Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Drittes Kapitel

Etienne war von dem Hügel endlich hinabgestiegen und in den Voreuxschacht getreten. Die Männer, an die er sich mit der Frage wandte, ob es keine Arbeit gebe, schüttelten den Kopf und sagten ihm alle, er solle den Oberaufseher abwarten. Man ließ ihm freie Bewegung inmitten der schlecht beleuchteten Gebäude, die voll finsterer Löcher waren und beängstigend wirkten mit ihrem Wirrsal von Sälen und Stockwerken. Nachdem er eine dunkle, halb zerstörte Treppe emporgestiegen, befand er sich auf einem schwankenden Brückensteg; dann durchschritt er den Schuppen des Sichtungswerkes, der in so tiefer Finsternis lag, daß er mit den Händen vorausgreifen mußte, um nicht anzustoßen. Plötzlich sah er vor sich zwei riesige, gelbe Augen die Nacht durchbrechen. Er befand sich unter dem Glockenstuhl im Aufnahmesaale an der Mündung des Schachtes.

Ein Aufseher, der Vater Richomme, ein Dicker mit dem Gesichte eines gutmütigen Gendarmen, das ein grauer Schnurrbart zierte, begab sich eben ins Büro des Aufnahmebeamten.

»Braucht man hier nicht einen Arbeiter für irgendeine Beschäftigung?« fragte Etienne abermals.

Richomme wollte nein sagen; doch er ward anderen Sinnes und sagte wie die übrigen, während er sich entfernte:

»Erwarten Sie Herrn Dansaert, den Oberaufseher.«

Vier Laternen waren hier angebracht und die Reflektoren, die das ganze Licht auf den Schacht warfen, beleuchteten hell die eisernen Geländer, die Hebel der Signale und Verschlüsse, die Pfosten der Seile, an denen die beiden Aufstiegkästen hinabglitten. Der Rest, der einem Kirchenschiffe gleichende geräumige Saal, lag im Dunkel und war mit großen, schwebenden Schatten bevölkert. Bloß die Laternenkammer flammte im Hintergrunde, während das Lämpchen im Büro des Aufnahmebeamten einem erlöschenden Stern glich. Die Kohlenförderung war wiederaufgenommen worden. Es ertönte ein unaufhörliches Dröhnen auf den gußeisernen Platten, die Kohlenhunde rollten unablässig, und man sah die gebeugten Gestalten der an der Winde beschäftigten Männer inmitten des Getümmels all dieser in Bewegung befindlichen dunklen und geräuschvollen Gegenstände.

Einen Augenblick stand Etienne unbeweglich da, betäubt und geblendet. Er fror, denn es zog von allen Seiten. Dann trat er einige Schritte vorwärts, angezogen durch die Maschine, deren stählerne und kupferne Bestandteile er glänzen sah. Sie stand etwa fünfundzwanzig Meter hinter der Schachtmündung in einem höher gelegenen Saale, so fest auf ihrem Unterbau gelagert, daß sie mit ganzem Dampfe arbeitete, mit ihren vollen vierhundert Pferdekräften, ohne daß die Bewegung ihrer riesigen Treibstange, die, weil gut geölt, leicht und glatt auf und ab stieg, die Mauern im geringsten erschüttert hätte. Der Maschinist, der am Verschlußkolben stand, lauschte dem Geklingel der Signale und wandte kein Auge von der Nachweistafel, auf welcher der Schacht mit seinen verschiedenen Stockwerken durch eine senkrechte Fuge dargestellt war, in der an Schnüren befestigte Bleistücke, die Aufzugskästen darstellend, auf und nieder liefen. Wenn bei jedem Abstieg die Maschine sich in Bewegung setzte, drehten sich die Wellen, die beiden Riesenräder von fünf Meter Durchmesser, auf deren Nahen die Stahlseile sich in entgegengesetzter Richtung auf und ab rollten, mit solcher Schnelligkeit, daß sie einem grauem Staube glichen.

»Aufgepaßt!« riefen drei Arbeiter, die eine Riesenleiter schleppten.

Er fehlte nicht viel, und Etienne wäre von der Leiter erschlagen worden. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit; er sah das Getriebe der Seile in der Luft, mehr als dreißig Meter stählerner Bänder, die in einem Schwung im Glockenstuhle emporstiegen, wo sie über Räder gelegt waren, um senkrecht in den Schacht abzufallen, wo sie an den Aufzugskästen befestigt waren. Ein eisernes Gerüst, dem Gebälk eines Glockenturmes gleichend, trug die Räder. Es war wie der Flug eines Vogels ohne Geräusch, ohne Anstoß; der reißend schnelle Lauf, das unaufhörliche Auf und Nieder eines Fadens von ungeheurem Gewichte, der zwölftausend Kilogramm mit einer Geschwindigkeit von zehn Metern in der Sekunde zu heben vermochte.

»Aufgepaßt!« riefen noch einmal die Arbeiter, welche die Leiter nach der anderen Seite schafften, um das linksseitige Rad zu untersuchen.

Etienne kehrte langsam in den Aufnahmesaal zurück. Dieser Riesenflug über seinem Haupte verblüffte ihn völlig. In dem von allen Seiten auf ihn eindringenden Luftzug fröstelnd, betrachtete er die Handhabung der Schalen, fast betäubt durch das Rollen der Hunde. Neben dem Schachte arbeitete das Signal, ein Hebelhammer, den eine in der Tiefe angezogene Schnur auf einen Block niederfallen ließ. Ein Schlag für das Anhalten, zwei Schläge für den Abstieg, drei Schläge für den Aufstieg; es war eine unaufhörliche Folge von Keulenschlägen, die den Tumult beherrschten, begleitet von einem hellen Geklingel, während der Arbeiter, der die Vorrichtung leitete, das Getöse noch vergrößerte, indem er dem Maschinisten durch ein Sprachrohr Weisungen zurief. Inmitten all dieses Getümmels tauchten die Schalen auf und versanken wieder, leerten sich und füllten sich, ohne daß Etienne etwas von dieser komplizierten Arbeit begriff.

Er begriff nur eins: der Schacht verschlang Menschen in Bissen zu zwanzig und dreißig und mit einem so leichten Schlucken, als fühle er gar nicht ihren Durchgang. Um vier Uhr begann der Abstieg der Arbeiter. Sie kamen aus der Baracke, barfüßig, mit der Laterne in der Hand, in kleinen Gruppen wartend, bis sie in genügender Anzahl waren. Geräuschlos, gleich dem stillen Auftauchen eines Nachttieres erschien der Eisenkäfig aus der finsteren Tiefe und setzte sich auf die Riegel mit seinen vier Stockwerken, deren jedes zwei mit Kohlen gefüllte Hunde enthielt. Auf den verschiedenen Absätzen holten Arbeiter die Hunde heraus und ersetzten sie durch andere, entweder leere oder mit Grubenholz beladene. In den leeren Hunden nahmen die Arbeiter Platz zu fünf und fünf bis zu vierzig auf einmal, wenn sie alle Abteilungen einnahmen. Eine Weisung erging durch das Sprachrohr, darauf folgte ein dumpfes, undeutliches Brüllen, während man viermal an dem Seil des unteren Signals zog, um die Ankunft dieser Ladung von menschlichem Fleisch anzukündigen. Nach einem leichten Emporschnellen sank die Schale geräuschlos hinab, fiel wie ein Stein und ließ nichts hinter sich zurück als den zitternden Lauf des Seiles.

»Ist es tief?« fragte Etienne einen Grubenarbeiter, der neben ihm stand und mit schläfriger Miene wartete, bis die Reihe an ihn kam.

»Fünfhundertvierundfünfzig Meter«, sagte der Mann. »Aber es sind vier Absätze, den ersten in einer Tiefe von dreihundertundzwanzig Meter.«

Beide schwiegen und richteten die Augen auf das Seil, das jetzt emporstieg. Etienne fragte wieder:

»Und wenn es reißt?«

»Wenn es reißt...«

Der Grubenarbeiter beendete den Satz mit einer Gebärde. Er war an der Reihe, die Schale war mit ihrer leichten, mühelosen Bewegung wieder erschienen. Er hockte darin nieder in Gesellschaft von Kameraden, und die Schale versank; nach kaum vier Minuten tauchte sie wieder auf, um eine neue Ladung von Männern zu verschlingen. Eine halbe Stunde lang fraß der Schacht in dieser Weise Menschen mit einem mehr oder minder gierigen Schlund, je nach der Tiefe des Absatzes, wohin sie abstiegen, aber unaufhörlich, immer hungrig, ein Riesendarm, der ein Volk zu verdauen vermochte. Es füllte sich wieder und immer wieder, und die finstere Tiefe blieb stumm, die Schale stieg mit der nämlichen gefräßigen Stille aus der Leere auf.

Etienne wurde schließlich von demselben Unbehagen ergriffen, das er schon auf dem Hügel gefühlt hatte. Was nützte seine Hartnäckigkeit? Der Oberaufseher verabschiedete ihn ebenso wie die anderen. Eine unbestimmte Angst brachte ihn plötzlich zu einem Entschlusse: er ging fort und machte draußen erst vor dem Gebäude der Dampferzeuger halt. Das weit offene Tor ließ sieben Kessel mit je zwei Herden sehen. Inmitten des weißen Dunstes und des unter lautem Pfeifen entweichenden Dampfes war ein Heizer damit beschäftigt, einen der Feuerherde frisch zu füllen, dessen sengende Glut man bis zur Schwelle fühlte. Dieser Wärme sich freuend, trat der junge Mann näher, als er einem neuen Trupp von Kohlenarbeitern begegnete, die eben bei der Grube eintrafen. Es waren die Maheu und die Levaque. Als er an der Spitze des Trupps Katharina mit ihrem gutmütigen Knabenantlitz erblickte, kam ihm der abergläubische Gedanke, noch eine letzte Frage zu wagen.

»Sagen Sie, Kamerad, braucht man hier nicht einen Arbeiter für irgendwelche Arbeit?«

Sie sah ihn überrascht an, ein wenig erschreckt über diese plötzlich aus dem Dunkel auftauchende Stimme. Doch Maheu, der hinter ihr kam, hatte die Frage gehört und beantwortete sie, indem er sich einen Augenblick zum Plaudern gönnte. Nein, man bedürfe keines Arbeiters, sagte er. Dieser arme Teufel, dieser herumirrende Arbeiter interessierte ihn. Als er ihn verließ, sagte er zu den anderen:

»Schaut, so könnte es auch uns ergehen!... Man muß nicht allzuviel klagen. Nicht alle haben Arbeit bis über den Kopf.«

Der Trupp trat ein und begab sich geradeswegs zur Baracke, einem weiten Saal mit grobem Kalkbewurfe, ringsum mit Schränken angefüllt, die mit Vorlegeschlössern verschlossen waren. In der Mitte stand ein eiserner Kamin, eine Art Ofen ohne Tür, feuerrot, dermaßen vollgestopft mit glühender Kohle, daß einzelne Stücke platzten und auf den gestampften Boden herausfielen. Der Saal war nur durch diesen Ofen erhellt, dessen blutroter Widerschein an dem schmutzigen Gebälke tanzte bis hinauf zu der mit schwarzem Staube belegten Decke.

Als die Maheu ankamen, herrschte ein lautes Gelächter in dem heißen Saale. Etwa dreißig Arbeiter standen mit dem Rücken zum Feuer gewandt, mit einer Miene des Behagens sich röstend. Vor dem Abstieg kamen alle hierher und nahmen in ihrer Haut ein Stück Wärme mit, um der Feuchtigkeit des Schachtes Trotz bieten zu können. An diesem Morgen gab es einen Spaß; man scherzte mit der Mouquette, einer Schlepperin von achtzehn Jahren, einer gutmütigen Dirne, deren riesiger Busen und Hinterteil Jacke und Hose zu sprengen drohten. Sie wohnte zu Requillart mit ihrem Vater, dem alten Mouque, der als Stallknecht diente, und ihrem Bruder Mouquet, der bei der Winde beschäftigt war; da die Arbeitsstunden nicht für alle die nämlichen waren, ging sie allein zur Grube. Zur Sommerszeit im Getreide, zur Winterszeit an eine Mauer gelehnt, gab sie sich dem Vergnügen hin in Gesellschaft des für die Woche erkorenen Schatzes. Das ganze Bergwerk kam an die Reihe, sämtliche Kameraden in einer bestimmten Reihenfolge, ohne daß die Sache weitere Folgen hatte. Als man eines Tages sie mit einem Nagelschmied von Marchiennes aufzog, barst sie schier vor Zorn und schrie, daß sie zuviel Selbstachtung habe und sich einen Arm abhacken werde, wenn jemand sie mit einem anderen als mit einem Kohlenarbeiter gesehen habe.

»Ist's denn nicht mehr der lange Chaval?« fragte ein Arbeiter spöttisch. »Du hast diesen Kleinen genommen? Aber der braucht ja eine Leiter!... Ich sah euch neulich hinter Réquillart. Er war auf einen Eckstein gestiegen...«

»Was weiter?« erwiderte die Mouquette wohlgelaunt. »Was hat es dich zu kümmern? Man hat dich nicht gerufen, um nachzuhelfen.«

Diese gutmütige Derbheit erregte neue Heiterkeitsausbrüche der Männer, die ihre halb gebrannten Schultern blähten, während sie selbst vom Lachen geschüttelt in ihrem schamlosen Kostüm unter ihnen herumging, das mit den bis zur Ungesundheit angeschwollenen Fleischklumpen komisch und beängstigend zugleich war.

Doch bald ließ die Heiterkeit nach. Die Mouquette erzählte Maheu, daß die lange Fleurance nicht mehr kommen werde; man habe sie gestern tot und starr in ihrem Bette gefunden. Die einen redeten von einem Herzübel, die anderen von einer allzu hastig geleerten Schnapsflasche. Maheu war verzweifelt über diese Nachricht; es sei nun wieder ein Unglück, er verliere eine seiner Hilfsarbeiterinnen, ohne sie sogleich ersetzen zu können. Er arbeitete im Akkord; sie waren ihrer vier Häuer in seinem Schlag; er, Zacharias, Levaque und Chaval; wenn sie nur mehr Katharina als Schlepperin hätten, werde die Arbeit sicherlich leiden. Plötzlich rief er aus:

»Halt! Und der Mann, der vorhin Arbeit suchte?«

Eben kam Dansaert an der Baracke vorüber. Maheu erzählte ihm die Geschichte und bat um die Ermächtigung, den Mann anzuwerben; dabei betonte er das Bestreben der Gesellschaft, die Hilfsarbeiterinnen durch Burschen zu ersetzen wie in Anzin. Der Oberaufseher lächelte zuerst, denn der Vorschlag, die Frauen von der Grubenarbeit auszuschließen, mißfiel gewöhnlich den Bergleuten, die um die Anstellung ihrer Töchter besorgt waren, wenig berührt durch die Frage der Sittlichkeit und der Gesundheit. Nach kurzem Zögern gab er endlich seine Einwilligung mit dem Vorbehalte, die Genehmigung seiner Entscheidung bei Herrn Negrel, dem Ingenieur, einzuholen.

»Der Mann muß schon weit sein, wenn er seither immer geht«, sagte Zacharias.

»Nein,« sagte Katharina, »ich habe ihn bei den Dampfkesseln stehen bleiben sehen.«

»Lauf ihm nach, Maulaffe!« rief Maheu.

Das Mädchen setzte sich in Lauf, während ein Trupp Arbeiter zum Schachte hinaufging und anderen das Feuer überließ. Auch Johannes holte seine Laterne, ohne den Vater abzuwarten, mit ihm Bebert, ein dicker, kindlicher Junge, und Lydia, ein schwächliches Mädchen von zehn Jahren. Die Mouquette, die vor ihnen aufgebrochen war, brach in dem dunklen Treppengang in ein Geschrei aus, nannte sie schmutzige Rangen und drohte ihnen mit Maulschellen, wenn sie sie wieder in die Beine kniffen.

Etienne plauderte in der Tat bei den Kesseln mit dem Heizer, der die Öfen frisch füllte. Es überlief ihn eiskalt bei dem Gedanken, daß er wieder in die finstere Nacht hinaustreten solle. Indes entschloß er sich zum Aufbruch, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte.

»Kommt,« sagte Katharina, »es ist etwas da für euch.«

Er begriff nicht sogleich; dann wallte die Freude in ihm auf, und er drückte dem Mädchen kräftig die Hände.

»Dank, Kamerad... Ihr seid ein guter Junge, wahrhaftig!«

Sie begann zu lachen, während sie ihn in dem roten Lichte der Feuerherde betrachtete. Es machte ihr Spaß, daß er sie für einen Jungen hielt, weil sie noch so schmächtig und ihr Haarknoten unter der Haube verborgen war. Auch er lachte zufrieden, und sie standen einen Augenblick mit frohen Gesichtern einander gegenüber. Maheu hockte in der Baracke vor seiner Kiste und zog seine Holzschuhe und Wollstrümpfe aus. Als Etienne kam, ward alles in vier Worten geregelt: dreißig Sous Tagelohn für eine anstrengende Arbeit, die er bald erlernen werde. Der Häuer riet ihm, seine Schuhe an den Füßen zu behalten, und lieh ihm einen alten ledernen Hut zum Schutze für seinen Schädel, eine Vorsicht, die der Vater und seine Kinder verschmähten. Man holte das Arbeitsgerät aus einer Kiste, wo sich zufällig auch die Schaufel der Fleurance vorfand. Als Maheu die Holzschuhe und die Strümpfe aller, sowie das Bündel Etiennes in der Kiste verschlossen hatte, verlor er plötzlich die Geduld.

»Was macht denn dieser Tölpel von Chaval?« rief er. »Sicher hat er wieder eine Dirne auf einen Steinhaufen hingeworfen. Wir haben uns heute um eine halbe Stunde verspätet.«

Zacharias und Levaque brieten sich ruhig die Schultern. Ersterer sagte schließlich:

»Du wartest auf Chaval? Er ist vor uns gekommen und sogleich angefahren.«

»Wie, du weißt das und sagst mir nichts davon? Vorwärts schnell!«

Katharina, die ihre Hände wärmte, mußte dem Trupp folgen. Etienne ließ sie vorausgehen und stieg hinter ihr hinan. Wieder kam er durch ein ganzes Wirrsal von Treppen und dunklen Gängen, wo die nackten Füße das weiche Geräusch von altem Schuhwerk hervorbrachten. Schließlich befand man sich vor der hell beleuchteten Laternenkammer. Diese war ein durch eine Glaswand abgesonderter Raum voll Gestellen, wo in übereinandergelegten Fächern Hunderte von Davyschen Sicherheilslampen hingen, die, nachdem sie sorgfältig untersucht und nach dem gestrigen Gebrauch gereinigt worden, angezündet wurden und den brennenden Kerzen einer erleuchteten Kapelle glichen. Am Schalter empfing jeder seine Laterne, die mit seiner Ziffer gestempelt war, dann prüfte er sie und schloß sie selbst, während ein an einem Tische sitzender Beamter in einem Register die Stunde der Anfahrt verzeichnete. Maheu mußte einschreiten, um die Laterne für seinen neuen Eggenmann zu erwirken. Noch eine Vorsichtsmaßregel wurde beobachtet; die Arbeiter zogen an einem Kontrolleur vorüber, der sich vergewisserte, ob auch alle Laternen wohl verschlossen seien.

»Alle Wetter, hier ist es nicht warm«, murmelte Katharina zähneklappernd.

Etienne begnügte sich, mit dem Kopfe zustimmend zu nicken. Er stand wieder vor dem Schachte in der Mitte des weiten, vom Luftzug durchfegten Saales. Gewiß, er hielt sich für tapfer, und dennoch faßte ihn ein unbehagliches Gefühl der Aufregung an der Gurgel inmitten des Dröhnens der rollenden Hunde, der dumpfen Schläge der Signalhämmer, des heisern Geheuls des Sprachrohrs, angesichts des unablässigen Fluges der Kabel, welche durch die Wellen der Maschine mit voller Dampfkraft auf und ab gerollt wurden. Die Schalen stiegen auf und nieder gleich dem stillen Gleiten eines nächtlichen Tieres, immer wieder Männer verschlingend, welche der Schacht zu trinken schien. Er war jetzt an der Reihe; ihm war sehr kalt, aber er bewahrte ein nervöses Schweigen, über das Zacharias und Levaque sich lustig machten; denn diese beiden mißbilligten die Anwerbung dieses Unbekannten, besonders Levaque, der beleidigt war, daß man ihn nicht zu Rate gezogen hatte. Darum war denn auch Katharina ordentlich froh, als sie hörte, wie ihr Vater dem jungen Manne die Dinge erklärte.

»Schauen Sie, oberhalb der Schale ist ein Fallschirm, eiserne Krampen, die sich in die Falzen einhaken, wenn die Leitung reißt. Die Schutzvorrichtung funktioniert aber nicht immer... Der Schacht ist in drei Abteilungen gesondert, die von oben bis hinunter durch Planken abgeschlossen sind; in der Mitte laufen die Schalen, links ist der Schacht der Leitern...«

Doch er unterbrach sich, um mürrisch, aber nur halblaut zu sagen:

»Aber was soll das heißen? Darf man uns so gottesjämmerlich frieren lassen!«

Der Aufseher Richomme, der sich ebenfalls zur Anfahrt rüstete, und dessen Laterne mit frei brennender Flamme an seinem Barett hing, hörte diese Klage.

»Hab' acht, die Wände haben Ohren!« brummte er in väterlichem Tone als alter Arbeiter, der für seine Kameraden gütig geblieben. »Die Vorbereitungen müssen doch getroffen werden. Da, wir sind schon dabei; steige mit deinen Leuten ein.«

In der Tat harrte ihrer, fest in den Ankern sitzend, die durch Blechplatten und ein enges Drahtnetz geschützte Schale. Maheu, Zacharias, Levaque und Katharina schlüpften in einen rückwärtigen Kasten, und weil ihrer fünf dort Platz finden sollten, folgte ihnen Etienne; allein, da die guten Plätze schon besetzt waren, mußte er neben dem Mädchen niederhocken, dessen Ellbogen ihm den Bauch bearbeitete. Seine Lampe war ihm im Wege; man riet ihm, sie in ein Knopfloch seiner Jacke zu hängen. Aber er hörte nicht und behielt sie ungeschickt in der Hand. Das Einsteigen der Arbeiter dauerte fort über und unter ihnen; es war wie ein verworrenes Verladen von Vieh. Was ging denn vor, daß man noch immer nicht anfahren konnte? Sein ungeduldiges Harren schien ihm schon lange, bange Minuten zu währen. Endlich gab es einen Ruck, und alles versank, die Gegenstände um ihn her schienen zu entfliegen; er selbst hatte ein schwindelerregendes, beklemmendes Gefühl des Fallens, das ihm die Eingeweide zusammenzog. Es währte so lange, wie sie am Tageslichte waren und inmitten der rollenden Flucht des Gebälks durch die zwei Stockwerke des Aufnahmesaales fuhren. Als sie dann in die Finsternis des Schachtes hinabgesunken waren, war er wie betäubt und hatte nicht mehr das klare Bewußtsein seiner Empfindungen.

»Nun sind wir angefahren«, sagte Maheu ruhig.

Alle waren gutes Mutes; nur er fragte sich zuweilen, ob er steige oder sinke. Wenn die Schale gerade niederfiel, ohne die Falzen zu berühren, dann schien es, als sei sie unbeweglich; dann kam wieder ein plötzliches Erzittern, ein gewisses Hüpfen in den Balken, das ihm die Angst vor einer Katastrophe einjagte. Er konnte übrigens hinter dem Drahtgitter, an das er sein Antlitz drückte, die Wände des Schachtes nicht unterscheiden. Die Laternen beleuchteten nur undeutlich die zusammengepferchten Leiber zu seinen Füßen. Nur die frei brennende Lampe des Aufsehers in dem benachbarten Hund glänzte wie ein Leuchtfeuer.

»Dieser Schacht hat vier Meter im Durchmesser«, fuhr Maheu in seiner Belehrung fort. »Die Verzimmerung müßte schon erneuert werden, denn das Wasser sickert auf allen Seiten durch ... Jetzt kommen wir auf dem Grund an; hören Sie?«

Etienne fragte sich eben, was diesen platzregenartige Geräusch bedeuten möge. Zuerst hatten einige dicke Tropfen auf das Dach der Schale aufgeschlagen, wie bei dem Beginn eines Wolkenbruches; jetzt verdichtete sich der Regen, floß in einem Strom, verwandelte sich zu einer wahren Sintflut. Das Dach war ohne Zweifel durchlöchert, denn ein Wasserfaden floß auf seine Schulter herab und durchnäßte ihn bis auf die Haut. Die Kälte ward eisig; man versank in feuchter Finsternis, dann fuhr man blitzschnell durch eine blendende Helle; es war wie die Erscheinung einer Höhle, wo Menschen sich bewegen, im Lichte eines Blitzes gesehen. Schon sank man wieder in das Nichts.

Maheu sagte:

»Das ist der erste Absatz. Wir sind jetzt dreihundertundzwanzig Meter tief... Achten Sie nur auf die Schnelligkeit.«

Er hob die Laterne und beleuchtete einen Balken der Leitung, der mit solcher Geschwindigkeit dahineilte wie ein Schienengeleis unter einem mit vollem Dampfe dahinrollenden Zuge; darüber hinaus war noch immer nichts zu sehen. Es folgten noch drei Absätze, deren Helle man im Fluge durchfuhr. Der Regen prasselte mit betäubendem Geräusch durch die Finsternis hernieder.

»Wie tief es ist!« murmelt Etienne.

Ihm war, als währe dieser Fall seit Stunden, Er litt infolge der unbequemen Stellung, die er in dem Kasten eingenommen hatte, wagte aber nicht, sich zu rühren; besonders der Ellbogen Katharinas marterte ihn. Sie sprach kein Wort; er fühlte bloß, wie sie so eng an ihn gelehnt dasaß, daß sie ihn erwärmte. Als die Schale endlich am Grunde des Schachtes, in einer Tiefe von fünfhundertvierundfünfzig Metern hielt, hörte er erstaunt, daß der Abstieg genau eine Minute gedauert habe. Doch das Geräusch der Anker, die sich einhakten und das Gefühl der Festigkeit unter seinen Füßen gaben ihm sogleich seine gute Laune wieder, und zum Spaß redete er Katharina mit du an.

»Was hast du nur unter der Haut, daß du so warm bist?... Dein Ellbogen ist mir in den Bauch gedrungen.«

Da brach auch sie in ein Gelächter aus. Wie konnte er so albern sein, sie noch immer für einen Jungen zu halten? Hatte er denn die Augen verstopft?

»In den Augen hast du meinen Ellbogen, nicht im Bauche«, erwiderte sie mit einem neuerlichen Heiterkeitsausbruche, den der überraschte junge Mann sich nicht zu erklären wußte.

Die Schale leerte sich; die Arbeiter durchschritten einen Saal. Dieser Saal war in den Felsen gehauen, mit gemauertem Gewölbe, durch große Lampen mit frei brennendem Lichte erhellt. Die Verlader rollten die vollen Hunde mit dröhnendem Geräusche auf dem mit gußeisernen Platten belegten Boden dahin. Von den nassen Mauern ging ein Kellergeruch aus, eine nach Salpeter riechende Kühle, zuweilen durchweht von einem warmen Odem, der aus dem benachbarten Stalle kam. Vier Stollen öffneten sich hier klaffend.

»Nach dieser Richtung«, sagte Maheu zu Etienne. »Wir sind noch nicht am Ziel; wir haben gute zwei Kilometer zurückzulegen.«

Die Arbeiter trennten sich, verloren sich gruppenweise in der Tiefe dieser schwarzen Höhlen. Ihrer fünfzehn wandten sich nach dem linksseitigen Stollen; Etienne ging als letzter, hinter Maheu, dem Katharina, Zacharias und Levaque vorausschritten. Es war ein schöner Abfuhrstollen, quer durch die Schicht angelegt und von so festem Gestein, daß er nur stellenweise untermauert werden mußte. Einzeln schritten sie dahin, ohne ein Wort zu sprechen, in dem schwachen Lichte ihrer Laternen. Der junge Mann strauchelte bei jedem Schritte; seine Füße blieben in den Schienen stecken. Seit einer Weile ängstigte ihn ein dumpfes Getöse; es war wie das Grollen eines fernen Gewitters, das an Heftigkeit zuzunehmen und aus dem Innern der Erde zu kommen schien. War es der Donner eines Einsturzes, der die ungeheure Masse, die sie vom Tageslichte trennte, in Trümmer legte? Jetzt durchzuckte eine Helle die Nacht, und er fühlte den Fels erzittern. Als er sich gleich seinen Kameraden knapp an die Wand gestellt hatte, sah er vor seinem Antlitz ein großes weißes Pferd vorüberziehen, das vor einen Zug von Hunden gespannt war. Auf dem ersten Hunde saß Bebert und hielt die Zügel, während Johannes, die Fäuste auf den Rand des letzten Hundes gestemmt, mit nackten Füßen hinterdrein lief.

Sie setzten ihren Marsch fort. Weiterhin kam ein Kreuzweg; hier öffneten sich zwei neue Stollen, und der Trupp teilte sich abermals; die Arbeiter verteilten sich nach und nach auf alle Werkplätze der Grube. Der Stollen war hier mit einer Holzvertäfelung versehen; Eichensparren stützten die Decke und bildeten um den leicht einfallenden Felsen eine Verkleidung von Gebälk, hinter der man die Schieferplatten mit ihrem Glimmerglanze und die plumpe, glanzlose, rauhe Masse des Sandsteines sah. Züge voller oder leerer Hunde kamen unablässig vorüber und kreuzten sich mit einem Dröhnen, das sich im Dunkel verlor, wie fortgezogen durch undeutlich sichtbare Tiere in gespensterhaftem Trabe. Auf einem Nebengleise lag einer langen schwarzen Schlange gleich ein Kohlenzug, dessen Pferd schnaubte, dermaßen im Dunkel verborgen, daß das kaum sichtbare Hinterteil des Tieres einem in der Wölbung niedergefallenen Blocke glich. Lüftungstüren öffneten und schlossen sich langsam. In dem Maße, wie man weiter kam, wurde die Galerie immer enger, immer niedriger, mit ungleichem Dache, das die Arbeiter unaufhörlich zwang, sich zu bücken.

Etienne fuhr mit dem Kopfe hart an die Decke. Ohne den Schutz der Lederkappe hätte er sich den Schädel eingerannt. Indes folgte er aufmerksam den geringsten Bewegungen Maheus, dessen dunkler Schattenriß sich bei dem Lichte der Laternen abhob. Keiner der Arbeiter stieß sich, sie mußten jeden Ast an der Verzimmerung, jeden Vorsprung der Bergwand kennen. Der junge Mann litt auch durch den rutschigen Boden, der immer nasser wurde. Zuweilen kam er durch wahre Pfützen, deren Vorhandensein nur durch, das klatschende Geräusch der Füße verraten wurde. Doch hauptsächlich setzte ihn in Erstaunen der plötzliche Temperaturwechsel. Am Grunde des Schachtes war es sehr kühl, und in dem Abfuhrstollen, wo alle Luft der Grube ihren Durchzug hatte, wehte ein eisiger Wind, der zwischen den engen Mauern zu einem heftigen Sturme anschwoll. Je mehr man indes die anderen Wege einschlug, die nur eine spärliche Lüftung hatten, fiel der Wind und stieg die Wärme bis zu einer bleischweren, erstickenden Schwüle.

Maheu hatte den Mund nicht mehr geöffnet. Er bog rechts in einen neuen Stollen ein und sagte bloß zu Etienne, ohne sich umzuwenden:

»Der Wilhelmstollen.«

In diesem Stollen war ihr Bau. Gleich nach den ersten Schritten stieß Etienne überall mit dem Kopfe und den Ellbogen an. Die abschüssige Decke senkte sich so tief hernieder, daß er in einer Länge von zwanzig bis dreißig Metern auf den Knien fortrutschen mußte. Das Wasser reichte ihm bis zu den Knöcheln. So hatte man einen Weg von etwa zweihundert Metern zurückgelegt, als er plötzlich Zacharias, Levaque und Katharina verschwinden sah, die durch einen schmalen Spalt, den er vor sich sah, entschlüpft zu sein schienen.

»Jetzt gilt's emporzuklettern«, sagte Maheu. »Hängen Sie die Laterne in ein Knopfloch und halten Sie sich an der Verzimmerung fest.«

Da verschwand auch er selbst. Etienne mußte ihm folgen. Dieser Kamin in der Ader war für die Arbeiter freigelassen und diente als Zugang für alle Seitenwege. Er hatte die Dichtigkeit der Kohlenschichte, kaum sechzig Zentimeter. Glücklicherweise war der junge Mann von schmächtiger Figur; denn ungeschickt, wie er noch war, rang er sich mit einem überflüssigen Aufwande von Muskelkräften empor, Schultern und Hüften einziehend, an die Hölzer der Verzimmerung sich klammernd, mit Hilfe der aufgestemmten Handknöchel vorwärts strebend. Fünfzehn Meter weiter oben fand man den ersten Seitengang; doch sie mußten weiter, denn der Schlag von Maheu und Genossen befand sich im sechsten Gange, in der »Höhle«, wie sie sagten. Von fünfzehn zu fünfzehn Metern lag ein Gang über dem andern; der Aufstieg wollte kein Ende nehmen durch diesen Spalt, der Rücken und Brust abschürfte. Etienne keuchte, als habe das Gewicht der Felsen ihm die Glieder zermalmt; seine Hände waren zerrissen, seine Beine todmüde, und vor allem fehlte es ihm an Luft, so daß er das Gefühl hatte, als wolle das Blut ihm die Haut sprengen. In einem Seitenwege sah er undeutlich zwei Geschöpfe hocken, ein kleines und ein dickes, die Hunde schoben; es waren Lydia und die Mouquette, schon bei der Arbeit. Er hatte noch, zwei Schläge zu erklettern. Der Schweiß blendete ihn; er verzweifelte daran, die anderen zu erreichen, deren gelenkige Glieder er an dem Felsen dahingleiten hörte.

»Mut, wir sind zur Stelle«, hörte er Katharina sagen.

Doch als er tatsächlich an Ort und Stelle war, rief eine andere Stimme aus der Tiefe des Schlages heraus:

»Was ist's denn? Wollt ihr uns etwa zum besten halten? Ich komme von Montsou, habe zwei Kilometer zurückzulegen und bin der erste am Platze!«

Es war Chaval, ein großer, magerer Mensch von fünfundzwanzig Jahren, knochig, mit scharf ausgeprägten Zügen. Er ärgerte sich, weil man ihn hatte warten lassen.

Als er Etienne bemerkte, fragte er im Tone der Überraschung und Geringschätzung:

»Wer ist denn das?«

Als Maheu ihm die Geschichte erzählt hatte, brummte er zwischen den Zähnen:

»So? Die Burschen essen jetzt das Brot der Dirnen?«

Die beiden Männer tauschten einen Blick aus, in dem der instinktive Haß plötzlich aufflammte. Etienne hatte den Schimpf empfunden, ohne die Bemerkung recht zu verstehen. Es herrschte Stille, und alle gingen an die Arbeit. Die Adern füllten sich allmählich, man war bei allen Schlägen in voller Tätigkeit, in jedem Stockwerk, am Ende eines jeden Minenganges. Der gefräßige Schacht hatte seine tägliche Ration Menschen verschlungen, nahezu siebenhundert Arbeiter, die jetzt in diesem riesigen Ameisenbau arbeiteten und die Erde von allen Seiten durchlöcherten, daß sie aussah wie altes wurmstichiges Holz. Wenn man inmitten der bedrückenden Stille, die hier unter den tiefen Schichten herrschte, das Ohr an den Felsen legte, konnte man die Arbeit dieser in Bewegung befindlichen Menschenkäfer hören, angefangen von dem Flug des Kabels, das die Fördermaschine auf und nieder steigen ließ, bis zu den Schlägen der Werkzeuge, die in der Tiefe der Häue die Kohle aus dem Gestein brachen.

Als Etienne sich umwandte, fand er sich abermals an Katharina gedrängt. Doch diesmal verspürte er die beginnenden Rundungen ihres Busens und erklärte sich auch sogleich die Wärme, die ihn durchdrungen hatte.

»Du bist ein Mädchen?« murmelte er betroffen.

Worauf sie in heiterem Tone und, ohne zu erröten, erwiderte:

»Gewiß ... Aber du hast lange gebraucht, um es zu merken.«


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