Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Viertes Kapitel

Die vier Häuer lagen, einer über dem andern, auf dem sanft ansteigenden Flötz hingestreckt. Durch den Bretterverschlag getrennt, der die abgeschlagene Kohle festhielt, nahm jeder etwa vier Meter Raum in dem Minengange ein. Die Ader war an dieser Stelle so dünn, – kaum fünfzig Zentimeter – daß sie gleichsam zwischen Decke und Mauer eingezwängt lagen, mittels der Knie und Ellbogen sich fortbewegten und bei der geringsten Bewegung mit den Schultern an die Mauer stießen. Sie mußten, um die Kohle anzubrechen, auf der Seite liegen mit zurückgebogenem Halse und schräg die kurzstielige Spitzhacke schwingen.

Zu unterst lag Zacharias, Levaque und Chaval über ihm und ganz oben Maheu. Jeder bearbeitete zuerst die Schicht mit der Spitzhacke, machte dann zwei Längseinschnitte und löste schließlich den Block los, indem er am oberen Teile ein Eisen einstemmte. Die Steinkohle war fett; der Block zerbrach und rollte in Stücken den Bauch und die Schenkel entlang. Wenn diese, durch den Verschlag festgehaltenen Stücke sich unter ihnen angesammelt hatten, verschwanden die Häuer, gleichsam eingemauert in den engen Spalt.

Maheu litt am meisten. Oben stieg die Temperatur bis auf fünfunddreißig Grad; es gab keine Luftbewegung mehr; der Druck wurde auf die Dauer tödlich. Er hatte, um deutlich zu sehen, seine Lampe an einem Nagel neben seinem Kopfe befestigen müssen; diese neben seinem Schädel brennende Lampe brachte sein Blut vollends zum Sieden. Die schlimmste Marter aber kam von der Nässe. Wenige Zentimeter über seinem Antlitz floß das Wasser aus dem Felsen; dicke Tropfen fielen in unablässiger, rascher Folge und einer gewissen beharrlichen Gleichmäßigkeit immer auf die nämliche Stelle. Vergebens drehte er den Hals: die Tropfen klatschten ihm unablässig ins Gesicht. Nach einer Viertelstunde war er durchnäßt und überdies von Schweiß bedeckt, so daß ein dichter Dampf von ihm ausging wie von feuchter Wäsche. Heute fiel ihm ein Tropfen so hartnäckig ins Auge, daß er zu fluchen begann. Er wollte die Arbeit nicht aufgeben und führte kräftige Schläge, die ihn zwischen den zwei Felsen erschütterten wie eine Blattlaus zwischen zwei Blättern eines Buches in der Gefahr, vollständig zerdrückt zu werden.

Kein Wort wurde gewechselt. Alle arbeiteten; man hörte nichts als die unregelmäßigen, dumpfen, gleichsam fernen Schläge. Jedes Geräusch klang rauh, ohne Widerhall in dieser toten Luft. Es schien, als sei die Finsternis von einer ganz unbekannten Schwärze, verdichtet durch den fliegenden Kohlenstaub, beschwert durch die Gase, die auf die Augen drückten. Die Dochte der Lampen unter ihrem Hütchen von metallischer Leinwand waren in dieser Luft nur rötliche Punkte. Man konnte nichts unterscheiden; gähnend öffnete sich der Schlag und stieg an wie ein breiter, platter, schräger Kamin, wo der durch zehn Winter angehäufte Ruß eine tiefe Finsternis verursachte. Gespensterhafte Formen bewegten sich darin; die Irrlichter ließen bald die Rundung einer Hüfte sehen, bald wieder einen knorrigen Arm oder ein dräuendes Haupt, geschwärzt, wie um ein Verbrechen zu begehen. Zuweilen leuchteten die losgelösten Kohlenblöcke an ihren Ecken und Kanten plötzlich in einem kristallischen Widerscheine auf. Dann versank wieder alles in Dunkelheit; die Spitzhacken arbeiteten mit dumpfen Schlägen; man hörte nichts als das Keuchen der Brüste und das Murren des Unbehagens und der Ermüdung in der drückenden Luft und dem strömenden Regen.

Zacharias, dessen Arme nach einer gestrigen Schwelgerei noch ganz schlaff waren, ließ die Arbeit bald im Stiche, indem er die Notwendigkeit, die Wand zu verholzen, vorschützte. Dies gestattete ihm eine kleine Ruhepause, während welcher er leise vor sich hinpfiff und ins Leere starrte. Hinter den Häuern waren nahezu drei Meter der Ader hohl, ohne daß sie noch die Vorsicht gebraucht hätten, den Felsen zu stützen, unbekümmert um die Gefahr und geizend mit ihrer Zeit.

»He, Aristokrat, reiche mir Holz herauf!« rief der junge Mann Etienne zu.

Etienne, der von Katharina lernte, wie die Schaufel zu gebrauchen sei, mußte Holz nach dem Schlag hinaufschaffen. Es war noch vom gestrigen Tage ein kleiner Vorrat da. In der Regel wurde jeden Morgen das Holz hinabgeschafft, fertig geschnitten, je nach der Dichtigkeit der Schicht.

»Spute dich doch, verdammter Faulpelz«, rief Zacharias, als er sah, wie der neue Eggenmann inmitten der Kohlen mühselig emporkletterte, die Arme mit vier Stück Eichenholz beschwert.

Er machte mit seiner Spitzhacke einen Einschnitt in der Decke, dann einen zweiten in der Wand; in diese Einschnitte stemmte er die beiden Enden der Hölzer und so stützte er den Felsen. Des Nachmittags holten die Erdarbeiter den Schutt, den die Häuer in den Galerien zurückgelassen und füllten damit die ausgebeuteten Gänge der Ader, wobei sie nur den unteren und den oberen Weg zur Fortschaffung der Kohle frei ließen.

Maheu hatte aufgehört zu stöhnen. Endlich hatte er seinen Block los. Er trocknete sich mit dem Rockärmel das schweißbedeckte Antlitz und schaute nach, was Zacharias machte, der hinter ihm heraufgekommen war.

»Laß das.« sagte er »wir sehen nach dem Frühstück ... Es ist besser, im Schlag fortzufahren, wenn wir unsere Anzahl Hunde fertigbringen wollen.«

»Die Decke senkt sich«, bemerkte der junge Mann. »Da ist ein Riß. Ich fürchte einen Einsturz.«

Doch der Vater zuckte mit den Achseln. Ach was, Einsturz! Das wäre auch nicht zum erstenmal; man wird dabei nicht gleich die Knochen lassen. Er wurde schließlich böse und sandte seinen Sohn zum vorderen Schlag zurück.

Übrigens benutzten alle die Pause, um die Glieder zu recken. Levaque, der auf dem Rücken liegen blieb, fluchte, weil ihm ein niederfallender Stein den linken Daumen verletzt hatte. Chaval zog wütend das Hemd aus und entblößte so seinen Oberkörper, um weniger durch die Hitze zu leiden. Sie alle waren schon von der Kohle geschwärzt, dicht überzogen von einem feinen Staube, den der Schweiß in schwarze Bäche und Tümpel an den Leibern verwandelte. Maheu ging zuerst wieder an die Arbeit, diesmal tiefer unten am Fuße der Felswand. Der Wassertropfen fiel ihm jetzt auf die Stirne mit solcher Beharrlichkeit, daß er glaubte, ihm werde schließlich der Schädel durchbohrt.

»Achte nicht darauf,« sagte Katharina zu Etienne; »sie schreien immer so.«

Als folgsames Mädchen nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Jeder beladene Hund kam so zum Tageslichte empor, wie er vom Schlage abgefahren, mit einer besonderen Marke bezeichnet, damit der Aufnahmebeamte die Ladung auf die Rechnung des betreffenden Werkplatzes setzen könne. Man mußte darauf achten, den Hund ganz voll zu machen und nur reine Kohle zu nehmen, weil sonst die Ladung zurückgewiesen wurde.

Der junge Mann, dessen Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, sah das Mädchen an; sie war noch weiß, mit ihrer blutleeren Farbe, und er hätte ihr Alter nicht angeben können; er hielt sie höchstens für zwölf Jahre alt, so schwächlich schien sie ihm. Indes fühlte er, daß sie älter sei und mit der Freiheit eines Jungen sich benahm, ja mit einer naiven Unverschämtheit, die ihm ein wenig lästig war. Sie gefiel ihm nicht; er fand sie zu keck mit ihrem blassen Hanswurstkopf, an dessen Schläfen die Mütze knapp auflag. Doch setzte ihn in Erstaunen die Stärke dieses Kindes, eine nervöse Kraft, die mit großer Behendigkeit gepaart war. Sie füllte ihren Karren schneller als er, mit regelmäßigen und flinken Schaufelwürfen; dann schob sie ihn bis zu der schiefen Bahn mit einem einzigen langsamen Stoß, ohne stecken zu bleiben, und huschte unter den niedrigen Felsen mit Leichtigkeit hinweg. Er hingegen stieß überall an, entgleiste und blieb zurück.

Es war wirklich kein bequemer Weg; die Entfernung von dem Schlage bis zu der schiefen Bahn betrug an sechzig Meter. Der Weg, den die Erdarbeiter noch nicht erweitert hatten, war ein wahrer Schlauch, mit einer Decke von ungleicher Höhe und mit zahllosen Vorsprüngen; an gewissen Stellen war knapp so viel Raum, daß der beladene Karren hindurch konnte; der Schlepper mußte sich zu Boden werfen und auf den Knien fortbewegen, um sich nicht den Schädel einzurennen. Überdies begannen die Hölzer sich zu biegen und zu brechen; man sah sie geborsten, in langen, weißen Bruchstücken, allzu schwachen Krücken gleichend. Man mußte auf seiner Hut sein, um an diesen Holzstücken sich die Haut nicht wund zu reißen; und unter dem langsamen, allmählichen Druck, der schenkeldicke Eichenprügel knickte, warf man sich platt auf den Bauch in der dumpfen Angst, daß plötzlich der Rücken zerschlagen werde.

»Schon wieder!« rief Katharina lachend.

Etiennes Karren war an der schwierigsten Stelle entgleist. Es wollte ihm nicht gelingen, den Karren geradeaus fortzuschieben auf diesen Schienen, die in dem feuchten Erdreich sich verbogen; und er fluchte und wetterte und plagte sich wütend mit den Rädern ab, die er trotz seiner äußersten Anstrengungen nicht wieder an ihre Stelle bringen konnte.

»Geduld,« sagte das Mädchen; »wenn du ärgerlich wirst, geht es erst recht nicht.«

Sie hatte sich hurtig herangeschlichen und rücklings kriechend den Hintern unter den Karren geschoben; mit einem Ruck der Lenden hob sie ihn und brachte ihn wieder an seine Stelle. Es war ein Gewicht von siebenhundert Kilogramm. Überrascht und beschämt stammelte er Worte der Entschuldigung.

Sie mußte ihm zeigen, wie er die Beine spreizen und die Füße an die Hölzer zu beiden Seiten der Galerie stemmen müsse, um feste Stützpunkte zu gewinnen. Der Körper müsse vorgebeugt, die Arme stramm ausgestreckt werden, damit man mit allen Muskeln, mit den Schultern und mit den Hüften anstoßen könne. Während einer solchen Fahrt folgte er ihr und konnte sehen, wie sie rasch dahinfuhr, mit gespanntem Hinterteil, die Fäuste so tief ansetzend, daß sie auf allen Vieren zu laufen schien, wie eines jener Zwergtiere, die man im Zirkus arbeiten sieht. Sie schwitzte und keuchte, ihre Gelenke krachten; aber sie klagte nicht, sie zeigte den Gleichmut der Gewohnheit, als ob es das gemeinsame Elend aller sei, so gebeugt zu leben. Ihm aber wollte es nicht gelingen; seine Schuhe belästigten ihn, sein Körper versagte den Dienst bei dieser Art, mit gesenktem Kopfe zu gehen. Schon nach wenigen Minuten ward diese Körperhaltung für ihn eine Marter, eine unerträgliche, dermaßen schmerzliche Pein, daß er sich einen Augenblick auf die Knie warf, um sich aufzurichten und Atem zu schöpfen.

Bei der abschüssigen Fläche trat eine neue Schwierigkeit ein. Sie zeigte ihm, wie man flink seinen Karren einschalten müsse. Auf der Höhe und am Fuße dieser schiefen Ebene, deren sich alle Schläge, von einem Absatz bis zum andern, bedienten, war je ein Gehilfe, oben der Bremser, unten der Aufnehmer. Diese beiden Taugenichtse von zwölf und fünfzehn Jahren riefen einander abscheuliche Worte zu, und um sie zu benachrichtigen, mußte man ihnen noch rohere zubrüllen. Sobald ein leerer Karren zum Aufziehen da war, gab der Aufnehmer das Signal, die Schlepperin schaltete den vollen Karren ein, dessen Gewicht den anderen Karren emporsteigen ließ, wenn der Bremser die Bremse lockerte. Unten in der Galerie am Boden bildeten sich die Züge, welche dann die Pferde bis zum Aufzugsschachte zogen.

»He, ihr verdammten Schlingel!« rief Katharina in die schiefe Ebene hinab, die vollständig verzimmert, etwa hundert Meter lang war und widerhallte wie ein riesiges Sprachrohr.

Die Burschen schienen auszuruhen, denn sie antworteten nicht, weder der eine noch der andere. In allen Stockwerken ruhte die Abfuhr. Eine dünne Mädchenstimme rief schließlich:

»Gewiß liegt wieder einer auf der Mouquette!«

Ein riesiges Gelächter brach los; die Schlepperinnen der ganzen Ader hielten sich die Bäuche.

»Wer ist das?« fragte Etienne Katharina.

Diese nannte ihm die kleine Lydia, ein Gassenmädchen, dem die Augen schon aufgegangen, und das trotz seiner Puppenärmchen seinen Karren so stramm schob wie ein erwachsenes Weib. Die Mouquette sei sehr wohl imstande, sich mit beiden Jungen auf einmal abzugeben.

Doch jetzt hörte man den Aufnehmer rufen, die Karren sollten eingeschaltet werden. Ohne Zweifel ging unten ein Aufseher vorüber. Die Abfuhr ward in den neuen Stockwerken wiederaufgenommen; man hörte nichts als die regelmäßigen Rufe der Gehilfen und das Schnauben der Schlepperinnen, die dampfend gleich allzu stark beladenen Stuten bei der schiefen Ebene ankamen. Der Zug des Tierischen wehte durch die Grube, die plötzlich erwachende Begierde des Mannes, wenn ein Arbeiter einem dieser Mädchen begegnete, die auf allen vieren sich fortbewegten, die Lenden in die Höhe gestreckt, mit ihren Hüften schier die Knappenhose sprengend.

Sooft er diese Fahrt machte, fand Etienne in der Tiefe des Schlages jedesmal dieselbe drückende Schwüle wieder, die regelmäßig sich wiederholenden dumpfen Schläge der Spitzhacken, die schweren, tiefen Seufzer der Häuer, die hartnäckig bei ihrer Arbeit ausharrten. Alle vier hatten sich entkleidet, lagen unter die Kohle gemengt, bis an die Lederkappe von einer schwarzen Jauche durchnäßt. Einmal hatte man Maheu losmachen müssen, der unter der Last zu röcheln begann, und man hatte die Bretter wegnehmen müssen, um die Kohle auf den Weg hinabgleiten zu lassen. Zacharias und Levaque wetterten gegen die Ader, die – wie sie sagten – »hart« zu werden begann, wodurch die Bedingungen ihres Erwerbes sich ungünstiger gestalteten. Chaval wandte sich um, blieb einen Augenblick auf dem Rücken liegen und schimpfte über Etienne, dessen Anwesenheit ihn augenscheinlich erbitterte.

»He, Blindschleiche! Der ist nicht so stark wie ein Mädchen!... Willst du rasch deinen Hund füllen?... Du möchtest wohl deine Ärmchen schonen? Bei Gott, ich behalte deine zehn Sous zurück, wenn uns deinetwegen ein Hund zurückgewiesen wird!«

Der junge Mann vermied es zu antworten; er war bis jetzt gar zu froh, diese Sträflingsarbeit gefunden zu haben, und ließ sich die rohe Stufenleiter gefallen, die vom Handlanger bis zum Werkmeister ging. Aber er vermochte nicht mehr zu gehen; seine Füße bluteten, seine Glieder waren von furchtbaren Krämpfen zusammengezogen, sein Rumpf wie von einem eisernen Fang zusammengepreßt. Glücklicherweise war es zehn Uhr; der Werkplatz beschloß zu frühstücken.

Maheu hatte eine Uhr, aber er schaute sie nicht an. In dieser sternenlosen Nacht irrte er sich nie um fünf Minuten. Alle legten das Hemd und den Kittel wieder an. Dann stiegen sie vom Schlag herunter und hockten nieder, die Ellbogen an die Seiten gedrückt, mit den Hinterbacken auf den Fersen ruhend, in der Haltung, die den Grubenarbeitern so angewohnt war, daß sie sie selbst außerhalb der Grube beibehielten, ohne eines Pflastersteines oder eines Balkens zu bedürfen, um sich darauf zu setzen. Jeder hatte seinen »Ziegel« hervorgeholt und aß mit ernster Miene von der dicken Brotschnitte, wobei er nur selten ein Wort über die Morgenarbeit fallen ließ. Katharina, die stehengeblieben war, trat schließlich zu Etienne, der sich ein Stück weiterhin quer über die Schienen gelagert hatte, mit dem Rücken an die Verholzung gelehnt. Er hatte da ein fast trockenes Plätzchen gefunden.

»Du ißt nicht?« fragte sie mit vollem Munde, ihren »Ziegel« in der Hand.

Dann erinnerte sie sich des Jungen, der in der Nacht herumirrte ohne einen Sou, vielleicht ohne ein Stück Brot.

»Willst du mit mir teilen?« fragte sie.

Als er ablehnte mit der Beteuerung, daß er keinen Hunger habe, wobei aber der Schmerz des leeren Magens seine Stimme zittern ließ, fuhr sie in heiterem Tone fort:

»Wenn es dich vielleicht ekelt!... Doch schau, ich habe nur auf dieser Seite abgebissen und will dir die andere Seite geben.«

Schon hatte sie die Brotschnitten entzweigebrochen. Der junge Mann hatte seine Hälfte genommen und mußte an sich halten, um sie nicht auf einmal zu verschlingen; er legte die Arme auf seine Schenkel, damit sie sein Zittern nicht sehe. Mit der ruhigen Miene eines guten Kameraden hatte sie sich neben ihm platt auf den Bauch hingelegt, das Kinn auf die eine Hand gestützt, während sie mit der anderen langsam aß. Ihre Laternen, die zwischen ihnen standen, beleuchteten sie.

Katharina betrachtete ihn einen Augenblick schweigend. Sie mußte ihn hübsch finden mit seinem feinen Gesicht und seinem schwarzen Schnurrbart. Ein vergnügtes Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Also, du bist Maschinist, und man hat dich bei deiner Eisenbahn entlassen... Warum?«

»Weil ich meinen Chef geohrfeigt hatte.«

Sie war verblüfft, völlig verwirrt in ihren ererbten Vorstellungen von Unterwerfung und leidendem Gehorsam.

»Ich muß sagen, daß ich getrunken hatte«, fuhr er fort. »Wenn ich trinke, verliere ich den Kopf und möchte mich selbst und andere fressen... Jawohl; zwei Gläschen genügen, und ich suche einen Menschen, um ihn zu vertilgen... Nachher bin ich zwei Tage krank.«

»Du solltest nicht trinken«, sagte sie in ernstem Tone.

»Sei ohne Angst, ich kenne mich!«

Er schüttelte dabei den Kopf. Er haßte den Branntwein; es war der Haß des letzten Sprößlings eines Säufergeschlechtes, der das Übel der ganzen, vom Alkohol durchtränkten und verdorbenen Sippe dermaßen im Fleische hatte, daß ein Tropfen davon für ihn zum Gifte wurde.

»Es ärgert mich nur wegen meiner Mutter, daß ich auf die Straße gesetzt wurde«, sagte er, nachdem er einen Bissen hinuntergeschluckt hatte. Meine Mutter ist nicht glücklich, und ich sandte ihr von Zeit zu Zeit ein Hundertsousstück.«

»Wo ist deine Mutter?«

»Sie ist Wäscherin in Paris, Goldtropfengasse.«

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Wenn er an diese Dinge dachte, trübte ein Zittern seine schwarzen Augen, gleichsam die vorübergehende Beklemmung des Erbübels, dessen unbekannter Ausgang ihm im Leibe steckte unter der Hülle seiner jugendlichen Gesundheit. Einen Augenblick saß er da und starrte in die Finsternis der Grube; in dieser Tiefe sah er unter der erdrückenden Wucht der Erde seine Kindheit wieder, seine noch schöne und kräftige Mutter, die von seinem Vater verlassen und sich später mit einem andern wieder verheiratet hatte; die sodann zwischen zwei Männern lebte, die an ihr zehrten, und mit denen sie in den Straßenschmutz sank, um in Wein und Unflat unterzugehen. Er erinnerte sich sehr wohl der Straße und vieler Einzelheiten: der schmutzigen Wäsche inmitten des Ladens, des Stiefvaters, der mit seiner Trunkenheit das Haus verpestete, der Maulschellen, die es absetzte, daß die Kinnbacken schier aus den Fugen gingen.

»Von meinen dreißig Sous, die ich täglich erwerben soll, werde ich ihr nichts schenken können«, hub er langsam wieder an ... Sie wird sicherlich in Not und Elend verkommen.«

Er zuckte verzweifelt mit den Achseln und biß wieder in seine Brotschnitte.

»Willst du trinken?« fragte Katharina, indem sie ihre Blechflasche entkorkte. »Es ist Kaffee, der Trunk kann dir nicht schaden ... Man erstickt, wenn man sein Essen so hinunterwürgt.«

Doch er lehnte ab; es sei schon genug, daß er ihr die Hälfte ihres Brotes genommen habe. Doch sie drang gutherzig in ihn und sagte schließlich:

»Gut, ich werde zuerst trinken, weil du so höflich bist ... Jetzt darfst du aber die Flasche nicht mehr zurückweisen. Das wäre häßlich.«

Damit reichte sie ihm die Flasche. Sie hatte sich auf den Knien aufgerichtet; er sah sie jetzt ganz nahe bei sich in Lichte der beiden Lampen. Warum hatte er sie denn häßlich gefunden? fragte er sich selbst. Jetzt, da sie ganz schwarz war, das Gesicht mit einem feinen Kohlenstaube bestreut, fand er einen seltsamen Reiz an ihr. In diesem in Dunkel getauchten Antlitz schimmerten die Zähne glänzend weiß aus dem zu groß geratenen Munde hervor; die Augen erweiterten sich und leuchteten mit einem grünlich schimmernden Widerschein wie Katzenaugen. Ein Büschel ihrer roten Haare war unter ihrer Mütze hervorgeschlüpft und kitzelte sie am Ohr, daß sie lachen mußte. Sie schien ihm jetzt nicht mehr so jung und konnte sehr wohl vierzehn Jahre alt sein.

»Um dir gefällig zu sein«, sagte er, trank und gab ihr hernach die Flasche zurück.

Sie nahm noch einen Schluck und nötigte ihn, gleichfalls noch einen zu nehmen. Sie wolle mit ihm teilen, sagte sie. Es machte ihnen Spaß, wie dieser dünne Flaschenhals von einem Munde zum anderen wanderte. Er fragte sich plötzlich, ob er sie nicht in seine Arme nehmen und auf den Mund küssen solle. Sie hatte dicke Lippen von einer blassen, durch die Kohlenschwärze etwas belebten Röte, und diese Lippen erregten eine quälende, immer stärkere Begierde in ihm. Doch ihm fehlte der Mut, und er blieb schüchtern vor ihr. Er hatte sich in Lille nur mit Dirnen der niedrigsten Gattung abgegeben und wußte nicht, wie er sich einer Arbeiterin gegenüber, die noch im Kreise ihrer Familie lebte, benehmen solle.

»Du bist vierzehn Jahre alt?« fragte er, als er sich wieder an sein Brot machte.

Sie war erstaunt, fast beleidigt durch diese Frage.

»Was, vierzehn Jahre? Ich bin fünfzehn alt!... Groß bin ich allerdings nicht... Die Mädchen wachsen hier langsam.«

Er fuhr fort, sie auszufragen. Sie sagte alles nicht dreist und nicht scheu. Ihr war nichts mehr unbekannt vom Manne und vom Weibe, obgleich er sehr wohl merken konnte, daß sie an ihrem Körper jungfräulich war, ein jungfräuliches Kind, in der Reife seines Geschlechtes zurückgeblieben in dieser Umgebung von schlechter Luft und Mühsal, in der sie lebte. Sobald er wieder auf die Mouquette zu sprechen kam, um sie in Verlegenheit zu bringen, erzählte sie ruhigen, heiteren Tones geradezu entsetzliche Geschichten. Die trieb es bunt! Als er zu erfahren wünschte, ob sie selbst nicht schon einen Liebsten habe, antwortete sie scherzend, daß sie ihre Mutter nicht kränken wolle, daß dies aber doch notwendigerweise eines Tages werde geschehen müssen. Sie hatte die Schultern eingezogen, denn sie fror ein wenig in ihren von Schweiß durchtränkten Gewändern. Ihre Miene war sanft und ergeben; sie schien bereit, Menschen und Dinge ruhig hinzunehmen.

»Man findet leicht einen Schatz, wenn man so beisammen lebt, nicht wahr?« fragte er.

»Ganz gewiß.«

»Auch schadet das niemandem... Nur dem Pfarrer darf man nichts davon sagen.«

»Oh, ich kümmere mich wenig um den Pfarrer! Aber der schwarze Mann!...«

»Was? Der schwarze Mann?«

»Der alte Bergmann, der in die Grube zurückkommt und den schlimmen Mädchen den Hals umdreht.«

»Du glaubst an solche Dummheiten! Weißt du denn nichts?«

»Doch, ich kann schreiben und lesen... Das ist bei uns von Nutzen; denn zur Zeit von Vater und Mutter lernte man nichts.«

Er fand sie entschieden sehr nett und gedachte, sobald sie mit ihrer Brotschnitte zu Ende sei, sie zu fassen und auf die dicken, roten Lippen zu küssen. Es war die Entschlossenheit eines Schüchternen, ein gewaltsamer Gedanke, der ihm die Kehle zuschnürte. Diese Knabenkleidung, die Jacke und das Beinkleid auf diesem Mädchenleibe, sie erregten und belästigten ihn. Er hatte seinen letzten Bissen hinuntergewürgt, trank von der Flasche und gab ihr diese zurück, damit sie den letzten Rest trinke. Jetzt war der Augenblick zu handeln gekommen, und er warf einen ängstlichen Blick nach den im Hintergrunde sitzenden Arbeitern, als plötzlich ein Schatten vor der Galerie erschien.

Chaval stand seit einer Weile da und betrachtete sie von ferne. Jetzt kam er näher und versicherte sich durch einen Blick, daß Maheu ihn nicht sehen könne; da Katharina noch immer auf der Erde saß, packte er sie bei den Schultern, beugte ihren Kopf zurück und preßte einen wilden Kuß auf ihre Lippen, ganz ruhig, augenscheinlich unbekümmert um die Anwesenheit Etiennes. Dieser Kuß war gewissermaßen eine Besitzergreifung, eine Art eifersüchtigen Entschlusses.

Doch das junge Mädchen hatte sich dagegen gewehrt.

»Laß mich, hörst du?« rief sie.

Er hielt ihren Kopf fest und schaute ihr tief in die Augen. Sein roter Schnurr- und Geißbart flammte in seinem schwarzen Gesichte mit der großen Adlernase. Endlich ließ er sie los und ging wortlos seines Weges.

Ein Frösteln überlief Etienne. Es war dumm von ihm, daß er gewartet hatte. Nein, gewiß, jetzt wollte er sie nicht mehr umarmen; sie könnte sonst glauben, er sei so wie der andere. Er war ordentlich trostlos in seiner verletzten Eitelkeit.

»Warum hast du gelogen?« sagte er mit leiser Stimme. »Das ist dein Liebhaber.«

»Aber nein, versichere ich dir!« rief sie. »Es gibt nicht die geringste Gemeinschaft zwischen uns. Manchmal treibt er Spaß mit mir ... Er ist auch gar nicht aus unserer Gegend; vor sechs Monaten ist er aus dem Pas-de-Calais hierhergekommen.«

Beide hatten sich erhoben. Man ging wieder an die Arbeit. Als sie ihn so kühl sah, schien sie darüber verdrossen. Ohne Zweifel fand sie ihn hübscher als den anderen und würde ihn vielleicht vorgezogen haben. Es plagte sie der Gedanke, sich ihm freundlich zu zeigen, gleichsam um ihn zu trösten, und als der junge Mann erstaunt seine Lampe betrachtete, die mit blauer Flamme brannte und einen breiten, blassen Kragen hatte, versuchte sie wenigstens, ihn zu zerstreuen.

»Komm, ich will dir etwas zeigen«, flüsterte sie mit kameradschaftlicher Miene.

Als sie ihn in die Tiefe des Schlages geführt hatte, zeigte sie ihm einen Spalt in dem Kohlenlager. Ein leises Brodeln tönte da hervor, ein schwaches Geräusch, das dem Pfeifen eines Vogels glich.

»Tu deine Hand da her, spürst du den Schwaden? Das sind die bösen Gase, davon entstehen die Grubenbrände.«

Er war erstaunt. Die furchtbare Sache, die schlagenden Wetter: die alles in die Luft sprengten: war's nichts weiter als das? Sie erwiderte lachend, es müsse sich davon heute viel angesammelt haben, weil die Lampen mit so blauer Flamme brannten.

»Habt ihr bald genug geschwätzt, Faulenzer!« rief die rauhe Stimme Maheus.

Katharina und Etienne beeilten sich, ihre Karren zu füllen, und schoben sie nach der schiefen Ebene, mit steifem Nacken unter der verzimmerten Decke des Weges dahinkriechend. Schon bei der zweiten Fahrt waren sie von Schweiß bedeckt, und ihre Knochen krachten von neuem.

In dem Schlage hatten die Häuer ihre Arbeit wiederaufgenommen. Oft kürzten sie ihr Frühstück ab, um sich nicht zu erkälten; und ihre »Ziegel«, die sie fern von der Sonne mit stummer Gier verzehrt hatten, lagen ihnen bleischwer im Magen. Auf der Seite liegend, hieben sie jetzt fester darauflos und hatten keinen anderen Gedanken als den, möglichst viele Hunde zu füllen. Alles verschwand in der wilden Gier nach dem Erwerb, der ihnen so schwer gemacht wurde. Schließlich fühlten sie das Wasser nicht mehr, das auf sie herabfloß und ihre Glieder anschwellen ließ, noch die durch die gezwungenen Stellungen verursachten Krämpfe, noch endlich die erstickende Luft der Finsternis, in der sie bleich wurden wie Kellerpflanzen. Doch in dem Maße, wie der Tag vorrückte, verdarb die Luft immer mehr und erhitzte sich durch den Rauch der Lampen, durch die schlechten Ausatmungen der Arbeiter, durch die Stickluft der bösen Gase; sie lag trübe vor den Augen wie Spinngewebe und konnte nur durch die nächtliche Lüftung weggefegt werden. Die Häuer in ihrem Maulwurfsloche, gleichsam von dem ungeheuren Gewichte der Erde erdrückt, hieben immer darauflos, bis sie schließlich keinen Atem mehr in der keuchenden Brust hatten.


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