Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Sechstes Kapitel

Ernüchtert durch die Maulschellen Katharinas war Etienne an der Spitze der Kameraden geblieben. Doch während er sie mit heiserer Stimme befehligte und auf Montsou warf, machte sich in seinem Innern eine andere Stimme vernehmbar, die Stimme der Vernunft, die erstaunt fragte, warum alldas geschehe? Er hatte nichts von alldem gewollt; wie konnte es geschehen, daß er, der zu dem Zwecke nach Jean-Bart gezogen war, um mit Überlegung zu handeln und ein Unglück zu verhüten, von Gewalttat zu Gewalttat schreitend den Tag mit der Belagerung des Direktionshauses beschloß?

Doch hatte er soeben Halt! gerufen. Er hatte anfänglich nur die Absicht gehabt, die gesellschaftlichen Werkshöfe zu schützen, wo die Bande alles hatte zerstören wollen. Jetzt, da die ersten Steine gegen das Haus flogen, sann er darüber nach, gegen welche berechtigte Beute er die Bande loslassen solle, um größeres Unglück zu verhüten. Er konnte nichts ausfindig machen. Wie er so allein und machtlos mitten auf der Straße stand, rief ihn jemand, ein Mann, der auf der Schwelle der Tisonschen Schenke stand, deren Besitzerin sich beeilte, die Fensterläden zu schließen, so daß nur die Türe offen blieb.

»Ja, ich bin's, höre!«

Es war Rasseneur. An dreißig Männer und Weiber, fast sämtlich aus dem Dorfe der Zweihundertvierzig, die am Morgen zu Hause geblieben und am Abend nach Montsou gekommen waren, um Nachrichten einzuholen, hatten beim Herannahen der Streikenden diese Schenke besetzt. Zacharias saß mit Philomene an einem Tische, weiterhin Pierron mit seiner Frau mit dem Rücken zur Türe, ihre Gesichter verbergend. Übrigens trank niemand; man hatte hier bloß Zuflucht gesucht.

Etienne erkannte Rasseneur und wandte sich ab, als dieser hinzufügte:

»Mein Anblick ist dir unbequem, nicht wahr? Ich hatte dich gewarnt; jetzt beginnen die Verdrießlichkeiten. Ihr könnt jetzt Brot verlangen, man wird euch Blei geben.«

Da wandte Etienne sich wieder um. und sagte:

»Unbequem sind mir die Feiglinge, die mit gekreuzten Armen zusehen, wie wir unsere Haut zu Markte tragen.«

»Willst du denn plündern da drüben?« fragte Rasseneur.

»Ich will mit meinen Kameraden bleiben bis zu Ende und will – wenn es sein muß – mit ihnen zugrunde gehen.«

In verzweifelter Stimmung kehrte Etienne unter die Menge zurück, bereit mit ihr zu sterben. Auf der Straße sah er drei Kinder Steine werfen; er versetzte ihnen kräftige Fußtritte und rief, um auch den Kameraden Einhalt zu gebieten, daß es zu nichts führe, Fensterscheiben zu zerschlagen.

Bebert und Lydia, die sich zu Johannes gesellt hatten, lernten von diesem die Schleuder handhaben. Jeder schleuderte einen Kiesel, und es galt eine Wette, wer den größten Schaden verursache. Lydia hatte einen ungeschickten Wurf getan und einem Weib in der Menge den Kopf getroffen; die beiden Jungen hinter ihr hielten sich die Seiten vor Lachen. Bonnemort und Mouque saßen auf einer Bank und schauten ihnen zu. Die angeschwollenen Beine trugen Bonnemort so mühsam, daß er nur schwer sich hatte hierher schleppen können; man erfuhr übrigens nicht, welche Neugier ihn hierher geführt hatte, denn er hatte wieder sein erdfahles, verschlossenes Gesicht wie an den Tagen, da man kein Wort aus ihm herausbringen konnte.

Übrigens gehorchte niemand mehr Etienne. Trotz seiner Weisungen dauerte der Steinhagel fort, und er war erstaunt und erschreckt beim Anblick dieser Tiere, denen er den Maulkorb abgenommen; sie waren so schwer in Bewegung zu bringen und waren nachher so furchtbar, von einer wilden Beharrlichkeit in ihrer Wut. Es war das alte vlämische Blut, dick und ruhig, das Monate brauchte, um sich zu erwärmen, und sich dann in furchtbare Ausschreitungen stürzte und nichts hören wollte, bis das Tier sich an seinen Grausamkeiten berauscht hatte. In seiner südlichen Heimat flammte die Menge rascher auf, aber sie tat weniger. Er mußte mit Levaque raufen, um ihm die Hacke zu entreißen; er wußte nicht, wie er die Maheu zurückhalten solle, die mit beiden Händen Kieselsteine schleuderten. Besonders die Weiber erschreckten ihn, die Levaque, die Mouquette und die anderen, die von einer mörderischen Wut besessen waren, die Zähne fletschten und mit den Fingernägeln drohten, ein wahres Hundegebell anstimmten, immer aufgestachelt von der Brulé, die mit ihrer langen, hageren Gestalt sie überragte und beherrschte.

Da trat ein plötzlicher Stillstand ein; eine kurze Überraschung bewirkte jenen Augenblick der Ruhe, den Etienne mit seinen Bitten nicht hatte erreichen können. Es waren ganz einfach die Grégoire, die sich entschlossen hatten, vom Notar Abschied zu nehmen und sich quer über die Straße zum Direktor zu begeben; sie schienen so ruhig, sie sahen so ganz darnach aus, als glaubten sie nur an einen Spaß von Seiten ihrer braven Grubenarbeiter, deren Ergebenheit sie seit einem Jahrhundert nährte, daß die Streikenden in der Tat erstaunt im Steinwerfen innehielten, um die braven alten Leute nicht zu treffen, die so unvermutet auf der Straße auftauchten. Sie ließen ihnen Zeit, in den Garten einzutreten, die Auffahrt hinaufzugehen und an der verrammelten Tür zu läuten, die man ihnen nicht sonderlich rasch öffnete. Die Kammerfrau, Rose, kam eben von ihrem Ausgang heim und lachte den wütenden Arbeitern ins Gesicht, die sie sämtlich kannte, da sie von Montsou war. Sie bearbeitete ihrerseits die Tür mit Faustschlägen, bis Hippolyte kam und sie zur Hälfte öffnete. Es war Zeit; die Grégoire verschwanden eben im Hause, als der Steinhagel von neuem anging. Die Bande hatte sich von ihrem Erstaunen wieder erholt und brüllte stärker als früher:

»Tod den Bürgern! Es lebe die Soziale!«

Rose schien das Abenteuer Spaß zu machen; sie lachte noch im Hause und wiederholte dem entsetzten Kammerdiener:

»Sie sind nicht bösartig; ich kenne sie.«

Herr Grégoire hängte mit gewohnter Bedächtigkeit seinen Hut an den Nagel. Während er seiner Frau den Mantel ablegen half, sagte er:

»Sie sind im Grunde nicht schlecht; wenn sie genug geschrien haben, essen sie mit um so besserem Appetit zu Nacht.«

In diesem Augenblick kam Herr Hennebeau vom zweiten Stock herunter. Er hatte die Szene mit angesehen und wollte seine Gäste mit der gewohnten kühlen Höflichkeit empfangen. Nur die Blässe seines Gesichtes verriet den Schmerz, der ihn durchrüttelt hatte. Der Mann in ihm war gebändigt; es blieb nichts übrig als der vornehme Beamte, der entschlossen war, seine Pflicht zu erfüllen.

»Die Damen sind noch nicht zurück«, sagte er zu seinen Gästen.

Zum ersten Male wurden jetzt die Grégoires von einer Unruhe erfaßt. Cäcilie noch nicht zurück! Wie wird sie heimkehren, wenn dieser Spaß der Arbeiter noch länger andauert?

»Ich habe daran gedacht, das Haus frei zu machen«, fügte Herr Hennebeau hinzu. »Unglücklicherweise bin ich nur allein zu Hause und weiß nicht, wohin ich meinen Diener senden soll, daß er mir Soldaten unter Führung eines Korporals bringe, die mir dieses Gelichter hinwegfegen.«

Rose wagte von neuem die schüchterne Bemerkung:

»Gnädiger Herr, diese Leute sind nicht bösartig.«

Der Direktor schüttelte den Kopf, während der Lärm draußen anwuchs und man die dumpfen Schläge der Steine an die Mauer des Hauses hörte.

»Ich grolle den Leuten nicht, ich entschuldige sie sogar; man muß so dumm sein wie sie, um zu glauben, daß wir sie unglücklich machen wollen. Allein, ich habe für die Ruhe einzustehen ... Es ist merkwürdig, daß Gendarmen auf den Straßen sind, wie man mir sagt, und daß ich seit heute morgen keinen einzigen bekommen konnte.«

Er unterbrach sie, trat vor Frau Grégoire zur Seite und sagte:

»Ich bitte Sie, Gnädigste, bleiben Sie nicht da; treten Sie in den Salon ein.«

Doch die Köchin, die verzweifelt aus der Küche heraufkam, hielt sie noch einige Minuten auf. Sie erklärte die Verantwortlichkeit für das Essen nicht übernehmen zu können, weil sie von dem Pastetenbäcker in Marchiennes die Hülsen für spanischen Wind erwartete. Sie hatte die Hülsen für vier Uhr bestellt; augenscheinlich hatte der Pastetenbäcker aus Furcht vor diesen Banditen sich unterwegs verirrt; vielleicht auch hatte man seine Tragkörbe geplündert. Sie sah im Geiste den spanischen Wind hinter einem Gebüsch belagert, wie er die Magen der dreitausend Elenden reizte, die Brot verlangten. In allen Fällen war der gnädige Herr jetzt benachrichtigt; sie würde lieber Essen ins Feuer werfen, als es wegen der Revolution verderben lassen.

»Ein wenig Geduld«, sagte Herr Hennebeau. »Noch ist nichts verloren; der Pastetenbäcker kann noch kommen.«

Als er zu Frau Grégoire zurückkehrte, um ihr selbst die Salontür zu öffnen, war er sehr überrascht, auf einem Bänkchen im Flur einen Mann zu sehen, den er bisher im wachsenden Dunkel gar nicht bemerkt hatte.

»Sie sind's, Maigrat! Was gibt es denn?«

Maigrat hatte sich erhoben, und man sah sein dickes, bleiches, vom Schrecken verstörtes Gesicht. Er hatte nicht mehr das stramme Auftreten eines ruhigen, dicken Mannes; er erklärte untertänig, daß er zu dem Herrn Direktor geschlichen sei, um von ihm Schutz und Hilfe zu erbitten, wenn die Räuber seinen Kramladen angreifen sollten.

»Sie sehen, daß ich selbst bedroht bin und niemanden habe«, sagte Herr Hennebeau. »Sie hätten besser getan, zu Hause zu bleiben und ihre Waren zu hüten.«

»Ich habe die Eisenstangen vorgelegt und meine Frau zu Hause gelassen.«

Der Direktor verlor die Geduld und machte kein Hehl aus seiner Verachtung. Eine schöne Wacht, diese schwächliche, infolge der Prügel abgemagerte Frau.

»Kurz, ich kann nichts machen; suchen Sie sich zu wehren, wie Sie können. Ich rate Ihnen sogleich heimzukehren, denn die Kerle fordern schon wieder Brot. Hören Sie?«

In der Tat hatte der Lärm wieder eingesetzt, und Maigrat glaubte aus dem Geschrei seinen Namen herauszuhören. Es war unmöglich heimzukehren; sie würden ihn in Stücke zerrissen haben. Anderseits quälte ihn der Gedanke an seinen Ruin. Er preßte sein Gesicht an die Glasscheiben der Tür, schwitzend, zitternd nach dem Unglück spähend, während die Grégoires sich entschlossen, in den Salon zu gehen.

Herr Hennebeau bemühte sich, ruhig zu scheinen und seine Hausherrnpflichten zu erfüllen. Allein er bat seine Gäste vergebens, Platz zu nehmen. Das verschlossene, verrammelte Zimmer, wo zwei Lampen brannten, obgleich es noch nicht völlig finster war, füllte sich mit Entsetzen bei jedem neuen Geheul, das von der Straße hereintönte. Das Wutgeschrei der Menge ward von den Teppichen und Vorhängen zu einem Schnarren gedämpft, das nur noch beunruhigender wie eine unbestimmte und furchtbare Drohung klang. Man versuchte indes ein Gespräch zu führen, das immer wieder auf diesen unbegreiflichen Aufruhr gelenkt wurde. Herr Hennebeau war erstaunt, nichts vorausgesehen zu haben; seine Polizei war so schlecht beschaffen, daß er besonders auf Rasseneur erzürnt war, dessen abscheulichen Einfluß er zu erkennen glaubte. Übrigens würden die Gendarmen kommen; es sei unmöglich, daß man ihn so verlasse. Die Grégoires dachten nur an ihre Tochter; die liebe Kleine erschrak so leicht; vielleicht war die Kutsche angesichts der Gefahr nach Marchiennes zurückgekehrt. Noch eine Viertelstunde dauerte dieses Harren, immer peinlicher gestaltet durch das Geheul von der Straße, durch das Aufschlagen der Steine an die geschlossenen Fensterläden, das so hohl klang wie ein Trommelschlag. Die Lage war unerträglich geworden; Herr Hennebeau sagte, er wolle hinausgehen, die Schreihälse verjagen und dem Wagen entgegengehen. Da lief Hippolyte schreiend herein.

»Gnädiger Herr! gnädiger Herr! Man mordet die gnädige Frau!«

Der Wagen hatte wegen der drohenden Gruppen nicht durch das Gäßchen von Réquillart kommen können. Negrel hatte an seinem Gedanken festgehalten: die hundert Meter, die sie noch vom Hause trennten, zu Fuße zurückzulegen, dann an die kleine Pforte zu klopfen, die in den Garten führte; der Gärtner werde sie hören, oder sonst jemand da sein. Anfänglich, ging auch die Sache ganz gut; Frau Hennebeau und die Fräulein klopften schon an das Pförtchen, als einzelne Weiber, die von der Sache Wind bekommen hatten, sich in das Gäßchen stürzten. Da ging alles schief. Das Pförtchen wurde nicht geöffnet, und Negrel hatte vergebens versucht, es mit der Schulter einzurennen. Die Flut der Weiber ward immer größer, er fürchtete niedergetreten zu werden und faßte den verzweifelten Entschluß, die Damen nach dem Haupteingang zu drängen, um mitten durch die Belagerer hindurch die Auffahrt zu erreichen. Allein bei diesem Versuch kam es zu einem Gedränge; man ließ sie nicht mehr los; eine heulende Bande trieb sie vor sich her, während die Menge von rechts und von links zusammenströmte, ohne die Sache noch zu begreifen, nur erstaunt über diese Damen in Toilette, die mitten in das Getümmel geraten waren. In diesem Augenblicke ward die Verwirrung so groß, daß einer jener Zufälle eintrat, die ewig unerklärlich bleiben. Luzie und Johanna, die bis zur Einfahrt vorgedrungen waren, schlüpften durch die Tür, welche die Kammerfrau halb geöffnet hatte, und es gelang auch Frau Hennebeau, ihnen zu folgen; hinter ihnen trat endlich auch Negrel ins Haus und schob die Riegel vor, in der Überzeugung, daß er Cäcilie zuerst habe eintreten sehen. Sie war nicht mehr da; sie war unterwegs verschwunden, von einer solchen Furcht fortgerissen, daß sie dem Hause den Rücken gekehrt und sich selbst in die größte Gefahr gestürzt hatte.

Sogleich ertönte das Geschrei:

»Es lebe die Soziale! Tod den Bürgern!«

Da ihr Antlitz verschleiert war, wurde sie von einigen, die ferner standen, für Frau Hennebeau gehalten. Andere wieder nannten eine Freundin der Direktorin, die junge Gattin eines benachbarten Fabriksherrn, den seine Arbeiter verabscheuten. Es war übrigens gleichviel; ihr seidenes Kleid, ihr Pelzmantel, ihr Federhut erbitterten die Menge. Sie duftete nach wohlriechenden Essenzen; sie hatte eine Uhr und die feine Haut einer Müßiggängerin, welche die Kohle nicht berührte.

»Wart'!« schrie die Brulé. »Man wird dir Spitzen an den Hals legen!«

»Uns stehlen sie das, diese Dirnen!« sagte die Levaque. »Sie, hüllen sich in Pelzwerk, während wir erfrieren... Man entkleide sie, damit sie das Leben kennen lerne!«

Sogleich lief die Mouquette herbei.

»Ja, ja; gepeitscht muß sie werden!«

In ihrem wilden Wetteifer drängten die Weiber sich heran, streckten ihre Lumpen aus, wollten jede für sich ein Stück von diesem Kind reicher Leute haben. Ihr Hinterteil wäre gewiß nicht schöner als bei den anderen Weibern, hieß es in der Menge. Es gebe viele, die unter ihrem Flittertand ordentlich verfault seien. Die Ungerechtigkeit dauere lang genug; man werde sie alle zwingen, sich so zu kleiden wie die Arbeiterinnen, – diese Metzen, die es wagten, fünfzig Sous für das Waschen eines Unterrockes auszugeben!

Von diesen Furien umzingelt, zitterte die arme Cäcilie; ihre Beine versagten ihr den Dienst, und sie stammelte ein um das andere Mal:

»Meine Damen, ich bitte Sie, tun Sie mir doch nichts zuleide.«

Doch plötzlich stieß sie einen lauten Schrei aus: kalte Hände hatten sie am Halse gefaßt. Es war der alte Bonnermort, in dessen Nähe die Menge sie gedrängt hatte, und der sie jetzt mit den Fäusten packte. Er schien berauscht vor Hunger, verdummt durch sein langes Elend, plötzlich herausgeschleudert aus seiner Ergebenheit, die ein halbes Jahrhundert gewahrt hatte, ohne daß man wissen konnte, welcher Drang nach Vergeltung ihn herausgeschleudert hatte. Nachdem er in seinem Leben ein Dutzend Kameraden vom Tode gerettet hatte, wobei er seine eigenen Knochen in den schlagenden Wettern und bei den Einstürzen einsetzte, gab er jetzt einem unnennbaren Instinkte nach, einem Bedürfnisse, dies zu tun, dem Zauber, den der weiße Hals dieses Mädchens auf ihn übte. Da er heute wieder einmal seinen stummen Tag hatte, preßte er nur die Finger zusammen mit der ruhigen Miene eines alten siechen Tieres, das seine Erinnerungen wiederkäut.

»Nein, nein!« heulten die Weiber. »Den Hintern heraus! Den Hintern heraus!«

Als man im Hause des Direktors das Ereignis gewahr wurde, öffneten Herr Hennebeau und Negrel mutig die Tür, um Cäcilie zu Hilfe zu eilen. Allein die Menge drängte jetzt gegen das Gartengitter, und es war schwer hinauszukommen. Es entspann sich ein Kampf, während die Eheleute Grégoire entsetzt auf der Auffahrt erschienen.

»Laßt sie los, Alter! Es ist das Fräulein von der Piolaine«, rief die Maheu dem Großvater zu, die Cäcilie erkannte, deren Schleier von einem Weibe herabgerissen war.

Etienne, erbittert über diese an einem Kinde geübte Vergeltung, bemühte sich, die Bande zu bestimmen, daß sie ihre Beute loslasse. Er hatte einen plötzlichen Einfall. Die Hacke schwingend, die er Levaque aus den Händen gerissen hatte, schrie er:

»Zu Maigrat! Dort gibt es Brot! Laßt uns Maigrats Laden stürmen!«

Er führte mit voller Kraft den ersten Axthieb gegen die Ladentür. Einige Kameraden folgten ihm: Levaque, Maheu und andere. Doch die Weiber ließen nicht locker; aus den Händen Bonnemorts war Cäcilie wieder in die Krallen der Brulé geraten. Von Johannes geführt, waren Lydia und Bebert auf allen Vieren herangekrochen und schlüpften unter die Röcke, um den Hintern der Dame zu sehen. Schon zerrten sie an ihren Kleidern, daß diese zu reißen drohten, als ein Reiter erschien, sein Tier antrieb und alle, die nicht rasch genug zur Seite sprangen, mit seiner Reitpeitsche bearbeitete.

»Ihr Hundepack! Jetzt wollt ihr gar unsere Töchter peitschen!«

Es war Deneulin, der zum Essen kam. Er sprang rasch vom Pferde, faßte Cäcilie mit der einen Hand um den Leib, während er mit der andern Hand sein Pferd so geschickt führte, daß ihm das Tier als eine lebende Schutzwand diente; so durchschnitt er die Menge, die vor den Pferdehufen scheu zurückwich. Am Gartengitter dauerte das Ringen fort; er drängte sich aber dennoch durch, wobei es manchen unsanften Tritt absetzte. Diese unerhoffte Unterstützung befreite Negrel und Hennebeau, die inmitten der Flüche und Hiebe in großer Gefahr schwebten. Während Negrel endlich die ohnmächtige Cäcilie ins Haus trug, empfing Deneulin, der mit seinem großen Körper den Direktor deckte, auf der Auffahrt einen Steinwurf, der ihm schier die Schulter ausrenkte.

»Recht so,« schrie er; »zerschlagt mir die Knochen im Leibe, nachdem ihr meine Maschinen zerschlagen habt!«

Er warf rasch die Tür zu; ein Hagel von Kieseln traf prasselnd das Holz.

»Welch tolles Volk!« rief er. »Noch zwei Sekunden, und sie spalteten mir den Schädel wie einen leeren Kürbis. Dieses Lumpenpack ist taub für jedes vernünftige Wort; es bleibt nichts anderes übrig, als es zu zertreten.« Im Salon weinten die Grégoire, als sie Cäcilie das Bewußtsein wiedererlangen sahen. Es war ihr kein Leid geschehen, sie hatte nicht die geringste Schramme; nur ihr Schleier war verloren. Aber ihr Schrecken wuchs, als sie ihre Köchin Melanie erkannten, die ihnen erzählte, wie arg die Piolaine mitgenommen worden. Die Köchin war während der Verwirrung unbemerkt mit durch das Pförtchen hereingeschlüpft. Wahnsinnig vor Entsetzen, war sie herbeigeeilt. Der einzige Stein Johannes', der eine Fensterscheibe zertrümmert hatte, ward in ihrer Darstellung zu einer ordentlichen Kanonade, welche die Mauern in Trümmer legte. Da verwirrten sich die Vorstellungen des Herrn Grégoire; man erwürge seine Tochter, man schleife sein Haus; es sei also doch wahr, daß diese Grubenarbeiter ihm grollten, weil er als rechtschaffener Mann von ihrer Arbeit lebe?

Die Kammerfrau, die ein Handtuch und Kölnisch Wasser gebracht hatte, wiederholte immer wieder:

»Es ist so drollig, diese Leute sind nicht schlimm.«

Frau Hennebeau saß sehr bleich da und konnte sich von ihrem Schreck, von ihrer Aufregung nicht erholen; ein Lächeln erschien auf ihren Lippen erst dann, als Negrel beglückwünscht wurde. Die Eltern Cäcilies dankten dem jungen Manne besonders; die Ehe mit Cäcilie war jetzt eine abgemachte Sache. Herr Hennebeau beobachtete im stillen; seine Augen wandten sich von seiner Frau zu diesem Liebhaber, dem er am Morgen den Tod geschworen hatte, dann zu diesem Mädchen, das ihn sicherlich bald von ihm befreien werde. Er hatte keine Eile; eine einzige Besorgnis blieb ihm: daß seine Frau noch tiefer, vielleicht bis zu einem Lakaien sinken könne.

»Und ihr, meine lieben Kinder?« wandte Herr Deneulin sich an seine Töchter. »Ist euch nichts gebrochen?«

Luzie und Johanna hatten wohl große Angst ausgestanden, waren aber im übrigen froh, Augenzeugen dieses Schauspiels gewesen zu sein, und lachten jetzt vergnügt.

»Sapristi!« fuhr der Vater fort; »das ist ein schöner Tag! ... Wenn ihr eine Mitgift wollt, müßt ihr sie euch selbst erwerben, und macht euch darauf gefaßt, auch mich zu ernähren.«

So scherzte er; aber seine Stimme zitterte dabei. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als seine Töchter sich ihm in die Arme warfen.

Herr Hennebeau hatte dieses Geständnis des Ruins gehört, und ein plötzlich aufleuchtender Gedanke erhellte sein Antlitz. Vandame sollte jetzt wirklich in den Besitz von Montsou übergehen; das war die erhoffte Entschädigung, der Glückszug, der ihn bei den Verwaltungsräten wieder in Gunst setzen sollte. Bei jedem Unglück in seinem Leben flüchtete er hinter den genauen Vollzug der empfangenen Weisungen; aus der militärischen Disziplin, in der er lebte, bildete er sich seinen stark beschnittenen Anteil am Lebensglück.

Die Gesellschaft gewann allmählich ihre Ruhe wieder; es senkte sich ein matter Friede auf den Salon mit dem ruhigen Lichte der beiden Lampen und geborgen zwischen den Tapeten und Vorhängen, die alle Geräusche von außen dämpften. Was geschah denn draußen? Die Schreier schwiegen; die Steine bombardierten nicht mehr die Mauer des Hauses, und man hörte nur mächtige dumpfe Schläge, wie sie zuweilen in den Wäldern weithin tönen. Man wollte wissen, was es sei, und kehrte nach dem Flur zurück, um durch die Glasscheiben der Tür einen Blick auf die Straße zu wagen. Selbst die Frauen und Fräulein gingen nach dem ersten Stock hinauf, um hinter den Fensterläden verborgen einen Ausblick zu haben.

»Sehen Sie den Halunken Rasseneur dort drüben auf der Schwelle jenes Wirtshauses?« sagte Herr Hennebeau zu Herrn Deneulin. »Ich ahnte, daß er die Hand im Spiele habe.«

Indes war es nicht Rasseneur, sondern Etienne, der mit Axthieben die Ladentür Maigrats einschlug. Er rief weiter die Kameraden herbei. Gehörten denn die Waren da drinnen nicht den Bergleuten? Hatten diese nicht das Recht, ihre Habe zurückzunehmen von dem Dieb, der sie seit so langer Zeit ausbeutete und auf einen Befehl der Gesellschaft sie aushungerte? Allmählich ließen alle von dem Direktionshause ab und liefen herbei, um den benachbarten Laden zu plündern. Der Ruf: Brot! Brot! Brot! grollte von neuem. Hinter dieser Tür werde man Brot finden. Eine Hungerswut trieb sie an, als könnten sie nicht länger warten, ohne auf der Straße den Geist aufzugeben. Sie drängten mit solcher Gewalt gegen die Tür, daß Etienne jemanden mit der Axt zu verletzen fürchtete.

Mittlerweile hatte Maigrat, nachdem er den Flur des Direktionshauses verlassen, in der Küche Zuflucht gesucht; aber dort hörte er nichts und träumte von scheußlichen Anschlägen gegen seinen Laden. Er ging also wieder hinauf und verbarg sich hinter dem Brunnen; da hörte er denn die Tür seines Ladens krachen und das Geschrei der Plünderer, in das sein Name sich mengte. Es war also kein bloßer Traum, kein Alpdruck; wenn er nicht sah. so hörte er jetzt, mit summenden Ohren konnte er den Angriff verfolgen. Jeder Streich traf ihn im Herzen; jetzt mußte eine Angel gewichen sein; noch fünf Minuten, und der Laden war ihnen preisgegeben. Das malte sich in seinem Schädel in lebendigen Schreckbildern: die Räuber, die hereinstürzten, dann die gesprengten Schubfächer, die aufgerissenen Säcke; alles ward weggefressen, weggesoffen, das Haus selbst geschleift; nichts blieb übrig, nicht einmal ein Stab, mit dem er von Dorf zu Dorf betteln gehen konnte. Nein, er wollte nicht zugeben, daß sie ihn völlig zugrunde richteten; lieber wollte er die Haut dabei lassen. Wie er da stand, bemerkte er an einem Fenster der Seitenwand seines Hauses das bleiche, verstörte, schmale Gesicht seiner Frau; mit der stummen Miene eines armen, geprügelten Wesens sah sie ohne Zweifel die Schläge kommen. Hinter dem Hause stand ein Schuppen, so daß man aus dem Garten des Direktionshauses, wenn man die Scheidewand erklomm, auf das Dach dieses Schuppens steigen und von da das Dach des Hauses erreichen konnte. Der Gedanke, auf diesem Wege heimzukehren, quälte ihn jetzt, und er machte sich selbst Vorwürfe, sein Haus verlassen zu haben. Vielleicht hatte er noch Zeit, den Laden mit Möbelstücken zu verrammeln; er ersann sogar andere kühne Verteidigungsmittel, siedendes Öl, brennendes Petroleum, das er von der Höhe auf die Belagerer hinabschütten wollte. Allein seine Habgier kämpfte mit seiner Furcht; er röchelte in seiner Feigheit, die er zu bekämpfen suchte. Bei einem heftigeren Schlag der Hacke entschloß er sich plötzlich. Der Geiz siegte; er und sein Weib wollten die Säcke mit ihren Leibern decken und lieber zugrunde gehen, als auch nur einen Laib Brot hergeben.

Fast augenblicklich erhob sich ein Geschrei.

»Schaut, schaut ... Der Kater ist dort oben! ... Los auf den Kater! Los auf den Kater!«

Die Bande hatte Maigrat auf dem Dache des Schuppens entdeckt. In seiner fieberhaften Gier hatte er trotz seiner Schwerfälligkeit die Zwischenmauer flink genug erklommen; jetzt lag er platt auf dem Ziegeldache und suchte so das Fenster zu erreichen. Allein das Dach fiel zu steil ab; sein Bauch war ihm hinderlich, und er riß sich die Fingernägel aus. Dennoch wäre er bis zum Fenster emporgeklettert, wenn ihn nicht die Angst erfaßt hätte, mit Steinen beworfen zu werden. Denn die Menge unten, die er nicht mehr sah, schrie weiter:

»Los auf den Kater! Los auf den Kater!«

Plötzlich ließen seine beiden Hände zugleich die Ziegel los; er rollte hinab wie eine Kugel über die Dachrinne hinweg und fiel quer auf die Zwischenmauer, aber so unglücklich, daß er von da auf die Straße hinabstürzte, wo er sich an einem Prellstein den Schädel spaltete, daß das Gehirn hervorquoll. Er war tot. Sein Weib stand bleich und verstört am Fenster und schaute noch immer.

Das Ereignis hatte zuerst allgemeine Verblüffung hervorgerufen. Etienne hielt inne, und die Axt entglitt seinen Fäusten. Maheu, Levaque und alle anderen vergaßen den Laden und schauten nach der Mauer, an der ein dünner Blutfaden herabfloß. Das Geschrei hatte aufgehört; tiefe Stille herrschte in der wachsenden Dunkelheit.

Doch bald ging das Geheul von neuem los. Die Weiber waren herbeigeeilt, wie berauscht vom Anblick des Blutes.

»Es gibt doch noch einen guten Gott! Ha, Schwein, jetzt ist's aus mit dir!«

Sie umringten den noch warmen Leichnam; sie beschimpften ihn unter Hohngelächter, nannten seinen zerschmetterten Kopf eine schmutzige Fratze und schrien den lang verhaltenen Groll ihres elenden Daseins dem Toten ins Angesicht.

»Ich schulde dir sechzig Franken; jetzt bist du bezahlt, Dieb!« sagte die Maheu, eine der Wütendsten. »Du wirst mir keinen Kredit mehr verweigern... Wart', wart', ich muß dich noch mehr mästen!«

Mit ihren zehn Fingern kratzte sie die Erde auf; sie nahm davon zwei Hände voll und füllte ihm damit gewaltsam den Mund.

»Da, friß! ... Friß, nachdem du uns aufgefressen hast!« Die Beschimpfungen erneuerten sich, während der Tote, auf dem Rücken liegend, unbeweglich mit seinen starren Augen nach dem Himmel schaute, von dem die Nacht sich herabsenkte. Diese Erde, mit der man ihm den Mund vollstopfte, war das Brot, das er verweigert hatte. Künftig aß er nur mehr solches Brot. Es hatte ihm kein Glück gebracht, die armen Leute auszuhungern.

Allein die Weiber wollten noch anders ihr Mütchen an ihm kühlen. Alle suchten nach einem Schimpf, nach einer Grausamkeit, die ihnen Genugtuung verschaffen sollte.

Da hörte man die schrille Stimme der Brulé.

»Man muß ihn ausschneiden, wie einen Kater!«

»Ja, ja, los auf den Kater!... Er hat zuviel gesündigt, der Saukerl!«

Schon hatte die Mouquette ihm die Hose herabgezogen, während die Levaque ihm die Beine emporhob. Die Brulé tat mit ihren dürren Greisenhänden die nackten Schenkel auseinander und ergriff diese tote Männlichkeit. Sie hielt das Ganze in der Faust und riß daran mit einer Anstrengung, daß ihr schmaler Rücken sich spannte und ihre langen Arme krachten. Die schlaffe Haut widerstand, sie mußte wiederholt anziehen und trug schließlich den Fetzen davon, ein blutiges und behaartes Bündel Fleisch, das sie mit einem triumphierenden Lachen schüttelte.

»Ich hab's! Ich hab's!«

Die scheußliche Trophäe wurde von den kreischenden Weibern mit Verwünschungen begrüßt.

»Ha, Halunke, nicht mehr wirst du unseren Töchtern die Bäuche füllen!«

»Ja, nicht mehr wirst du dich an dem Weibe bezahlt machen; nicht mehr wirst du uns alle für ein Brot unterkriegen!«

»Ich schulde dir sechs Franken; willst du eine Abschlagszahlung nehmen? Ich bin bereit, wenn du noch kannst!«

Dieser Scherz rief eine ungeheure Heiterkeit hervor. Sie zeigten sich den blutigen Fetzen wie ein bösartiges Tier, von dem jede zu leiden hatte und das sie endlich zertraten, das sie tot in ihrer Gewalt hatten. Sie spien darauf und wiederholten in einem wütenden Ausbruch ihrer Mißachtung:

»Er kann nicht mehr. Er kann nicht mehr! Es ist kein Mann mehr, den man da in die Erde stecken wird ... Geh' und verfaule darin, Nichtsnutz!«

Die Brulé pflanzte dann das ganze Bündel auf ihren Stock; so trug sie es in der Luft wie eine Fahne und rannte damit auf der Straße voraus, gefolgt von der heulenden Weiberschar. Blutstropfen fielen herab; das Stück Fleisch hing jämmerlich an dem Stab wie ein Abfallstück in dem Schaufenster eines Metzgers. Oben an ihrem Fenster stand Frau Maigrat noch immer unbeweglich; doch im letzten Schimmer des sinkenden Tages verzerrte sich ihr bleiches Antlitz hinter den trüben Scheiben zu einem Lächeln. Sie, die Geprügelte, zu jeder Stunde Betrogene, vom Morgen bis zum Abend über ihre Bücher Gebeugte lachte vielleicht, als die Weiberschar mit dem zertretenen, bösartigen Tier auf der Spitze des Stabes dahinjagte.

Diese scheußliche Verstümmelung war inmitten eines eisigen Entsetzens geschehen. Weder Etienne noch Maheu, noch die anderen hatten Zeit dazwischenzutreten. Angesichts dieser Jagd der Furien blieben sie starr und regungslos. An der Tür der Schenke Tisons erschienen einzelne Köpfe, Rasseneur, bleich vor Entrüstung, Zacharias und Philomene, noch völlig verblüfft von dem, was sie mit angesehen. Die beiden Alten, Bonnemort und Mouque, blieben ernst und schüttelten nur den Kopf. Nur Johannes machte auch darüber seine Späße, stieß Bebert mit dem Ellbogen an, zwang Lydia in die Höhe zu schauen. Die Frauen und die Fräulein hinter den Fensterläden streckten die Hälse vor; sie hatten die Szene, die hinter der Mauer vor sich gegangen, nicht sehen können und sahen in dem vollständigen Dunkel nur undeutlich.

»Was tragen sie denn dort am Ende des Stockes?« fragte Cäcilie, die so kühn geworden, daß sie hinschaute.

Luzie und Johanna erklärten, es müsse eine Kaninchenhaut sein.

»Nein, nein,« flüsterte Frau Hennebeau; »sie werden den Wurstladen geplündert haben, es sieht aus wie ein Stück Schweinefleisch.«

In diesem Augenblicke fuhr sie zusammen und schwieg. Frau Grégoire hatte sie mit dem Knie angestoßen. Beide verhielten sich still in lebhafter Bestürzung. Die Fräulein waren sehr bleich geworden, fragten auch nicht mehr und folgten mit ihren großen Augen dieser blutigen Erscheinung im Dunkel der Nacht.

Etienne schwang von neuem seine Hacke. Allein das Unbehagen wollte nicht weichen. Dieser Leichnam war jetzt ein Hindernis auf der Straße und ein Schutz für den Laden. Viele waren zurückgewichen, als beschwichtige sie alle diese Sättigung. Maheu verharrte in ernstem Schweigen, als er plötzlich eine Stimme vernahm, die ihm ins Ohr flüsterte, er solle flüchten. Als er sich umwandte, erkannte er Katharina, noch immer in ihre alte Mannsjacke gehüllt, schwarz und keuchend. Er drängte sie zurück, wollte sie nicht hören und drohte ihr mit Schlägen. Sie machte eine verzweifelte Gebärde, zögerte einen Augenblick und eilte dann zu Etienne.

»Flüchte! Rette dich! Die Gendarmen kommen!«

Auch er jagte sie fort und beschimpfte sie; denn er fühlte noch die Schmach nach ihren Backenstreichen. Aber sie wich nicht; sie zwang ihn, die Hacke wegzuwerfen; sie faßte ihn mit beiden Armen und zog ihn fort mit unwiderstehlicher Gewalt.

»Ich sage dir, die Gendarmen sind da! ... So höre mich doch! Chaval hat sie aufgesucht und führt sie hierher, wenn du es wissen willst. Mich hat es angeekelt, und darum bin ich gekommen ... Lauf! Ich will nicht, daß sie dich fassen.«

Sie führte ihn fort gerade in dem Augenblicke, als ein schwerer Galopp in der Ferne die Straße erschütterte. Sogleich ertönte ein Schrei: »Die Gendarmen! Die Gendarmen!« Es folgte ein allgemeines Ausreißen, eine so tolle Flucht, daß in zwei Minuten die Straße frei und leer war, wie von einem Orkan reingefegt. Nur Maigrats Leiche bildete einen dunklen Fleck auf der weißen Erde. Vor der Schenke Tisons war niemand geblieben als Rasseneur, der erleichtert, froh aufatmend dem leichten Sieg der Säbel zujubelte; während in dem verlassenen, verödeten Montsou, in der Stille der verschlossenen Häuser die Spießbürger sich nicht zu rühren wagten, in Angstschweiß gebadet waren und mit den Zähnen klapperten. Die Ebene war in dichte Nacht gehüllt, nur die Hochöfen und die Koksöfen flammten unter dem düsteren Nachthimmel. Der schwere Galopp der Gendarmen kam immer näher; sie tauchten in einer dunklen Masse auf, ohne daß man sie unterscheiden konnte. Hinter ihnen, ihrem Schutze anvertraut, kam endlich der Karren des Pastetenbäckers von Marchiennes; und ein Junge sprang herab und brachte die von der Köchin der Frau Hennebeau bestellten Hülsen zum spanischen Wind.


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