Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Zweites Kapitel

In der Jean-Bart-Grube schob Katharina seit einer Stunde die Karren bis zur Ablösungsstelle; sie war dermaßen von Schweiß getränkt, daß sie einen Augenblick innehalten mußte, um sich das Gesicht abzutrocknen.

Chaval, der mit den Kameraden seiner Gruppe im Schlage arbeitete, war erstaunt, als er das Rollen der Karren nicht mehr hörte. Die Lampen brannten schlecht, der Kohlenstaub hinderte ihn zu sehen.

»Was gibt es?« schrie er.

Als sie ihm geantwortet hatte, daß sie schier zerfließe und daß ihr das Herz aus dem Leibe zu fallen drohe, erwiderte er wütend:

»Dummes Vieh, mach' es wie wir und wirf das Hemd ab!«

Es war siebenhundertundacht Meter tief im Norden, in dem ersten Teile der Désirée-Ader, drei Kilometer vom Absatze entfernt. Wenn die Bergleute von diesem Teil der Grube sprachen, erbleichten sie und dämpften die Stimme, als hätten sie von der Hölle gesprochen; sie schüttelten zumeist nur die Köpfe und zogen es vor, nicht von diesen glühenden Höllentiefen zu reden. In dem Maße, wie die Galerien sich nach Norden ausdehnten, näherten sie sich dem Tartaret und drangen in das Gebiet des unterirdischen Brandes ein, der weiter oben die Felsen verkalkte. An der Stelle, wo man angelangt war, hatten die Schläge eine Durchschnittstemperatur von fünfundvierzig Grad. Man befand sich mitten in der verwünschten Stadt, mitten unter den Flammen, die jeder, der durch die Ebene kam, bei den Schlünden sehen konnte, die Schwefel und abscheuliche Dämpfe spien.

Katharina, die schon ihren Kittel abgelegt hatte, zögerte einen Augenblick, dann zog sie auch das Beinkleid aus. Mit nackten Armen und nackten Schultern, das Hemd nach Art eines Kittels mittels einer Schnur um die Hüften befestigend, machte sie sich wieder an die Arbeit.

»Es wird so besser gehen«, sagte sie laut.

In ihre Beklemmung mengte sich eine unbestimmte Angst. Seit den fünf Tagen, da sie hier arbeiteten, dachte sie an die Geschichten, mit denen man sie in ihrer Kindheit erschreckt hatte; an die Schlepperinnen von ehemals, die unter dem Tartaret brannten zur Strafe für Dinge, die man nicht zu wiederholen wagte. Sie war jetzt allerdings zu groß, um an solche Dummheiten zu glauben; und doch, was hätte sie getan, wenn plötzlich aus der Kohlenwand ein Mädchen hervorgekommen wäre, rot wie ein Ofen und mit zwei glühenden Kohlen anstelle der Augen? Dieser Gedanke vermehrte noch ihren Schweiß.

Bei der Ablösungsstelle, achtzig Meter vom Schlage, übernahm eine andere Schlepperin den Karren und rollte ihn achtzig Meter weiter, bis zur schiefen Ebene, wo der Übernehmer ihn mit den von den höheren Gängen ankommenden zugleich an die Oberfläche expedierte.

»Du machst dir's aber bequem«, sagte dieses Weib, eine magere Witwe von dreißig Jahren, als sie Katharina im Hemde sah. »Ich tue es nicht; die Stößerjungen ärgern mich mit ihren unflätigen Reden.«

»Ich kümmere mich wenig um die Mannsleute; ich leide zu stark durch die Hitze«, antwortete das Mädchen.

Sie nahm einen leeren Karren und kehrte zurück. Das schlimmste war, daß in diesem tiefen Gange zur Nachbarschaft des Tartaret noch etwas anderes hinzukam, die Hitze unerträglich zu machen. Man befand sich neben einem ehemaligen Arbeitsstollen, einer aufgelassenen Galerie des Gaston-Marie-Schachtes, wo vor zehn Jahren infolge schlagender Wetter die Ader in Brand geraten war, die noch immer hinter der Lehmwand brannte, welche man aufgeführt hatte und immer wieder ausbesserte, um dem Feuer eine Grenze zu setzen. Der Luft beraubt, hätte das Feuer erlöschen müssen; aber ohne Zweifel ward es durch Luftzüge angefacht, die aus unbekannten Richtungen kamen; es erhitzte den Lehm der Scheidewand, wie man die Ziegel eines Ofens erhitzt, so daß man im Vorbeigehen die Glühhitze verspürte. Längs dieser Mauer in einer Länge von über hundert Metern und in einer Temperatur von sechzig Grad wurden die Karren geschoben.

Nach zwei Fahrten glaubte Katharina von neuem ersticken zu müssen. Glücklicherweise war der Weg breit und bequem in dieser Désirée-Ader, einer der dichtesten in der Gegend. Das Lager hatte eine Dichtigkeit von einem Meter neunzig Zentimeter. Die Bergleute konnten aufrechtstehend arbeiten, allein sie hätten lieber mit gebeugtem Rücken gearbeitet, wenn sie nur etwas frische Luft gehabt hätten.

»Schläfst du denn?« rief Chaval heftig, sobald er Katharinens Bewegungen nicht mehr hörte. »Wer hat mir ein solches Faultier an den Hals gehängt? Willst du wohl deinen Karren füllen und schieben?«

Katharina befand sich am Fuße des Schlages und stützte sich auf ihre Schaufel. Ein Unwohlsein erfaßte sie, während sie mit blöder Miene und ohne zu gehorchen, die anderen betrachtete. Sie sah sie nur undeutlich bei dem rötlichen Scheine der Lampen, ganz nackt wie die Tiere, so schwarz, so schmutzig von Schweiß und Kohle, daß ihre Nacktheit ihr nicht anstößig war. Es war, als verrichteten Affen mit gestrecktem Rücken ihr finsteres Werk; ein höllisches Bild von geröteten Gliedern, die sich unter dumpfen Schlägen und Ächzen erschöpften. Die Arbeiter aber sahen Katharina ohne Zweifel deutlicher; sie ließen ihre Spitzhauen einen Augenblick und begannen mit ihr zu scherzen, weil sie ihr Beinkleid abgelegt hatte.

»Paß auf, du holst dir einen Schnupfen!«

»Die hat echte Beine! Chaval, sie hat genug für zwei!«

»Man müßte sehen. Hebe das Hemd, höher, höher!«

Gleichgültig bei diesen Späßen der Kameraden fiel Chaval wieder über das Mädchen her.

»Wird's endlich?« schrie er. »Bei den Schweinereien ist sie gleich dabei; sie möchte bis morgen zuhören.«

Katharina hatte sich mühselig wieder entschlossen, ihre Karre zu füllen und schob sie fort. Die Galerie war zu breit, als daß sie auf beiden Seiten an die Hölzer hätte anstoßen können. Ihre nackten Füße krümmten sich in dem Geleise, wo sie einen Stützpunkt suchten, während sie langsam, die Arme vorgestreckt, den Körper vorgebeugt, sich fortbewegte. Aber wenn sie an der Scheidewand vorüberkam, begann der Marter der Hitze wieder; der Schweiß rann von ihrem ganzen Körper in großen Tropfen wie ein Gewitterregen. Sie hatte noch nicht den dritten Teil der Strecke zurückgelegt und war schon in Schweiß gebadet, geblendet, mit schwarzem Schmutz bedeckt. Das enge Hemd, wie in Tinte getaucht, klebte an ihrer Haut und verschob sich bei der Bewegung der Schenkel bis zu den Lenden. Sie fühlte sich darin so schmerzlich beengt, daß sie abermals ihre Arbeit unterbrechen mußte.

Was hatte sie denn heute? Niemals hatte sie sich so matt gefühlt. Es mußte an der verschlechterten Luft liegen. In diesem fernen Gange war keine Lüftung. Man sah daselbst alle Arten von Dämpfen, die mit dem leisen Brodeln einer Quelle aus der Kohle aufstiegen, manchmal so reichlich, daß die Lampen zu erlöschen drohten; von den schlagenden Wettern nicht zu reden, die jahraus jahrein den Arbeitern um die Nase wehten. Sie kannte diese schlechte Luft sehr gut, diese tote Luft, wie die Grubenarbeiter sie nennen; unten erstickende, schwere Gase, oben leichte Gase, die sich entzünden und in einem einzigen Donnerschlage alle Werkplätze einer Grube, hunderte von Menschen vernichten. Seit ihrer Kindheit hatte sie davon soviel verschluckt, daß sie sich wunderte, wie sie diese Luft so schwer ertrug, daß ihr die Ohren sausten und der Hals brannte.

Da sie nicht weiter konnte, fühlte sie ein Bedürfnis, ihr Hemd abzulegen. Es wurde ihr zur Marter; die kleinsten Falten des Linnens schnitten sie, brannten sie. Sie widerstand einen Augenblick, wollte noch weiter schieben, war aber genötigt, sich aufzurichten. Sie nahm sich vor, es bei der Ablösungsstelle wieder anzuziehen, warf alles ab, Hemd und Schnur, mit einer so fieberhaften Gebärde, daß sie sich die Haut weggerissen hätte, wenn sie es hätte tun können. Nunmehr nackt, erbärmlich, zum Tiere erniedrigt, das im Straßenschmutz trottet, um seine Nahrung zu suchen, arbeitete sie, die Lenden mit Schweiß bedeckt, schmutzig bis zum Bauche wie ein Droschkenpferd. Auf allen Vieren kriechend, schob sie ihren Karren fort.

Doch zu ihrer Verzweiflung merkte sie, daß sie – obgleich nackt – sich noch immer nicht erleichtert fühlte. Was sollte sie noch ausziehen? Das Sausen ihrer Ohren betäubte sie; ihr war, als presse ein Schraubstock ihr die Schläfen zusammen. Sie fiel auf die Knie. Die auf dem Karren zwischen den Kohlen stehende Lampe schien erlöschen zu wollen. In dem Wirrsal ihrer Gedanken erhielt sich nur der Wunsch, den Docht der Lampe emporzuschrauben. Zweimal wollte sie die Lampe untersuchen und beide Male, als sie dieselbe vor sich auf den Boden hinstellte, sah sie sie kleiner werden, als sei auch ihr der Atem ausgegangen. Plötzlich erlosch die Lampe. Alles versank in Finsternis, ein Mühlstein kreiste in ihrem Schädel, ihr Herz hörte auf zu schlagen, gelähmt durch die ungeheure Mattigkeit, die ihre Glieder einschläferte. Sie lehnte sich zurück und lag in der erstickenden Luft wie tot am Boden.

»Ich glaube gar, sie faulenzt wieder«, grollte die Stimme Chavals von neuem.

Er lauschte von der Höhe des Schlages und hörte das Rollen der Räder nicht.

»He, Katharina, verdammte Blindschleiche!«

Seine Stimme verlor sich in der Ferne, in der finsteren Galerie; kein Hauch antwortete ihr.

»Soll ich dir auf die Beine helfen?« schrie er wieder.

Nichts bewegte sich; die nämliche Totenstille. Er stieg wütend herab und lief mit seiner Lampe so heftig dahin, daß er beinahe über den Körper der Schlepperin strauchelte, die querüber auf dem Wege lag. Erstaunt betrachtete er sie. Was hatte sie denn? Das war doch nicht etwa eine Verstellung, um sich ein Schläfchen zu gönnen? Doch als er die Lampe senkte, um ihr ins Gesicht, zu leuchten, drohte sie zu erlöschen. Er hob sie in die Höhe, senkte sie wieder und begriff endlich: es mußte eine Stickluft sein. Seine Heftigkeit wich, und seine Zuneigung erwachte angesichts der in Gefahr befindlichen Genossin. Er schrie, man solle ihm sein Hemd bringen; er hatte das nackte, ohnmächtige Mädchen mit beiden Armen umfangen und hob sie so hoch, wie er konnte. Als man ihm seine und ihre Kleider über die Schultern geworfen hatte, eilte er davon, mit der einen Hand seine Last stützend, mit der andern die beiden Lampen tragend. Die tiefen Galerien dehnten sich dahin: er rannte rechts, er rannte links, um das Leben zu suchen in der eisigen Luft der Ebene, welche der Ventilator in die Grube strömen ließ. Ein Geplätscher, wie von einer Quelle kommend, ließ ihn plötzlich stille halten; es war eine Wasserader, die den Felsen durchbrochen hatte. Chaval hatte den Kreuzweg einer großen Abfuhrgalerie erreicht, die ehemals dem Gaston-Marie-Schachte gedient hatte. Die Lüftung wehte hier mit der Macht eines Sturmwindes; es war so kühl, daß er von einem Frösteln geschüttelt wurde, als er seine Geliebte zu Boden setzte, die noch immer bewußtlos und deren Augen noch immer geschlossen waren.

»Katharina, höre!... Mach' keine Dummheiten .... Halte dich ein wenig, damit ich das Hemd ins Wasser tauchen kann.«

Er erschrak, als er sie so ohnmächtig sah; indes konnte er sein Hemd in die Quelle tauchen und wusch ihr das Gesicht damit. Mit dem schmächtigen Körper eines spät reifenden Mädchens, an dem die Formen der Mannbarkeit nur langsam hervortraten, war sie wie tot und begraben hier tief unter der Erde. Dann lief ein Frösteln über ihre kindliche Brust, über ihren Bauch und ihre Schenkel eines bedauernwerten Kindes, das vor dem Alter der Mannbarkeit entehrt worden. Sie schlug die Augen auf und stammelte:

»Mich friert.«

»Ach, das ist mir lieber!« rief Chaval erleichtert.

Er kleidete sie wieder an, warf ihr leicht das Hemd über und fluchte wegen der Mühe, die er hatte, ihr das Beinkleid anzuziehen, weil sie selbst nicht nachhelfen konnte. Sie war noch völlig betäubt, begriff nicht, wo sie sich befand, noch auch, weshalb sie nackt war. Als sie sich endlich erinnerte, überkam sie ein Gefühl der Scham. Wie hatte sie es wagen können, alles auszuziehen? Sie fragte ihn: hatte man sie gesehen so völlig nackt, ohne wenigstens ein Taschentuch um den Leib zu haben, ihre Blöße zu verdecken? Er machte jetzt wieder Spaß und erzählte, er habe sie zwischen allen Kameraden, die eine Gasse bildeten, hierher gebracht. Welch Einfall war es auch, seinem Rat zu folgen und sich den Hintern zu entblößen! Schließlich gab er sein Wort, mit ihr so rasch davongelaufen zu sein, daß die Kameraden nicht wissen konnten, ob sie einen runden oder viereckigen Hintern habe.

»Aber jetzt erfriere ich beinahe«, fügte er hinzu, indem er sich ebenfalls ankleidete.

Niemals hatte sie ihn so freundlich gesehen. Gewöhnlich tauschte sie für ein gutes Wort zwei Grobheiten ein. Es wäre so schön gewesen, in Eintracht zu leben. In ihrer Mattigkeit kam eine Regung der Zärtlichkeit über sie. Sie lächelte ihm zu und flüsterte:

»Küsse mich!«

Er küßte sie und legte sich neben sie hin, um zu warten, bis sie wieder gehen könne.

»Sieh,« fuhr sie fort, »es war nicht recht von dir, daß du vorhin schriest. Ich konnte nicht weiter, wahrhaftig nicht! Ihr habt im Schlage weniger von der Hitze zu leiden; aber wenn du wüßtest, wie man in dem Gange gebraten wird!«

»Gewiß wäre es unter den Bäumen angenehmer«, antwortete er. »Für dich ist's schlimm, auf diesem Werkplatze zu arbeiten, mein armes Mädchen, das merke ich wohl.«

Sie war sehr gerührt, als sie ihn so einsichtig sah, daß sie die Tapfere spielte.

»Es ist nur heute,« sagte sie; »ich bin so schwach und die Luft so schlecht ... Aber du sollst gleich sehen, ob ich eine Blindschleiche bin. Wenn man arbeiten muß, arbeitet man, nicht wahr? Ich würde lieber verenden, als die Arbeit im Stiche lassen.«

Ein Schweigen trat ein. Er hatte den Arm um ihren Leib gelegt und drückte sie an seine Brust, damit sie keine Erkältung davontrage. Obgleich sie sich schon stark genug fühlte, zum Werkplatz zurückzukehren, vergaß sie sich doch mit Wonne an seiner Seite.

»Ich wünschte nur, daß du freundlicher seiest«, fuhr sie leiser fort. »Man ist so glücklich, wenn man sich ein wenig liebt.«

Sie begann still zu weinen.

»Aber ich liebe dich; ich habe dich zu mir genommen«, schrie er.

Sie antwortete nur mit einem Kopfschütteln. Die Männer nahmen oft Besitz von den Weibern, bloß um sie zu haben, unbekümmert darum, ob das Weib auch glücklich sei. Ihre Tränen flössen heißer; sie war jetzt trostlos, wenn sie daran dachte, welches schöne Leben sie führen würde, wenn sie einen andern Burschen gefunden hätte, dessen Arm sie stets um ihren Leib fühlte. Einen andern? In ihrer tiefen Bewegung tauchte das Bild dieses andern vor ihr auf. Doch das war vorüber; sie hatte nur mehr den Wunsch, mit diesem da zu leben, wenn er sie nur weniger rauh behandeln wolle.

»Suche wenigstens von Zeit zu Zeit so zu sein wie jetzt«, sagte sie.

Ein Schluchzen unterbrach ihre Worte; er küßte sie von neuem.

»Sei nicht dumm«, sagte er. »Ich verspreche dir, daß ich artig sein will. Ich bin nicht schlimmer als ein anderer, glaube mir's!«

Sie schaute ihn an und lächelte wieder unter Tränen. Vielleicht hatte er recht, und es gab keine glücklichen Frauen. Dann – obgleich sie seinem Versprechen nicht traute – überließ sie sich der Freude, ihn liebenswürdig zu sehen. Mein Gott, wenn es von Dauer sein könnte! Sie hatten sich wieder umarmt, und wie sie sich lange aneinander schlossen, wurden sie durch Schritte aufgeschreckt. Drei Kameraden, die sie hatten vorübereilen sehen, kamen näher, um zu erfahren, was es gebe.

Alle machten sich zugleich auf den Weg. Es war bald zehn Uhr, und man nahm sein Frühstück in einem kühlen Winkel, ehe man nach dem Schlage zurückkehrte, um dort zu schwitzen. Sie hatte eben ihren »Ziegel« verzehrt und einen Schluck Kaffee dazu aus der Feldflasche getrunken, als ein Lärm, der von den entfernten Schlägen her kam, sie in Unruhe versetzte. Was gab's denn? Vielleicht wieder einen Unglücksfall? Sie erhoben sich und eilten hin. Jeden Augenblick kreuzten Häuer, Schlepperinnen, Stößerjungen ihren Weg; niemand wußte etwas und alle schrien; es mußte ein großes Unglück sein. Allmählich geriet die ganze Zeche in Aufruhr; entsetzte Schatten brachen aus den Galerien hervor, die Laternen zogen hüpfend durch die Finsternis dahin. Wo war's? Warum sagte man es nicht?«

Plötzlich kam ein Aufseher vorüber und schrie:

»Man durchschneidet die Kabel! Man durchschneidet die Kabel!«

Da fuhr allen der Schreck in die Glieder. Es entstand ein wütendes Laufen durch die dunklen Galerien. Alle hatten den Kopf verloren. Weshalb durchschnitt man die Kabel? Wer durchschnitt sie, während noch Leute in der Grube waren? Das schien ihnen ungeheuer.

Doch jetzt kam ein anderer Aufseher vorüber, dessen Geschrei sich in den Galerien verlor.

»Die Arbeiter von Montsou durchschneiden die Kabel! Alle Leute hinaus!«

Als Chaval begriffen hatte, hielt er Katharina jäh zurück. Der Gedanke, daß er oben den Arbeitern begegnen werde, wenn er aufsteige, lähmte ihm die Beine. So war sie denn doch eingetroffen, diese Bande, die er in den Händen der Gendarmen glaubte! Einen Augenblick dachte er daran, umzukehren und durch den Gaston-Marie-Schacht aufzusteigen; allein die Fahrkunst war dort nicht mehr in Betrieb. Er fluchte, zögerte, suchte seine Furcht zu verbergen, und wiederholte, es sei albern, so zu laufen. Man werde sie doch nicht in der Grube lassen.

Abermals ertönte die Stimme des Aufsehers jetzt wieder näher:

»Alle hinaus! Zu den Leitern! Zu den Leitern!«

Chaval wurde von den Kameraden mitgerissen. Er drängte Katharina vor sich her, beschuldigte sie, nicht schnell genug zu laufen. Sollten sie allein in der Grube bleiben, um da Hungers zu sterben? Die Räuber von Montsou seien imstande, die Leitern zu zerstören, noch ehe alle Arbeiter draußen waren. Dieser gräßliche Gedanke brachte alle völlig aus der Fassung; es entstand ein wütendes Rennen die Galerien entlang; jeder suchte, dem anderen zuvorzukommen. Einige Männer schrien, die Leitern seien zerbrochen, niemand gelange mehr ins Freie. Als sie in entsetzten Gruppen in dem Aufzugssaale ankamen, gab es da eine ordentliche Stockung; alle stürzten nach dem Schachte, und es entstand ein arges Gedränge vor der schmalen Pforte, die zu den Leitern führte; ein alter Stallknecht, der vorsichtshalber die Pferde nach dem Stalle zurückgeführt hatte, sah mit verächtlicher Sorglosigkeit dieses Treiben mit an, er war gewohnt, Nächte in der Grube zuzubringen und war sicher, daß man ihn schließlich hinaufbefördern werde.

»Spute dich, steige vor mir hinauf,« rief Chaval Katharina zu; »so kann ich dich wenigstens festhalten, wenn du fällst.«

Atemlos und völlig erschöpft durch diesen drei Kilometer weiten Lauf, der sie wieder mit Schweiß bedeckt hatte, ließ sie sich von der Menge fortschieben, ohne die Sache zu begreifen. Er faßte sie bei dem Arme mit solcher Gewalt, als wollte er ihn zerquetschen; sie stieß eine Klage aus, und Tränen stürzten ihr aus den Augen. Schon hatte er sein Versprechen vergessen; sie konnte niemals glücklich sein.

»Vorwärts!« brüllte er.

Doch sie hatte zu große Furcht vor ihm. Wenn sie vor ihm hinaufstiege, würde er sie die ganze Zeit so mißhandeln. Darum widersetzte sie sich, während die tolle Menge der Kameraden beide zur Seite stieß. Das Sickerwasser des Schachtes fiel in schweren Tropfen herab, und der Fußboden des Saales, durch das Getrappel der Menge erschüttert, zitterte über der mit schmutzigem Wasser gefüllten Senkgrube, die eine Tiefe von zehn Metern hatte. Gerade im Jean-Bart war vor zwei Jahren das Unglück geschehen, daß ein Kabel riß und die Schale in die Senkgrube stürzte, wo zwei Arbeiter ertranken. Dieses Unglücksfalles erinnerten sich jetzt alle: wenn man auf dem Bretterboden in allzugroßer Menge sich ansammelt, können alle in der Senkgrube ihren Tod finden.

»Verwünschter Dickschädel!« schrie Chaval. »Krepiere denn; ich bin dich dann los.«

Er ging voraus, und sie folgte ihm.

Von der Tiefe der Grube bis zur Erdoberfläche führten hundertundzwei Leitern von je sieben Meter Länge. Jede Leiter stand auf einem schmalen Absatz, der die Breite des Schachtes hatte, in dem ein viereckiges Loch knapp soviel Raum ließ, daß man die Schultern durchschieben konnte. Es war wie ein glatter Kamin von siebenhundert Meter Höhe zwischen der Fahrkunst und dem Förderschachte; ein feuchter, finsterer, endloser Schlauch, wo Leiter auf Leiter stand, fast gerade, in regelmäßigen Stockwerken. Ein kräftiger Mann brauchte fünfundzwanzig Minuten, um diese Riesensäule zu ersteigen. Dieser Schacht diente übrigens nur zur Not, wenn ein Unglücksfall sich ereignete.

Anfänglich stieg Katharina munter hinan. Ihre Füße waren daran gewöhnt, über die kleinen Kohlenstücke zu schreiten, die auf den Wegen umhergestreut lagen; sie litten denn auch nicht durch die viereckigen Leitersprossen, die mit Eisen belegt waren, um nicht abgenützt zu werden. Ihre durch das Rollen der Karren abgehärteten Hände faßten mutig die für sie zu dicken Pfosten der Leitern. Sie fand sogar Zerstreuung daran und vergaß ihren Kummer bei diesem unvorhergesehenen Aufstieg, dieser langen Schlange von Menschen, die sich hinaufwand, drei auf jeder Leiter, so daß der Anfang zu Tage sein mußte, wenn das Ende noch über der Senkgrube stand. Man war aber noch nicht so weit. Die ersten mochten kaum ein Drittel des Schachtes zurückgelegt haben. Niemand sprach mehr; die Füße rollten mit einem dumpfen Geräusch dahin, während die Lampen – gleich irrenden Sternen – in einer immer wachsenden Linie aufstiegen.

Katharina hörte hinter ihr einen Stößerjungen die Leitern zählen. Dies brachte sie auf den Gedanken, sie ebenfalls zu zählen. Man hatte fünfzehn erstiegen und gelangte jetzt zu einem Aufstiegsabsatz. In demselben Augenblicke stieß sie an die Füße Chavals. Er fluchte und schrie ihr zu, sie solle besser aufpassen. Die ganze Säule blieb stehen und ward unbeweglich. Was war's? Was ging vor? Jeder fand seine Stimme wieder, um zu fragen und zu erschrecken. Die Angst stieg immer drückender aus der Tiefe herauf; das unbekannte Hindernis dort oben schnürte allen immer mehr die Kehle zu, je weiter sie nach oben kamen. Jemand verkündete, man müsse wieder hinabsteigen, die Leitern seien gebrochen. Das war die Sorge aller, die Furcht, sich vor dem Nichts zu befinden. Dann wieder ging eine andere Erklärung von Mund zu Mund: ein Häuer sei von einer Leitersprosse abgerutscht. Man wußte nichts Genaues; in dem Geschrei war nichts zu hören. Soll man denn auf den Leitern übernachten? fragte man. Endlich wurde, ohne daß man Aufklärung bekommen, der Aufstieg fortgesetzt mit derselben langsamen und mühseligen Bewegung, dem rollenden Geräusch der Tritte und dem Tanze der Lampen. Die zerbrochenen Leitern mußten höher sein.

Bei der zweiunddreißigsten Leiter – man war eben bei einem dritten Aufstiegsabsatz vorbeigekommen – fühlte Katharina ihre Beine und Arme steif werden. Zuerst hatte sie ein leichtes Prickeln in der Haut gefühlt. Sie verlor jetzt das Gefühl für Eisen und Holz unter den Füßen und in den Händen. Ein immer mehr anwachsender, brennender Schmerz erhitzte ihre Muskeln. In der Betäubung, die sich ihrer bemächtigte, erinnerte sie sich der Geschichten des Großvaters Bonnemort aus der Zeit, als es noch keinen Aufstiegsschacht gab und kleine Mädchen von zehn Jahren die Kohle auf ihren Schultern hinaufschafften längs der Leitern, die an der kahlen Wand aufgestellt waren. Wenn eine ausglitt oder ein Stück Kohle aus einem Korbe fiel, stürzten gleich drei, vier Kinder ab. Die Krämpfe in ihren Gliedern wurden unerträglich; sie verzweifelte hinaufzugelangen.

Es traten neue Stockungen ein, und diese gestatteten ihr, sich ein wenig zu verschnaufen. Allein das Entsetzen, das jedesmal von oben herabwehte, vollendete ihre Betäubung. Der Atem der Menschen über ihr und unter ihr floß zusammen, ein Schwindel ging von diesem endlosen Aufstieg aus, dessen Übelkeit sie ebenso durchrüttelte wie die anderen. Sie erstickte fast, betäubt von der Finsternis, verzweifelt über das fortwährende Anstoßen an die Mauern des engen Schlundes. Sie fröstelte auch infolge der Feuchtigkeit; ihr Körper war in Schweiß gebadet, und die Nässe drang in eiskalten Tropfen auf sie ein. Man näherte sich dem Niveau, der Regen fiel so dicht, daß er die Lampen auszulöschen drohte.

Chaval fragte zweimal Katharina, ohne eine Antwort zu erhalten. Was trieb sie denn da unter ihm? Hatte sie ihre Zunge fallen lassen? Sie konnte ihm doch sagen, ob sie sich noch halte. Der Aufstieg währte schon eine halbe Stunde, ging aber so schwer vor sich, daß er erst auf der neunundfünfzigsten Leiter war. Noch dreiundvierzig waren zurück. Katharina stammelte endlich, daß sie sich noch halte. Er hätte sie wieder eine Blindschleiche genannt, wenn sie ihm ihre Müdigkeit gestanden hätte. Das Eisen der Sprossen mußte ihr jetzt in die Füße einschneiden; ihr war, als säge man sie bis an die Knochen durch. Jedesmal, wenn sie die Hände nach den Pfosten ausstreckte, war sie darauf gefaßt, sie abgleiten zu sehen; sie waren dermaßen zerschunden und steif, daß sie die Finger nicht schließen konnte; und sie glaubte rücklings abstürzen zu müssen; ihr war, als seien ihre Schultern losgerissen, ihre Schenkel aus den Gelenken infolge dieser fortgesetzten Anstrengung. Sie litt besonders durch die geringe Neigung der Leitern, die fast senkrecht standen, so daß sie genötigt war, sich durch die Kraft der Handknöchel emporzuziehen, wobei der Bauch an das Holz gepreßt war. Der Atem der Menge deckte jetzt das Rollen der Tritte; ein ungeheures Röcheln, zehnfach verstärkt durch die engen Wände des Schlundes, erhob sich aus der Tiefe und erstarb an der Erdoberfläche. Jetzt ward ein Ächzen hörbar, Worte flogen von Mund zu Mund: ein Stößerjunge hatte sich an der Kante eines Absatzes den Schädel eingerannt.

Katharina stieg immer höher. Jetzt passierte man das Niveau. Der Regen hatte aufgehört, ein Nebel verdichtete die Kellerluft, die noch durch den Geruch alten Eisens und feuchten Holzes verdorben wurde. Hartnäckig fuhr sie fort, im stillen zu zählen: einundachtzig, zweiundachtzig, dreiundachtzig; noch neunzehn. Diese immer wiederholten Ziffern allein waren es, die mit ihrem gleichmäßigen Wiegen sie aufrechthielten. Sie hatte nicht mehr das Bewußtsein ihrer Bewegungen. Wenn sie die Blicke erhob, sah sie die Lampen spiralförmig kreisen. Ihr Blut floß; sie fühlte, daß sie sterbe, daß der leiseste Hauch genügen werde, um sie hinabzuschleudern. Das Schlimmste war, daß die nach ihr kommenden Leute jetzt drängten und die ganze Säule aufwärts stürmte, getrieben von der wachsenden Wut über ihre Ermüdung und von dem wütenden Bedürfnisse, die Sonne wiederzusehen. Die ersten waren jetzt aus dem Schachte, es gab also keine zerbrochenen Leitern; doch der Gedanke, daß man sie zerbrechen könne, um die letzten an der Ausfahrt zu hindern, während die anderen sich schon oben verschnaufen konnten, machte sie vollends toll. Als wieder eine Stockung eintrat, wurden wilde Flüche ausgestoßen, alle fuhren fort aufzusteigen, einander stoßend, über Leiber hinwegschreitend, damit man um jeden Preis ins Freie gelange.

Da stürzte Katharina. Sie hatte einen verzweifelten Hilferuf nach Chaval ausgestoßen. Er hörte nicht; er rang mit einem Kameraden, stieß diesem die Seiten ein, um vor ihm hinauf zu gelangen. Sie wurde fortgewälzt und getreten. In ihrer Ohnmacht hatte sie einen Traum: ihr schien, sie sei eine der kleinen Schlepperinnen von ehemals und ein Stück Kohle, das über ihr aus einem Korbe gefallen, habe sie in die Tiefe des Schachtes hinabgeschleudert wie einen Sperling, den ein Kieselstein getroffen. Nur fünf Leitern waren noch zu ersteigen. Der Aufstieg hatte fast eine Stunde gedauert. Niemals erfuhr sie, wie sie ans Tageslicht gelangt war, von Schultern getragen, durch die Enge des Schlotes festgehalten. Plötzlich befand sie sich in der blendenden Sonnenhelle inmitten einer heulenden, wütenden Menge.


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