Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Zu Hunderten drängte sich das Publikum, plaudernd und schwatzend und in seiner fast fieberhaften Erregung noch unter dem Banne der begeisterten Beifallssalven stehend, mit denen an diesem Abend der gastierende Sänger förmlich überschüttet worden war, durch die weit geöffneten Flügelthüren über die Freitreppen hinab in den feenhaft erleuchteten Garten des Krollschen Etablissements.

Es war ein wundervoller Juniabend – warm wie im Hochsommer, doch nicht schwül, da sich ein leiser Wind aufgemacht hatte, der sein schäkerndes Spiel mit den tausenden von Gasflammen trieb, die aus den Girandolen und Blumenkelchen, den schwebenden Guirlanden und Kandelabern des Gartens strömten. Eine unzählbare Menge promenierte zu den Klängen zweier Regimentskapellen über die mit farbigem Kies bestreuten Wege. Das Theater war ausverkauft gewesen, wie gewöhnlich um diese Jahreszeit, wo die Königliche Oper bereits geschlossen ist, die Konzertsaison ihr Ende erreicht, 471 die musikliebende Welt aber noch nicht ihren Schwalbenflug an das Gestade der See und in die Ozonluft der Berge unternommen hat. Der gute alte »Troubadour« war angekündigt gewesen und in der Titelrolle als erstes theatralisches Debüt ein junger Sänger, dessen Namen kein Mensch kannte, von dem noch nie jemand aus dem großen Publikum irgend etwas gehört hatte. Merkwürdigerweise hatte sich auch die Reklame dieses Herrn Fiedler so gut wie gar nicht angenommen, nur in einem, lediglich in Theaterkreisen gelesenen Fachblatte, der von der Merkelschen Agentur herausgegebenen »Posaune«, waren kurz hintereinander einige Notizen erschienen, die von den abenteuerlichen Lebensschicksalen des neuen Tenors in geheimnisvoller Andeutung sprachen, von seinem Können aber nichts verrieten. Die großen Tageszeitungen hatten sich darauf beschränkt, das Auftreten des Debütanten in wenigen Worten anzukünden.

So brachte der heutige Theaterabend bei Kroll dem Publikum eine um so größere Überraschung. Das sympathische Äußere des Debütanten gewann ihm von vornherein die Gunst der zahlreich erschienenen Damenwelt, und schon der Antrittsarie folgte ein stürmischer Applaus. Die Kritiker, die in den ersten Reihen des Parketts mit ernster und wichtiger Miene auf ihren kurulischen Sesseln Platz genommen hatten, hoben erstaunt die Köpfe, ließen das Plaudern sein und wurden aufmerksamer.

»Nanu?« sagte der alte Professor Triesel zu dem neben ihm sitzenden Kollegen vom Tageblatt, »wat is denn det? (Triesel kokettierte mit seinem Berliner Dialekt wie einst der selige Wrangel.) Det is ja Stimme! . . . 472 Wie heeßt der Kerl?« . . . und er beugte den lockenumwallten, kolossalen Kopf tief auf den Theaterzettel herab.

Es kam aber noch anders. Der Applaus des Publikums wurde zur Begeisterung, und die Begeisterung zum Sturm, als der Vorhang nach dem zweiten Akte die Scene schloß. Der Erfolg war ein großer und ein unbestrittener – Publikum und Kritik waren einmal einig wie selten.

Im ersten Nebensaale erholten sich in der kleineren Zwischenpause die Herren Recensenten am Büffett. Dort stand auch Calliano mit geblähter Brust, die Unterlippe stolz gekräuselt, Triumph im blühenden Antlitz, und neben ihm in maßloser Erregung der kleine Merkel.

»Sagen Sie, was Sie wollen!« krähte der Agent, »an einen solchen Erfolg haben Sie selbst nicht gedacht! – Geben Sie mir noch eine Selters, Fräulein – Gott, was bin ich aufgeregt!«

Calliano lächelte großartig. »Ich bin meiner Sache stets sicher,« entgegnete er, »ich wußte, was ich wußte – der Fiedler ist ein Phänomen. Das ist er! Was, Herr Professor, ist er das?«

»Nu nee,« gab der alte Triesel zurück und trat näher, »en Phänomen is er nu jrade nich, aber er hat wat – det läßt sich jar nich leugnen! Er kann ooch wat, wenn ick ihm ooch 'nen bißken mehr Schule wünschte« . . .

»Herr Professor,« erwiderte Calliano gekränkt, »Fiedler hat bei uns studiert, und wenn Sie wüßten, in welch' kurzer Zeit wir ihn in die Höhe gebracht, mit welcher Schnelligkeit wir an seiner Ausbildung gearbeitet 473 haben, dann würden Sie anders sprechen! Daß er immer noch nachlegen muß, bestreite ich nicht – dafür giebt er sich auch nicht als Virtuosen, sondern als ein Sänger, der sich in allen Sätteln zurecht findet. Ist er noch kein bedeutender Künstler, so wird er es sicher einmal werden.«

»Wenn ihm nicht der Größenwahn zu Kopf steigt und er sich vor der goldgierigen Ausbeutungssucht der sehr geschätzten Herren Impressarii hütet,« bemerkte einfallend ein jüngerer Kritiker. »Es wäre schade, wenn diese Fülle von Begabung im Virtuosentum unterginge!«

»Davor schützt ihn sein ehrliches Streben,« fiel Calliano eifrig ein, »und mehr als das die Harmonie seiner Begabung, die nicht auf Bravourstückchen und brillierende Mätzchen angewiesen ist und nicht in blendenden Einzelheiten zerflattert!«

»Nein – nicht in blendenden Einzelheiten zerflattert,« repetierte der kleine Merkel in voller Erregung.

»Det mag ja allens wahr sin,« nickte Professor Triesel, »ick wünsche dem jungen Mann ooch allens Jute und wer' mich janz jewiß lobend über ihn aussprechen! Ick kann nich anders sagen: er hat mir jefallen – seine Stimme, seine Erscheinung, sein schlichtes Auftreten, det bei allen Erfassen seiner Rolle nischt Theatralisches an sich hat, hat unjemein sympathisch auf mich einjewirkt« . . .

»Sympathisch – das ist der richtige Ausdruck,« warf der jüngere Kritiker, der den älteren Kollegen gern ein wenig aushorchte, zustimmend ein; »seine Stimme ist frisch, ausgiebig, klangvoll, tüchtig geschult – das haben wir bei andern Anfängern auch konstatieren können – aber den meisten fehlte das, was Fiedler in entschiedenem Maß besitzt: das Sympathische – die Seele – das aus der Tiefe Quellende« . . .

Er nickte sich selbst zu und notierte die Ausdrücke in seinem Taschenbuche, während der kleine Merkel plötzlich mit verzücktem Gesicht den Zeigefinger erhob:

»Meine Herr'n – der dritte Akt beginnt! Auf die Plätze! Auf die Plätze, sonst stören wir!« . . .

In der linken Prosceniumsloge saßen Fanny, Otto und dessen blondzöpfige kleine Braut. Fanny war für das Deutsche Theater auf vorläufig drei Jahre als erste tragische Heldin fest engagiert worden. Da sie bis zur Eröffnung der neuen Saison in ihrer freien Zeit unbeschränkt war, so hatte sie es als selbstverständlich betrachtet, dem ersten Bühnenversuche des Jugendfreundes beizuwohnen. Mit zitterndem Herzen und einem Angstgefühle, wie es sie damals bedrückt, als sie selbst zum erstenmale vor die Rampe getreten, saß sie an der Logenbrüstung und wartete, während sich hinter ihr Otto und Martha verliebte Dinge ins Ohr flüsterten, auf das Erscheinen Manricos. Der glänzende Sieg des Debütanten erfüllte sie mit grenzenloser Freude. Mit fiebernden Wangen und blitzenden Augen verfolgte sie, ohne sich zu rühren, jede seiner Bewegungen, und wenn er sang, klopfte ihr Herz, daß sie jeden Schlag zu hören vermeinte.

Seit die beiden sich wiedergefunden, waren sie häufig, in der letzten Zeit fast täglich zusammengekommen. Fritz hatte oft in Fannys Wohnung gesungen, und er hatte ihr in Bezug auf das Dramatische des 475 Vortrags manch guten Rat zu verdanken. Sie kannte also bereits seine Stimme und wußte, daß er bestehen würde. Einen so geräuschvollen, so stürmischen Erfolg aber hatte sie nicht erwartet, obwohl sie ihn sich erklären konnte. Es war gewissermaßen eine Demonstration des Publikums gegen das Virtuosentum, gegen jenes nomadisierende Künstlervolk, das aus der Kunst ein Kunststück macht und über die Einseitigkeit glänzender Paradeeffekte nicht hinauskommt. Fritz trat als ein tüchtiger Sänger vor die Lampen und das Publikum war überrascht. Vielleicht hatte man eines jener »hohen C-Talente« (Professor Triesel nannte sie so) erwartet, die entdeckungslüsterne Impressarii von Zeit zu Zeit von den Kutscherböcken herabzuholen pflegen und in deren kurzer, überhasteter Ausbildung der einzige Wert auf eine übertriebene Schulung der Effekttöne gelegt wird – eine jener ephemeren Künstlererscheinungen, wie sie gerade diese Bühne mit Vorliebe an sich heranzog. Statt dessen hörte man einen jungen Sänger, dessen Stimme in allen Tonlagen gleich wohllautend klang, gleich gute Schule verriet, der sich auch als tüchtiger Schauspieler erwies und sich von allen jenen Mätzchen freihielt, die gewissermaßen schon zum ständigen Inventar der bei Kroll gastierenden Heldentenore gehörten. Und das Publikum zeigte, daß es noch Geschmack und Gefühl für das einfach Schöne und das von jedem raffinierten Putz befreite Gute besaß, und klatschte dem glückstrahlenden Sänger immer von neuem Beifall.

Nur Fanny rührte die Hände nicht. Sie hörte auch kaum die Worte begeisterten Lobes und die Ausrufe der 476 Überraschung, die Otto und Martha ihr zuraunten – sie war wie benommen von dem Glückssegen, der auf Fritz herabrauschte und der auch sie traf. Sie fühlte sich ihm urplötzlich näher gerückt als bisher; der edle und lautere Fundus seiner Kunst stellte sie gewissermaßen geistig noch dichter an ihn heran . . . Einmal, am Schlusse des zweiten Akts, als er zum so und so vielten Male vor dem Vorhang erschienen war, um sich dankend zu verbeugen, streifte sein Blick suchend auch nach der linken Prosceniumsloge empor. Und da nickte sie ihm zu, und er sah es an ihrem Auge, wie beglückt sie war; sie aber wäre am liebsten zu ihm hinabgestiegen, hätte seine Hand erfaßt und einmal über das andre gesagt: »Du guter großer Junge – wie ich mich freue – wie ich mich freue!« . . .

Nun war die Vorstellung beendet und Fritz hatte sich zum letztenmale vor dem Publikum verneigt. Ein fast drückendes Gefühl taumelnden Glücks im Herzen, kehrte er in seine Garderobe zurück, wo er bereits von Direktor Elgers, sowie von Pietzker, dem Oberregisseur, und von Swantien, dem Theatersekretär, in feierlicher Gruppe erwartet wurde. Der dicke Elgers that tiefgerührt und flog Fritzen, um ihn zu umarmen, wie eine Bombe auf den Leib, schüttelte ihm dann beide Hände und sprach ihm endlich in wohlgesetzten Worten seine Glückwünsche zu dem Erfolge des 477 Abends aus; dabei glänzte von seinem feisten Gesicht eitel Wohlwollen und die gefärbten Favoris zitterten zu jedem Worte, das er hervormauschelte. Oberregisseur Pietzker und der Sekretär Swantien ließen es sich selbstverständlich nicht nehmen, gleichfalls ihre Gratulation anzubringen – dann kam aber die Hauptsache. Swantien zog ein verdächtig aussehendes Papier aus der einen, ein kleines Reisetintenfaß und einen zusammenschiebbaren Federhalter aus der andern Tasche, legte alles dies auf den Garderobentisch und machte dann ein Kompliment vor Fritz, begleitet mit einer Handbewegung, die zu sagen schien: »Seien Sie so gut, lieber Herr« . . . »Es ist der neue Kontrakt,« lächelte der Direktor, »wir können nun ja getrost fest abschließen« . . . und der Regisseur fügte hinzu: »Gewiß, gewiß – das können wir beruhigt« . . .

Es war Fritzen sehr angenehm, daß es in diesem Augenblicke an die Thür klopfte und draußen die Stimmen Callianos und des kleinen Merkel laut wurden.

»Heil dir, du Sänger größter, du edler Fiedeleer!« gröhlte Calliano, und das feine Stimmchen Merkels kam piepsend hinterher: »Dürfen wir hineinkommen, bester Herr – wir wollen gern die ersten sein, Ihnen die Hand zu drücken! Gott, was bin ich aufgeregt!«

Direktor Elgers wurde sichtlich verstimmt und winkte seinem Sekretär, den Kontrakt wieder einzustecken; Swantien that es mit betretener Miene und Pietzker wurde gleichfalls verlegen. Calliano machte ein erstauntes Gesicht, als er die Gruppe sah, aber der kleine Agent mochte etwas von den Absichten der löblichen Direktion wittern, denn er wandte sich, nachdem er Fritz 478 überschwänglich begrüßt hatte, sofort an Elgers und sagte mit pfiffigem Lächeln:

»Na, Direktorchen, wie wär's mit einem Engagement für die Sommersaison? Rattatata – das wär' so 'was! Aber diesmal müssen Sie gehörig bluten, für einen Pappenstiel kriegen Sie den Fiedler nicht, dafür werden wir schon sorgen!«

Inzwischen hatte es von neuem an die Thür geklopft.

»Herr Fiedler, – ach entschuldigen Sie, Herr Fiedler,« ließ sich die Stimme des Theaterdieners vernehmen, »Herr Mayer Ball möchte Sie gern einmal sprechen« . . .

Der kleine Merkel wieherte auf. Mayer Ball war auch ein Theateragent – sein erbittertster Konkurrent. »Zu spät, mein guter Herr Ball,« jubelte Merkel, »das Vögelchen läßt sich nicht mehr fangen!«

». . . und der Herr Professor Triesel wartet im Konversationszimmer,« fuhr der Theaterdiener mit neuem Anpochen fort, »er wünscht, Herrn Fiedler kennen zu lernen, hat er gesagt. Dann sind auch noch zwei Dienstleute da, – mit einem Korbe Champagner – wo soll denn der hingesetzt werden?« . . .

»Den werde ich in Verwahrung nehmen,« lachte Calliano – und dann klopfte es abermals.

»Entschuldigen Sie, Herr Fiedler, ich muß noch 'mal stören, – da sind noch zwei andre Herren, die Sie sprechen wollten – ein kleiner dünner und ein großer dicker . . . Der eine heißt Mauseloch oder so ähnlich – soll ich die auch ins Konversationszimmer schicken –? Und dann sind eine Masse Karten abgegeben worden – 479 und ein Lorbeerkranz, – und der Vorsitzende des Vereins Gelbe Schleife möchte sich gern mit Ihnen in Verbindung setzen wegen – na, wegen 'was war's denn gleich« . . .

Fritz hielt sich die Ohren zu.

»Lassen Sie mich in Ruhe!« schrie er zurück. »Calliano, thun Sie mir den Gefallen und sagen Sie aller Welt, daß ich heute nicht mehr zu sprechen wäre! Und nun, meine Herren, gestatten Sie mir gütigst, daß ich mich erst einmal umkleide und meine Menschheit wechsle. Dann können wir weiter miteinander verhandeln.«

Die Fünf räumten die Garderobe und Fritz zog den Manrico aus. Er war erschöpft und sehnte sich nach einer behaglichen Ruhestunde, wie er sie mit Otto, Fanny und Martha verabredet hatte. Aber die Ruhe sollte noch nicht kommen. Im Konversationszimmer wartete seiner noch ein Dutzend Leute, die sich nicht abweisen lassen wollten: Theateragenten, die ihn mit Anträgen aller Art so lange bestürmten, bis er grob wurde, – Reporter, die sich einige Mitteilungen über seine bisherige Thätigkeit, von seiner Geburt ab bis zum heutigen Abend, erbaten, – der Zeichner eines illustrierten Klatschblattes, des »Moment-Photographen«, der um seinen Charakterkopf behufs zinkographischer Vervielfältigung in vierzigtausend Exemplaren (notariell beglaubigte Auflage!) ersuchte, – einige begeisterte Zuhörer, die ihn Maëstro titulierten, der Vorsitzende des Gesang-Vereins Gelbe Schleife, der sich zufällig unter dem Publikum befunden hatte und Fritz zu einer Privatsoiree auffordern wollte, ein Mensch, 480 der sich als passionierter Autographensammler vorstellte und um den Namenszug der neuen Berühmtheit bat – – außerdem noch der alte Montevero, der in aller Schnelligkeit einen Korb seines Champagners hatte kommen lassen, um ihn Fritzen zu verehren, ferner der kleine Mausebrei, der sich vor Freude wie ein Wahnsinniger geberdete, und hinter dessen zappliger Persönlichkeit Fritz auch das unangenehme Gesicht des Agenten Rennerke aus der ›Springenden Münze‹ auftauchen sah . . .

Schließlich wurde es dem Gefeierten zu viel. Die meisten der Anwesenden waren ihm gleichgültig oder nichts weniger als angenehm, – er machte daher kurzen Prozeß, verbeugte sich mit liebenswürdiger Miene vor der Gesamtheit und sagte: »Nun muß ich aber um Vergebung bitten, meine Herren – ich werde erwartet« . . . und dann war er aufatmend hinter der Thür.

Vor dem großen Portale schritten schon seit über einer Stunde Fanny, Otto und Martha auf und nieder. Otto war so aufgeregt, als ob er selbst einen glänzenden Sieg 481 erfochten hätte, und erging sich in allerhand Scherzen, über die seine Braut jedesmal mit silbernem Kichern quittierte. Fanny war still – aber als sich Fritz endlich im Schatten des Portales zeigte, da war sie die erste neben ihm und drückte seine Hände, und ihre glänzenden Augen sprachen mehr als ihr Mund.

Otto fiel Fritz jubelnd um den Hals.

»Hosianna, mein Sohn, – ich gratuliere tausendmal! Bei allen Göttern, was bin ich stolz, einen so berühmten Freund zu besitzen! Marthel, komm' her und gieb ihm auch einen Kuß – er hat ihn verdient! Aber bloß einen!« –

Dann stieg man zu viert in eine Droschke und fuhr in die Stadt. Vor dem nächsten Telegraphenamte wurde angehalten; Fritz hatte Tom Price, mit dem er nach wie vor in regem Briefverkehre stand, versprochen, ihm sofort über den Ausfall seines ersten Debüts zu berichten, und er konnte wahrheitsgemäß telegraphieren: »Glänzender Sieg – dein glücklicher Fritz« . . .

In einem Kabinett bei Uhl unter den Linden wurde soupiert. Fritz hatte das Menü bestellt: Hummern, Rehrücken und Eis, dazu Roederer carte blanche. Das hatte er bei Spirius und Aalkrug gelernt. Der Gastgeber und Fanny genossen wenig, dafür waren Otto und Klein-Marthchen bei vortrefflichem Appetit. Als der Champagner in den Schalen perlte, schlug Otto an sein Glas und stand mit feierlicher Miene auf – er hatte noch eine wichtige Neuigkeit in petto, die er sich für diese Stunde des Beisammenseins aufgehoben hatte. Er machte es kurz.

482 »Meine Herrschaften,« sagte er, »es war einmal ein Kantorsjunge, als der noch klein war, war er schon recht groß. Aber das war nur äußerlich. Als er noch größer wurde, wurde er leider wieder kleiner. Und das war innerlich. Nun aber ist die Zeit gekommen, wo sein innerer Mensch sich mit dem äußeren ausgeglichen hat, und da der heutige Abend gewissermaßen als Brennpunkt dieses Ausgleichs bezeichnet werden muß, so schlage ich vor: der Kantorsjunge lebe hoch!«

Unter Lachen und Scherzen klangen die Gläser zusammen. Otto aber setzte sich noch nicht. Er behielt seine feierliche Miene bei, zog einen Brief aus der Tasche und entfaltete ihn.

»Ich habe noch eine Mitteilung erfreulichen Inhalts,« fuhr er fort. »Fanny, halte dich bitte mit beiden Händen an der Tischplatte fest, damit du nicht umfällst, denn die Mitteilung betrifft dich. Ich habe heute abend einen Brief von Vatern aus Klein-Busedow erhalten, der hat folgende Nachschrift: ›Mutter und deine Geschwister bringen mich noch um von wegen der Fanny. Nun bin ich zwar leider ein Komödianten-Vater, will mich aber nicht als solcher geberden. Ich komme am Dienstag nach Berlin; sage der Fanny, daß ich mich freuen werde, sie wiederzusehen‹« . . .

Marthchen jauchzte auf und schwang ihr Glas. Fanny aber war leichenblaß geworden, und dann sprang sie empor, riß Otto den Brief aus der Hand und las die Nachschrift selbst noch einmal durch – Wort für Wort. Da stand es – in der großen, eckigen und ungefügen Handschrift des Vaters: »sage der Fanny, daß 483 ich mich freuen werde, sie wiederzusehen.« . . Und da schossen ihr plötzlich die Thränen ins Auge – sie schluchzte leise auf vor seliger, bebender Freude.

Es waren glückliche Stunden. –

In die sonnigen Traumbilder, die in dieser Nacht durch Fritzens Schlummer zogen, floß auch eine wehmütige Erinnerung hinein. In frischer Deutlichkeit rief sich ihm jener Abend in das Gedächtnis zurück, da er als Telamone neben der Karyatidengestalt Carmellas auf den Brettern der Arène d'hiver stand, und im Traume sah er noch einmal, wie seine Gefährtin unter der fallenden Eisenlast blutend zusammenbrach . . . Ein Strahl hellen Mondenlichts, der quer über seine Augen fiel, weckte Fritz, und als er, den Kopf in der Hand gestützt, daran dachte, wie seltsam es doch gewesen, daß er gerade heute, wo seine Seele so von Frohsinn erfüllt, von jenem tragischen Geschehnisse habe träumen müssen, da kam ihm unwillkürlich eine symbolische Deutung jenes Traumbildes zu Sinn.

Wir sind allesamt Telamonen und Karyatiden, aber nur der Schwache und Geschicklose bricht unter der Last zusammen, die das Schicksal uns auf die Schultern häuft.

* * *

Am nächsten Vormittage klingelte Fritz, einen kleinen Packen Zeitungen unter dem Arme, schon ziemlich frühzeitig an der Wohnung Fannys.

»Sagen Sie dem Fräulein, ich müßte sie sprechen,« rief er dem öffnenden Mädchen entgegen, »– nur auf 484 zehn Minuten meinetwegen, aber sprechen muß ich Fräulein Ohlden!«

Er wurde in den kleinen Salon geführt, der an das Boudoir Fannys anstieß. Sie selbst erschien nach einer Viertelstunde in so strahlender Morgenfrische, als sei der gestrige Abend nicht bis weit über die Mitternachtsstunde ausgedehnt worden.

»Schon ausgeschlafen?« fragte sie und streckte Fritz die Hand entgegen.

»Längst – und du?« Er schaute mit entzücktem Blick zu ihr auf. »Thörichte Frage – man braucht dich nur anzusehen! Was bist du schön, Fanny!«

»Aber Fritz!« lachte sie. »Hast du deshalb deinen Morgenschlummer abgekürzt, um mir eine hausbackene Schmeichelei zu sagen?«

»Nein, doch nicht! Um etwas Selbstverständlichem willen hätte ich ruhig weiter geschlafen! . . . Ich bin glückselig, Fanny! Ich habe mir natürlich sofort diejenigen Zeitungen gekauft, die schon in der Morgennummer über die Ereignisse des Abends zu berichten pflegen. Herrgott, bin ich gelobt worden! Schamrot hätte ich eigentlich bei der Lektüre werden müssen! Da – hier! Das Tageblatt schildert mich als einen ›Künstler, der Anwartschaft darauf hat, einst in der Reihe der berühmtesten Tenoristen unserer Zeit genannt zu werden‹! Das Kleine Journal spricht von ›tiefer Seele im Gesange‹, von einem ›Urquell des Schönen‹ und so weiter. Die Morgenzeitung hält mich für einen ebenso hervorragenden Schauspieler wie Sänger und macht die Intendanz der Hofbühnen auf mich aufmerksam. Am meisten hab' ich mich aber über 485 die kurze Kritik Triesels gefreut! Professor Triesel ist in musikalischen Dingen maßgebend – sein Wort fällt gewaltig in die Wagschale. Hör' nur zu!«

Und er las:

»›In der gestrigen Troubadour-Vorstellung bei Kroll lernten wir zu unsrer Freude in Herrn Friedrich Fiedler einen neuen, jungen Tenoristen kennen, dessen vortreffliche Mittel zu hohen Erwartungen Berechtigung geben. Schon in dem hinter der Scene gesungenen Cis-moll-Ständchen des ersten Aktes überzeugte uns die Mühelosigkeit, mit welcher der Debütant in der nun einmal (wenn auch leider) üblich gewordenen hohen Variante des Schlusses das eingestrichene B in prächtiger Klangfarbe hervorbrachte, von dem ebenso umfangreichen wie gediegenen Material seiner stimmlichen Mittel. Der Glanzpunkt der Leistung war natürlich die Stretta des dritten Aktes. Die sechzehntel Figuren des Motivs kamen in so sicherer Klarheit heraus, wie das nur bei tüchtiger Schulung zu erreichen ist. Selbstverständlich fehlte auch das unvermeidliche eingestrichene C am Schlusse nicht, doch wollen wir gern konstatieren, daß auch diese Bravourleistung sich dem Ganzen harmonisch einfügte und in keiner Weise auf den Zuhörer wie ein virtuosenhaftes Mätzchen wirkte. Überhaupt ist der treffliche Ausgleich der Stimmregister bei dem jungen Manne besonders zu schätzen; die Mittellage ist nicht, wie bei den meisten sogenannten Bravour-Tenoristen auf Kosten der Höhe vernachlässigt, – selbst bis zu dem kleinen e herunter klingt das Organ schön und männlich. Verständige Auffassung nach musikalischer und dramatischer Seite hin, sowie eine vorteilhafte 486 Persönlichkeit unterstützten den Erfolg auf das glücklichste‹« . . .

Und Fritz schaute mit strahlendem Gesicht von dem Blatte auf.

»Nun – was sagst du dazu?«

»Nichts weiter, als: ich freu' mich von ganzem Herzen – die Wiederholung dessen, was ich dir schon gestern abend ein dutzendmal gesagt habe!« – Sie ließ sich auf der Chaiselongue nieder und zeigte auf das daneben stehende Taburett. »Nun setz' dich einmal hübsch artig zu mir, Fritz, und zügle deine glückliche Erregung ein klein wenig. Ich möchte ein vernünftiges Wort mit dir sprechen. Laß nur die Zeitungen ruhig liegen – ich nehme sie dir nicht fort . . . So! – Willst du vorläufig bei Kroll bleiben?«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Willst du ein andres Engagement annehmen? Du sagtest mir gestern abend, Merkel hätte etwas von Dresden verlauten lassen« . . .

»Ich weiß es noch nicht.«

»Mein Gott, du mußt dich aber doch irgendwie entschließen, – dir eine feste Position an einer besseren Bühne zu schaffen versuchen!«

»Ich weiß es wahrhaftig noch nicht!«

Fanny zog die Stirn in unmutige Falten und lachte dann fröhlich auf.

»Das ist köstlich!« rief sie. »Fritz – ich bitte dich, entnüchtere dich ein wenig aus deinem Freudenrausche und überlege einmal gemeinsam mit mir, was sich am besten mit dir anfangen läßt!«

487 Nun lachte auch Fritz.

»Gut – überlegen wir's,« meinte er. »Zuvor aber noch eine Mitteilung, die dich in Erstaunen setzen dürfte. Ich lag noch im Bette, als mir Mausebrei heut' früh den Besuch des Direktors von Schneeberg von der Königlichen Oper meldete« . . .

»Ah –!« Und Fanny hob überrascht den schönen Kopf.

»Schneeberg war gestern abend bei Kroll. Ich habe ihm so gefallen, daß er noch in der Nacht zum Generalintendanten gefahren ist, um mit ihm über die Möglichkeit meines Engagements bei der Hofoper zu verhandeln. Morgen mittag soll ich vor dem Intendanten singen.«

Fanny schlug die Hände zusammen. »Das ist ja herrlich!« jubelte sie auf, »das ist ja ein unmenschlicher Glückszufall, Fritz!«

»Ganz meine Meinung,« entgegnete Fritz trocken, »aber der Wermutstropfen im Glücksbecher fehlt auch nicht. Da Waldemar noch auf eine Reihe von Jahren der Königlichen Oper verpflichtet ist, so werde ich mich vorläufig mit zweiten Rollen begnügen müssen, und da das Budget der Hoftheater überlastet, muß ich mir außerdem eine verhältnismäßig bescheidene Gage gefallen lassen« . . .

Fanny wiegte den Kopf hin und her. »O – das ist unangenehm, das geht nicht,« sagte sie verstimmt. »Sprich lieber erst noch einmal mit Merkel! In Dresden hat man freigebigere Hände und größere Mittel zur Verfügung, – ich kann es dir keinen Augenblick 488 verdenken, wenn du unter den gegebenen Verhältnissen auf Berlin verzichtest . . . so leid es mir persönlich auch thut!«

Fritz haschte nach ihren Händen.

»Was thut dir leid?« fragte er und schaute ihr tief ins Auge.

»Daß du fortgehst – mein Gott – was weiter,« erwiderte sie verwirrt und errötend.

Er küßte ihre beiden Hände und glitt zu ihren Füßen nieder.

»Siehst du, Fanny,« sagte er mit leisem Zittern seiner Stimme, »und weil es mir leid thun würde, ohne dich fortzugehen – weil ich mich nicht trennen möchte von dir, weil ich dich täglich sehen – sehen und küssen muß, weil ich nicht ohne dich leben kann, – darum bleibe ich hier und böte mir die Intendanz auch einen Bettellohn! . . Fanny, sieh' mir ins Auge! Fanny, ich hab' dich so lieb – so lieb« . . .

Und er legte seine Arme um ihre bebende Gestalt und zog sie an sich. Ihr locker gestecktes Haar löste sich bei dieser Bewegung und wehte duftend um seine Schulter und Wange.

»So lieb,« wiederholte er in süßem Erschauern, – und sie gab seinen Kuß zurück und sagte, kämpfend mit Thränen der Seligkeit:

»Mein einziger – guter – großer Junge!« . . . 489

 


 


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