Emile Zola
Germinal
Emile Zola

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

In der Schale, die ihn – mit vier anderen zusammengepfercht – in die Höhe führte, beschloß Etienne, seine Hungerwanderung auf den Landstraßen wieder aufzunehmen. Besser sogleich zu verrecken, als wieder in diese Hölle hinabzusteigen, wo man nicht einmal sein Brot erwerben konnte. Katharina war über ihm eingestiegen und saß nicht mehr knapp an seiner Seite mit der wohltuenden Wärme ihres Körpers. Er hielt es für besser, nicht mehr an Torheiten zu denken und seiner Wege zu gehen. Er hatte mehr gelernt als diese Herde und fühlte nicht ihre Entsagung in sich; schließlich werde er einen Vorgesetzten erdrosseln. Plötzlich war er wie geblendet. Der Aufstieg war so schnell vor sich gegangen, daß die Tageshelle, deren er sich schon entwöhnt hatte, ihn nötigte, die Augen zu schließen. Doch war es ihm eine Erleichterung, als er den Aufzugskasten in seinen Ankern sich festsetzen fühlte. Ein Handlanger öffnete die Türe, die Arbeiter sprangen aus den Karren.

»Sag', Mouquet. gehen wir heut' Abend zum »Vulkan«?« flüsterte Zacharias dem Handlanger ins Ohr.

Der »Vulkan« war ein Tingeltangel in Montson. Mouquet blinzelte mit dem linken Auge, wobei ein stilles Lachen ihm die Kinnladen trennte. Klein und dick wie sein Vater, hatte er die freche Nase eines Kerls, der alles verpraßt, unbekümmert um den morgigen Tag. Eben stieg die Mouquette aus, und er versetzte ihr einen kräftigen Schlag auf den Hintern als Zeichen seiner brüderlichen Zärtlichkeit.

Etienne erkannte das hohe Schiff des Aufnahmesaales wieder, der ihm am Morgen im Dämmerlicht der Laternen so beängstigend geschienen. Der Raum war kahl und schmutzig. Ein fahles Licht fiel durch die staubigen Fenster herein. Nur die Maschine mit ihren Kupferbestandteilen funkelte; die mit Fett beschmierten stählernen Kabel flogen wie in Tinte getauchte Bänder; die Räder in der Höhe, das ungeheure Gebälk, das sie trug, die Schalen, die Hunde, all das reichlich verwendete Metall verdunkelte den Saal mit dem harten Grau alten Eisens. Das Rollen der Räder erhielt die Eisenplatten des Fußbodens in fortwährender Erschütterung, während von der heraufbeförderten Kohle ein feiner Staub aufflog, der sich wie schwarzes Mehl auf den Fußboden, auf die Mauern, selbst auf die Balken des Aufzugsturmes legte.

Chaval hatte inzwischen einen Blick auf die Berechnungstafel geworfen, die in dem kleinen Glasverschlage des Aufnahmebeamten hing. Das machte ihn vollends wütend, denn er hatte festgestellt, daß man ihnen zwei Karren zurückgewiesen hatte, die eine deshalb, weil sie nicht die vorgeschriebene Menge enthielt, die andere, weil die Kohle nicht rein war.

»Der Tag ist gut«, rief er. »Wieder zwanzig Sous weniger! ... Warum nimmt man auch Taugenichtse, die sich ihrer Arme so bedienen wie ein Schwein seines Schwanzes.«

Der scheele Blick, den er auf Etienne warf, vervollständigte seinen Gedanken. Etienne fühlte sich versucht, mit Faustschlägen zu antworten. Doch er sagte sich, es sei unnütz, da er nicht bleiben wollte. Dieser Zwischenfall bestärkte ihn vollends in seinem Entschlusse.

»Man trifft es nicht gleich am ersten Tage«, sagte Maheu, um Frieden zu stiften. »Morgen wird er's besser machen.«

Indes waren alle verdrossen, von einem Bedürfnis zu streiten erfüllt. Als sie in die Laternenkammer gingen, um dort ihre Lampen abzugeben, begann Levaque einen Streit mit dem Aufseher, den er beschuldigte, die seine schlecht gereinigt zu haben. Erst in der Baracke, wo das Feuer noch immer brannte, beruhigten sie sich ein wenig. Man hatte den Ofen zu stark mit Kohlen gefüllt, denn er war ganz rot, und der fensterlose Raum schien ganz in Flammen zu stehen, weil der Widerschein der Flammen die Wände blutrot färbte. Die Leute grunzten vor Vergnügen; sie brieten ihren Rücken in entsprechender Entfernung und dampften wie heiße Suppe. Hatten sie sich rückwärts genügend gebraten, wandten sie dem Feuer den Bauch zu. Die Mouquette hatte ganz ruhig die Hose heruntergelassen, um ihr Hemd zu trocknen. Die Burschen trieben ihren Ulk mit ihr und lachten laut, weil sie ihnen plötzlich den Hintern zeigte, was bei ihr der höchste Ausdruck der Verachtung war.

»Ich gehe«, sagte Chaval, nachdem er seine Geräte in seinem Kasten verwahrt hatte.

Niemand rührte sich. Bloß die Mouquette beeilte sich, ihm zu folgen, unter dem Vorwande, daß beide nach Montsou gingen. Doch da fielen neue Späße, denn man wußte, daß er sie nicht mehr mochte.

Katharina hatte inzwischen leise mit ihrem Vater gesprochen. Dieser hörte ihr erstaunt zu, dann nickte er zustimmend mit dem Kopfe. Er rief Etienne herbei, um ihm sein Paket zurückzugeben.

»Hören Sie,« sagte er ihm leise, »wenn Sie kein Geld haben, können Sie bis zum Halbmonatlohn längst verhungert sein... Soll ich Ihnen irgendwo Kredit verschaffen?«

Der junge Mann stand einen Augenblick verlegen da. Er wollte gerade seine dreißig Sous fordern und seiner Wege gehen. Doch angesichts des Mädchens ward er von Scham ergriffen. Sie sah ihn scharf an; vielleicht glaubte sie gar, daß er die Arbeit scheue.

»Ich will Ihnen nichts versprechen,« sagte Maheu weiter; »schlimmstenfalls werden wir eine abschlägige Antwort bekommen.«

Etienne sagte nicht nein. Er werde gewiß eine abschlägige Antwort bekommen, dachte er. Übrigens verpflichtete ihn das zu nichts; er könne ja noch immer weggehen, nachdem er einen Bissen gegessen. Dann wieder verdroß es ihn, daß er nicht nein gesagt, als er die Freude Katharinas sah, die ihm freundschaftlich zulächelte, ganz froh darüber, daß sie ihm zu Hilfe gekommen. Was half ihm aber alldies?

Als die Maheu ihre Holzschuhe an sich genommen und ihre Fächer verschlossen hatten, verließen sie die Baracke und folgten den Kameraden, die einer nach dem andern sich entfernten, nachdem sie sich erwärmt hatten. Etienne schloß sich ihnen an; Levaque und sein Sohn gingen mit demselben Trupp. Doch im Siebwerke wurden sie durch eine heftige Szene zurückgehalten. Es war in einem geräumigen Schuppen mit einem von Kohlenstaub geschwärzten Gebälk und großen Fensterläden, durch die ein fortwährender Luftzug strich. Die Kohlenhunde kamen unmittelbar aus dem Aufnahmesaale hierher und wurden durch die Auslader auf lange Rutschen aus Eisenblech geleert. Bei den Rutschen standen rechts und links auf erhöhten Stufen die Sichterinnen, mit Schaufel und Rechen ausgerüstet, scharrten die Steine beiseite und stießen die reine Kohle in die Trichter hinab, durch welche sie in die Waggons der Eisenbahn fielen, die unter dem Schuppen hinlief.

Hier arbeitete Philomene Levaque, ein mageres, bleiches, schwindsüchtiges Mädchen mit einem Schafsgesicht. Den Kopf mit einem blauen Lappen umwickelt, Hände und Arme schwarz bis zu den Ellbogen, oblag sie der Sichtungsarbeit; sie stand unterhalb einer alten Hexe, der Mutter der Frau Pierron, die Brulé genannt, einem schrecklichen Weib mit den Eulenaugen und den eingekniffenen Lippen, die an den Geldbeutel eines Geizigen erinnerten. Sie lagen im Streit miteinander; die Junge beschuldigte die Alte, daß sie ihr die Steine wegnehme, so daß sie in zehn Minuten nicht einen Korb voll zusammenbringe. Man bezahlte sie nämlich nach Körben. Da gab es denn endlosen Zank und Hader; die Zöpfe flogen, die Hände zeichneten sich in schwarzen Flecken auf dem roten Gesichte der Gegnerin ab.

»Gib ihr doch eins in die Fratze!« rief Zacharias von oben seiner Geliebten zu.

Alle Sichterinnen lachten. Doch die Brulé wandte sich jetzt giftig gegen den jungen Mann.

»Du Schweinekerl tätest besser, die zwei Bälge anzuerkennen, die du ihr gemacht hast!... Hat man je so etwas gehört!... Eine Hopfenstange von achtzehn Jahren, die sich kaum auf den Beinen erhalten kann!«

Maheu mußte seinen Sohn verhindern hinabzugehen, um sich –- wie er sagte –- die Hautfarbe dieses Gerippes anzusehen. Ein Aufseher eilte herbei, die Rechen versenkten sich wieder in die Kohle. Von der Höhe sah man nichts mehr, als die runden Rücken der Weiber, die sich aufs heftigste die Steine streitig machten.

Draußen hatte der Wind sich plötzlich gelegt; eine feuchte Kälte senkte sich vom grauen Himmel hernieder. Die Grubenarbeiter hoben die Schultern, kreuzten die Arme und gingen in regellosen Gruppen dahin mit einer wiegenden Bewegung der Lenden, die ihre derben Knochen unter der dünnen Leinwandhülle ihrer Kleidung hervortreten ließ. Im Tageslichte sahen sie aus wie eine Bande von Negern, die man in Schmutz getaucht hat. Einige hatten ihren »Ziegel« nicht ganz verzehrt und dieser Brotrest, den sie zwischen Hemd und Jacke zurückbrachten, ließ sie bucklig erscheinen.

»Schau, da ist Bouteloup«, sagte Zacharias grinsend.

Ohne stehen zu bleiben, tauschte Levaque zwei Sätze mit seinem Mieter aus, einem kräftigen Burschen von fünfunddreißig Jahren mit sanftem, biederen Antlitz.

»Ist die Puppe fertig, Louis?«

»Ich glaube.«

»So ist das Weib heute gut?«

»Ja, ich glaube, sie ist gut.«

Andere Grubenarbeiter kamen, die gruppenweise in dem Schacht verschwanden. Es war die Drei-Uhr-Schicht; neue Männer, welche die Grube verschlang, wo sie anstelle der anderen die Arbeit aufnahmen. Niemals feierte die Grube; Tag und Nacht waren menschliche Käfer da, die sechshundert Meter unter den Rübenfeldern in dem Gestein gruben.

Indes gingen die jungen Leute voraus. Johannes vertraute Bebert einen verwickelten Plan an, wie man sich für vier Sous Tabak verschaffen könne. Lydia folgte ihnen in einer respektvollen Entfernung. Katharina ging mit Zacharias und Etienne. Niemand sprach. Vor der Gastwirtschaft »Zum wohlfeilen Schoppen« wurden sie von Maheu und Levaque eingeholt.

»Da ist's«, sagte ersterer. »Wollen Sie eintreten?«

Man trennte sich. Katharina blieb noch einen Augenblick stehen und betrachtete ein letztes Mal den jungen Mann mit ihren großen Augen, die von der grünlich schimmernden Durchsichtigkeit des Quellwassers waren und deren Kristallreinheit durch das schwarze Gesicht noch gehoben wurde. Sie lächelte und verschwand mit den anderen auf dem ansteigenden Wege, der zu dem Bergdorfe hinanführte.

Die Herberge lag zwischen dem Dorfe und der Grube an der Kreuzung der beiden Wege. Es war ein zweistöckiger Ziegelbau, von oben bis unten mit Kalk getüncht, mit einem breiten, himmelblauen Saume um die Fenster. Eine viereckige Tafel über dem Tore trug in gelben Buchstaben die Inschrift: »Zum wohlfeilen Trunk« Rasseneurs Gastwirtschaft. Dahinter lag eine Kegelbahn, die eine lebende Hecke einschloß. Die Gesellschaft, die alles versucht hatte, um dieses zwischen ihre weiten Ländereien eingekeilte Stück Boden zu erwerben, war trostlos wegen dieser Gastwirtschaft, die auf freiem Felde, sozusagen am Eingange des Voreuxschachtes lag.

»Treten Sie ein«, sagte Maheu nochmals zu Etienne.

Die Gaststube war klein, von einer hellen Kahlheit mit ihren weißen Mauern, drei Tischen, zwölf Stühlen und ihrem Schanktisch von weißem Holze, der nicht größer war als ein Küchenschrank. Etwa zehn Schoppen waren aufgereiht, drei Likörflaschen, eine Wasserflasche, ein kleiner Zinkkasten mit zinnernem Hahn für das Bier. Nichts weiter: kein Bild, keine Tafel, kein Spieltisch. In dem blank gefirnißten gußeisernen Kamin brannte langsam ein Kohlenziegel; die Fliesen waren mit einer dünnen Lage Sand bestreut, welche die ewige Feuchtigkeit dieser regennassen Gegend aufsog.

»Einen Schoppen!« bestellte Maheu bei einem starken, blonden Mädchen, der Tochter einer Nachbarin, die zuweilen die Gaststube hütete. –- »Ist Rasseneur da?«

Das Mädchen drehte den Hahn des Bierfasses und erwiderte, der Wirt werde sogleich kommen. Langsam leerte in einem Zuge der Grubenarbeiter die Hälfte des Schoppens, um den Staub hinunterzuspülen, der ihm die Gurgel verlegte. Seinem Begleiter bot er nichts an. Ein einziger Gast war noch da; gleichfalls ein Grubenarbeiter, der beschmutzt und durchnäßt an einem Tische saß und still, nachdenklich sein Bier trank. Jetzt trat ein dritter ein, bestellte mit einer Gebärde sein Bier, trank es aus, zahlte und ging, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

Doch jetzt erschien ein dicker Mann von achtunddreißig Jahren mit einem gemütlichen Lächeln in dem glattrasierten, runden Gesichte. Es war Rasseneur, eine ehemaliger Häuer, den die Gesellschaft vor drei Jahren nach einem Streik entlassen hatte. Er war ein sehr guter Arbeiter und guter Redner; er stellte sich an die Spitze aller Beschwerden und wurde schließlich das Oberhaupt der Unzufriedenen. Seine Frau hielt einen Getränkeausschank gleich vielen Arbeiterfrauen; als er entlassen wurde, blieb er Gastwirt und wußte das nötige Geld zu finden, um eine Wirtschaft zu eröffnen, die er hart vor die Grube hinpflanzte gleichsam als Herausforderung gegen die Gesellschaft. Jetzt gedieh sein Haus, er ward ein Mittelpunkt und bereicherte sich an all dem Groll, den er seinen ehemaligen Kameraden nach und nach eingeblasen hatte.

»Das ist der Bursche, den ich heute morgen angeworben habe«, erklärte Maheu sogleich. »Hast du eine Stube frei und willst du ihm auf einen halben Monat Kredit einräumen?«

In Rasseneurs breitem Gesichte drückte sich sogleich ein großes Mißtrauen aus. Er musterte mit einem Blick Etienne und erwiderte, ohne das mindeste Bedauern zu bekunden:

»Unmöglich; meine beiden Stuben sind besetzt.«

Der junge Mann war auf diese Weigerung gefaßt; dennoch schmerzte sie ihn, und er war selbst erstaunt über den Verdruß, den ihm der Gedanke verursachte, sich wieder entfernen zu müssen. Doch er werde gehen, sobald er seine dreißig Sous habe, dachte er. Der Bergwerksarbeiter, der einsam an einem Tische getrunken hatte, war fort; andere kamen einzeln, um sich die Kehle reinzufegen, und gingen dann mit den nämlichen schaukelnden Schritten ihres Weges. Es war eine bloße Abspülung ohne Genuß und Leidenschaft, die stumme Befriedigung eines Bedürfnisses.

»Also nichts Neues?« fragte der Wirt mit eigentümlicher Betonung Maheu, der in kleinen Schlucken sein Bier austrank.

Dieser wandte den Kopf und sah, daß Etiennee allein da war.

»Es hat wieder einen Streit gegeben«, sagte er. »Ja, wegen der Verholzung.«

Er erzählte den Vorfall. Das Gesicht des Gastwirtes hatte sich gerötet; das Blut schoß ihm in die Wangen und schien durch Haut und Augen hervorbrechen zu wollen. Endlich brach er los.

»Wenn sie sich einfallen lassen, den Preis herabzusetzen, sind sie geliefert.«

Etienne war ihm im Wege. Indes fuhr er in seinen Reden fort, wobei er ihm mißtrauische Blicke zuwarf. Dabei gab es Vorbehalte und Zweideutigkeiten; er sprach vom Direktor, Herrn Hennebeau, von dessen Frau, von dessen Neffen, dem kleinen Negrel, ohne sie zu nennen; er wiederholte, daß es nicht so fortdauern könne, daß es eines Tages in die Brüche gehen müsse. Das Elend sei zu groß; er nannte Fabriken, die den Betrieb einstellten, Arbeiter, die fortzogen. Seit einem Monate verschenke er täglich mehr als sechs Pfund Brot. Gestern habe man ihm erzählt, daß Herr Deneulin, der Eigentümer einer benachbarten Grube, nicht wisse, wie er den Schlag aushalten solle. Übrigens habe er aus Lille einen Brief voll beunruhigender Einzelheiten erhalten.

»Der Brief kommt von der Person, die du eines Abends hier gesehen hast«, sagte er in gedämpftem Tone zu Maheu.

Doch er ward unterbrochen. Seine Frau trat ein, ein großes, mageres, leidenschaftliches Weib mit langer Nase und violett gefleckten Wangen. Sie war in Sachen der Politik weit radikaler als ihr Gatte.

»Der Brief Plucharts!« sagte sie. »Wenn er der Herr wäre, würde bald alles besser gehen.«

Etienne hörte seit einer Weile zu und begriff. Er begeisterte sich für diese Gedanken des Elends und der Vergeltung. Bei diesem plötzlich hingeworfenen Namen fuhr er zusammen und sagte laut wie unwillkürlich:

»Ich kenne Pluchart.«

Man schaute ihn an; er mußte hinzufügen:

»Ja, ich bin Maschinist; er war in Lille mein Werkführer... Ein befähigter Mann; ich habe oft mit ihm gesprochen.«

Rasseneur betrachtete ihn von neuem, und in seinem Antlitz vollzog sich eine rasche Veränderung; ein Ausdruck der Teilnahme war in demselben zu lesen. Endlich sagte er seiner Frau:

»Maheu hat mir diesen Herrn, seinen Schlepper, gebracht und gefragt, ob es für ihn bei uns nicht eine freie Stube und einen halbmonatlichen Kredit gebe?«

Die Angelegenheit ward in wenigen Worten abgeschlossen. Ein Zimmer war frei, der Mieter war eben diesen Morgen fort. Aber einmal im Zuge, ließ sich der Gastwirt immer mehr gehen und wiederholte, er wolle von den Herren nur das Mögliche, ohne – wie so viele andere – Dinge zu fordern, die nur schwer bewilligt werden könnten. Seine Frau zuckte mit den Achseln; sie forderte unbedingt ihr Recht.

»Guten Abend denn«, unterbrach Maheu dieses Gespräch. »All dies wird nicht hindern, daß man in den Schacht einfährt, und solange man einfährt, wird es auch Leute geben, die daran zugrunde gehen... Du bist ein kräftiger Junge geworden seit den drei Jahren, daß du nicht mehr unten arbeitest.«

»Ja, ich habe mich gut erholt«, erklärte Rasseneur selbstgefällig.

Etienne ging bis zur Tür und dankte dem Grubenarbeiter; doch dieser schüttelte nur den Kopf, ohne ein Wort mehr hinzuzufügen. Der junge Mann sah ihn mühsam den Weg zu dem Bergdorfe hinansteigen. Mit der Bedienung von Gästen beschäftigt, bat ihn Frau Rasseneur, einen Augenblick sich zu gedulden, bis sie ihn auf seine Stube geleite, wo er sich waschen könne. Sollte er dableiben? Er ward wieder von einem Schwanken ergriffen, von einem Unbehagen, das ihn die Freiheit der Heerstraßen bedauern ließ, das Hungern im schönen Sonnenschein, das er mit dem freudigen Bewußtsein ertrug, sein eigener Herr zu sein. Ihm war, als habe er Jahre hier verlebt seit seiner Ankunft bei dem Schachte, umbraust vom Sturmwind, bis zu den Stunden, die er unter der Erde, in den schwarzen Galerien auf dem Bauche herumkriechend, zugebracht hatte. Es widerstrebte ihm, dies von vorne zu beginnen; es war ungerecht und zu hart; sein Mannesstolz empörte sich bei dem Gedanken, ein Tier zu sein, das man blendet und vernichtet.

Während Etienne so mit sich selbst kämpfte, irrten seine Augen über die endlose Ebene und fanden sich darin allmählich zurecht. Er war erstaunt; er hatte sich den Horizont nicht so vorgestellt, als der alte Bonnemort ihn, noch in Finsternis gehüllt, mit den Bewegungen seines Armes gezeigt hatte. Vor ihm lag allerdings der Voreuxschacht in einer Falte des Bodens mit seinen Holz- und Ziegelbauten, dem geteerten Sichtungswerke, dem mit Schiefer gedeckten Schachtturme, dem Maschinenraum und dem mattroten Schornstein, gedrückt und von abstoßendem Aussehen. Rings um die Gebäude dehnte die Anlage sich aus, und er hätte sie sich nicht so geräumig gedacht, einem See von Tinte gleich wegen der wellenförmig ansteigenden Massen der Kohlenvorräte, mit hohen Gerüsten, über welche die Schienen liefen, und mit dem Holzvorrat, der einen ganzen Winkel des Raumes einnahm, als habe man einen gefällten Wald dort abgelagert. Zur Rechten schnitt der Berg den Ausblick ab, kolossal wie eine Riesenbarrikade, auf dem alten, nicht mehr bebauten Teile schon mit Gras bedeckt, am andern Ende durch ein inneres Feuer verzehrt, das seit einem Jahre mit dichtem Rauche brannte und an der Oberfläche mitten in dem matten Grau des Schiefers und der Steine lange, rote, rostige Streifen zurückließ. Darüber hinaus zogen die Felder sich hin, endlose Getreide- und Gemüsefelder, zu dieser Jahreszeit ganz kahl; Sümpfe mit spärlichem Pflanzenwuchs, durchschnitten von einigen zwerghaften Weiden; ferne Wiesen, durch vereinzelte Pappelreihen voneinander gesondert. Kleine, weiße Flecke in großer Entfernung zeigten die Lage von Städten an; im Norden Marchiennes, im Süden Montsou; im Osten schloß der Wald von Vandame mit der violetten Linie seiner kahlen Bäume den Horizont ab. Unter dem fahlen Himmel schien es in dem trüben Lichte dieses Winternachmittages, als habe alles Schwarz des Voreuxschachtes, all der fliegende Kohlenstaub sich auf der Ebene gelagert und die Bäume, die Straßen, den Erdboden überzogen.

Etienne schaute hinaus. Am meisten überraschte ihn ein Kanal, der kanalisierte Scarpefluß, den er in der Nacht gar nicht gesehen hatte. Dieser Kanal lief in gerader Linie vom Voreuxschachte nach Marchiennes wie ein zwei Meilen langes Band von mattsilberner Farbe, eine Wasserstraße, die von großen Bäumen eingesäumt war, hoch über dem Tieflande dahinfloß und sich in der Endlosigkeit verlor mit ihren grünen Böschungen und ihrem matt schillernden Wasser, in dem die rot gestrichenen Boote dahinglitten. In der Nähe der Kohlengrube befand sich ein Landungsplatz mit verankerten Lastschiffen, welche die auf die Brückenstege geschobenen Karren unmittelbar füllten. Weiterhin machte der Kanal eine Biegung und durchschnitt quer die Sümpfe. Die ganze Seele der flachen Ebene schien in diesem in geometrisch genauen Linien dahinfließenden Wasser zu liegen, das sie wie eine Heerstraße durchzog, auf der Kohle und Eisen verfrachtet wurden.

Die Blicke Etiennes wandten sich von dem Kanal dem Arbeiterdorfe zu, das auf der Hochebene erbaut war, und von dem er nur die roten Ziegeldächer sah. Dann wandten sie sich wieder dem Voreuxschachte zu und blieben am Fuße des lehmigen Abhanges an zwei riesigen Haufen von Ziegeln haften, die an Ort und Stelle geformt und gebrannt wurden. Eine Abzweigung der gesellschaftlichen Eisenbahn verlief hinter einer Verplankung und diente den Zwecken der Kohlengrube. Die letzten Grubenarbeiter wurden hinabgelassen; ein einziger, von Männern geschobener Waggon rollte mit lautem Kreischen über die Schienen. Zerstoben war die Unsicherheit der nächtlichen Finsternis, das unerklärliche Rollen, das Aufflammen unbekannter Gestirne. Die Hochöfen und Koksöfen in der Ferne waren mit der Morgendämmerung erblichen. Nur die Dampfausströmung der Pumpe arbeitete fort mit ihrem lauten, langen Atemzug, dem Atem eines Ungeheuers, dessen grauen Dunst er jetzt zu unterscheiden vermochte, und das durch nichts gesättigt werden konnte.

Da entschied sich Etienne mit einem Schlage. Vielleicht hatte er die hellen Augen Katharinas da oben am Eingang des Arbeiterdorfes wiederzusehen geglaubt. Vielleicht war es nur ein Zug des Aufruhrs, der ihm vom Voreuxschachte zugeweht kam. Er wußte es nicht. Er wollte wieder in die Grube hinab, um zu leiden und zu kämpfen; in heftiger Aufwallung gedachte er der Leute, von denen Bonnemort gesprochen, des gesättigt dahockenden Gottes, dem zehntausend Hungernde ihr Fleisch gaben, ohne ihn zu kennen.


 << zurück weiter >>