Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Drittes Kapitel

Schon mit Tagesanbruch war eine zitternde Bewegung durch die Arbeiterdörfer gegangen, jene Bewegung, die jetzt auf allen Wegen in der ganzen Landschaft immer mehr anschwoll. Allein der verabredete Aufbruch konnte nicht geschehen; es verbreitete sich die Nachricht, daß Dragoner und Gendarmen durch die Ebene zögen. Man erzählte, sie seien während der Nacht aus Douai angekommen; man beschuldigte Rasseneur, die Kameraden verraten zu haben, indem er Herrn Hennebeau von ihren Absichten verständigte; eine Schlepperin versicherte, sie habe gesehen, wie ein Diener die Depesche zum Telegraphenamte trug. Die Arbeiter ballten drohend die Fäuste und lauerten beim fahlen Lichte der Morgendämmeruug hinter ihren Fensterläden, ob die Soldaten schon kämen.

Gegen halb acht Uhr – die Sonne ging eben auf – kam ein anderes Gerücht in Umlauf, das die Ungeduldigen beruhigte. Es handle sich bloß um einen militärischen Übungsmarsch, wie ihn seit dem Ausbruche des Streiks der kommandierende General auf Wunsch des Präfekten von Lille wiederholt vornehmen ließ. Die Streikenden verabscheuten diesen Beamten, dem sie vorwarfen, sie durch das Versprechen einer versöhnenden Vermittlung getäuscht zu haben, die sich darauf beschränkte, daß er alle acht Tage die Truppen durch Montsou marschieren lasse, um die Arbeiter in Schach zu halten. Wenn die Dragoner und Gendarmen, nachdem sie in hellem Trab über die hartgefrorenen Straßen der Dörfer geritten waren, wieder ruhig den Weg nach Marchiennes einschlugen, lachten die Arbeiter über diesen einfältigen Präfekten mit seinen Soldaten, die Reißaus nahmen, wenn einmal die Dinge sich hitziger gestalteten. Bis neun Uhr hielten sie an sich, blieben ruhig vor ihren Häusern auf dem Straßenpflaster stehen und blickten den letzten Gendarmen nach. Die Bürger von Montsou schliefen noch in ihren großen Betten. Frau Hennebeau verließ zu Wagen das Direktionsgebäude; sie ließ Herrn Hennebeau ohne Zweifel bei der Arbeit zurück, denn das Haus lag still und geschlossen wie ausgestorben da. Keine der Gruben war militärisch bewacht; es war der verhängnisvolle Mangel an Vorsicht in der Stunde der Gefahr, die natürliche Dummheit der Katastrophen; alle Fehler, die eine Regierung begehen kann, wenn es gilt, die Tatsachen mit Klugheit zu erfassen. Es schlug neun Uhr, als die Bergleute endlich den Weg nach Vandame einschlugen, um sich zu dem Stelldichein zu begeben, das man am vorhergehenden Tage im Walde beschlossen hatte.

Etienne begriff sogleich, daß er in Jean-Bart die dreitausend Kameraden nicht beisammen haben werde, auf die er zählte. Viele glaubten, die Kundgebung sei verschoben worden, und das Schlimmste war, daß zwei oder drei Banden, die schon unterwegs waren, die gute Sache zu gefährden drohten, wenn er sich nicht an ihre Spitze stelle. Nahe an hundert Mann, die vor der Morgendämmerung aufgebrochen, mußten unter die Buchen des Waldes flüchten, um da die anderen zu erwarten. Suwarin, den der junge Mann zu Rate zog, zuckte nur mit den Achseln: zehn entschlossene Burschen taugen mehr als eine ganze Menge, meinte er. Er vertiefte sich wieder in das Buch, das aufgeschlagen vor ihm lag; er wollte nicht mittun. Die Sache drohte wieder ins Gefühlvolle auszuarten, während es so einfach gewesen wäre, Montsou in Brand zu stecken. Als Etienne das Haus verließ, bemerkte er Rasseneur, der ganz blaß am eisernen Ofen saß, während sein Weib, das in seinem ewigen schwarzen Kleid noch länger schien, in scharfen, wenn auch höflichen Worten auf ihn einsprach.

Maheu war der Ansicht, man müsse Wort halten. Ein solches Stelldichein sei heilig. Allein die Nacht hatte das Fieber aller beruhigt; er fürchtete jetzt ein Unglück und erklärte, man habe die Pflicht, sich am Orte der Versammlung einzufinden, um die Kameraden in ihrem guten Rechte zu unterstützen. Frau Maheu nickte zustimmend. Etienne wiederholte selbstgefällig, man müsse revolutionär vorgehen, ohne jemandes Leben anzutasten. Vor dem Aufbruch wies er seinen Brotanteil zurück, den man ihm gestern samt einer Flasche Wachholderbranntwein gegeben hatte; aber er trank drei Gläschen nacheinander: das sei gegen die Kälte, meinte er. Er nahm sogar in der Feldflasche einen Schnapsvorrat mit. Alzire sollte die Kinder bewachen. Der alte Bonnemort blieb zu Bette; er war am gestrigen Tage zu viel herumgelaufen, und darum taten ihm die Beine weh.

Aus Vorsicht gingen nicht alle zusammen. Johannes war schon längst verschwunden. Maheu und sein Weib gingen auf Seitenwegen in der Richtung nach Montsou, während Etienne seinen Weg nach dem Walde nahm, um dort die Kameraden zu treffen. Unterwegs holte er eine Schar Weiber ein, unter denen er die Brulé und die Levaque erkannte; sie aßen Kastanien, welche die Mouquette gebracht hatte, und verschlangen auch die Schalen der Frucht, »damit das Zeug besser im Magen halte«. Im Walde fand Etienne niemanden; die Kameraden waren schon in Jean-Bart. Da begann er zu laufen und traf zu Jean-Bart gerade in dem Augenblicke ein, als Levaque mit etwa hundert Leuten in den Werkshof eindrang. Von allen Seiten kamen Grubenarbeiter; Maheu und sein Weib auf der Heerstraße, die Weiber querfeldein, alle in regellosen Haufen ohne Führer, ohne Waffen, in natürlicher Weise nach diesem Punkte strömend wie ein angeschwollenes Wasser, das die Hänge hinabläuft. Etienne bemerkte Johannes, der einen Brückensteg erklommen hatte und sich dort festsetzte, als sitze er im Theater. Er beschleunigte seinen Lauf und betrat mit den ersten den Werkhof. Es waren noch kaum dreihundert Leute da.

Eine Stockung trat ein, als Deneulin oben auf der Treppe erschien, die zum Aufnahmesaale führte.

»Was wollt ihr?« fragte er mit lauter Stimme.

Nachdem er die Kalesche hatte verschwinden sehen, aus welcher seine Töchter ihm noch zugelächelt hatten, war er –- von einer unbestimmten Unruhe ergriffen –- nach der Grube zurückgekehrt. Er fand jedoch daselbst alles in Ordnung; die Leute waren angefahren, die Förderung war im Zuge. Er beruhigte sich wieder und plauderte eben mit dem Oberaufseher, als man ihm meldete, daß die Streikenden nahten. Er eilte zu einem Fenster des Sichtungsschuppens und empfand angesichts dieser wachsenden Menge, die den Werkhof überflutete, sogleich das Gefühl seiner Ohnmacht. Wie sollte er diese auf allen Seiten offenen Gebäude verteidigen? Er hätte kaum zwanzig seiner Arbeiter um sich scharen können. Er war verloren.

»Was wollt ihr?« wiederholte er, bleich von verhaltener Wut eine Anstrengung machend, um seinem Unglück mutig die Stirne zu bieten.

In der Menge entstand ein Drängen und Brummen. Schließlich trat Etienne hervor und sagte:

»Mein Herr, wir sind nicht gekommen, um Ihnen ein Leid zuzufügen. Allein die Arbeit muß überall eingestellt werden.«

Deneulin nannte ihn rundheraus einen Schwachkopf.

»Glauben Sie, mir Gutes zu tun, wenn Sie die Arbeit bei mir behindern? Das ist geradeso gut, als wenn Sie dicht hinter mir eine Flinte nach mir abschössen ... Ja, meine Leute sind in der Grube und werden nicht ausfahren, –- oder ihr müßtet vorher mich selbst umbringen.«

Diese rauhen Worte verursachten ein Geschrei. Maheu mußte Levaque zurückhalten, der in drohender Haltung hervorstürzte, während Etienne noch immer unterhandelte und Deneulin von der Gesetzmäßigkeit ihres revolutionären Vorgehens zu überzeugen suchte. Allein dieser antwortete mit dem Rechte auf Arbeit. Er lehnte es übrigens ab, über diese Dummheiten sich zu äußern; er wollte Herr sein im eigenen Hause. Er machte sich nur Vorwürfe darüber, daß er nicht vier Gendarmen da hatte, um dieses ganze Lumpenpack hinwegzufegen.

»Ja, das ist mein Fehler; ich verdiene, was mir geschieht. Kerlen eures Schlages gegenüber gibt es nur eines: die Gewalt. Die Regierung bildet sich ein, euch durch Zugeständnisse zu gewinnen. Ihr werdet sie aber einfach zu Boden werfen, wenn sie euch Waffen geliefert hat.«

Etienne bebte vor Wut, hielt aber noch an sich.

»Herr,« sagte er mit gedämpfter Stimme, »ich bitte Sie, den Befehl zu geben, daß Ihre Arbeiter heraufgeholt werden; ich kann sonst für meine Kameraden nicht einstehen. Sie können dadurch einem Unglück vorbeugen.«

»Nein, lassen Sie mich in Frieden! Ich kenne Sie gar nicht! Sie gehören nicht zu meiner Grube, Sie haben mit mir nicht zu unterhandeln ... Nur Räuber durchstreifen so das Land, um Häuser zu plündern.«

Lautes Geschrei übertönte jetzt seine Stimme; besonders die Weiber beschimpften ihn. Er aber fuhr fort, ihnen Trotz zu bieten, und fühlte eine Erleichterung in dem Freimut, womit er sein gebieterisches Herz ausschüttete. Da das Verderben sicher war, fand er es feige, sich auf nutzlose Plattheiten zu verlegen. Doch ihre Zahl nahm immer noch zu; nahezu fünfhundert Leute drängten jetzt zur Türe, und er war in Gefahr niedergetreten zu werden, als sein Oberaufseher ihn heftig zurückriß.

»Um des Himmels willen, Herr!... Das gibt ein Blutvergießen. Wozu ist es gut, Menschen für nichts und wieder nichts töten zu lassen?«

Er wehrte sich noch; er protestierte mit einem letzten Schrei, den er der Menge zuschleuderte.

»Banditen, ihr werdet sehen, wenn wir erst wieder die Stärkeren sind!«

Man führte ihn hinweg; ein Ansturm hatte die ersten der Schar auf die Treppe gedrängt, deren Geländer verbogen wurde. Die Weiber drängten am meisten, schrien und trieben die Männer an. Die Tür gab sogleich nach; es war eine Tür ohne Schloß, bloß durch einen Schieber geschlossen. Doch die Treppe war zu schmal; die Menge stand eng zusammengedrängt auf ihr, und es hätte lange gewährt, bis sie eingedrungen wäre, wenn die Nachhut der Belagerer nicht auf den Einfall gekommen wäre, durch die anderen Öffnungen einzudringen. Da ergossen sie sich von allen Seiten, von der Baracke, vom Sichtungsschuppen, vom Heizhause her. In weniger als fünf Minuten gehörte ihnen die ganze Grube; sie überfluteten die drei Stockwerke unter wütenden Gebärden und Schreien, fortgerissen von dem Taumel ihres Sieges über diesen Besitzer, der sich ihnen widersetzt hatte.

Maheu, der als einer der ersten vorgedrungen war, sagte entsetzt zu Etienne:

»Sie sollen ihn nicht töten!«

Dieser lief schon herbei; als er begriffen, daß Deneulin sich in der Aufseherstube verrammelt hatte, antwortete er:

»Was denn? Wäre es unsere Schuld? So ein Tollkopf!«

Indes war auch er von Besorgnis erfüllt, noch zu ruhig, um dieser Zornesaufwallung nachzugeben. Er litt auch in seinem Stolze als Anführer, sobald er sah, wie die Bande sich seiner Autorität entzog und außer Rand und Band geriet weit über das Maß der kühlen Vollstreckung des Volkswillens hinaus, wie er sie sich gedacht hatte. Vergebens forderte er Kaltblütigkeit; vergebens schrie er, man dürfe nicht durch Handlungen unnützer Zerstörung den Feinden recht geben.

»Zu den Heizkesseln!« heulte die Brulé. »Laßt uns die Feuer auslöschen!«

Levaque, der eine Feile gefunden hatte, schwang diese wie einen Dolch und übertönte den Tumult mit einem furchtbaren Schrei:

»Wir durchschneiden die Kabel! Wir durchschneiden die Kabel!«

Bald wiederholten alle diesen Ruf; bloß Etienne und Maheu fuhren fort zu widersprechen; sie verloren den Kopf und schrien in den Tumult hinein, ohne sich Gehör zu verschaffen. Endlich konnte der erstere sich vemehmlich machen:

»Aber es sind Leute in der Grube, Kameraden!«

Der Lärm verstärkte sich noch; auf allen Seiten wurde geschrien:

»Um so schlimmer! Sie hätten nicht anfahren sollen! ... Es geschieht ihnen recht, den Verrätern! ... Ja, ja, sie sollen dort bleiben! ... Übrigens sind ja die Leitern da!«

Als der Gedanke an die Leitern sie noch hartnäckiger gemacht hatte, begriff Etienne, daß er nachgeben müsse. In der Furcht vor einem noch größeren Unglück eilte er zur Maschine; er wollte die Schalen heraufkommen lassen, damit nicht die durchgesägten Kabel auf sie niederfielen und mit ihrem Gewichte sie zerschmetterten. Der Maschinist war verschwunden, ebenso wie die wenigen oben beschäftigten Arbeiter. Etienne bemächtigte sich des Kolbens und handhabte ihn, während Levaque und zwei andere das gußeiserne Gebälk erklommen, das die Spornräder trug. Kaum waren die Schalen verankert, als man das Kreischen der Feile hörte, die das stählerne Kabel durchsägte. Tiefe Stille trat ein; dieses Geräusch der Feile schien die ganze Grube zu erfüllen; alle hoben den Kopf, schauten und hörten, von großer Bewegung ergriffen. Maheu, der in der ersten Reihe stand, ward von grausamer Freude erfüllt, als ob die Zähne der Feile sie alle von dem Unglück befreiten, indem sie das Kabel eines dieser Unglückslöcher durchsägten, in das man nicht mehr hinabsteigen solle.

Die Brulé war inzwischen über die Treppe der Baracke verschwunden und schrie unablässig:

»Löscht die Feuer aus! Zu den Kesseln! Zu den Kesseln!«

Eine Schar von Weibern folgte ihr. Frau Maheu eilte hinzu, um sie zu hindern, alles zu zerstören, gleichwie ihr Mann die Kameraden hatte zur Vernunft bringen wollen. Sie war die Besonnenste unter allen; man könne sein Recht fordern, ohne Schaden zu stiften, meinte sie. Als sie das Heizhaus betrat, hatten die Weiber schon die zwei Heizer verjagt; die Brulé hockte mit einer großen Schaufel vor einem der Öfen und leerte ihn, die weißglühenden Kohlen auf die Ziegel des Vorplatzes schleudernd, wo sie mit schwarzem Rauche weiter brannten. Es waren zehn Öfen für die fünf Dampferzeuger da. Alle Weiber stürzten sich mit wilder Wut auf dieses Zerstörungswerk; die Levaque schwang ihre Schaufel mit beiden Händen, die Mouquette schürzte ihren Rock bis zu den Hüften auf, damit er nicht Feuer fange; sie waren blutrot im Widerschein des Brandes, schweißtriefend, mit wirrem Haar in diesem Hexensabbat. Der Kohlenhaufen ward höher und höher; die Decke des weiten Raumes barst unter der Einwirkung der furchtbaren Glühhitze.

»Genug!« rief die Maheu. »Die Bude geht in Flammen auf!«

»Um so besser!« antwortete die Brulé. »Es ist dann wenigstens ganze Arbeit ... Donner Gottes! Ich sagte ihnen, daß ich sie den Tod meines Mannes entgelten lassen will!«

In diesem Augenblick hörte man die schrille Stimme Johannes'.

»Aufgepaßt! Ich lösche die Feuer aus! Ich lasse alles los!«

Er war als einer der ersten eingedrungen und durch die Menge gehumpelt, entzückt über diesen Rummel und überall suchend, was er Böses verüben könne; er kam auf den Gedanken, die Ventile zu öffnen, um den Dampf ausströmen zu lassen. Es strömte hervor mit der Gewalt von Schüssen; die fünf Kessel leerten sich mit einem sturmartigen Brausen und Zischen, daß einem die Ohren gellten. Alles war in Dampf gehüllt, die Kohle verblaßte, die Weiber erschienen nur mehr als Schatten mit verschwommenen Bewegungen. Der Knabe allein war sichtbar; er hatte die Galerie erstiegen, und man bemerkte ihn hinter den weißen Dampfwolken, wie er – das breite Maul bis zu den Ohren gespalten – vergnügt grinste, weil es ihm gelungen, diesen Orkan zu entfesseln.

Es dauerte nahezu eine Viertelstunde. Man hatte einige Kübel Wasser auf die Kohlenhaufen geschüttet, um sie vollends auszulöschen; damit war die Feuersgefahr beseitigt. Aber die Wut der Menge war nicht gedämpft, vielmehr neu aufgestachelt. Mit Hämmern bewaffnete Männer stiegen hinunter, die Weiber ergriffen Eisenstangen, und man sprach davon, die Dampferzeuger, die Maschinen zu zerschlagen, die Grube vollends zu zerstören.

Etienne, den man benachrichtigt hatte, eilte mit Maheu herbei. Fortgerissen von diesem glühenden Rachefieber, ward auch er berauscht. Er kämpfte indes, er beschwor sie, ruhig zu sein, da nunmehr die durchschnittenen Kabel, die ausgelöschten Feuer, die leeren Dampfkessel die Fortsetzung der Arbeit unmöglich machten. Man hörte wieder nicht auf ihn und war im Begriff, ihn zu überschreien, als draußen vor einer kleinen Tür, wo der Leiternschacht mündete, ein großer Tumult entstand.

»Nieder mit den Verrätern! ... Die schändlichen Feiglinge! ... Nieder mit ihnen! ...«

Es begann eben die Ausfahrt der Arbeiter aus der Grube. Die ersten standen blinzelnd da, geblendet von der Tageshelle. Dann zogen sie ab. suchten die Straße zu erreichen und zu entkommen.

»Nieder mit den Feiglingen! Nieder mit den falschen Brüdern!«

Die ganze Schar der Ausständigen war herbeigeeilt. In weniger als fünf Minuten war nicht ein Mann in den Gebäuden geblieben; die Fünfhundert von Montsou stellten sich in zwei Reihen auf und zwangen so die Arbeiter von Vandame, diese Verräter, die angefahren waren, zwischen dieser Doppelhecke durchzuziehen. Bei jedem neuen Arbeiter, der mit zerfetzten Kleidern und geschwärztem Gesichte bei der Pforte des Schlotes erschien, erneuerten sich die Schmährufe, und grausame Scherze empfingen ihn. Der da hat Dreizollbeine, und darauf sitzt gleich das Hinterteil; diesem da haben die Dirnen vom Vulkan die Nase weggefressen; diesem anderen fließt Wachs aus den Augen, so viel Wachs, daß man damit zehn Kirchen versorgen kann; da kommt ein Großer ohne Hinterbacken, so lang wie die Fasten. Jetzt kam eine Schlepperin zum Vorschein, riesengroß, der Busen im Bauch, der Bauch im Hintern; sie entfesselte ein wildes Gelächter. Man wollte sie betasten; die Scherze wurden derber, allmählich grausam, und es drohte ein Regen von Faustschlägen, während der Zug der armen Teufel fortdauerte, die zitternd die Beschimpfungen ruhig ertrugen und nach den erwarteten Hieben schielend froh waren, wenn sie die Grube endlich hinter sich hatten und laufen konnten.

»Ei, zum Teufel! Wieviele sind denn da drinnen?« fragte Etienne.

Er war erstaunt, noch immer Leute hervorkommen zu sehen, und es ärgerte ihn die Wahrnehmung, daß es sich nicht um einige Arbeiter handelte, die durch den Hunger genötigt und durch die Aufseher eingeschüchtert angefahren waren. Man hatte ihn also im Walde belogen: die ganze Belegschaft von Jean-Bart war angefahren. Doch als er Chaval auf der Schwelle erblickte, stürzte er mit einem Schrei hinzu.

»Donner Gottes über dich! Zu diesem Stelldichein also hast du uns gerufen?«

Verwünschungen wurden laut; man drängte sich heran, um sich auf den Verräter zu werfen. Wie: er hatte gestern mit ihnen geschworen, und jetzt fand man ihn mit den anderen in der Grube! Wollte er sich über sie lustig machen?

»Faßt ihn ab! In den Schacht mit ihm!«

Chaval war schreckensbleich geworden und stammelte irgendwelche Erklärungen. Allein Etienne schnitt ihm das Wort ab; er war außer sich, von der Wut der Bande ergriffen.

»Du wolltest mittun, du wirst mittun... Vorwärts, marsch, Halunke!«

Doch ein anderer Schrei übertönte seine Stimme. Katharina war zum Vorschein gekommen, geblendet von der hellen Sonne, betroffen, mitten unter diese Wilden geraten zu sein. Ihre Beine waren wie zerschlagen, nachdem sie die hundertundzwei Leitern erstiegen hatte, und ihre Handflächen bluteten. Sie wollte sich einen Augenblick verschnaufen, als die Maheu, sie erblickend, mit erhobener Hand auf sie losstürzte.

»Du auch, Dirne?... Wenn deine Mutter Hungers stirbt, verrätst du sie wegen deines Zuhälters?«

Maheu hielt den Arm zurück und verhinderte so den Backenstreich. Aber er schüttelte seine Tochter und machte ihr – dem Beispiele seines Weibes folgend – wütende Vorwürfe wegen ihres Betragens. Beide hatten den Kopf verloren und schrien stärker als die Kameraden.

Der Anblick Katharinas hatte Etienne vollends erbittert. Er wiederholte:

»Vorwärts! zu den anderen Gruben! Und du kommst mit uns, schmutziges Schwein!«

Chaval hatte knapp Zeit, seine Holzschuhe aus der Baracke zu holen und eine Wolljacke über seine frierenden Schultern zu werfen. Alle zerrten ihn fort und zwangen ihn, in ihrer Mitte zu laufen. Auch Katharina – die völlig den Kopf verloren hatte – zog eilig ihre Holzschuhe an, knöpfte die alte Männerjacke zu, die sie seit dem Eintritt der Kälte trug, und lief hinter ihrem Galan her; sie wollte ihn nicht verlassen; denn sie war überzeugt, daß man ihn umbringen wolle.

In zwei Minuten leerte sich Jean-Bart. Johannes, der ein Horn gefunden hatte, blies aus Leibeskräften hinein und entlockte ihm rauhe Töne, als gelte es, eine Ochsenherde zu versammeln. Die Weiber, die Brulé, die Levaque, die Mouquette, hoben ihre Röcke auf, um besser laufen zu können, während Levaque eine Hacke schwang, wie ein Tambourmajor seinen Stab. Andere Kameraden stießen zur Bande, die jetzt an tausend Köpfe zählte und sich ohne jede Ordnung, wie ein aus den Ufern getretener Strom über die Straße ergoß. Der Weg, der aus dem Werke hinausführte, war zu schmal; die Pfahlhecken wurden niedergebrochen.

»Zu den Gruben! Nieder mit den Verrätern! Keine Arbeit mehr!«

Jean-Bart versank plötzlich in liefe Stille. Kein Mensch, kein Laut. Deneulin verließ das Aufseherzimmer und machte sich allein – jede Begleitung abwehrend – an die Untersuchung der Grube. Er war bleich, sehr ruhig. Zuerst blieb er vor dem Aufzugsschachte stehen, erhob die Augen und betrachtete die durchschnittenen Kabel; die Enden des stählernen Seiles hingen unnütz herab; der Biß der Feile hatte eine frische Wunde zurückgelassen, die aus dem Schwarz der Schmierfette hervorschimmerte. Dann ging er zur Maschine hinauf, betrachtete die Kurbelstange, die unbeweglich war wie das Gelenk eines von der Lähmung getroffenen kolossalen Gliedes, berührte das schon erkaltete Metall, wobei er zusammenschauerte, als habe er einen Toten berührt. Dann stieg er zu den Kesseln hinab, ging langsam bei den erloschenen Öfen vorbei, die weit gähnend und mit Wasser übergössen dastanden, stieß mit dem Fuße an die Dampferzeuger, die einen hohlen Klang gaben. Es war zu Ende; sein Ruin war eine ausgemachte Sache. Selbst wenn er die Kabel ausbessern, die Feuer wieder anzünden ließ: wo würde er Arbeiter finden? Noch zwei Wochen Streik, und er war bankerott. In dieser Gewißheit seines Unglücks empfand er keinen Haß mehr gegen die Räuber von Montsou; er fühlte die Mitschuld aller, den allgemeinen, hundertjährigen Fehler. Es waren Tiere ohne Zweifel; aber Tiere, die nicht lesen konnten und Hungers starben.


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