Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Fünftes Kapitel

Herr Hennebeau war an das Fenster seines Kabinetts getreten, um die Kalesche abfahren zu sehen, die seine Frau zum Frühstück nach Marchiennes führte.

Er hatte eine Weile Negrel nachgeblickt, der neben dem Wagenschlage ritt; dann hatte er ruhig wieder an seinem Schreibtische Platz genommen. Das Haus schien leer, wenn seine Frau und sein Neffe es nicht mit ihren geräuschvollen Dasein belebten. Der Kutscher lenkte heute die Kalesche der Hausfrau; Rose, das neue Kammermädchen, hatte Urlaub bis fünf Uhr; so war niemand zu Hause als Hippolyte, der Kammerdiener, der sich in Pantoffeln durch die Zimmer schleppte, und die Köchin, die seit Tagesanbruch alle Hände voll zu tun hatte, um das Essen zu bereiten, das ihre Herrschaft des Abends gab. Herr Hennebeau hoffte denn auch, in der tiefen Stille des leeren Hauses den ganzen Tag tüchtig zu arbeiten.

Obgleich Hippolyte den Auftrag bekommen hatte, niemanden vorzulassen, erlaubte er sich dennoch gegen neun Uhr Herrn Dansaert anzumelden, der Neuigkeiten brachte. Da erst erfuhr der Direktor von der gestrigen Versammlung im Walde. Die Einzelheiten, die der Oberaufseher lieferte, lauteten so genau, daß der Direktor, während er ihm zuhörte, an seine Liebschaft mit Frau Pierron dachte, die so bekannt war, daß wöchentlich zwei, drei namenlose Briefe die Ausschweifungen des Oberaufsehers meldeten. Augenscheinlich hatte Pierron geplaudert; diese Polizei roch nach dem Ehebett. Er benützte sogar die Gelegenheit, um merken zu lassen, daß er alles wisse, und begnügte sich, Vorsicht zu empfehlen, damit kein Ärgernis herauskomme. Erschreckt durch diese Vorwürfe, die mitten in seinen Bericht fielen, leugnete Dansaert, stammelte Entschuldigungen, während seine große Nase durch ihr plötzliches Erröten zum Verräter an ihm wurde. Er beharrte übrigens nicht weiter bei der Sache und war froh, so leichten Kaufes darüber hinweggekommen zu sein; denn gewöhnlich zeigte sich der Direktor von der unerbittlichen Strenge eines sittenreinen Mannes, wenn ein Beamter sich in einer Grube den Genuß einer hübschen Arbeiterin gönnte. Die Unterredung bewegte sich wieder um den Streik; diese Versammlung im Walde wurde als eine Großtuerei von Schreihälsen behandelt; es drohe keine ernste Gefahr. In allen Fällen würden die Arbeiterdörfer sich einige Tage still verhalten unter dem Eindrucke des heilsamen Respektes, den die Militärstreifen vom Morgen hervorgebracht hatten.

Als Herr Hennebeau wieder allein war, stand er auf dem Punkte, eine Depesche an den Präfekten abzusenden. Nur das Bedenken, unnötigerweise einen solchen Beweis von Unruhe zu geben, hielt ihn zurück. Er konnte sich schon nicht verzeihen, so wenig Voraussicht gezeigt zu haben, daß er überall sagte, ja sogar der Verwaltung schrieb, der Streik werde höchstens zwei Wochen dauern. Jetzt währte der Arbeitsausstand – zu seiner großen Überraschung – schon fast zwei Monate; er war darüber trostlos, fühlte sich mit jedem Tage kleiner, bloßgestellt, genötigt, irgendeinen Kapitalstreich zu ersinnen, wenn er sich bei den Verwaltungsräten wieder in Gunst setzen wollte. Er hatte eben Weisungen verlangt für den Fall, daß es einen Rummel geben solle. Die Antwort zögerte; er erwartete sie mit der Nachmittagspost. Er sagte sich, daß es dann noch Zeit sei, Telegramme abzusenden, um die Gruben militärisch zu besetzen, wenn dies die Ansicht der Herren Verwaltungsräte sei. Nach seinem Dafürhalten werde es den Kampf, das Blutvergießen, Tote und Verwundete bedeuten. Eine solche Verantwortlichkeit verwirrte ihn trotz seiner gewohnten Willenskraft.

Bis elf Uhr arbeitete der Direktor ruhig in dem stillen Hause, wo kein anderes Geräusch zu vernehmen war als das, welches Hippolyte in den Gemächern des ersten Stockwerkes mit der Zimmerbürste verursachte. Dann kamen – knapp nacheinander – zwei Depeschen; die erste kündete ihm den Überfall der Bande von Montsou auf die Jean-Bart-Grube; die zweite meldete ihm das Durchschneiden der Kabel, das Auslöschen der Feuer, die ganze Verwüstung. Er begriff die Sache nicht. Was hatten die Streikenden bei Deneulin zu suchen, anstatt sich an eine gesellschaftliche Grube zu halten? Übrigens konnten sie seinethalben Vandame verwüsten; das förderte nur seine Erweiterungspläne. Mittags frühstückte er allein in dem großen Speisezimmer, lautlos bedient von Hippolyte. der in seinen Pantoffeln ab und zu ging. Diese Einsamkeit vergrößerte nur noch seine bange Sorge; er fühlte eine Kälte im Herzen, als ein laufend angekommener Aufseher hereingeführt wurde, der ihm den Marsch der Bande nach Mirou erzählte. Unmittelbar darauf – er trank eben seinen Kaffee aus, erfuhr er aus einer Depesche, daß auch die Gruben Magdalene und Crèvecoeur bedroht seien. Da ward seine Ratlosigkeit vollständig. Er erwartete die Post für zwei Uhr; sollte er sogleich Truppen verlangen? Oder war es besser, sich in Geduld zu fassen, nichts zu tun, bevor er die Absichten der Verwaltung kannte? Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, denn er wollte ein Schriftstück lesen, das für den Präfekten bestimmt war und das Negrel gestern Abend auf sein Ersuchen aufgesetzt hatte. Allein er konnte es nicht finden und dachte, der junge Mann habe es vielleicht in seinem Zimmer gelassen, wo er des Nachts oft zu schreiben pflegte. Ohne einen Entschluß zu fassen, von dem Gedanken an dieses Schreiben verfolgt, eilte er in das Zimmer hinauf, um es dort zu suchen.

Als Herr Hennebeau eintrat, war er überrascht, daß das Zimmer nicht in Ordnung gebracht war; die Schuld lag sicher in einem Vergessen oder in einer Lässigkeit Hippolytes. In dem Gemach herrschte eine feuchte Wärme, die eingeschlossene Wärme einer ganzen Nacht, noch vermehrt durch die offen gebliebene Öffnung der Dampfheizung; ein durchdringender Wohlgeruch kam ihm entgegen, ohne Zweifel von den riechenden Wässern kommend, mit denen das Waschbecken gefüllt war. Große Unordnung herrschte in dem Gemache; Kleider lagen umhergestreut, feuchte Handtücher waren über die Sessellehnen geworfen; das Bett stand weit offen, ein Laken war herausgerissen und hing bis zum Teppich herunter. Übrigens hatte er anfänglich für alldas nur ein zerstreutes Auge; er wandte sich zu dem mit Papieren bedeckten Tische und suchte daselbst das unauffindbare Schreiben. Zweimal prüfte er die Papiere einzeln: es war nicht dabei. Wohin zum Teufel hatte der Tollkopf Negrel es gesteckt?

Als Herr Hennebeau in die Mitte des Zimmers zurückkehrte und auf jedes Möbelstück einen Blick warf, bemerkte er in dem offenen Bette einen hellen Punkt, der schimmerte wie ein Funke. Er trat mechanisch näher und streckte die Hand aus. Zwischen zwei Falten des Bettlakens lag ein kleines Goldfläschchen. Er erkannte sogleich das kleine Ätherfläschchen, das seine Frau stets bei sich trug. Er konnte sich die Gegenwart dieses Fläschchens nicht erklären; wie konnte es in Pauls Bette geraten sein? Plötzlich erbleichte er furchtbar. Seine Frau hatte da geschlafen.

»Um Vergebung,« murmelte Hippolyte, die Türe öffnend, »ich habe den gnädigen Herrn heraufkommen sehen ...«

Der Diener war eingetreten und stand angesichts der in dem Gemache herrschenden Unordnung betroffen da.

»Mein Gott! Es ist wahr, das Zimmer ist nicht aufgeräumt. Rose ist fort und hat mir das ganze Hauswesen auf dem Halse gelassen.«

Herr Hennebeau hatte das Fläschchen in seiner Hand verborgen und preßte es mit solcher Gewalt, daß er es beinahe zerbrach.

»Was wollen Sie?« fragte er den Diener.

»Gnädiger Herr, es ist wieder ein Mann da... Er kommt aus Crèvecoeur und bringt einen Brief.«

»Gut; lassen Sie mich allein. Er soll warten.«

Seine Frau hatte da geschlafen! Als er den Riegel vorgeschoben hatte, öffnete er die Hand wieder und betrachtete das Fläschchen, das sich in seiner Handfläche rot abgezeichnet hatte. Plötzlich sah und begriff er: diese Schweinerei geschah in seinem Hause seit Monaten. Er erinnerte sich seines ehemaligen Verdachtes, des schlürfenden Geräusches nackter Füße vor den Türen zu nachtschlafender Zeit. Das war seine Frau, die heraufkam, um da zu schlafen.

Er war auf einen Sessel gesunken angesichts des Bettes, das er starren Auges betrachtete; da verharrte er lange Minuten regungslos wie tot. Ein Geräusch störte ihn auf; man pochte an die Türe, man versuchte zu öffnen. Er erkannte die Stimme des Dieners.

»Gnädiger Herr! ... Ach, gnädiger Herr, haben sich eingeschlossen ...«

»Was gibt es denn wieder?«

»Die Sache scheint dringend; die Arbeiter zerschlagen alles. Es sind wieder zwei Männer unten. Auch Depeschen sind gekommen.«

»Laßt mich in Ruhe! Ich komme sogleich!«

Der Gedanke, daß Hippolyte selbst das Fläschchen hätte finden können, wenn er am Morgen das Zimmer aufgeräumt hätte, ließ sein Blut zu Eis erstarren. Dieser Diener mußte übrigens wissen; er hatte zwanzigmal das Bett noch warm von dem Ehebruch gefunden, Haare der Herrin auf dem Polster, abscheuliche Spuren, die das Linnen befleckten. Es geschah sicherlich aus Bosheit, daß er so beharrlich ihn zu stören suchte. Vielleicht hatte er an den Türen gelauscht, erregt über die Ausschweifungen seiner Herrschaft.

Herr Hennebeau rührte sich nicht. Er betrachtete noch immer das Bett. Die von Leiden erfüllte lange Vergangenheit rollte sich vor ihm auf, seine Ehe mit diesem Weibe, das seelische und leibliche Mißverständnis, das zwischen ihnen sich sogleich offenbarte; die Liebhaber, die sie hatte, ohne daß er es ahnte; dann der, den er zehn Jahre lang duldete, wie man bei einem Kranken einen unflätigen Geschmack duldet. Dann ihre Ankunft in Montsou, seine unsinnige Hoffnung, sie zu heilen, Monate der Erschöpfung, der schlummernden Verbannung, die Annäherung des Alters, das ihm sie endlich wiedergeben sollte. Dann kam ihr Neffe, dieser Paul, dem sie eine zweite Mutter ward, dem sie von ihrem toten Herzen sprach, das für immer unter der Asche vergraben sei. Und er – der schwachsinnige Gatte – sah nichts voraus; er betete diese Frau an, welche die seine war, die andere Männer besessen hatten und nur er allein nicht besitzen konnte. Er betete sie an in einer schmachvollen Leidenschaft; er hätte vor ihr in die Knie sinken mögen, wenn sie eingewilligt hätte, ihm zu geben, was die anderen übrig gelassen. Allein sie gab es diesem Knaben.

Ein Glockenzeichen aus der Ferne ließ in diesem Augenblicke Herrn Hennebeau erbeben. Er kannte dieses Zeichen; es wurde auf seinen Befehl gegeben, wenn der Postbote ankam. Er erhob sich und rief in seiner Erbitterung, die sich gegen seinen Willen in rohen Worten Luft machte, aus:

»Ich pfeife auf ihre Depeschen und ihre Briefe!«

Die Wut hatte sich jetzt seiner bemächtigt, das gierige Bedürfnis nach einer Kloake, um mit Fußtritten solchen Unflat darin zu versenken. Dieses Weib war eine Metze. Er suchte nach rohen Worten, er ohrfeigte damit ihr Bild. Der so plötzliche Einfall der Ehe zwischen Paul und Cäcilie, den sie mit einem so ruhigen Lächeln verfolgte, erbitterte ihn vollends. Auf dem Grunde dieser regen Sinnlichkeit gab es also keine Leidenschaft, keine Eifersucht mehr? Sie war ihr nur mehr ein lasterhaftes Spielzeug, die Gewohnheit des Mannes, eine Erholung, die sie sich gönnte wie einen gewohnten Nachtisch? Er maß ihr alle Schuld bei; er entschuldigte diesen Knaben, in den sie mit ihrem wiedererwachten Appetit gebissen hatte, wie man in die erste grüne Frucht beißt, die man am Wege gestohlen. Wen wird sie verzehren, wohin wird sie sinken, wenn sie keine gefälligen Neffen mehr findet, die praktisch genug sind, in ihrer Familie den Tisch, das Bett und das Weib anzunehmen?

Jetzt kratzte man schüchtern an die Tür, und Hippolyte erlaubte sich durch das Schlüsselloch zu flüstern:

»Gnädiger Herr, die Post ... Auch ist Herr Dansaert wieder da und meldet, daß gemordet wird ...«

»Gut, ich komme schon. Hol' euch der Teufel!«

Was soll er mit ihnen anfangen, wenn sie von Marchiennes heimkehren? Er wird sie davonjagen wie stinkende Tiere, die er unter seinem Dache nicht länger dulden will. Er wird einen Knüttel gegen sie schwingen und ihnen zurufen, das Gift ihrer Paarung anderswohin zu tragen. Von ihren Seufzern, von ihren ineinander geschlossenen Atemzügen war die feuchte Wärme dieses Zimmers so schwer; der durchdringende Geruch, der ihn schier erstickt hatte, –- es war der Moschusgeruch, der von der Haut seines Weibes ausströmte: auch wieder ein verderbter Geschmack, ein fleischliches Bedürfnis nach scharfen Wohlgerüchen; und so fand er die Wärme und den Geruch der Unzucht, gleichsam den lebendigen Ehebruch in den noch vollen Töpfen und Waschbecken wieder, in dem Durcheinander des Linnens, der Möbel, des ganzen, vom Laster durchseuchten Zimmers. In seiner ohnmächtigen Wut stürzte er sich auf das Bett und hieb mit den Fäusten darauf ein; er bearbeitete besonders die Stellen, wo er den Eindruck ihrer beiden Körper sah, wütend über die zerknüllten und losgerissenen Bettücher, die weich und träge seine Hiebe empfingen, gleichsam erschöpft infolge der Liebesnacht.

Doch plötzlich glaubte er Hippolytes Schritte zu hören, der wieder heraufkam. Ein Gefühl der Scham ließ ihn innehalten. Er stand eine Weile keuchend da, trocknete seine Stirne, suchte sein stürmisch pochendes Herz zu beruhigen. Vor einem Spiegel stehend betrachtete er sein Gesicht, das so verstört war, daß er es nicht erkannte. Nachdem er in einer äußersten Anstrengung seines Willens sich allmählich beruhigt hatte, ging er hinunter.

Unten harrten fünf Boten außer Dansaert. Sie überbrachten ihm immer ernster lautende Nachrichten über den Zug der Streikenden durch die Gruben; der Oberaufseher erzählte ihm lang und breit, was in der Mirougrube geschehen, und wie sie selbe durch die tapfere Haltung des Vaters Quandieu gerettet hätten. Er hörte ihnen zu und nickte mit dem Kopfe; aber er verstand sie nicht, seine Gedanken waren oben in dem Zimmer. Endlich entließ er sie mit der Erklärung, daß er seine Maßnahmen treffen werde.

Als er wieder allein vor seinem Schreibpulte saß, schien er mit offenen Augen zu schlafen, das Haupt auf die Hände gestützt. Die Post lag vor ihm; er entschloß sich endlich, den erwarteten Brief hervorzusuchen, die Antwort der Verwaltungsräte. Anfänglich hüpften die Zeilen vor seinen Augen; aber schließlich begriff er, daß die Herren einen Rummel wünschten; sie geboten ihm nicht, es zum äußersten kommen zu lassen, aber sie ließen durchblicken, daß die Unruhen das Ende des Streiks beschleunigen müßten, indem sie das Einschreiten der bewaffneten Macht herbeiführen würden. Da zögerte er nicht länger; er sandte Depeschen nach allen Seiten, an den Präfekten von Lille, die Truppenabteilung von Douai, die Gendarmerie von Marchiennes. Es brachte ihm Erleichterung, er konnte sich einschließen; ja, er setzte das Gerücht in Umlauf, daß er die Gicht habe. So blieb er den ganzen Nachmittag in seinem Arbeitszimmer verborgen, empfing niemanden und begnügte sich, die Depeschen und Briefe zu lesen, die immer zahlreicher einliefen. So konnte er aus der Ferne den Zug der Bande verfolgen, vom Magdalenenschachte nach Crèvecoeur, von Crèvecoeur nach der Siegesgrube, von dort nach Gaston-Marie. Von anderer Seite meldete man ihm die Ratlosigkeit der Gendarmen und Dragoner, die sich unterwegs verirrt hatten und den angegriffenen Gruben immer den Rücken kehrten. Seinethalben konnten sie sich morden und alles zerstören; er hatte den Kopf zwischen seinen Händen begraben, die Finger vor den Augen, und versenkte sich in die tiefe Stille des leeren Hauses, in dem er nichts anderes hörte, als von Zeit zu Zeit das Geräusch der Schüsseln der Köchin, die mit der Zubereitung des Abendessens vollauf beschäftigt war.

Die Abenddämmerung verdunkelte bereits das Zimmer, es war fünf Uhr, als ein Lärm Herrn Hennebeau, der wie betäubt über seinen Papieren brütete, plötzlich auffahren ließ. Er glaubte, die beiden Elenden seien zurückgekehrt. Allein der Lärm ward immer größer, und ein furchtbarer Schrei erscholl in dem Augenblicke, als er ans Fenster trat.

»Brot! Brot! Brot!«

Es waren die Streikenden, die Montsou besetzten, während die Gendarmen nach der Voreuxgrube galoppierten, weil es hieß, daß diese angegriffen sei.

Zwei Kilometer von den letzten Häusern von Montsou, ein wenig unterhalb der Wegkreuzung, wo die Heerstraße und der Weg nach Vandame sich schnitten, hatten Frau Hennebeau und die Fräulein die Bande vorbeiziehen sehen. Sie hatten in Marchiennes den Tag sehr fröhlich zugebracht; es gab ein sehr angenehmes Frühstück bei dem Direktor des Eisenwerkes; ihm folgte ein interessanter Besuch in den Werkstätten und in einer benachbarten Glasfabrik; damit wurde der Nachmittag ausgefüllt; als man endlich in der Dämmerung des klaren Wintertages den Heimweg antrat, hatte Cäcilie den Einfall, daß man in einem Pachthofe, der am Wegsaume stand, eine Schale Milch trinken solle. Da verließen denn die Damen die Kalesche, und Negrel sprang galant aus dem Sattel; während die Bäuerin, ganz verlegen über diesen vornehmen Besuch dienstwillig herbeieilte, um ein Tafeltuch aufzulegen. Allein Lucie und Johanna wollten die Kuh melken sehen; man ging also mit den Schalen in den Kuhstall; die Landpartie war vollständig; man lachte viel darüber, daß man in der Streu versank.

Frau Hennebeau – mit der Miene liebenswürdiger Mütterlichkeit – nippte an der Milchschale, als ein seltsam dumpfer Lärm, der von außen kam, sie beunruhigte.

»Was ist denn?« fragte sie.

Der Stall, am Wegsaume erbaut, hatte ein breites Tor, weil er zugleich als Heuboden diente. Die Mädchen streckten schon die Köpfe zum Tor hinaus und waren nicht wenig erstaunt, als sie links eine dunkle, heulende Masse auf der Straße von Vandame heranziehen sahen.

»Teufel!« brummte Negrel, der ebenfalls hinausgegangen war, »sollten unsere Schreihälse schließlich bösartig werden?«

»Es sind vielleicht wieder die Bergleute«, sagte die Bäuerin. »Sie sind schon zweimal vorübergezogen. Die Dinge scheinen schief zu gehen; sie sind die Herren im Lande.«

Sie hatte jedes Wort mit Vorsicht ausgesprochen und beobachtete die Wirkung ihrer Worte in den Gesichtern; als sie den Schrecken aller sah, die tiefe Angst, in welche die Gesellschaft durch diese Begegnung versetzt wurde, beeilte sie sich hinzufügen:

»Die erbärmlichen Lumpenkerle!«

Als Negrel sah, daß es zu spät sei, in den Wagen zu steigen und Montsou wieder zu erreichen, befahl er dem Kutscher, die Kalesche rasch auf den Hof der Bauernwirtschaft zu bringen, wo das Gespann hinter einem Schuppen verborgen blieb. Ebendaselbst band er sein Reitpferd an, das bisher ein Junge am Zügel gehalten hatte. Als er zurückkam, fand er seine Tante und die Mädchen außer sich vor Schrecken und bereit, der Bäuerin zu folgen, die ihnen vorschlug, in ihrer Wohnung Zuflucht zu suchen. Allein er war der Ansicht, daß man hier mehr in Sicherheit sei und daß niemand sie auf diesem Heuboden suchen werde. Indes schloß das Tor sehr schlecht und hatte solche Risse, daß man durch die wurmstichigen Bretter und Pfosten die Straße sehen konnte.

»Mut! Mut!« sagte er, »wir werden unser Leben teuer verkaufen.«

Dieser Scherz vermehrte noch die Furcht. Der Lärm ward immer größer; man sah noch nichts; über die leere Straße schien ein Sturmwind zu wehen, jenen plötzlich aufspringenden Winden gleich, die den heftigen Ungewittern vorangehen.

»Nein, nein, ich will nicht schauen«, sagte Cäcilie und verkroch sich hinter das Heu.

Frau Hennebeau war sehr bleich; von einer Wut erfaßt gegen diese Leute, die ihr ein Vergnügen verdarben, hielt sie sich im Hintergrunde, mißtrauisch und angewidert ausspähend, während Lucie und Johanna –- trotz ihrer Furcht –- durch die Spalten des Tores nach der Straße lugten, um nichts von dem heraufziehenden Schauspiel zu verlieren.

Das donnerähnliche Rollen näherte sich, die Erde erzitterte; vorauf lief Johannes, immer in sein Horn blasend.

»Nehmen Sie Ihre Riechfläschchen, meine Damen, der Schweiß des Volkes zieht vorüber«, sagte Negrel, der trotz seiner republikanischen Überzeugungen es liebte, vor den Damen den Pöbel zu verspotten.

Doch sein Witzwort ging in einem Orkan von Schreien und Gesten unter. Die Weiber waren herangekommen, nahezu tausend Weiber mit wirren Haaren, in Lumpen gehüllt, welche die nackte Haut sehen ließen, die Nacktheiten von Weibern, die es müde geworden, Hungerleider in die Welt zu setzen. Einige hielten ihr kleines Kind auf den Armen und schwangen es wie ein Banner der Trauer und der Rache. Andere – die jüngeren, mit den geschwellten Brüsten von Kriegerinnen – schwangen Stöcke; während die älteren – scheußliche Gestalten – so laut heulten, daß die Sehnen ihrer fleischlosen Hälse zu reißen drohten. Dann kamen die Männer, zweitausend Wütende, Stößer, Häuer, Handlanger, eine dichte Masse, die so gedrängt heranrückte, daß man die verschossenen Beinkleider, die zerfetzten Jacken nicht unterscheiden konnte, weil sie in der nämlichen erdfarbenen Einförmigkeit untergingen. Die Augen glühten; man sah bloß die schwarzen Mundöffnungen, welche die Marseillaise sangen, deren Strophen sich in einem wirren Geheul verloren, begleitet von dem Geklapper der Holzschuhe auf dem hartgefrornen Boden. Über den Köpfen wurde zwischen den hochgesteckten Eisenstangen eine Hacke aufrecht getragen; und diese einzige Hacke, gleichsam die Standarte der Bande, glänzte unter dem hellen Himmel wie das Beil einer Guillotine.

»Welch furchtbare Gesichter!« stammelte Frau Hennebeau.

Negrel brummte zwischen den Zähnen:

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich auch nur einen von ihnen erkenne! Woher kommen denn die Banditen?«

In der Tat: die Wut, der Hunger, die zwei Leidensmonate, dieser tolle Zug durch die Gruben, – sie hatten die sonst so ruhigen Gesichter der Bergleute von Montsou verlängert wie die Kinnladen wilder Tiere. In diesem Augenblicke ging die Sonne unter; die letzten Strahlen – von einer dunklen Purpurfarbe – tauchten die Ebene in einen blutroten Schein. Die Straße schien einen Strom von Blut fortzuwälzen; die Weiber, die Männer stürmten vorbei und schienen von Blut zu triefen wie die Metzger bei der Arbeit.

»Herrlich!« flüsterten Lucie und Johanna, in ihrem künstlerischen Geschmack von diesem furchtbaren Schauspiel ergriffen.

Sie erschraken aber doch und flüchteten zu Frau Hennebeau, die sich an eine Tränke gelehnt hatte. Der Gedanke, daß ein Blick durch diese losen Planken genügte, um hingemordet zu werden, ließ sie erstarren. Auch Negrel, sonst sehr tapfer, fühlte sein Blut aus den Wangen entweichen; er ward von einer Furcht ergriffen, die mächtiger war als sein Wille, von einem Entsetzen, wie es zuweilen über uns kommt, wir wissen nicht woher. Cäcilie hockte im Heu und wagte sich nicht zu rühren. Die anderen konnten die Augen nicht wegwenden und schauten gegen ihren Willen auf die Straße hinaus.

Es war das blutigrote Gespenst der Revolution, die sie alle hinwegfegen werde an einem blutigen Abend dieses zur Neige gehenden Jahrhunderts. Ja, eines Abends wird das losgelassene, zügellose Volk so über die Straßen rennen und vom Blute der Spießbürger triefen, abgeschlagene Köpfe herumtragen, das Gold der ausgeleerten Schränke verstreuen. Die Weiber werden heulen, die Männer gleich den Wölfen die Kinnladen weit aufreißen, um alles zu zerfleischen. Jawohl, es werden dieselben Lumpen sein, dasselbe Geklapper von plumpen Holzschuhen, dieselbe greuliche Menge mit schmutziger Haut, verpestetem Atem, die alte Welt hinwegfegend mit ihrem barbarischen, alles überflutenden Drängen und Jagen. Brände werden aufflammen, in den Städten wird kein Stein auf dem andern bleiben, man wird zu dem wilden Leben in den Wäldern zurückkehren nach der großen Brunst, nach der großen Schwelgerei, in welcher die Armen in einer Nacht die Weiber der Reichen abmergeln und den Wein der Reichen austrinken. Es wird nichts mehr geben, keinen Sou von den Reichtümern, keinen Titel von den errungenen Stellungen bis zu dem Tag, wo vielleicht eine neue Erde erblüht. – Ja, diese Dinge waren es, die über die Straße dahinfegten wie eine Naturgewalt, deren Wehen ihre Gesichter streifte.

Ein ungeheurer Schrei erhob sich und übertönte die Marseillaise:

»Brot! Brot! Brot!«

Lucienne und Johanna schmiegten sich in ihrem Entsetzen an Frau Hennebeau, während Negrel sich vor sie hinstellte, wie um sie mit seinem Leibe zu schützen. Sollte denn noch diesen Abend die alte Welt aus den Fugen gehen? Was sie sahen, vollendete ihre Bestürzung. Die Bande war vorüber, es kamen nur noch einige Nachzügler, unter diesen die Mouquette. Sie blieb immer zurück, um zu spähen, ob Bürgersleute vor den Türen ihrer Gärten oder an den Fenstern ihrer Häuser erscheinen würden; und da sie, wenn sie solche erblickte, ihnen nicht ins Gesicht speien konnte, zeigte sie ihnen, was ihr als der Gipfel der Verachtung galt. Ohne Zweifel hatte sie jetzt auch wieder einen Bürger bemerkt, denn plötzlich streifte sie die Röcke auf und streckte die Hinterbacken hin, zeigte ihren riesigen Hintern, nackt in dem letzten Aufflackern der Sonne. Dieses Hinterteil hatte nichts Widerliches; die Szene war eher grausam als lächerlich.

Alles verschwand; der Strom wälzte sich auf Montsou hin die schmalen Wege entlang, zwischen den niedrigen, bunt getünchten Häusern. Man ließ den Wagen wieder aus dem Hofe fahren, allein der Kutscher wollte nicht dafür bürgen, daß er seine Herrin und die Fräulein ohne Hindernis heimbringe, wenn die Streikenden die Straße besetzt hielten. Das Schlimmste war, es gab keinen andern Weg.

»Wir müssen aber heimkehren, das Essen erwartet uns«, sagte Frau Hennebeau außer sich vor Angst. »Diese schmutzigen Hallunken rumoren schon wieder an einem Tage, an dem ich Gäste habe. Solchem Gesindel soll man Gutes tun.«

Lucie und Johanna zogen Cäcilie aus dem Heu hervor; diese wehrte sich in der Meinung, der Zug der Wilden dauere noch immer an, und wiederholte, sie wolle nicht sehen. Schließlich nahmen alle von neuem ihre Plätze im Wagen ein. Negrel, der wieder zu Pferde gestiegen war, hatte den Einfall, man solle durch die Gäßchen von Réquillart zurückkehren.

»Fahren Sie langsam,« empfahl er dem Kutscher, »denn der Weg ist sehr schlecht. Wenn Gruppen der Bande Sie hindern sollten, dort weiterhin in die Heerstraße einzulenken, halten Sie hinter der alten Grube, und wir kehren zu Fuß durch die kleine Gartentüre zurück, während Sie Wagen und Pferde irgendwo unter dem Schuppen einer Herberge unterbringen.

Sie fuhren ab. Die Bande war schon fern und ergoß sich nach Montsou. Die Bevölkerung des Ortes war in Schrecken und Aufregung versetzt, seitdem sie die Gendarmen und Dragoner zweimal hatte durchziehen sehen. Furchtbare Geschichten waren in Umlauf: man sprach von geschriebenen Maueranschlägen, die den Bürgern drohten, daß ihnen der Bauch aufgeschlitzt werde. Niemand hatte diese Maueranschläge gelesen, und dennoch wußte man ganze Sätze daraus wörtlich anzuführen. Besonders beim Notar war die Angst bis zum Gipfelpunkte gestiegen; er hatte mit der Post einen unterschriftslosen Brief erhalten, worin man ihm mitteilte, daß in seinem Keller ein Faß Pulver vergraben sei, das ihn in die Luft sprenge, wenn er sich nicht für das Volk erkläre.

Die Grégoire, die bei dem Notar zu Besuche waren, sprachen eben über diesen Brief, in dem sie den Streich eines Spaßvogels erblicken zu sollen glaubten, als der Einzug der Bande das Haus in den höchsten Schrecken versetzte. Die Grégoire lächelten nur. Sie schoben ein wenig den Vorhang weg, schauten hinaus und erklärten, es bestehe keinerlei Gefahr, und alles werde harmlos enden. Es schlug fünf Uhr; sie hatten gerade noch Zeit zu warten, bis die Straße frei sein werde, um zu den Hennebeau hinüberzugehen, wo sie essen sollten und Cäcilie sie sicherlich schon erwartete. Allein niemand in Montsou schien ihre Vertrauensseligkeit zu teilen; entsetzte Leute rannten durch die Straßen. Türen und Fenster wurden eilig geschlossen. Sie sahen Maigrat hastig seinen Laden schließen und mit Eisenstangen verwahren; er war so bleich und zitterte dermaßen, daß seine kleine, schwächliche Frau genötigt war, die Schlösser vorzulegen.

Die Bande hatte vor dem. Hause des Direktors haltgemacht, und es ertönte der Schrei:

»Brot! Brot! Brot!«

Herr Hennebeau stand am Fenster, als Hippolyte eintrat, um die Fensterläden zu schließen, damit die Scheiben nicht eingeschlagen wurden. Er schloß auch die im Erdgeschosse, dann ging er in den ersten Stock hinauf; man hörte das Kreischen der Riegel und das Zuschlagen der Fensterläden. Unglücklicherweise konnte man nicht auch das breite Fenster der unterirdisch gelegenen Küche schließen; man konnte von der Straße die hell lodernden Feuer unter den Schüsseln und unter dem Spieße sehen.

Herr Hennebeau, der die Vorgänge sehen wollte, stieg mechanisch in den zweiten Stock hinauf nach dem Zimmer Pauls. Dieses war am besten gelegen; es gestattete einen Ausblick auf die Straße bis zu den Werkhöfen der Gesellschaft. Herr Hennebeau stand hinter den Vorhängen verborgen und überschaute von da die Menge. Allein dieses Zimmer hatte ihn von neuem in Erregung gebracht, wenngleich der Toilettetisch jetzt gesäubert und in Ordnung gebracht war und das Bett hinter den sorgfältig geschlossenen Vorhängen sein kühles, nüchternes Aussehen hatte. Seine große Wut vom Nachmittag, die wilde Schlacht, die er in der tiefen Stille seiner Einsamkeit dem Bette geliefert: sie endeten jetzt in einer unermeßlichen Müdigkeit. Sein Wesen war jetzt wie dieses Zimmer, abgekühlt, reingefegt von dem Unflat des Morgens, zurückgekehrt zur gewohnten vornehmen Haltung. Was sollte ein Skandal auch nützen? Hatte sich bei ihm etwas geändert? Seine Frau hatte ganz einfach einen Liebhaber mehr; daß sie ihn in der Familie gewählt hatte, war kaum ein erschwerender Umstand; es war vielleicht besser so; sie wahrte wenigstens den Schein. Er bemitleidete sich selbst, wenn er sich seiner unsinnigen Eifersucht erinnerte. Wie lächerlich war es, dieses Bett mit Faustschlägen zu bearbeiten! Er hatte einen andern Mann geduldet, folglich werde er auch diesen dulden. Man werde ihn ein klein wenig mehr verachten: das ist alles. Eine furchtbare Bitternis vergiftete ihm den Mund, das Gefühl der Nutzlosigkeit von allem, der ewige Schmerz des Daseins, die Scham, vor sich selbst, weil er diese Frau noch immer anbetete und nach ihr verlangte, des Schmutzes ungeachtet, in den er sie versinken ließ.

Unter dem Fenster brach das Geheul mit erneuerter Heftigkeit los.

»Brot! Brot! Brot!«

»Tröpfe!« murmelte Herr Hennebeau zwischen den Zähnen.

Er hörte, wie sie ihn beschimpften wegen seiner fetten Bezüge, wie sie ihn einen dickwanstigen Tagedieb nannten, ein schmutziges Schwein, das sich mit feinen Sachen den Magen verdarb, während der Arbeiter Hungers starb. Die Weiber hatten die Küche entdeckt, und jetzt folgte ein Sturm von Schmähungen gegen den bratenden Fasan und gegen die Soßen, deren fetter Geruch ihnen den leeren Magen umdrehte. Diese schmutzigen Spießbürger! Man werde sie schon mit Champagner und Trüffeln mästen, daß ihnen die Därme platzen!

»Brot! Brot! Brot!«

»Tröpfe!« wiederholte Herr Hennebeau, »bin ich etwa glücklich?«

Ein Zorn erfaßte ihn gegen diese Leute, die nicht begriffen. Gern hätte er ihnen seine fetten Bezüge überlassen für ihre dicke Haut und für die Leichtigkeit, mit der sie sich paarten und dann sorglos wieder auseinandergingen. Warum konnte er sie nicht an seinen Tisch setzen und sie mit seinem Fasan mästen, während er fortging, sich's hinter den Hecken gütlich tat, die Dirnen umwarf, unbekümmert darum, wer sie vor ihm umgeworfen hatte! Er würde alles hingegeben haben: seine Erziehung, seinen Wohlstand, seinen Luxus, seine Direktorgewalt, wenn er nur einen Tag der letzte dieser Elenden, die ihm gehorchten, hätte sein können, frei verfügend über sein Fleisch, Hallunke genug, um sein Weib zu ohrfeigen und sein Vergnügen bei den Nachbarinnen zu suchen. Er wünschte sich auch, Hunger zu leiden, einen leeren Bauch zu haben, den Magen von Krämpfen zusammengezogen, die das Gehirn erschüttern und schwindelig machen: vielleicht würde dies sein ewiges Weh getötet haben. Ach, als Tier leben zu können, nichts zu besitzen, mit der häßlichsten und schmutzigsten Schlepperin durch die Getreidefelder zu streifen und sich Befriedigung zu holen!

»Brot! Brot! Brot!«

Da verlor er die Geduld und schrie in den Lärm hinein.

»Brot? Ihr Tröpfe! Ist denn das alles!«

Er hatte zu essen und stöhnte dennoch unter einem ewigen Leid. Sein zerstörtes Eheleben, sein ganzes verwüstetes Leben: es stieg ihm wie ein Todesröcheln in der Kehle empor. Wenn man auch Brot hatte, so war damit noch nicht alles erreicht. Wer war der Tölpel, der das irdische Glück in der Teilung des Reichtums suchte? Diese Hohlköpfe von Revolutionären konnten die Gesellschaft umstürzen und eine neue aufbauen; sie würden aber der Menschheit keine neue Freude bieten, ihr kein einziges Weh nehmen können, indem sie jedem seinen Brotanteil beschnitten. Ja, sie würden das Unglück der Erde nur ausbreiten, daß schließlich selbst die Hunde verzweifelt heulten, weil man sie aus der ruhigen Zufriedenheit der Instinkte gerissen und zur Schmerzenshöhe der unbefriedigten Leidenschaften hob. Nein, das einzige Glück ist, nichts zu sein; oder, wenn man schon etwas ist, der Baum zu sein, der Stein zu sein, noch weniger: das Sandkorn, das nicht bluten kann unter dem Tritte der Menschen.

In dieser Verbitterung wegen seines Leides traten Herrn Hennebeau Tränen in die Augen und rannen heiß über seine Wangen. Die Straße lag schon in Dunkel gehüllt, als Steine gegen die Stirnwand des Hauses zu fliegen begannen. Ohne Zorn gegen diese Hungrigen und nur durch die brennende Wunde seines Herzens wütend gemacht, fuhr er fort unter Tränen zu stammeln:

»Diese Tröpfe! Diese Tröpfe!«

Doch der Schrei der leeren Bäuche beherrschte alles; ein Geheul erhob sich mit Sturmesgewalt, das alles hinwegfegt:

»Brot! Brot! Brot!«


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