharina zuzulächeln, als sei sie froh, die beiden zusammen zu sehen, wo sie von hinnen schied.

Alles schien vorüber; der Kugelsturm hatte sich weithin verloren, bis zu den Häuserreihen des Arbeiterdorfes, als ein letzter, einzelner, verspäteter Schuß krachte. Mitten im Herzen getroffen, drehte sich Maheu um sich selbst und fiel mit dem Gesichte in eine schwarze Pfütze.

Frau Maheu bückte sich in sinnloser Verblüffung zu ihm nieder.

»He, Alter, erhebe dich! Es ist doch nichts, wie?«

Da sie wegen Estelles die Hände nicht frei hatte, mußte sie das Kind unter einen Arm schieben, um den Kopf ihres Mannes umwenden zu können.

»Sprich, wo tut es dir weh?«

Seine Augen blickten hohl, der Mund war mit blutigem Schaum gefüllt. Sie begriff, er war tot. Da blieb sie denn im Schmutze sitzen, das Kind unter dem Arme wie ein Paket, mit blöder Miene ihren toten Mann anstarrend.

Die Grube war jetzt frei. Mit einer nervösen Handbewegung hatte der Kapitän sein von einem Steinwurfe zerrissenes Käppi abgenommen und wieder aufgesetzt; er bewahrte seine bleiche Starrheit angesichts des Unglücks seines Lebens, während seine Leute stumm ihre Gewehre luden. Man konnte die erschrockenen Gesichter von Negrel und Dansaert am Fenster des Aufnahmesaales sehen. Hinter ihnen stand Suwarin, die Stirn von einer tiefen Falte durchfurcht, die gleichsam ein drohender Stempel seiner finsteren Gedanken war. Auf der andern Seite des Horizontes stand am Rande der Hochebene Bonnemort noch immer unbeweglich, mit einer Hand auf seinen Stock gestützt, während er die andere an die Augenbrauen legte, um besser zu sehen, wie man da unten die Seinen erwürgte. Die Verwundeten heulten; die Toten erstarrten in gebrochenen Stellungen auf dem vom Tauwetter aufgeweichten Boden, beschmutzt von dem kohlenschwarzen Schmutz der Pfützen, die unter dem schmelzenden Schnee zum Vorschein kamen. Mitten unter diesen kleinen, durch das Elend abgemagerten Menschenleichen lag riesengroß und jämmerlich das Aas des toten Pferdes Trompette.

Etienne war nicht umgekommen. Er wartete noch immer neben Katharina, die von Müdigkeit und Herzleid niedergeworfen worden, als plötzlich eine schrille Stimme ihn zusammenfahren ließ. Es war der Abbé Ranvier, der von seiner Messe zurückkehrte und mit der frommen Wut eines Propheten beide Arme erhebend, den Zorn Gottes auf die Mörder herabrief. Er kündigte die Zeit der Gerechtigkeit an, die baldige Ausrottung dieses Spießbürgertums durch das Himmelsfeuer, welches das Maß seiner Verbrechen voll machte, indem es die Arbeiter und die Ausgestoßenen dieser Welt niedermetzeln ließ.


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