Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Siebentes Kapitel

Es war auf dem Damenplan, einer weiten Lichtung, welche ein Holzschlag erschlossen hatte. Sie streckte sich in einem sanften Abhang dahin, eingeschlossen von hohem Gehölz, prächtigen Buchen, deren gerade, regelmäßig gewachsene Stämme sie gleich weißen Säulen, mit grünen Flechten belegt, umgaben; am Boden lagen gefällte Baumriesen im Grase, während links ein Haufen Scheitholz aufgeschichtet stand. Mit zunehmender Dunkelheit ward die Kälte schneidender; das gefrorene Moos krachte unter den Schritten. Schwarze Nacht lagerte auf der Erde; die hohen Äste hoben sich scharf von dem bleichen Nachthimmel ab, an welchem der Vollmond heraufzog, um die Sterne zu verdunkeln. Nahezu dreitausend Bergleute hatte dem Rufe Folge geleistet; es war eine wimmelnde Masse, Männer, Weiber, Kinder, die allmählich die Lichtung erfüllten und selbst weithin unter den Bäumen standen; und es kamen noch immer Nachzügler, die Flut von Köpfen breitete sich – in Schatten getaucht – bis zu den benachbarten Schlägen aus. Aus dieser Flut stieg inmitten des unbeweglichen, winterstarren Forstes ein Grollen auf, einem Sturmwinde gleich. Obenan, den Abhang beherrschend, stand Etienne mit Maheu und Rasseneur. Ein Streit war zwischen ihnen ausgebrochen; man hörte ihre Stimmen in plötzlichen Ausbrüchen. Neben ihnen standen einige Männer und hörten ihren Streit mit an: Levaque, mit geballten Fäusten, Pierron,den übrigen den Rücken kehrend und sehr beunruhigt, weil er nicht noch länger ein Fieber vorgeschützt hatte; dann der Vater Bonnemort und der alte Mouque, die auf einem Baumstumpf tief nachdenklich beisammen saßen. Weiter hinten die Spötter: Zacharias, Mouquet und noch andere, die nur gekommen waren, um ihren Spaß zu haben; Frauen standen in Gruppen beisammen, ernst wie in der Kirche. Frau Maheu nickte stumm zu den Flüchen der Levaque. Philomene hustete; seit Beginn des Winters hatte das Lungenleiden sie wieder heimgesucht. Nur die Mouquette lachte aus vollem Halse, erheitert durch die Art und Weise, wie Mutter Brulé ihre Tochter behandelte, eine Entartete, die sie aus dem Hause schickte, um sich inzwischen mit Kaninchenbraten gütlich zu tun, eine Verkaufte, die durch die Feigheiten ihres Mannes fett geworden. Johannes hatte auf dem Holzstoß Aufstellung genommen, hatte Lydia heraufgezogen und Bebert genötigt, ihnen zu folgen. Die drei standen oben höher als alle anderen.

Den Streit hatte Rasseneur angefangen, indem er forderte, daß ein Vorstand gewählt werde wie bei Versammlungen üblich sei. Er hatte die Niederlage noch nicht verwunden, die er in der Versammlung beim »Gemütlichen« erlitten hatte; er hatte geschworen, Rache zu nehmen, denn er schmeichelte sich, seine frühere Autorität wiederzugewinnen, wenn er nicht mehr den Bevollmächtigten, sondern dem Volke der Bergleute sich gegenüber befinde. Etienne war entrüstet; er hatte es blöd gefunden, daß man in diesem Walde einen Vorstand wählen solle. Da man sie hetze wie die Wölfe, müßten sie als Revolutionäre, als Wilde handeln.

Als er sah, daß der Streit kein Ende nehmen wolle, bemächtigte er sich mit einem Schlage der Menge; er stieg auf einen Baumstumpf und rief:

»Kameraden! Kameraden!«

Der wüste Lärm dieses Volkes verlor sich in einem langen Seufzer, während Maheu die Einreden Rasseneurs dämpfte. Etienne fuhr mit lauter Stimme fort:

»Kameraden! Da man uns verbietet zu sprechen; da man Gendarmen gegen uns aussendet, als ob wir Räuber wären, müssen wir uns hier verständigen. Hier sind wir frei, hier sind wir zu Hause; niemand wird uns hier Schweigen gebieten, so wenig wie den Vögeln und den wilden Tieren.«

Ein Sturm von Schreien und Ausrufen war der Widerhall dieser Worte.

»Ja, ja, der Wald gehört uns; man hat doch wohl das Recht, hier zu reden. Sprich!«

Etienne stand einen Augenblick unbeweglich auf dem Baumstumpfe. Der Mond stand noch zu tief am Gesichtskreise und beleuchtete nur die Baumkronen; die Menge blieb im Dunkel und ward allmählich wieder still. Etienne, der die anderen überragend auf der Höhe des Abhanges stand, glich einem dunkeln Barren.

Langsam erhob er einen Arm und begann zu sprechen; aber seine Stimme grollte nicht mehr; er hatte den kühlen Ton eines Abgesandten des Volkes angenommen, der seinen Rechenschaftsbericht erstattet. Er brachte schließlich jene Rede an, welche der Polizeikommissar in der Schenke »Zur Gemütlichkeit« ihm abgeschnitten hatte; er gab eine kurze geschichtliche Darstellung des Arbeitsausstandes, wobei er sich einer wissenschaftlichen Beredsamkeit bediente: Tatsachen, nichts als Tatsachen. Er sprach zuerst von seinem Widerstreben gegen den Arbeitsausstand; die Bergleute hätten den Ausstand nicht gewollt; die Gesellschaft mit ihrem neuen Lohntarif für die Verzimmerung habe sie herausgefordert. Er erinnerte an den ersten Schritt, den die Bevollmächtigten bei dem Direktor getan hatten; an das Übelwollen der Gesellschaft bei jener Gelegenheit und an ihr verspätetes Zugeständnis bei dem zweiten Schritte: die zehn Centimes, die sie zurückgab, nachdem sie den Versuch gemacht, sie zu stehlen, nun sei man so weit gekommen; er führte Ziffern auf, um die Erschöpfung der Unterstützungskasse darzulegen, gab die Verwendung der gesandten Gelder an, entschuldigte in einigen Redensarten die Internationale, Pluchart und die anderen, daß sie inmitten ihrer Sorgen, die Welt zu erobern, nicht mehr für sie tun könnten. Die Lage werde von Tag zu Tag schwieriger, die Gesellschaft sende die Arbeitsbücher zurück und drohe, belgische Arbeiter anzuwerben; überdies schüchtere sie die Schwachen ein; sie habe eine gewisse Anzahl von Bergleuten bewogen anzufahren. Er behielt die eintönige Stimme bei, gleichsam um auf diese schlimmen Nachrichten einen Nachdruck zu legen; er sprach von dem siegreichen Hunger, von der toten Hoffnung, von dem Kampfe, der bei dem letzten Aufflackern des Mutes angelangt sei. Dann schloß er plötzlich, ohne den Ton zu erhöhen:

»Unter solchen Umständen, Kameraden, habt ihr heute Abend einen Entschluß zu fassen. Wollt ihr den Streik fortsetzen? Und in diesem Falle: was wollt ihr tun, um die Gesellschaft zu besiegen?«

Tiefe Stille senkte sich von dem gestirnten Himmel herab. Die in der Finsternis der Nacht unsichtbare Menge schwieg unter dem Eindrucke dieser Worte, die ihr das Herz schwer machten; man vernahm nur ihren trostlosen Atem, der durch die Bäume strich.

Doch Etienne hatte mit veränderter Stimme wieder das Wort ergriffen. Es sprach nicht mehr der Sekretär der Vereinigung, sondern der Anführer, der Apostel, der die Wahrheit verkündete. Werden sich wortbrüchige Feiglinge finden? fragte er. Sollte man vergeblich einen Monat gelitten haben? Sollte man gesenkten Hauptes zu den Gruben zurückkehren und das ewige Elend wieder beginnen? Sei es nicht besser, sogleich zu sterben und den Versuch zu machen, die Tyrannei des Kapitals zu zerstören, das den Arbeiter zu hungern zwingt? Sich immer wieder dem Hunger beugen bis zu dem Augenblicke, wo der Hunger abermals selbst die Ruhigsten zur Empörung zwingt: war das nicht ein blödes Spiel, das nicht länger fortdauern könne? Er schilderte, wie die Arbeiter ausgebeutet würden, wie sie allein das Ungemach der Krisen, die äußersten Entbehrungen zu ertragen hätten, sobald der Wettbewerb zur Verminderung der Herstellungskosten zwinge. Nein, der Preis der Verzimmerung sei nicht annehmbar; es sei nur eine verhüllte Art der Ersparung, man wolle jedem Manne täglich eine Arbeitsstunde stehlen. Es sei zuviel diesmal; die Zeit sei gekommen, wo die zum äußersten getriebenen Armen und Elenden sich endlich Gerechtigkeit verschafften.

Er stand da mit hoch erhobenem Arm. Bei dem Worte »Gerechtigkeit« ging es wie ein Zittern durch die Menge, und diese brach in ein Händeklatschen aus, das mit dem Geräusche welker Blätter dahinrollte. Einzelne Stimmen riefen:

»Gerechtigkeit!... Die Zeit der Gerechtigkeit ist gekommen!«

Etienne erhitzte sich allmählich. Er besaß nicht die leicht dahinfließende Beredsamkeit Rasseneurs. Oft fehlten ihm die Worte; er mußte seinen Satz drehen und wenden und half sich mit einem Ruck der Schultern heraus. Allein bei diesen fortwährenden Anstößen fand er Bilder von einer wohltuenden Kraft, welche die Zuhörerschaft packte; während seine Gebärden eines Arbeiters auf dem Werkplatze, die eingezogenen und wieder ausgestreckten Arme mit den drohenden Fäusten, die vorspringende, gleichsam zum Beißen bereite Kinnlade gleichfalls eine außerodentliche Wirkung auf die Kameraden übten. Alle sagten: er sei nicht groß, wisse sich aber Gehör zu verschaffen.

»Die Lohnfrage ist eine neue Form von Sklaverei«, hub er mit noch mehr vibrierender Stimme wieder an. »Die Grube muß dem Bergmann gehören wie das Meer dem Fischer, die Erde dem Bauern gehört... Hört ihr: die Grube gehört euch, euch allen, die ihr seit einem Jahrhundert sie mit soviel Blut und Elend bezahlt habt!«

Er ging ganz keck an die Erörterung dunkler Rechtsfragen, einer Reihe von Sondergesetzen, in die er sich verlor. Die Erde und das Erdreich gehörten der Nation, nur ein abscheuliches Vorrecht sichere ihre ausschließliche Nutznießung den Gesellschaften; um so mehr als in Bezug auf Montsou die angebliche Gesetzlichkeit der Unternehmungen sich durch die mit den Eigentümern ehemals geschlossenen Lehensverträge verwirkte, wie es im Hennegau ein alter Brauch sei. Das Volk der Bergleute brauche also nur sein Eigentum wiederzuerlangen. Er zeigte mit dem ausgestreckten Arme auf das ganze Land jenseits des Waldes. In diesem Augenblicke stieg der Mond hinter den Zweigen herauf und warf sein volles Licht auf ihn. Als die noch im Schatten stehende Menge ihn so, von weißem Licht übergossen erblickte, wie er mit offenen Händen den Reichtum verteilte, brach sie von neuem in ein anhaltendes Händeklatschen aus.

»Ja, ja, er hat recht; bravo!«

Dann ritt er auf seiner Lieblingsfrage: der Zuerkennung von Arbeitsgeräten an die Gesamtheit, wie er die Sache in einer Redensart wiederholte, die einen köstlichen Kitzel für ihn hatte. Bei ihm war die Entwicklung jetzt vollständig. Nachdem er von der tiefbewegten Brüderlichkeit der Neubekehrten, von dem Bedürfnisse, die Lohnverhältnisse umzugestalten, ausgegangen war, gelangte er jetzt zu dem politischen Gedanken, die Lohnfrage überhaupt abzuschaffen. Seit der Versammlung in der Schenke »Zur Gemütlichkeit« hatte sein noch humanitärer und nicht in eine bestimmte Formel gefaßter Kollektivismus sich zu einem verwickelten Programm versteift, dessen einzelne Artikel er wissenschaftlich erörterte. Vor allem stellte er den Satz auf, die Freiheit könne nur durch die Zerstörung des Staates erlangt werden. Wenn erst das Volk sich der Regierung bemächtigt habe, würden die Umgestaltungen beginnen; die Rückkehr zur einfachen Gemeinschaft, der Ersatz der moralischen und unterdrückenden Familie durch eine freie Familie, in der alle gleich seien, eine vollkommene bürgerliche, politische und wirtschaftliche Gleichheit, gewährleistet durch die individuelle Unabhängigkeit dank dem Besitz und dem vollen Erträgnis der Arbeitsgeräte; endlich unentgeltlicher Fachunterricht, von der Gesamtheit bezahlt. All dies erfordere einen vollständigen Umsturz der alten, verfaulten Gesellschaft; er bekämpfte die Ehe, das Vererbungsrecht; er regelte jedermanns Vermögen; die ungerechten Satzungen der toten Jahrhunderte stürzte er nieder mit einer weitausholenden Bewegung seines Armes; es war immer die nämliche, die des Mähers, der die reife Saat abschneidet; mit der andern Hand richtete er wieder auf; er baute die künftige Menschheit auf, ein Gebäude von Wahrheit und Gerechtigkeit, in der Morgendämmerung des zwanzigsten Jahrhunderts emporwachsend. Bei dieser ungeheuren Anspannung der Gehirnarbeit kam der Verstand ins Schwanken, und es blieb nichts als die fixe Idee des Schwärmers übrig. Die Bedenken seiner Empfindlichkeit und seiner gesunden Vernunft waren geschwunden; nichts schien ihm leichter als die Verwirklichung dieser neuen Welt; er hatte alles vorausgesehen; er sprach davon wie von einer Maschine, die er in zwei Stunden instandsetzen wolle; weder Blut noch Feuer schrecke ihn ab.

»Wir sind an der Reihe!« mit diesem letzten Rufe schloß er. »Unser ist die Macht, unser ist der Reichtum!«

Die mächtigen Zurufe aus der Tiefe des Waldes wälzten sich bis zu ihm heran. Der Mond erhellte jetzt die ganze Lichtung, zeichnete in lebhaft bewegten Kämmen das Wogen der Köpfe ab bis in die verschwommenen Fernen der Schläge zwischen den großen, grauen Stämmen. Man sah in der eisigen Luft dieser Winternacht wütende Gesichter, leuchtende Augen, offene Mäuler, eine ganze Brunst des Volkes, Männer, Weiber und Kinder, ausgehungert und losgelassen zur Plünderung des alten Gutes, dessen man sie beraubt hatte. Sie fühlten die Kälte nicht mehr; diese flammenden Worte hatten sie bis ins Innere erhitzt. Eine religiöse Verzückung erhob sie über die Erde; es war wie das Hoffnungsfieber der ersten Christen, die der nahen Herrschaft der Gerechtigkeit harrten. Viele dunkle Sätze waren ihrem Verständnis entgangen; sie begriffen nichts von diesen technischen und abstrakten Erörterungen; allein die Unklarheit, die Abstraktion erweiterte noch das Gefilde der Verheißungen, riß sie wie in einer Verblendung fort. Welcher Traum! Sie würden die Herren sein, nicht mehr leiden, endlich genießen!

»Jawohl, er hat recht! Donner Gottes, wir sind an der Reihe! Tod den Ausbeutern!«

Die Weiber waren in Verzückung; die Maheu hatte ihre Ruhe verloren und war wie von dem Hungerschwindel ergriffen; die Levaque heulte, die alte Brulé war außer sich und fuchtelte mit ihren Hexenarmen herum; Philomene war von einem Hustenanfall geschüttelt; die Mouquette war in solcher Aufregung, daß sie dem Redner zärtliche Worte zurief. Unter den Männern hatte der für die Sache völlig gewonnene Maheu einen Zornesruf ausgestoßen; Pierron zitterte nur, während Levaque sehr redselig geworden war; die Spötter, Zacharias und Mouquet, versuchten die Geschichte ins Spaßige zu ziehen; sie fühlten sich im Grunde sehr unbehaglich und waren erstaunt, daß der Kamerad so lange reden könne, ohne einen Schluck zu trinken. Johannes auf dem Holzstoße machte den größten Lärm, ermunterte Lydia und Bebert und schwang den Korb, worin das Kaninchen lag.

Die Zurufe der Menge hatten sich erneuert. Etienne genoß den Rausch seiner Volkstümlichkeit. Seine Macht war zur Wirklichkeit geworden; er gebot über dreitausend Männer; ein Wort von ihm genügte, um ihre Herzen höher schlagen zu machen. Wenn Suwarin die Versammlung seiner Anwesenheit gewürdigt hätte, würde er seinen eigenen Gedanken zugestimmt haben, je nachdem er sie wieder erkannt hätte, zufrieden mit den anarchistischen Fortschritten seines Jüngers und befriedigt von dem Programm, mit Ausnahme des auf den Unterricht bezüglichen Artikels, der nur ein Rest von blöder Gefühlsduselei war; denn die heilige und gesunde Unwissenheit sollte das Bad sein, in welchem die Männer ihre Kraft stählten. Rasseneur zuckte verächtlich und wütend mit den Achseln.

»Laß mich reden!« rief er Etienne zu.

Dieser sprang von dem Baumstumpf herunter.

»Sprich; wir wollen sehen, ob sie dich anhören.«

Schon war Rasseneur auf den Baumstumpf gestiegen und forderte mit einer Handbewegung Stille. Allein der Lärm dauerte fort; sein Name machte die Runde in der Menge von den ersten Reihen, die ihn erkannt hatten, bis zu den letzten, die weit hinten unter den Buchen standen; man weigerte sich ihn anzuhören; er war ein gestürzter Götze, dessen bloßer Anblick seine ehemaligen Getreuen in Wut versetzte. Seine leichte Beredsamkeit, seine einschmeichelnden, gemütlichen Worte, welche diese Leute so lange Zeit entzückt hatten, wurden jetzt als Lauheit bezeichnet, nur gut, um Feiglinge einzuschläfern. Vergebens sprach er in dem Lärm; vergebens versuchte er, jene Beschwichtigungsrede vorzubringen, die er überall vorbrachte: von der Unmöglichkeit, mit Gesetzen die Welt zu ändern, von der Notwendigkeit, daß die gesellschaftliche Entwicklung sich vollziehe; man verhöhnte ihn, man hieß ihn schweigen; seine Niederlage war schlimmer als in der Schenke »zur Gemütlichkeit«, sie war nicht wiedergutzumachen. Man warf schließlich Hände voll gefrorenen Mooses nach ihm; ein Weib rief aus:

»Nieder mit dem Verräter!«

Er erklärte ihnen, daß die Grube nicht den Grubenarbeitern gehören könne wie der Webstuhl dem Weber; er sagte, es sei ihm lieber, wenn der Arbeiter an dem Ertrag beteiligt, gleichsam ein Angehöriger des Hauses werde.

»Nieder mit dem Verräter!« wiederholten tausend Stimmen. – Es flogen einzelne Steine an seinen Ohren vorbei.

Da erbleichte er, und die Verzweiflung füllte seine Augen mit Tränen. Er sah seine Existenz vernichtet; zwanzig Jahre ehrgeiziger Kameradschaft verschwanden unter der Undankbarkeit der Menge; im Herzen getroffen und unfähig fortzufahren, stieg er von dem Baumstumpf herunter.

»Das läßt dich lachen«, stammelte er dem triumphierenden Etienne zu. »Es ist gut ... Ich wünsche, daß dir ein Gleiches geschehe ... Und es wird dir ein Gleiches geschehen, hörst du?«

Er streckte den Arm weit nach ihm aus, wie um ihm die volle Verantwortlichkeit für alles Unglück zuzuweisen, das er voraussah. Dann entfernte er sich allein durch die stumme und weiße Winterlandschaft.

Jetzt ertönte neues Geschrei, und man war erstaunt, den Vater Bonnemort zu sehen, der den Baumstumpf erstiegen hatte und zu der lärmenden Menge sprach. Bisher hatten Mouque und er geschwiegen, gleichsam in ihren Erinnerungen an die alten Zeiten versunken. Ohne Zweifel wich er jetzt einem jener plötzlichen Anfälle von Geschwätzigkeit, die in ihm zuweilen die Vergangenheit so heftig aufrührten, daß Erinnerungen in ihm aufstiegen und stundenlang von seinen Lippen flossen. Tiefe Stille war eingetreten, und man lauschte diesem Greise, der weiß wie ein Gespenst im Mondlichte vor ihnen stand; als er Dinge erzählte, die ohne unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gegenstande der Versammlung waren, lange Geschichten, die niemand verstehen konnte, nahm die Betroffenheit noch zu. Er sprach von seiner Jugend, von seinen zwei Oheimen, die in der Voreuxgrube ihren Tod fanden, dann von der Brustkrankheit, die sein Weib hinweggerafft hatte. Doch hielt er seinen Gedanken fest: es sei niemals gut gegangen, und es werde niemals gut gehen. So hätten sich einmal ihrer fünfhundert im Walde versammelt, weil der König die Arbeitsstunden nicht vermindern wollte. Da brach der Alte ab und begann die Geschichte eines andern Streiks: er hatte so viele gesehen! Die Sache endete immer unter den Bäumen hier auf dem Damenplan, weiterhin im Köhlerwalde oder noch weiter beim Wolfssprung. Einmal fror es, ein andermal war es heiß. Eines Abends hatte es so stark geregnet, daß man heimgekehrt war, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Es kamen die Soldaten des Königs und setzte schließlich Flintenschüsse ab.

»Wir erhoben die Hände wie jetzt; wir schworen, nicht anzufahren; ich habe geschworen, ja, ich habe geschworen!«

Die Menge horchte erstaunt, von einem Unbehagen ergriffen, als Etienne, der diese Szene verfolgt hatte, auf den Baumstumpf sprang und den Greis an seiner Seite behielt. Er hatte unter den in der ersten Reihe stehenden Freunden Chaval erkannt. Der Gedanke, daß auch Katharina da sein müsse, hatte ihn von neuem angefeuert, das Bedürfnis in ihm erweckt, in ihrer Gegenwart die Beifallskundgebungen der Menge zu empfangen.

»Kameraden, ihr habt gehört; da ist einer unserer Alten: Ihr habt vernommen, was er gelitten hat, und was unsere Kinder leiden werden, wenn wir mit den Dieben und Henkern nicht aufräumen.«

Er ward furchtbar; niemals hatte er mit solcher Heftigkeit gesprochen. Mit einem Arm hielt er den alten Bonnemort fest wie ein Banner des Elendes und der Trauer, das zur Rache aufruft. In hastig hervorgestoßenen Sätzen ging er bis zum ersten Maheu zurück; er schilderte diese ganze Familie, wie sie vom Bergwerk abgenützt, von der Gesellschaft aufgezehrt ward und nach hundertjähriger Arbeit hungriger war denn je; und vor diese ausgehungerte Arbeiterfamilie stellte er die von Geld überfließenden Bäuche der Verwaltung hin, die ganze Bande von Aktionären, die gleich Dirnen seit einem Jahrhundert ausgehalten wurden, nichts arbeiteten, sich nur ihres Leibes freuten. War das nicht furchtbar? Ein ganzes Volk – vom Vater auf den Sohn – ging in den Gruben zugrunde, um Ministern Trinkgelder zu bezahlen, um ganzen Geschlechtern großer Herren und Spießbürger die Mittel zu verschaffen, daß sie Feste geben oder hinter dem Ofen sitzend sich mästeten! Er hatte die Krankheiten der Grubenarbeiter studiert und zählte sie alle auf mit greulichen Einzelheiten: die Blutleere, die Skrofeln, die schwarze Bronchitis, das erstickende Asthma, die lähmenden Rheumatismen. Man warf die Elenden den Maschinen als Futter hin, man pferchte sie gleich dem Vieh in den Dörfern ein; die großen Gesellschaften verzehrten sie allmählich, regelten die Sklaverei und drohten, alle Arbeiter einer Nation einzureihen, Millionen Arme, um tausend Faulenzer zu bereichern. Doch der Grubenarbeiter war nicht mehr der Unwissende von ehemals, das im Innern des Erdreiches zermalmte Tier. Eine Armee wuchs aus den Tiefen der Gruben hervor, eine Ernte von Männern, deren Saat keimte und einst an einem sonnenhellen Tage die Erde zersprengen werde. Man werde dann sehen, ob man es wage, nach vierzigjährigem Dienste eine Pension von hundertfünfzig Franken einem sechzigjährigen Greise anzubieten, der Kohle spie, und dessen Beine vom Wasser der Kohlenschläge angeschwollen waren. Ja, die Arbeit werde das Kapital zur Rechenschaft ziehen, diesen unpersönlichen, dem Arbeiter unbekannten Gott, der irgendwo, im geheimnisvollen Dunkel seines Heiligtumes hockte, von wo er den Hungerleidern, die ihm nährten, das Blut aussog. Man werde ihn aufsuchen, ihm ins Gesicht schauen beim Lichte der Feuersbrünste, es im Blute ersäufen, dieses unflätige Schwein, diesen ungeheuerlichen, mit Menschenfleisch gemästeten Götzen.

Er schwieg, aber sein Arm blieb ins Leere ausgestreckt, gleichsam um den Feind zu zeigen in weiter Ferne, er wußte nicht wo, von einem Ende der Erde zum andern. Das Geschrei der Menge war jetzt so laut, daß die Bürger von Montsou es hörten und nach der Richtung von Vandame blickten, von Unruhe ergriffen bei dem Gedanken an irgendeinen furchtbaren Einsturz. Nachtvögel flatterten in dem Gehölze auf und flogen unter dem unermeßlichen klaren Himmel dahin.

Etienne wollte jetzt schließen.

»Kameraden, was ist euer Beschluß? ... Stimmt ihr für die Fortsetzung des Ausstandes?«

»Ja, ja!« heulten die Stimmen.

»Und welche Maßregeln beschließet ihr? ... Unsere Niederlage ist sicher, wenn sich morgen Feiglinge finden, die anfahren.«

»Tod den Feiglingen!« erbrauste es mit der Gewalt eines Sturmwindes.

»Ihr beschließet also, sie an die Pflicht, an den geschwornen Eid zu mahnen ... Wir könnten folgendes tun: bei den Gruben erscheinen, die Verräter durch unsere Anwesenheit zurückjagen, der Gesellschaft zeigen, daß wir alle einig sind, und daß wir eher sterben als nachgeben werden.«

»Ja, ja, zu den Gruben! zu den Gruben!«

Etienne hatte, seitdem er sprach, Katharina mit den Augen gesucht unter den bleichen Köpfen, die vor ihm grollten. Sie war nicht da. Doch sah er noch immer Chaval, der die Achseln zuckte, um den Spötter zu spielen, von Eifersucht verzehrt und bereit, für ein wenig solcher Volkstümlichkeit sich zu verkaufen.

»Wenn es Späher unter uns gibt, Kameraden,« fuhr Etienne fort, »dann mögen sie sich in acht nehmen; man kennt sie... Ja, ich sehe Bergleute aus Vandame, welche die Grube nicht verlassen haben...«

»Meinst du mich?« fragte Chaval in herausforderndem Tone.

»Dich oder einen andern... Da du dich gemeldet hast, solltest du begreifen, daß diejenigen, die essen, nichts bei jenen zu tun haben, die hungern. Du arbeitest im Jean-Bart-Schachte...«

Eine spöttische Stimme unterbrach den Redner:

»Der arbeitet... Er hat ein Weib, das für ihn arbeitet.«

Chaval ward rot vor Wut.

»Himmelherrgott!« schrie er. »Ist es denn verboten zu arbeiten?«

»Ja!« rief Etienne. »Wenn die Kameraden für das Wohl aller Not leiden, Ist es verboten, sich als Egoist und Heuchler auf die Seite der Arbeitgeber zu stellen. Wäre der Streik allgemein, dann wären wir längst die Herren... Kein einziger Mann von Vandame hätte anfahren sollen, als Montsou in den Ausstand trat. Es wäre ein Hauptstreich, wenn die Arbeit in der ganzen Umgebung feierte bei Herrn Deneulin ebenso wie hier... Hörst du? In den Schlägen von Jean-Bart gibt es nur Verräter; ihr alle seid Verräter!«

Die Menge rings um Chaval nahm eine drohende Haltung an; Fäuste wurden in die Höhe gestreckt; man hörte den Ruf: »Schlagt ihn tot!« Chaval erbleichte; doch in seiner wütenden Begierde, über Etienne zu triumphieren, hatte er einen Einfall, der ihn wieder aufrichtete.

»Höret mich doch!« rief er. »Kommt morgen nach Jean-Bart, und ihr werdet sehen, ob ich arbeite!... Wir halten mit euch, und man hat uns gesandt, um euch dies zu sagen. Man muß die Feuer auslöschen; auch die Maschinisten müssen in den Ausstand eintreten. Wenn die Pumpen stille stehen: um so besser! Das Wasser wird die Gruben ersäufen, und alles wird zu Ende sein.«

Man klatschte ihm wütend Beifall; Etienne war überflügelt. Die Redner auf dem Baumstumpfe lösten einander ab, gestikulierten in dem Lärm, machten unsinnige Vorschläge. Es war der wahnwitzig gewordene Glaube, die Ungeduld einer religiösen Sekte, welche des Hoffens auf das erwartete Wunder überdrüssig, sich entschloß, es endlich herauszufordern. Durch den Hunger blöd gemacht, war es allen diesen Köpfen rot vor den Augen; sie träumten von Feuer und Blut, aus dem das allgemeine Glück hervorsproß. Der stille Mond tauchte diese wogende Menge in seine Lichtflut; der tiefe Wald umhüllte mit seinem Schweigen diesen ungeheuren Mordruf. Das gefrorene Moos allein krachte unter den Füßen, während die Buchen, aufrecht in ihrer Kraft, mit den zarten Verästelungen ihrer Zweige, schwarz unter dem weißen Himmel, die erbärmlichen Wesen, die sich zu ihren Füßen bewegten, weder sahen noch hörten.

Jetzt entstand ein Gedränge, und die Maheu gelangte so in die Nähe ihres Mannes; beide waren um ihre gesunde Vernunft gekommen; fortgerissen von der allmählichen Erbitterung, die seit Monaten sie bearbeitete, stimmten sie Levaque zu, der die anderen überbietend, die Köpfe der Ingenieure forderte. Pierron war verschwunden; Bonnemort und Mouque redeten zugleich undeutlich und sehr heftig, was niemand verstand. Zacharias trieb allerlei Ulk und forderte, daß die Kirchen der Erde gleich gemacht würden; Mouquet schlug mit dem Ballschlegel auf die Erde, nur um den Lärm zu vergrößern. Die Weiber wüteten: die Levaque war – die Fäuste in die Hüften gestemmt – mit Philomene in heftigen Streit geraten, weil diese angeblich gelacht hatte; die Mouquette sagte, man müsse die Gendarmen mit Fußtritten in den Hintern »niedermachen«; die Brulé, die soeben Lydia geohrfeigt, weil sie das Mädchen ohne Korb und ohne Salat gefunden, fuhr fort, Schläge ins Leere zu führen, für alle Besitzer, die sie hier bei der Hand hätte haben wollen. Johannes war einen Augenblick betroffen, weil Bebert von einem Stößerjungen erfahren, daß Frau Rasseneur sie gesehen habe, wie sie Polen stahlen; aber nachdem er beschlossen hatte zurückzukehren, um vor der Tür der Schenke »zum wohlfeilen Trunk« das Tier unbemerkt wieder loszulassen, heulte er noch stärker, öffnete sein neues Messer und schwang die Klinge ganz stolz, sie glänzen lassen zu können.

»Kameraden, Kameraden!« wiederholte Etienne erschöpft und sich heiser schreiend, um einen Augenblick Stille zu erlangen, damit man sich endgültig verständigen könne.

Endlich hörte man ihn.

»Kameraden, morgen früh in Jean-Bart! Ist's abgemacht?«

»Ja, ja, in Jean-Bart! Tod den Verrätern!«

Der Sturm dieser dreitausend Stimmen erfüllte den Himmel und erstarb in der klaren Helle des Mondes.


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