Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Dritter Teil

Erstes Kapitel

Am nächsten Tage und an den folgenden Tagen nahm Etienne seine Arbeit in der Grube wieder auf. Er gewöhnte sich daran; sein Leben regelte sich nach dieser Arbeit und nach den neuen Gebräuchen, die ihm anfänglich so schwer schienen. Ein einziges Vorkommnis unterbrach die Eintönigkeit der ersten zwei Wochen, ein vorübergehendes Fieber, das ihn nötigte, achtundvierzig Stunden hindurch das Bett zu hüten mit glühendem Kopfe und in seinen Fieberphantasien träumend, daß er seinen Karren im Bergwerke durch einen allzu engen Gang schiebe, wo er nicht hindurch könne. Die Krankheit war ganz einfach die Folge der ersten Lehrtage, eine Übermüdung, von der er sich bald erholte.

Es folgten Tage auf Tage, es verflossen Wochen und Monate. Gleich seinen Kameraden erhob er sich jetzt um drei Uhr morgens von seinem Lager, trank seinen Kaffee und nahm sein Butterbrot mit, das Frau Rasseneur ihm schon am Abend zurechtmachte. Wenn er am Morgen sich zur Grube begab, traf er regelmäßig den Vater Bonnemort, der schlafen ging, und wenn er am Nachmittag aus der Grube kam, begegnete er Bouteloup, der seine Arbeit aufnahm. Er trug die Haube, die Hose, den Leinwandkittel; er fror und wärmte sich den Rücken an dem großen Ofen in der Baracke. Dann kam das Warten mit bloßen Füßen in dem Aufnahmesaale, durch den ein schneidender Luftzug strich. Doch die Maschine mit ihren mächtigen stählernen Gliedern und den Kupfersternen daran, die da oben im Dunkel leuchtete, interessierte ihn nicht mehr, auch nicht die Kabel, deren Lauf dem Fluge eines schwarzen, stummen Nachtvogels glich, noch auch die Schalen, die unablässig auf und nieder stiegen inmitten des Geräusches der Signale, der Befehlsrufe, des Donners der Karren, die über den aus gußeisernen Platten gefügten Fußboden geschoben wurden. Seine Lampe brannte schlecht; der verwünschte Lampenputzer mußte sie schlecht gereinigt haben; er schaute erst wieder auf, wenn Mouquet sie alle verlud und dabei den Mädchen zum Spaß auf den Hintern klatschte. Die Schale löste sich aus den Ankern und fiel wie ein Stein in ein Loch, ohne daß Etienne auch nur den Kopf wandte, um zu sehen, wie das Tageslicht verschwand. Niemals dachte er an die Möglichkeit eines Sturzes; er fühlte sich heimisch in dem Maße, wie er unter dem Sturzregen in die Finsternis hinabstieg. Wenn sie unten angekommen waren und Pierron mit seiner scheinheiligen Sanftmut sie ausgeladen hatte, gab es immer das nämliche Herdengetrappel, die einzelnen Werkgruppen begaben sich schleppenden Ganges zu ihren Schlägen. Er kannte jetzt schon die Galerien der Mine besser als die Gassen von Montsou, wußte, daß man da sich wenden, dort sich bücken, anderswo wieder einer Pfütze ausweichen müsse. Er kannte dermaßen den zwei Kilometer langen Weg unter der Erde, daß er ihn ohne Lampe mit den Händen in den Taschen hätte zurücklegen können. Es fanden jedesmal die nämlichen Begegnungen statt: irgendein Aufseher leuchtete im Vorübergehen den Arbeitern ins Gesicht, Vater Mouque brachte ein Pferd, Bebert führte den stampfenden Gaul Bataille. Johannes lief hinter einem Zuge einher, um die Lüftungstüren zu schließen; die dicke Mouquette und die magere Lydia schoben ihren Karren.

Mit der Zeit litt Etienne auch weniger durch die Feuchtigkeit und die drückende Schwüle, die in dem Schlage herrschten. Der Kamin schien ihm jetzt sehr leicht zu erklettern, als sei er geschmolzen und könne durch Ritzen hindurchschlüpfen, wo er früher nicht einmal seine Hand hineinzustecken gewagt hätte. Er atmete ohne Unbehagen den Kohlenstaub ein, er sah klar in der Dunkelheit, er schwitzte ruhig, weil er sich schon daran gewöhnt hatte, vom Morgen bis zum Abend nasse Kleider am Leibe zu haben. Übrigens vergeudete er nicht mehr in ungeschickter Weise seine Kräfte; er hatte sich so rasch eine Geschicklichkeit zu eigen gemacht, daß der ganze Werkplatz darüber erstaunt war. Nach Ablauf von drei Wochen ward er unter den guten Schleppern der Grube genannt; kein einziger wußte seinen Karren in einem so kräftigen Zuge zur schiefen Ebene zu rollen und so geschickt einzuhängen. Seine kleine Gestalt machte es ihm möglich, überallhin zu schlüpfen; seine Arme, fein und weiß wie die eines Weibes, schienen unter der zarten Haut von Eisen zu sein, so tüchtig waren sie bei der Arbeit. Er beklagte sich niemals – ohne Zweifel aus Stolz – selbst dann nicht, wenn er vor Müdigkeit röchelte. Man machte ihm nur zum Vorwurfe, daß er keinen Spaß verstehe und sogleich beleidigt sei, wenn man ihm Püffe versetzen wolle. Im übrigen wurde er als richtiger Bergmann aufgenommen und angesehen unter der Macht der Gewohnheit, die ihn mit jedem Tage mehr zur Funktion einer Maschine herabdrückte.

Besonders Maheu faßte eine Freundschaft für Etienne, denn er schätzte die gut besorgte Arbeit. Auch merkte er – gleich den anderen – daß dieser Bursche mehr gelernt habe als sie; er sah ihn lesen, schreiben, Pläne zeichnen; er hörte ihn von Dingen reden, von deren Existenz er – Maheu – bisher keine Ahnung gehabt. Dies nahm ihn auch nicht wunder; die Grubenarbeiter hatten weit härtere Köpfe als die Maschinisten; ihn überraschte aber der Mut dieses Kleinen, die Entschlossenheit, mit der er in die Kohle gebissen, um nicht Hungers zu sterben. Es war der erste Zufallsarbeiter, der sich so rasch in diese Verhältnisse fand. Wenn der Kohlenschlag drängte und Maheu nicht einen Häuer entfernen wollte, beauftragte er den jungen Mann mit der Verholzung, weil er der Sauberkeit und Haltbarkeit der Arbeit sicher war. Die Vorgesetzten quälten ihn immer mit dieser verwünschten Verzimmerung; er fürchtete stündlich, daß der Ingenieur Negrel, gefolgt von Dansaert, erscheinen und schreiend und polternd fordern könne, daß alles neu gemacht werde; er hatte bemerkt, daß die Verzimmerung seines jungen Schleppers die Herren besser befriedigte, trotzdem sie taten, als seien sie niemals zufrieden, und immer wieder drohten, die Gesellschaft werde eines Tages eine durchgreifende Maßregel ergreifen. So zogen sich die Dinge hin; eine dumpfe Unzufriedenheit gärte in der Grube; selbst Maheu, sonst so ruhig, ballte schließlich die Fäuste.

Anfänglich gab es einen gewissen Gegensatz zwischen Zacharias und Etienne. Eines Abends hatten sie einander mit Maulschellen gedroht. Allein der erstere, ein wackerer Junge, dem außer seinen Vergnügungen alles »schnuppe« war, und den das freundschaftliche Anerbieten eines Schoppens rasch besänftigte, hatte sich bald der Überlegenheit des Neuangekommenen beugen müssen. Auch Levaque zeigte jetzt ein freundlicheres Gesicht, redete von Politik mit dem Schlepper, der – wie er zugab – Gedanken hatte. Dieser fand denn auch unter allen Männern des Werkplatzes nur mehr bei dem langen Chaval eine geheime Feindseligkeit; sie schmollten nicht miteinander, waren vielmehr Kameraden geworden; allein sie verzehrten sich gegenseitig mit den Blicken, wenn sie zusammen scherzten. Katharina hatte – zwischen diesen beiden – das Leben eines müden, unterwürfigen Mädchens wiederaufgenommen, das gebeugten Rückens seinen Karren schob; sie war immer sehr artig zu ihrem Gefährten, der ihr oft behilflich war; anderseits war sie dem Willen ihres Liebhabers unterworfen, dessen Liebkosungen sie sich offen gefallen ließ. Die Umgebung hatte sich mit der Sache abgefunden; die beiden wurden als ein Paar angesehen, und selbst die Familie ließ sich das Verhältnis stillschweigend gefallen, so daß Chaval die Schlepperin jeden Abend hinter den Hügel führte und dann bis zu ihrer Haustür begleitete, wo er ihr angesichts des ganzen Dorfes den Abschiedskuß gab. Etienne, der sich mit der Sache gleichfalls abgefunden zu haben glaubte, neckte sie oft mit diesen Spaziergängen und ließ dabei zum Spaß rohe Worte fallen, wie man sie in den Schlägen zwischen Burschen und Mädchen hörte. Sie antwortete ihm in dem nämlichen Tone und erzählte ihm keck, was ihr Liebhaber ihr getan hatte; nichtsdestoweniger ward sie verlegen und erbleichte, wenn die Augen des jungen Mannes den ihrigen begegneten. Beide wandten den Kopf ab und verharrten zuweilen eine Stunde in Schweigen mit einer Miene, als haßten sie einander wegen längst eingesargter Dinge, über die sie sich nicht auseinandersetzten.

Der Frühling war gekommen. Als Etienne eines Tages aus dem Schachte kam, wehte der laue Hauch des April ihm entgegen, ein guter Geruch von junger Erde, zartem Laub, freier Luft. Seither roch, wenn er aus der Grube kam, der Frühling immer besser und wärmte ihn immer mehr nach, seinen zehn Stunden Arbeit in dem ewigen Winter der Grube, inmitten des feuchten Dunkels, das niemals ein Sommer aufheiterte. Die Tage wurden länger; im Mai fuhr er schon bei Sonnenaufgang an, wenn der Himmel das Licht des Morgenrots wie einen Goldstaub über den Voreuxschacht ausgoß und der weiße Dunst der Maschine rosenrot emporstieg. Man fröstelte nicht mehr; ein warmer Hauch wehte von den Fernen der Ebene her, während die Lerchen hoch in den Lüften ihren Sang ertönen ließen. Um drei Uhr genoß er das blendende Schauspiel der voll aufgegangenen Sonne, deren Lichtflut das ganze Firmament übergoß und die Ziegel der Häuser unter dem schmutzigen Kohlenstaube rot färbte. Im Juni stand das Getreide schon hoch, war bläulich-grün und hob sich von dem schwärzlichen Grün der Rüben ab. Es war ein endloses, bei dem leisesten Winde wogendes Meer, das er sich ausbreiten und von Tag zu Tag wachsen sah, zuweilen überrascht, als ob er es abends grüner finde als am Morgen. Die Pappeln am Kanal setzten Laubkronen an; der Hügel bekleidete sich mit Gras, die Wiesen schmückten sich mit Blumen, neues Leben sproß überall, schoß aus der Erde hervor, während unter ihr Menschen in Mühsal und Elend seufzten.

Wenn Etienne jetzt des Abends spazierenging, scheuchte er nicht mehr hinter dem Hügel die Liebespärchen auf. Er folgte ihren Furchen in den Getreidefeldern, er erriet ihre Vogelnester an der Bewegung der gelb schimmernden Ähren und der roten Klatschrosen. Zacharias und Philomene kehrten mit der Gewohnheit eines alten Paares dahin zurück; die Mutter Brulé, immer auf der Suche nach Lydia, entdeckte diese jeden Augenblick mit Johannes, die miteinander so tief vergraben waren, daß man auf sie treten mußte, um sie aufzuscheuchen. Die Mouquette lag überall umher; man konnte nicht durch ein Feld gehen, ohne ihren Kopf niedertauchen zu sehen, während ihre Füße allein sichtbar blieben, wie sie rücklings hingestreckt lag. Doch alle diese waren frei; der junge Mann fand die Sache nur an jenen Abenden strafbar, an denen er Katharina und Chaval begegnete. Zweimal sah er sie bei seiner Annäherung mitten in einem Felde niederducken, dessen Halme nachher unbeweglich blieben. Ein andermal, als er einem schmalen Pfade folgte, sah er am Boden eines Getreidefeldes die klaren Augen Katharinas auftauchen und dann in Tränen sich verschleiern. Seither schien ihm die unendliche Ebene zu eng; er verbrachte seine Abende lieber in Rasseneurs Schenke.

»Madame Rasseneur, geben Sie mir einen Schoppen ... Nein, ich gehe heute abend nicht aus, ich bin zu müde.«

Er wandte sich einem Kameraden zu, der gewöhnlich an einem Tische im Hintergrunde saß, den Kopf an die Wand gelehnt.

»Suwarin, nimmst du nicht auch einen Schoppen?«

»Danke, ich nehme nichts.«

Etienne hatte die Bekanntschaft Suwarins gemacht, weil sie hier Seite an Seite lebten. Es war ein Maschinist im Voreuxschachte, der oben ein möbliertes Zimmer innehatte und so der Nachbar Etiennes war. Er war etwa dreißig Jahre alt, schmächtig, blond, mit einem feinen Antlitz, das von langen Haaren und einem dünnen Barte eingerahmt war. Seine weißen, spitzigen Zähne, sein feiner Mund und seine dünne Nase, seine rosige Gesichtsfarbe gaben ihm das Aussehen eines Mädchens mit einem Ausdruck eigensinniger Sanftmut, in den der graue Wiederschein seiner stahlblauen Augen zuweilen einen wilden Zug brachte. In seiner ärmlichen Arbeiterstube war nichts als eine mit Büchern und Papieren angefüllte Kiste. Er war Russe, sprach niemals von sich selbst und kümmerte sich nicht um die Märchen, die über ihn in Umlauf waren. Die Grubenarbeiter, die allen Fremden gegenüber sehr mißtrauisch waren und nach seinen kleinen Spießbürgerhänden vermuteten, daß er einer anderen gesellschaftlichen Klasse angehörte, hatten anfänglich ein Abenteuer ersonnen, irgendeinen Mord, vor dessen Ahndung er die Flucht ergriffen hatte. Dann hatte er sich aber so brüderlich, so ohne jeden Stolz ihnen gegenüber gezeigt, hatte mit so vieler Leutseligkeit seine kleine Münze unter die Kinder des Dorfes verteilt, daß sie ihn nunmehr unter sich aufnahmen, beruhigt durch das Gerücht, daß er ein politischer Flüchtling sei; dieses Wort war in ihren Augen eine Entschuldigung selbst für ein Verbrechen und bedeutete gleichsam eine Leidensgenossenschaft.

In der ersten Zeit stieß Etienne bei ihm auf eine scheue Zurückhaltung. Er erfuhr denn auch erst später seine Geschichte. Suwarin war der jüngste Sohn einer adeligen Familie in Tula. In Sankt-Petersburg, wo er Medizin studierte, hatte die sozialistische Strömung, welche damals die ganze russische Jugend fortgerissen, ihn dazu bewogen, ein Handwerk, und zwar das eines Mechanikers zu erlernen, um sich unter das Volk zu mengen, es kennen zu lernen und ihm brüderlich beizustehen. Von diesem Handwerk lebte er jetzt, nachdem er infolge eines vereitelten Anschlages auf das Leben des Kaisers geflohen war. Um diesen Anschlag auszuführen, hatte er einen Monat hindurch in dem Keller eines Obsthändlers gelebt, eine Mine quer unter der Straße angelegt, Bomben geladen in der fortwährenden Gefahr, samt dem Hause in die Luft zu fliegen. Von seiner Familie verleugnet, aller Geldmittel entblößt, als Fremder abgewiesen von den französischen Werkstätten, die in ihm einen Spion witterten, starb er beinahe Hungers, als die Bergwerksgesellschaft von Montsou in einem Zeitpunkte, da Not an Mann war, ihn endlich aufnahm. Seit einem Jahre arbeitete er als tüchtiger, nüchterner, ruhiger Arbeiter, die eine Woche Tagdienst, die andere Woche Nachtdienst machend, so pünktlich und verläßlich, daß die Vorgesetzten ihn als ein Muster anführten.

»Hast du denn niemals Durst?« fragte ihn Etienne lachend.

Er antwortete mit seiner sanften, fast ausdruckslosen Stimme:

»Ich habe Durst, wenn ich esse.«

Sein Gefährte neckte ihn auch wegen der Mädchen und schwor, ihn mit einer Schlepperin in den Getreidefeldern bei dem »Dorfe der Seidenstrümpfe« gesehen zu haben. Doch Souvarine zuckte mit ruhiger Gleichgültigkeit die Achseln. Eine Schlepperin, wozu? Das Weib war für ihn ein Junge, ein Kamerad, wenn sie die brüderliche Anhänglichkeit und den Mut eines Mannes besaß. Wenn nicht: wozu sich etwas ins Herz pflanzen, was möglicherweise zu einer Feigheit führte? Weder Weib noch Freund; er wollte keine Bande; er war frei von seinem Blute und frei von dem Blute anderer.

Jeden Abend, wenn die Schenke sich leerte, blieb Etienne im Gespräch mit Suwarin zurück. Er trank in kleinen Schlucken sein Bier; der Maschinist rauchte unaufhörlich Zigaretten, deren Tabak mit der Zeit seine dürren Finger gerötet hatte. Seine verschleierten Träumeraugen folgten dem Rauche wie einem zerflatterten Traume; seine Linke tastete nervös in der Luft herum, gleichsam um sich zu beschäftigen; gewöhnlich nahm er ein altes Hauskaninchen auf seinen Schoß, ein dickes, stets trächtiges Weibchen, das im Hause frei herumlief. Dieses Kaninchen, das er »Polen« zubenannt hatte, war ihm mit großer Treue zugetan, schnüffelte an seinem Beinkleid herum, richtete sich auf, kratzte ihn mit seinen Pfoten, bis er es auf seinen Schoß genommen hatte wie ein Kind. Dann rollte es sich zusammen und saß da mit hängenden Ohren und geschlossenen Augen, während er mit einer unermüdlichen, fast unbewußten Bewegung der Hand das graue, seidenweiche Haar des Tieres streichelte, gleichsam beruhigt durch die Berührung mit diesem samtweichen, lebendigen Wesen.

»Ich muß Euch mitteilen, daß ich von Pluchart einen Brief erhalten habe«, berichtete ihm Etienne eines Abends.

Es war nur mehr Rasseneur in der Wirtsstube; der letzte Gast hatte seine Schritte nach dem Dorfe gewendet, das zur Nachtruhe rüstete.

»Ah!« rief der Wirt, vor seinen beiden Mietern stehend. »Wie weit ist Pluchart mit seiner Tätigkeit?«

Etienne unterhielt seit zwei Monaten einen lebhaften Briefwechsel mit dem Mechaniker von Lille, dem er seinen Arbeitseinstand in Montsou angezeigt hatte und der ihm jetzt seine Lehren mitteilte in der Hoffnung, daß Etienne unter den Bergleuten Propaganda machen könne.

»Er ist so weit, daß die in Rede stehende Vereinigung erfreuliche Fortschritte macht; wie es scheint, kommen von allen Seiten Beitrittsanmeldungen.«

»Was hältst du von ihrer Vereinigung?« wandte sich Rasseneur an Suwarin.

Dieser fuhr fort, »Polens« Kopf zärtlich zu streicheln, stieß eine Rauchwolke aus und murmelte endlich mit seiner ruhigen Miene:

»Neue Dummheiten!«

Allein Etienne begeisterte sich. In den ersten Träumen seiner Unwissenheit ward er durch sein zum Aufruhr veranlagtes Wesen in den Kampf der Arbeit mit dem Kapital gerissen. Es handelte sich um die internationale Arbeiterverbindung, um die berühmte »Internationale«, die eben damals gegründet worden. War das nicht eine herrliche Anstrengung, ein Feldzug, in dem die Gerechtigkeit schließlich siegen mußte? Die Grenzen hörten auf; die Arbeiter der ganzen Welt erhoben und vereinigten sich, um dem einzelnen Arbeiter das Brot zu sichern, das er erwarb. Welche einfache und doch große Organisation! Unten die Sektion, welche die Gemeinde darstellt; dann die Föderation, welche die Sektionen einer und derselben Provinz umfaßt; dann die Nation, und darüber endlich die Menschheit, verkörpert in dem Generalrat, wo jede Nation durch einen Sekretär vertreten war. Ehe sechs Monate vergingen, habe man die Erde erobert und den Herren Gesetze diktiert, wenn sie sich nicht willfährig zeigen sollten.

»Nichts als Dummheiten«, wiederholte Suwarin. »Euer Karl Marx ist noch so weit, daß er die natürlichen Kräfte wirken lassen will. Keine Politik und keine Verschwörung, wie? Alles ganz offen und bloß zum Zwecke der Lohnerhöhungen ... Laßt mich in Frieden mit eurer Revolution! Zündet die Städte an allen vier Enden an, mäht die Völker nieder, rasiert alles weg; und wenn nichts mehr übrig ist von dieser verfaulten Welt, dann kommt vielleicht eine bessere an ihre Stelle.«

Etienne begann zu lachen. Er hörte noch immer nicht auf die Worte seines Kameraden; diese Zerstörungstheorie schien ihm Großsprecherei. Rasseneur, der noch praktischer dachte als Etienne mit dem nüchternen Sinn eines Mannes, der sein Gewerbe hatte, regte sich nicht einmal auf. Er wollte bloß die Dinge genau feststellen.

»Also du willst den Versuch machen, in Montsou eine Sektion zu gründen?«

Das war der Wunsch Plucharts, des Sekretärs der Nordföderation. Er betonte ganz besonders die Dienste, die der Bund den Bergleuten leisten werde, wenn sie eines Tages streiken würden. Etienne war der Meinung, der Arbeiterausstand stehe nahe bevor; die Verzimmerungsfrage müsse schlimm enden; die nächste Forderung der Gesellschaft werde alle Schächte in Aufruhr versetzen.

»Das Verdrießliche an der Sache sind die Mitgliedsbeiträge«, erklärte Rasseneur in einsichtigem Tone. »Fünfzig Centimes jährlich für den allgemeinen Fond und zwei Franken für die Sektion: das scheint sehr wenig, und dennoch wette ich, daß viele sich weigern werden, sie zu zahlen.«

»Um so mehr,« fügte Etienne hinzu, »als man zunächst hier eine Aushilfskasse gründen müßte, aus der wir bei Gelegenheit eine Widerstandskasse machen ... Kurz und gut: es ist Zeit, an diese Dinge zu denken. Ich bin bereit, wenn die anderen bereit sind.«

Stillschweigen trat ein. Auf dem Schanktische rauchte die Petroleumlampe. Durch die offene Tür hörte man das Geräusch, das ein Maschinenheizer im Voreuxschachte mit dem Nachlegen von Kohle machte.

»Alles ist so teuer«, bemerkte Frau Rasseneur, die ebenfalls eingetreten war und mit düsterer Miene zuhörte, gleichsam höher emporgewachsen in dem schwarzen Kleide, das sie immer trug. Denken Sie sich, daß ich die Eier mit zweiundzwanzig Sous bezahlen mußte! ... Das kann nicht so fortgehen; das muß losbrechen!«

Die drei Männer waren derselben Ansicht. Sie sprachen einer nach dem andern, mit trostloser Stimme, und das Klagen ging von neuem an. Der Arbeiter könne nicht länger bestehen, die Revolution habe sein Elend nur vergrößert; die Spießbürger mästen sich seit dem Jahre 89 so gefräßig, daß sie die Schüsseln blank lecken. Man frage einmal, ob die Arbeiter entsprechend teilgenommen haben an der außerordentlichen Bereicherung seit hundert Jahren? Man hat sie nur zum besten gehalten, indem man sie für frei erklärte; ja, sie haben die Freiheit, Hungers zu sterben, und davon machen sie auch Gebrauch. Das gibt ihnen noch kein Brot, daß sie für Kerle stimmen, die sich hinterher den Wanst füllen, ohne an diese Erbärmlichen mehr zu denken als an ihre alten Stiefel. Nein, man muß ein Ende machen in der einen oder anderen Weise, entweder gütlich durch Gesetze in freundschaftlichem Einvernehmen, oder gewaltsam, indem man alles niederbrennt und sich gegenseitig zerfleischt. Die Kinder würden es sicherlich erleben, wenn die Eltern es nicht erleben; denn das Jahrhundert könne nicht zu Ende gehen, ohne daß noch eine Revolution komme, diesmal die Revolution der Arbeiter, ein Umsturz, der die ganze Gesellschaft von oben bis unten hinwegfegen und sie neu aufbauen werde mit mehr Sittlichkeit und mehr Gerechtigkeit.

»Es muß platzen!« wiederholte Frau Rasseneur energisch.

»Ja, ja,« riefen alle drei, »es muß platzen!«

Suwarin liebkoste jetzt die Ohren »Polens«, das vergnügt das Näschen rümpfte. Er sagte halblaut mit geschlossenen Augen, wie mit sich selbst sprechend:

»Die Löhne erhöhen: ist das möglich? Sie sind durch ein ehernes Gesetz mit dem unerläßlich geringsten Betrage festgesetzt, mit genau soviel, wie notwendig ist, damit die Arbeiter trockenes Brot essen und Kinder machen ... Wenn die Löhne zu tief sinken, verrecken die Arbeiter, und die Nachfrage nach neuen Männern läßt sie wieder in die Höhe gehen. Wenn sie zu hoch gestiegen sind, werden sie durch das stärkere Angebot wieder herabgedrückt ... Das ist das Gleichgewicht der leeren Bäuche, die ewige Verdammnis im Zuchthause des Hungers.«

Wenn er sich so vergaß und von Dingen sprach, die ihm als einem unterrichteten Sozialisten geläufig waren, standen Etienne und Rasseneur unruhig da, in Verwirrung gebracht durch seine niederschmetternden Behauptungen, auf die sie nichts zu antworten wußten.

»Hört ihr,« wiederholte er, indem er sie mit seiner gewohnten Ruhe anschaute, »es muß alles zerstört werden, oder der Hunger wird wiederkommen. Ja, die Anarchie, nichts weiter; die Erde muß durch Blut blank gewaschen, durch Feuer gereinigt werden! ... Nachher werden wir sehen.«

»Der Herr hat ganz recht«, erklärte Frau Rasseneur, die trotz ihrer aufrührerischen Heftigkeit sich sehr höflich zeigte.

Etienne wollte die Erörterungen nicht fortsetzen, denn er hatte das niederschlagende Gefühl seiner Unwissenheit. Er erhob sich mit den Worten:

»Gehen wir schlafen. All das wird mich nicht hindern, morgen um drei Uhr aufzustehen.«

Suwarin biß auf das Ende seiner Zigarette und faßte das Kaninchen zart am Bauche, um es auf den Boden zu setzen. Rasseneur schloß das Haus. Sie trennten sich in aller Stille mit summenden Ohren, die Köpfe gleichsam angeschwollen von den ernsten Fragen, über die sie nachdachten.

Jeden Abend gab es ähnliche Gespräche in der kahlen Wirtsstube rings um den einzigen Schoppen, bei dem Etienne eine Stunde verweilte. Eine Summe unklarer Gedanken, die in ihm geschlummert hatten, bewegte sich da und gewann an Ausbreitung. Von der Wißbegierde verzehrt, hatte er lange gezögert, Bücher von seinem Nachbar zu entlehnen, der unglücklicherweise nur deutsche und russische Werke besaß. Endlich ließ er sich ein französisches Buch über »Kooperativ-Genossenschaften« leihen – auch solche Dummheiten – wie Suwarin sagte. Daneben las Etienne regelmäßig eine Zeitung, die Suwarin erhielt; es war ein in Genf herausgegebenes anarchistisches Blatt unter dem Titel: »Der Kampf«. Trotz ihrer täglichen Beziehungen fand er übrigens den Russen immer verschlossen mit einer Miene, als sei er ein fahrender Gast in dieser Welt, an die ihn weder Interessen, noch Gefühle, noch irgendwelche Besitztümer knüpfen.

Um die ersten Tage des Monates Juli verbesserte sich die Lage Etiennes. Inmitten des eintönigen, immer gleichen Grubenlebens war ein Ereignis eingetreten. Die Werkplätze im Wilhelmschachte waren auf Mischgestein geraten, das die Nähe eines tauben Ganges ankündigte. In der Tat stieß man alsbald auf einen solchen; die Ingenieure hatten von seinem Vorhandensein keine Ahnung, trotzdem sie das Erdreich sonst genau kannten. Dieses Ereignis rief in der Grube große Bewegung hervor; man sprach von nichts anderem als von der verschwundenen Kohlenader, die sich ohne Zweifel gesenkt hatte. Die alten Bergleute schnupperten wie gute Hunde auf der Suche nach einer Kohlenader. Aber bis diese gefunden ward, durften die Werkplätze nicht feiern, und die Gesellschaft kündigte an, daß sie neue Schläge versteigern werde.

Als sie eines Tages aus der Grube kamen, machte Maheu Etienne den Vorschlag, als Häuer in seine Gruppe einzutreten, an Stelle Levaques, der zu einem andern Werkplatze gegangen war. Die Sache war mit dem Ingenieur und mit dem Oberaufseher schon ins reine gebracht, die mit dem jungen Manne sehr zufrieden waren. Etienne beeilte sich, dieses rasche Aufrücken anzunehmen, sehr froh über die wachsende Wertschätzung, die er bei Maheu fand.

Am Abend gingen sie zusammen nach dem Schachte, um die Ankündigungen zu lesen. Die zur Versteigerung angesetzten Schläge befanden sich in der Filonnierèader, in der Nordgalerie des Voreux. Sie schienen wenig Vorteil zu verheißen; der Bergmann schüttelte den Kopf, als der junge Mann ihm die Bedingungen herablas. Als sie am folgenden Tage hinabgefahren waren und er mit dem jungen Manne die Ader besichtigte, machte er ihn auf ihre große Entfernung von der Fahrkunst aufmerksam, auf das lose, mit Einsturz drohende Erdreich, auf die geringe Dicke der Schicht und auf die Härte der Kohle. Allein es galt zu arbeiten, wenn man essen wollte. Sie erschienen denn auch am folgenden Sonntag bei der Versteigerung, die in der Baracke stattfand, und die in Abwesenheit des Abteilungsingenieurs der Grubeningenieur – unterstützt vom Oberaufseher – leitete. Es waren fünf- bis sechshundert Grubenarbeiter da vor der kleinen Erhöhung, die man in einem Winkel der Baracke errichtet hatte. Die Versteigerung ging so rasch von statten, daß man nur ein dumpfes Stimmengewirr hörte, ein lautes Schreien von Ziffern, die durch andere Ziffern übertönt wurden.

Einen Augenblick fürchtete Maheu, daß er keinen der vierzig Schläge, welche die Gesellschaft versteigerte, werde erstehen können. Alle Mitbewerber gingen mit den Preisen hinab, unruhig wegen der Krisengerüchte und eine Betriebseinstellung fürchtend. Angesichts des eifrigen Bewerbes beeilte sich der Ingenieur Negrel nicht sonderlich, ließ die Angebote bis zu den möglichst tiefen Preisen hinabsinken, während Dansaert, um die Dinge zu beschleunigen, sich in lügnerischen Anpreisungen der Käufer erging. Maheu hatte um seine fünfzig Meter einen heißen Kampf mit einem hartnäckigen Mitbewerber zu bestehen; sie führten diesen Kampf mit einem abwechselnden Nachlaß von einem Centime für die Karre, und Maheu blieb nur Sieger, indem er mit dem Lohne dermaßen hinunterging, daß der hinter ihm stehende Aufseher Richomme böse wurde und ihn mit dem Ellbogen stieß, indem er ihm wütend zuraunte, er könne bei diesem Preise unmöglich sein Auskommen finden.

Als sie gingen, fluchte Etienne. Er brach los, als er Chavals ansichtig ward, der mit Katharina von den Getreidefeldern kam, während der Vater dem Brote nachging.

»Herrgott!« rief er; »ist das ein Erwürgen von Menschen! ... Man zwingt die Arbeiter, sich untereinander aufzufressen.«

Chaval ereiferte sich; er würde niemals nachgelassen haben. Zacharias, der aus Neugierde herbeigekommen war, erklärte, es sei ekelhaft. Doch Etienne brachte sie zum Schweigen, indem er mit wütender Gebärde ausrief:

»Es wird ein Ende nehmen! Eines Tages werden wir die Herren sein!«

Maheu, der seit der Versteigerung stumm geblieben, schien jetzt die Sprache gefunden zu haben.

»Die Herren! ...« sagte er. »Es wäre schon an der Zeit!«


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