Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vor der Entreethür des Herrn Mausebrei stand ein schlank gewachsener junger Mann mit fast bartlosem, etwas blassem, aber gesundem Gesicht, das auf der rechten Backe die schlecht verharschte Narbe einer tüchtigen Tiefquart zeigte. Er trug einen breitkrämpigen Hut und einen Havelock und hielt den Klingelgriff in der unbekleideten rechten Hand.

Auf dem Korridor schlurrte es, und dann öffnete Herr Mausebrei, in seinem himmelblauen Theaterschlafrock und mit riesigen Babuschen an den Füßen, höchstselbst.

»Sie wünschen?« fragte er und stellte sich, die Linke in die Brustseite des Schlafrockes geschoben, in Positur.

»Ich wünsche, zunächst Sie zu begrüßen, Ritter von Mausebrei,« entgegnete der Herr im Havelock. »Ich hatte vor Jahren einmal das mir unvergeßlich gebliebene Vergnügen, Sie im Restaurant zur ›Springenden Münze‹ kennen zu lernen, – an jenem denkwürdigen Abend nämlich, da Sie, ein zweiter David, im mörderischen Kampfe gegen den Goliath des Reichshallen-Theaters – Sterzinger hieß er, glaub' ich – triumphierend obsiegten. Ich reiche Ihnen die biedere Rechte, edler Mann!«

Mausebrei verneigte sich mit dummem Gesicht und 444 ließ sich die Hand schütteln. Er war sich über die Persönlichkeit des vor ihm Stehenden nicht recht klar, aber er that so, als ob er sich geschmeichelt fühlte.

»Des Ferneren möchte ich,« fuhr der Herr im Havelock fort, »die bescheidentliche Anfrage an Euer Hochwohlgeboren stellen, ob hierselbst vielleicht ein viellieber Bekannter von mir logiert, den ich seit manchem Jahre nicht gesehen habe und gern einmal wieder begrüßen möchte, – ein von der Mutternatur ungemein groß und stattlich veranlagter Herr in meinen Jahren, Namens Fritz Fiedler?«

Mausebrei verneigte sich abermals und erwiderte mit vollendetem Anstande, indem er gleichzeitig mit der rechten den dunklen Korridor hinabzeigte:

»Herr Fiedler domiziliert allerdings seit gemessener Frist bei mir, mein Herr, und wird sich sicher freuen, einen alten Bekannten wiederzusehen, denn wahrer Freundschaft Bande erlöschen nie, sagt der Dichter, und im Tempel der Ami – der Amititia lodert ständig die heilige Flamme. Wollen Sie sich gütigst näher bemühen; Herr Fiedler hat seine vier Pfähle in der ehemals von dem Referendar Stuhse bewohnten Behausung aufgeschlagen, – geradeaus und dann links, wenn Sie so gut sein wollen« . . .

Der Fremde folgte der Weisung Mausebreis und klopfte an einer Thür an, hinter der Klavierspiel ertönte. Das Spiel verstummte indessen sofort, und eine kräftige Stimme rief das Herein.

»Herr Fiedler aus Klein-Busedow?« fragte der Herr im Havelock, eintretend, und ein unterdrücktes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.

445 »Der bin ich, – mit wem hab' ich« . . . dann starrte der andre dem Eingetretenen eine Weile in das Gesicht und schrie hierauf jubelnd auf: »Otto! – Otto! – Otto!« –

Das war eine Überraschung! Sie fielen sich um den Hals und küßten sich, ließen sich dann an dem kleinen Tische nieder, der unweit des Fensters in dem hübsch und gemütlich ausgestatteten Zimmer stand, griffen in die Cigarrenkiste, die Fritz hervorholte, und begannen mächtig zu qualmen, während sie sich die Erinnerungen vom Herzen plauderten.

»Hatte ja keine blasse Ahnung, daß du wieder in Berlin seiest,« meinte Otto und zog sich den Aschbecher heran, »– da erzählte mir neulich einmal der dicke Stuhse, mit dem ich zusammen auf dem Amtsgericht arbeite, er sei von dem gewaltigen Mausebrei hier so quasi exmittiert worden, weil der einen Freund von sich, einen angehenden Sänger Namens Fiedler, der früher einmal Herkules oder so etwas gewesen sei, bei sich unterbringen wolle. Der Name Fiedler in Verbindung mit unserm getreuen Kampfgenossen Mausebrei machte mich natürlich stutzig, – ich beschloß nachzuforschen.– na und ich kann dir sagen, ich wäre beinah' bis an die Decke gesprungen, als ich dich leib- und wahrhaftig vor mir stehen sah . . . Herrgott, wie lange haben wir uns nicht gesehen! Wo hast du dich nun eigentlich überall in der Welt umhergetrieben? Bist du wirklich Herkules gewesen und hast du in der That die Absicht, Sänger zu werden? Du hattest allerdings immer so ein bißchen vernickelte Ideen« . . .

446 Es dauerte geraume Zeit, ehe Fritz dem alten Spielkameraden über alle Wechselfälle seines Lebens Bericht erstattet hatte. Otto ließ es an erstaunten Ausrufen nicht fehlen, und als Fritz ihm die Geschichte von seiner Bibel und dem Hofantiquar Levy erzählte, blies er den Rauch seiner Cigarre in langen Streifen in die Luft und sagte in ehrlicher Verwunderung:

»I Gott bewahre, was nicht alles auf der Welt passiert! Wer hätte es für möglich gehalten, daß aus dem Kantorshause in Klein-Busedow einmal ein Schatz hervorgehen würde, der mehr als eine alte Hose wert ist! Du hast wirklich bei allem Pech immer noch ein ausnehmendes Glück gehabt, Fritze! Na, ich gönn' dir's von Herzen, und die Eltern werden sich nicht minder freuen, wenn ich's ihnen schreibe. Du, die Alten sind höllisch stolz auf mich geworden, seitdem ich mein Examen gemacht habe! Vater hat mich 'mal in Berlin besucht – vor zwei Jahren, – da hättest du aber einmal sehen sollen, wie würdig er sich vorkam, als ich ihn hier herumführte! Er war seit dreißig Jahren nicht in Berlin gewesen und wollte noch über die Sechserbrücke gehen und fragte nach Callenbachs Vaudeville-Theater, das er als Student einmal besucht hatte . . . Du weißt doch, daß ich verlobt bin? – Nein, woher sollst du denn das wissen! – Da ist mein Verlobungsring, – er hat zwanzig Mark gekostet und ist gegenwärtig der Hüter meiner Tugend . . . Mit wem ich verlobt bin? Du errätst es doch nicht! Mit Martha Lehmann, – du besinnst dich sicher noch auf Frau Lehmann, unsre gemeinschaftliche Philöse! – Vor einem Jahre bekam ich den Typhus und lag recht böse 447 danieder, und da hat mich die Martha wirklich in rührender Weise gehegt und gepflegt. Und wie das so ist, weißt du, – in der Rekonvalescenz kamen mir allerhand Liebesgedanken und eines Tages war ich verlobt, ich wußte nicht wie. Ich habe die Martha aber schon immer sehr gern gehabt – sie ist ein süßes kleines Geschöpf und hat mich in Otho umgetauft – mit einem th und das erste o langgezogen – weil ihr das kurze Otto zu hart und barbarisch klingt. Unter uns gesagt, ich mache auch sonst eine ganz gute Partie, – meine Schwiegermutter ist immer sehr sparsam gewesen, – na, man läßt sich das ja gern gefallen! Wir wollen aber doch warten, bis ich den Assessor hinter mir habe, – daß ich den Doktor gemacht, habe ich dir doch erzählt? Das ist ja eben Vaters Hauptstolz – auf jeden Brief, den er an mich schreibt, malt er das ›Dr. jur.‹ mit mächtigen Buchstaben auf die Adresse! . . Hast du Fanny schon gesehen?« –

Fritz zuckte empor. »Welche Fanny? – deine Schwester?!«

»Nu ja – wen sonst!«

Fritz wurde lebhafter. »Was denn,« meinte er, »– ist die Fanny hier in Berlin? Ich denke, sie steckt in Wien oder sonst irgendwo als Stütze der Hausfrau oder Gesellschafterin?« . . .

»Ja – du,« – und Fritz hüllte sich in dichtes Tabaksgebrodel, – »das ist eine eigne Geschichte mit der Fanny! Denke dir, sie ist Schauspielerin geworden!«

Fritz machte große Augen, und Otto wurde ein wenig verlegen.

»Es ist ja gerade nicht der geeignetste Beruf für 448 eine Pastorentochter,« fuhr er fort, »der Schauspielerstand, – aber du wirst dich erinnern, daß Fanny immer eine etwas absonderliche Natur gewesen ist, ein romantischer Wuselkopf, dem es in den vier Pflöcken ländlich bürgerlicher Häuslichkeit durchaus nichts gefallen wollte! Da ist sie denn nun zu allem Unglück in Wien auch noch in die Familie eines berühmten Schauspielers, des Josef Lipinsky, geraten, freundete sich mit der Frau desselben sehr intim an und entdeckte eines schönen Tages ihr Talent. Lipinsky vermittelte ihr die ersten Engagements, und da sich ihre Begabung in der That als stichhaltig erwies, so blieb sie bei der Bühne . . . Sie ist indessen rücksichtsvoll genug gewesen, ihren bürgerlichen Namen fallen zu lassen und nennt sich Fanny Ohlden« . . .

Fritz schlug sich vor die Stirn.

»Fanny Ohlden!?« rief er aus. »Donnerwetter – Donnerwetter! Fanny Ohlden! Donnerwetter!«

»Was wetterst du denn so erschrecklich, Mensch?«

Fritz schlug sich noch einmal vor die Stirn, daß es förmlich knallte.

»Nun ist mir ja alles klar,« meinte er lachend, »nun verstehe ich auch die geheimnisvollen Anspielungen in ihrem Briefe an mich, – sie hat mir einmal geschrieben, ein einziges Mal, seit ich von Klein-Busedow fort bin – und nun ist mir auch« . . . Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Wie kann man denn nur so mit Blindheit geschlagen sein!« fuhr er fort, stand dann auf und kramte in einem Fache seines Schreibtisches umher, bis er unter allerhand Briefen, die meisten von der Hand Tom Prices, eine Photographie in 449 Kabinettformat fand, die er Otto reichte. »Ist das die Fanny?« fragte er.

»Natürlich ist sie's,« gab Otto zurück, »aber die Aufnahme ist nicht gerade vorteilhaft – sie ist entschieden hübscher im Leben, – ich möchte behaupten, sie ist sogar eine Art Schönheit! Sie ist gerade so schön, wie ich häßlich bin, – aber ich nehme ihr das nicht übel . . . Wo hast du das Bild her?«

»In Paris gekauft, ohne eine Ahnung zu haben, daß es in der That Fanny sein sollte, – ich hielt es für eine zufällige Ähnlichkeit! Also Fanny ist in Berlin – und als Schauspielerin? Wo gastiert sie? Was spielt sie für Rollen? Hat sie bereits ein gewisses Renommee?«

»Liest du denn keine Zeitungen, Menschenskind?«

»Wenig, – ich bin so ganz mit der Einstudierung meiner Rollen beschäftigt, daß ich mir kaum eine freie Stunde gönne . . . Also sie hat Renommee, – sie ist eine tüchtige Künstlerin geworden?«

»Und was für eine! Die Kritik stand Kopf und das Publikum auch, als sie vorgestern zum erstenmale im Deutschen Theater gastierte. Sie spielte die Luise in ›Kabale und Liebe‹ – auf Engagement hin. Ich sage dir, das Publikum brüllte förmlich, und die Blätter meinten, – na, du kannst die Kritiken ja allein nachlesen! Es war ein Bombenerfolg!«

Fritz stand am Fenster und schaute noch immer auf die Photographie, die in seinen Augen plötzlich Leben zu gewinnen schien. – Dann nahm er sein Notizbuch aus der Tasche und legte das Bild hinein.

450 »Wo wohnt sie?« fragte er unruhig; eine unwiderstehliche Sehnsucht hatte ihn plötzlich gepackt.

»Vorläufig noch im Hotel de Rome, – aber ich glaube, sie will sich dieser Tage ein Privatquartier nehmen . . . Besuche sie nur einmal, sie wird sich riesig freuen! Das arme Mädel ist unglücklich, daß Vater durchaus nichts von ihr und ihrem Berufe wissen will. Sie hat mich schon von Wien aus brieflich um meine Vermittelung gebeten – aber Vater ist unbeugsam. Ihm schwebt immer das Schicksal unsrer Großmutter vor Augen. Da kann nur die Zeit helfen. Mit Muttern ist es schon anders. Die hat der Fanny bereits zwei rührsame Briefe geschrieben und möchte sich am liebsten an dritter Stelle mit ihr treffen. Vielleicht läßt es sich einmal arrangieren . . . Nun bitt' ich mir aber aus, Fritz, daß du auch mich einmal besuchst – und meine Braut, verstehst du! So viel Zeit mußt du dir von deinem Studium abknapsen können; – du kannst doch nicht den ganzen Tag singen, – das hält ja der gesundeste Kehlkopf nicht aus! Warte 'mal – übermorgen ist Marthas Geburtstag – da haben wir ein kleines Souper bei Mutter Lehmann, in unsrer alten Behausung, zu dem du hiermit in aller Form Rechtens feierlichst geladen bist. Kommst du?«

»Ich komme! Um wieviel Uhr?«

»Um acht Uhr – ohne akademisches Viertel. Frack ist nicht nötig, aber sehr viel gute Laune . . . Hand drauf, daß ich dich erwarten kann! Adieu, Alter, – empfiehl mich dem Ritter von Mausebrei zu Gnaden und lege ihm meine Hochachtung vor die Babuschen« . . .

Sie schüttelten sich die Hände, und Otto verließ das 451 Zimmer. Er war kaum aus der Thür, als Fritz zum zweitenmale die Photographie Fannys aus der Brieftasche zog und sie mit Aufmerksamkeit betrachtete. Er versuchte, die Züge des Porträts mit dem Bilde zu vergleichen, das ihm in der Erinnerung haften geblieben war; er führte dabei die Photographie ziemlich dicht vor seine Augen und drückte bei dieser Gelegenheit einen Kuß auf das Bild. Der Kuß schmeckte allerdings nach Seife, denn das Porträt hatte längere Zeit in Fritzens Koffer in unmittelbarer Nachbarschaft von zwei Stücken Adlerseife gelegen, – aber aus dem unangenehmen Geschmack machte sich Fritz nichts. Er war einer heißen, unwillkürlichen Herzensregung gefolgt. Und als er das Bild abermals in seiner Brieftasche barg, färbte ein dunkleres Rot seine Wangen . . .

Draußen klingelte es, dann ertönten wuchtige Schritte im Korridor und es klopfte von neuem.

Ein hünenhafter Mensch in Sammetjoppe und weißer Weste trat ein, mit feistem, glattrasiertem Gesicht und beweglicher Mimik. Er schleuderte seinen Kalabreser auf den Nebentisch und streckte Fritz die tatzenähnliche Rechte entgegen.

»Servus, Fiedler,« sagte er in lufterschütterndem Baß, »ich bringe fröhliche Mär! Komme soeben aus der Merkelschen Agentur, – oho, den guten Merkel hab' ich mir ganz gehörig vorgebunden, hab' ihm gesagt, daß ein einziges 452 Wort unsres Schmidt genügen würde, ihm das Geschäft bis in alle Comptoirwinkel zu verderben, daß er zu thun hätte, was wir verlangten! Da ist er denn kleinlaut geworden.«

»Das heißt?« fragte Fritz, und in ungeduldiger Verstimmung fügte er hinzu: »Mein Gott, Calliano, was ist das für eine heillose Wirtschaft mit diesen hundert heimlichen Brücken, die man aufzubauen und abzubrechen gezwungen ist, ehe man überhaupt einmal dahin kommt, die Bühne betreten zu dürfen! Sie haben mir selber gesagt, ich hätte eine hervorragende Begabung – das sind Ihre eigenen Worte! – Sie haben Monate lang mit mir Rolle für Rolle durchstudiert und mir positiv erklärt, ich sei bühnenreif, könne mich hören und sehen lassen, würde Beifall finden und was noch des Schönen mehr – und nun erschwert man mir schon das erste Debüt auf jede nur mögliche Weise! Da muß man ja schließlich Geduld und Ausdauer verlieren!«

Calliano warf sich in einen Sessel und steckte sich eine der auf den Tisch stehenden Cigarren an.

»Dafür sind Sie nunmehr aber auch am Ende Ihrer Prüfungszeit, amico mio,« entgegnete er gemächlich. »Hören Sie, was sich begeben hat . . . Apropos, lieber Fiedler, eine Einschaltung zuvor, die mir die große Seele bedrückt: pumpen Sie mir fünfhundert Mark auf einige Wochen – ich bin durch einen Kollegen höchst unangenehm in die Tinte geritten worden! Da kam neulich der Antonio Dotti zu mir, – er hatte in Petersburg gastiert und war auf der Heimreise nach Mailand, Sie, das ist ein Tenor – ein gottbegnadeter Künstler, ein ganzer Kerl, aber er steckt bis über die Ohren in 453 Schulden, und da hatten sie ihn denn im Hotel Demut ausgepfändet, ehe er Petersburg verließ, und da mußte er so zu sagen bei Nacht und Nebel die Lokomotive besteigen, um der sforza del destino zu entfliehen – und da kam er denn schließlich hilfesuchend zu mir, ein Kollege zum andern, – und da . . . und da« . . .

Calliano brach das Gespinst seiner schönen Erfindung ab, als er sah, daß sich Fritz bereits am Mittelfache seines Schreibtisches beschäftigte – ein sehr beruhigendes Symptom für den in beständigen Geldverlegenheiten steckenden ehemaligen Opernsänger. Er legte den mächtigen Kopf auf die Fauteuillehne zurück und blies kunstreiche Rauchverschlingungen zur Decke empor.

»Hier,« sagte Fritz und ließ eine Anzahl Goldstücke klirrend in Callianos Bärentatze gleiten, – »zweihundert Mark – mein ein und alles!« . .

Calliano wehrte sich gegen die Annahme, während er die Goldstücke schon in die Tasche steckte.

»Wirklich Ihr letztes?« dröhnte er los. »Nein – dann nehme ich's nicht! Nein, dann verzichte ich! Das wäre hart!« . . Er legte ein Goldstück wieder auf den Tisch zurück. . . »Freilich, Sie sind jung, stehen allein, haben keine Familie! Sie haben keine Familie, Fiedler – bei mir betteln fünf Kinder um das tägliche Brot! Und ich habe eine leidende Frau, – die Ärmste, wie wird sie sich freuen, wenn ich mit der fröhlichen Botschaft nach Hause kehre: hier ist Geld, geh', kaufe ein!« . . Er steckte das Goldstück wieder in die Westentasche . . . »Nur auf kurze Zeit, Fiedler. Hier meine Hand, die Hand eines Ehrenmannes! Fiedler, ich danke Ihnen . . . 454 Nur freu' ich mich doppelt, Ihnen erzählen zu können, daß Merkel Ihnen drei Gastspielabende bei Kroll auswirken wird. Es ist ein fait accompli. Und zwar Anfang Juni, Fiedler, wo noch alle Welt in Berlin ist! Gehen Sie gleich morgen zu Merkel und schließen Sie mit ihm ab. Troubadour, Postillon und Lyonel! Und Sie werden mir Ehre machen! – Nun, Sie sagen ja gar nichts? Jubeln Sie nicht auf, daß Sie endlich so weit sind?« –

»Ich bin an Enttäuschungen gewöhnt, lieber Calliano,« gab Fritz zurück, »und glaube nicht eher an das Debüt, ehe ich nicht den Kontrakt in der Tasche habe« . . .

»Kontrakt – was, Kontrakt!« brauste Calliano auf. »Ich habe Handschellen für Merkel, – die sind fester als jeder Kontrakt! Merkel weiß, daß wir jede Verbindung mit ihm abbrechen, wenn Sie morgen nicht im Besitze Ihres Vertrags sind! So wahr ich lebe! Das wär' ja noch schöner, wenn wir nicht einmal mit so einem lumpigen Agenten fertig würden! Morgen mittag um ein Uhr sind Sie bei Merkel! Da wird er bereits mit Direktor Elgers verhandelt haben, und die Geschichte ist abgemacht! Oho, wir sind auch noch da! Addio, amico!«

Er reckte die Hand zum Gruße empor und stampfte davon.

Fritz blieb in verärgerter Stimmung zurück. Er konnte mit Calliano zufrieden sein, denn der verdorbene Opernsänger war in der That eine ausgezeichnete Lehrkraft und hatte sich – wenn auch allerhand selbstsüchtige Motive dabei mitspielten – mit Fritz eingehender 455 beschäftigt als mit den übrigen derzeitigen Schülern und Schülerinnen des Schmidtschen Instituts. Trotzdem war es Fritz bisher noch nicht gelungen, öffentlich aufzutreten. Sein Wunsch war zunächst ein Debüt auf einer größeren Provinzialbühne; er wollte sich erst einmal selbst prüfen, erst selbst einmal sehen, was er zu leisten im stande war. Aber seit Wochen war er immer nur mit Versprechungen und halben Zusagen getröstet worden, – trotz der Empfehlungen des Professors Schmidt und der schmetternden Radamontaden Callianos hatte es keine Agentur gewagt, dem gänzlich unbekannten jungen Sänger ein Gastspiel in der Provinz zu verschaffen. Es war dies um so übler für Fritz, als die Saison sich ihrem Ende zuneigte, und die Direktionen bereits die Engagements für den nächsten Winter abzuschließen begannen . . .

In der fast sicheren Voraussetzung, wieder mit allerhand Ausflüchten empfangen zu werden, machte er sich am folgenden Tage auf den Weg nach der Merkelschen Theater-Agentur, die sich in der Hauptsache mit Vermittelungen auf dem Gebiete der Oper befaßte. Fritz war daher nicht wenig erstaunt und erfreut, als der kleine Merkel ihm mit süß lächelnder Miene entgegenkam, ihn liebenswürdig begrüßte und unter einem Schwall von schönen Phrasen einen Kontrakt mit der Direktion der Krollschen Sommer-Oper überreichte, die Fritz im Juni zu einem dreimaligen Auftreten daselbst verpflichtete. Natürlich war auch dieser Kontrakt mit mancherlei versteckten Fußangeln versehen, aber Fritz kannte derartige Verträge bereits, – er wollte vorläufig nichts andres als ein Probegastspiel, um sich der Kritik und dem 456 Publikum vorstellen zu können. Ob er dafür Honorar erhielt oder nicht, war ihm vor der Hand ebenso gleichgültig, wie die verzwickte Verklausulierung im Kontrakt, in welcher von der Möglichkeit eines festen Engagements für die Sommermonate gesprochen wurde, »falls er reüssiere«.

Da der kleine Merkel ihm gesagt hatte, Direktor Elgers, der gegenwärtige Leiter der Krollschen Oper, wünsche ihn persönlich kennen zu lernen, so setzte er sich sofort in eine Droschke und fuhr in die Wohnung des um seiner Absonderlichkeiten willen in allen Theaterkreisen bekannten Mannes. Elgers, ein wohlbeleibter Herr mit freundlichem Gesicht, gefärbtem Schnurrbart und mauschelnder Stimme, war zu Hause und kam Fritz mit demselben Kalauer entgegen, mit dem er jeden Fremden zu begrüßen pflegte, – das Kalauern war eine besondere Leidenschaft von ihm. Fritz antwortete in ähnlicher Weise mit einem gleich schlechten Witze, und das gefiel dem Herrn Direktor so außerordentlich, daß er eine Flasche Wein kommen ließ und mit seinem »künftigen Mitgliede« anstieß. Der Medoc Margaux gehörte allerdings auch zu der Klasse der »Fremdenweine«, aber Fritz schluckte ihn tapfer herunter und war hinterher sogar im 457 stande, auf Ersuchen von Elgers auch noch eine Arie aus »Aïda« und ein Lied aus dem »Waffenschmied« am Flügel zu singen, zu welcher Produktion der Direktor seine dicke Gemahlin und ein mageres Töchterchen von sechzehn Jahren mit einem ungemein kühn profilierten Gesicht in den Salon nötigte. Alle drei thaten sehr entzückt, nachdem Fritz geendet hatte, und Herr Josua Elgers behauptete sogar, die Stimme Fritzens erinnere ihn lebhaft an Tichatscheff; es liege so etwas d'rin . . . . Fritz verbeugte sich selbstverständlich dankend, obwohl er ganz genau wußte, daß der Direktor nicht viel von Musik verstand und sich lediglich auf seine Agenten verließ; er drückte auch der Frau Direktor unterthänigst einen Kuß auf den glitzernden Brillantring ihrer rechten Hand und lächelte das magere Töchterchen bei der Verabschiedung mit Verbindlichkeit an, – aber als er das Elgerssche Haus hinter sich hatte, atmete er auf, wie von einem Alpdrucke befreit. Es war gar zu schwer, zum Ziele zu kommen! –

Man stand im April, und im Tiergartenviertel, in dem Elgers wohnte, kleidete sich bereits Baum und Strauch mit dem ersten matt schimmernden Grün. In den Frühstunden hatte es geregnet, nun aber schien die Sonne warm und leuchtend und sog gierig die letzten kleinen Wasserflecken auf, die hell und glänzend auf dem Trottoir und dem Macadam lagen.

Der Sonnenblick in der Natur fand auch im Herzen Fritzens Eingang. Ihm war wohlig zu Mute wie lange nicht. Er überlegte, ob er einen Spaziergang oder eine Fahrt durch den lenzlich prangenden Tiergarten unternehmen sollte, als eine in eleganter Equipage an ihm 458 vorüberrollende Dame, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Fanny zu haben schien, ihn daran erinnerte, daß es noch Zeit sei, der Jugendfreundin einen Besuch abzustatten. Er schaute auf die Uhr; Schlag vier, – Fanny mußte also aller Wahrscheinlichkeit nach noch im Hotel zu treffen sein.

Er sprang auf einen Pferdebahnwagen und fuhr nach den Linden. Der Portier im Hotel de Rome wies ihn in die zweite Etage, wo ein umherlungernder Kellner seine Anmeldung übernahm.

Der befrackte Mensch kehrte nach wenigen Augenblicken zurück, dienerte tief und meldete, Fräulein Ohlden sei allerdings gerade beim Diner, werde sich aber sehr freuen, den Herrn Baron empfangen zu dürfen.

Der »Herr Baron« zog bei Fritz nicht; er gab dem befrackten Menschen kein Trinkgeld, klopfte an die Thür der Numero Sieben und trat in ein großes elegantes Zimmer, in dem sich niemand befand. Dafür ertönte aber aus dem Nebengemache eine sonor klingende, melodische Frauenstimme, die das Herz des jungen Mannes schneller klopfen ließ:

»Hier herein, Fritz, – hier herein!«

Und dann wurde eine Portiere zurückgeschlagen, und Fritz stand Fanny gegenüber. –

Er wußte vor Verlegenheit nicht, was er sagen sollte. Er hatte in der Schule des Lebens auch an Gewandtheit des Benehmens gelernt, aber sie ließ ihn in diesem Augenblicke im Stiche. Er war purpurrot im Gesicht und in starker Verwirrung.

Fanny hatte eine Bewegung gemacht, als sei sie 459 gesonnen, dem Genossen ihrer Kindertage ohne weiteres um den Hals zu fallen, – seine Verwirrung und sein tiefes Erglühen aber ließen sie stutzen. Auch ihre Wangen färbten sich plötzlich dunkler und ihre schönen Wimpern senkten sich leicht. Es war, als habe Fritz sie mit seiner unbeholfenen Verlegenheit angesteckt, nur wußte sie als Schauspielerin und Dame der Welt sich schneller in die Eigenart der Situation hineinzufinden, als er. Sie legte ihre beiden Hände auf seine Schultern und sah ihn mit lachendem Blicke an.

»Nun schauen Sie mich auch einmal an Fritz,« sagte sie, doch es klang dabei aus ihrer Stimme etwas wie innere Bewegung heraus, »ich muß doch wissen, ob Sie es wirklich sind . . . Mein Gott, welch' frostige Begrüßung, wenn man sich an ein Dutzend Jahre nicht gesehen hat! Wollen Sie mir nicht wenigstens die Hand reichen?«

Und nun endlich verwand Fritz die Befangenheit, die ihn bei dem Anblick des schönen Mädchens überkommen hatte. Er nahm die Rechte Fannys und küßte sie.

»Verzeihen Sie,« sagte er, »und rechnen Sie meine Ungeschicklichkeit dem Stück Bauernjungen zu gute, das 460 immer noch in mir steckt – oder auch« – und Fritz stockte abermals – »der Überraschung, Sie in so blühender Schönheit vor mir zu sehen.«

»Fritz, – o Fritz, was ist aus Ihnen geworden!« rief Fanny heiter aus. »Das war ja eine regelrechte Schmeichelei! Ich sehe schon, Sie fischen nach Komplimenten, Sie geben sich anders, als Sie sind, um mich in Erstaunen zu setzen! Nun gut, so werde auch ich einen formelleren Ton anschlagen!« – Und sie knixte tief und sagte in komisch gespreiztem Tone: »Gestatten Sie mir, mein Herr, Sie zu einem Teller Suppe einzuladen? Die meinige scheint bereits kalt geworden zu sein, – ich möchte gern weiteressen, mir versagt aber der Appetit, wenn ich jemand an meinem Tische sitzen sehe, der nicht gleichfalls tapfer zulangt« . . .

Sie war bereits an der Thür, klingelte und flüsterte sodann der eintretenden Zofe einige Worte zu. Es währte nicht lange, so stand auf dem kleinen Tische, der unweit des Kamins gedeckt war und der das geschmackvolle Servier-Arrangement eines vornehmen Hotels zeigte, ein zweites Couvert, – und dann knixte Fanny wieder und deutete lächelnd auf den leeren Platz.

»Darf ich bitten?« –

»Da Sie es wünschen,« – Fritz legte Hut und Handschuhe auf den Stuhl neben der Thür, – »und da ich nicht gern Ihren Appetit beeinträchtigen möchte.«

»Nur deshalb,« fiel Fanny ein, »nur deshalb! Bitte Ihren Teller! Moctourtle-Soupe – man speist sehr gut in diesem Hause . . . Also Sie leben noch, Fritz – darf ich Ihnen ein Glas Sherry geben? – und Sie haben 461 Ihr Glück gemacht, sonst würden Sie anders aussehen! Nun hören Sie einmal zu: wir haben noch genau anderthalb Stunden Zeit, keine Minute mehr, – in dieser Frist müssen Sie mir Ihr Leben und Streben während der letzten zwölf Jahre in jeder Einzelheit erzählt und beschrieben haben! Ja? – Ich werde Sie durch keinerlei Unterbrechung stören und Ihnen nebenbei auch die nötige Muße zum Essen lassen« . . .

Sie stellte den Flacon mit Sherry wieder auf den Tisch zurück, und diesen Umstand benützte Fritz, um noch einmal ihre Hand zu ergreifen.

»Alles – alles, Fanny! Aber erst muß ich Ihnen sagen, wie ich mich freue, wie ich glücklich bin, Sie wiederzusehen! Sie sind dieselbe geblieben, die Sie waren – und doch eine andre geworden! Nicht nur äußerlich, wie es mir scheint, auch an Temperament. Sie strahlen Sonne und Leben aus,– nur wenn man Ihnen tiefer ins Auge schaut, spürt man noch etwas von dem romantischen Schwärmergeiste, der Sie ehemals beseelte . . .«

»Der mir aber in der Nüchternheit des Lebens verloren gegangen ist, lieber Freund,« warf Fanny ein. »Übrigens sind Sie nicht der erste, der mich vernünftiger geworden findet, – mein Bruder Otto sagte mir ähnliches . . . Das, was noch in mir schwärmt, verpuffe ich auf der Bühne, und meine romantischen Neigungen betrachte ich nur noch mit dem Auge eines Raritätensammlers . . . Scherz beiseite: die Kritik nennt mich eine realistische Schauspielerin, aber bin ich es wirklich, so ist meine realistische Kunstauffassung ganz sicher aus meiner Passion für die Romantik hervorgegangen . . . Wissen Sie 462 noch, wie Sie mir in Klein-Busedow heimlich den Schlüssel zu der Giebelstube verschafften, in der die Bibliothek Großvaters stand mit all' ihren köstlichen Werken von Auffenberg, Houwald, Kotzebue und Konsorten? Die alten Herren sind Schuld daran, wenigstens Mitschuldige, daß ich mich der Bühne gewidmet habe!« . . .

Es war wundervoll lauschig in dem kleinen Zimmer, in dem bereits die Gaskrone brannte und ein zartes Parfum die Luft durchwellte. Auf Fannys Geheiß hatte die Zofe einige Scheit Holz im Kamin angezündet; die Flammen zuckten und sprühten und warfen gelbe Lichter auf den Teppich und seine farbigen Ornamente. Die Zofe war in das Vorgemach gewiesen worden; sie erschien nur, um die Teller zu wechseln und einen neuen Gang zu servieren. Dann und wann auch flüsterte sie ihrer Herrin einige Worte ins Ohr, – Namen, wie es Fritz schien – »Herr Doktor Fränkel,« »Herr Biesenthal,« »Herr Mayer Ball« . . . Und jedesmal schüttelte Fanny energisch den Kopf und entgegnete: »Ich bin beschäftigt – beim Essen – bei der Toilette – wie du willst!« –

»Störe ich?« hatte Fritz gelegentlich dazwischen geworfen, doch lachend hatte Fanny entgegnet: »Bewahre, – die Herren können wiederkommen! Reporter und Theateragenten sind schnellfüßiges Volk! Ich habe keine Lust, mir diese Stunde der Gemütlichkeit und der Erinnerung an die Heimat kürzen zu lassen« . . .

Und sie beugte sich wieder über den Tisch und lauschte mit schier verhaltenem Atem und glänzenden Augen auf jedes Wort, das Fritz sprach.

Sie war schön geworden, wie man es als Kind schon 463 von ihr hatte erwarten können. Die Gestalt freilich war mädchenhaft geblieben und erschien in der faltenreichen Matinee aus türkisblauem Kaschmir fast zu schlank, fast ein wenig schmächtig. Aber der herrliche Kopf mit seinen wunderbar edlen Proportionen mußte jedes Künstlerauge begeistern; »er erinnert in der Lineamentierung der Nase und des Kinnes an die Klytia, während Mund und Stirn unwillkürlich an das Porträt der Potocka mahnen«, hatte am Abend ihres ersten Gastspiels ein sehr berühmter Bildhauer und hervorragender Ästhetiker im Foyer des Deutschen Theaters geäußert.

Der Sinn für eine kunstgemäße Zergliederung ihrer Schönheit, wie er dem berühmten Bildhauer eigen, ging Fritz ab, nicht aber die Begeisterung für das, was er da in jugendlichem Prangen, und doch erst in halber Erschlossenheit, einer im Sonnenlichte treibenden Knospe gleich, vor sich sah. Während er erzählte, wich sein Blick nicht von ihr; ihm war, als könne er sich gar nicht satt schauen an dem holden Liebreiz ihrer Persönlichkeit und der Anmut jeder Bewegung.

Die Zeit verrann. Das kleine Diner, dem die beiden Tafelnden nur mit spärlichem Appetit zugesprochen, ging zu Ende. Fanny hatte von der, ein reizvolles Stillleben abgebenden Obstschale inmitten des Tisches eine Orange genommen und sie entschält und reichte die blaßrote, mit feinen Blutadern marmorierte Frucht nunmehr Fritz hinüber.

»Du wirst dich durstig gesprochen haben, mein armer Freund,« sagte sie dabei, »aber der Wein scheint dir nicht zu munden. Vielleicht thut die Orange besser ihre Schuldigkeit« . . .

464 Fritz nahm die Frucht dankend entgegen, während ein lichtes Aufblitzen in seinem Auge sein Staunen und seine Freude darüber kund gab, daß Fanny so plötzlich und unvermittelt zu dem trauten »Du« aus der Kinderzeit zurückgekehrt war. Fanny merkte den staunenden Ausdruck, und ein helles Scharlach flutete über ihr Gesicht. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Stirn, aus der das dunkle Haar schlicht zurückgestrichen war, und lachte leise auf.

»Meine Gedankenlosigkeit! . . Ich hatte mich um Jahre verrechnet, da ich Sie du nannte! Aber es war gut gemeint, Fritz – verzeihen Sie!«

»Verzeihen, – o Fanny, wenn ich nur aussprechen könnte, wie sehr mich dies trauliche Du beglückt hat! Warum bleiben Sie nicht dabei? Bin ich Ihnen so fremd geworden in den letzten paar Jahren? – Ja, in den letzten paar Jahren, denn noch in dem einzigen Briefe, den ich je von Ihnen erhalten habe, nannten Sie mich du! Ich war so froh darüber!« Und mit einem vollen, warmen Blicke aus seinen ehrlichen Augen sagte er noch einmal: »Wirklich, – so froh!« . .

Sie streckte ihm über den Tisch hinüber ihre zierliche Hand entgegen.

»Du guter großer Junge,« entgegnete sie, »du hast das alte treue Herz behalten . . . Also es bleibt bei dem Du! Es war Thorheit, daß wir die Anrede gewechselt haben – daran war unsre erste Befangenheit Schuld, nichts andres! Woher kam sie nur?« . . Und mit einer gewissen Hast brachte sie, an den Schleifen ihrer Matinee nestelnd, das Gespräch auf ein andres Thema . . . »Weißt 465 du, woran es lag, daß ich damals deinen Brief aus Paris nicht auf dem Postamte abheben konnte? – Ich gastierte in Prag, aber aus den beabsichtigten sechs Gastspielen wurden dreimal sechs; die Direktion ließ mich nicht los und das Publikum auch nicht. Ich kam erst nach vier Monaten nach Wien zurück, und da hatte dein Brief längst die Rückreise angetreten. Ach, Fritz, ich war dazumal in unglückseliger Stimmung! Ich konnte der Lorbeern, die ich einheimsen durfte, nicht froh werden! Die rücksichtslose Strenge Vaters, der mir durch Otto hatte schreiben lassen, ich sollte nie wieder sein Haus betreten, wenn ich bei der Bühne bleiben wollte, und das absichtliche Nichtbeachten von seiten meiner Mutter und meiner Geschwister, die keinen meiner Briefe einer Antwort würdigten, hatte mich förmlich zur Verzweiflung gebracht. Ich war völlig vervehmt und verstoßen, und wäre die Liebe zu meiner Kunst nicht so stark und allmächtig gewesen, – ich glaube wahrhaftig, ich wäre reuig nach Klein-Busedow zurückgekehrt und hätte wieder Strümpfe gestrickt und Miezes Waschkleider ausgebessert! – Heut' habe ich's überwunden. Heut' weiß ich freilich auch, daß Mutter sowohl wie die Geschwister nur auf den strikten Befehl Vaters hin meine Briefe unbeantwortet ließen, daß mir ihre Liebe noch gerade so gehört wie ehemals! Die ersten Verbindungen mit der Heimat sind auch schon geknüpft, und ich hoffe, auch die Zeit wird kommen, wo Vater milder denken lernt, – ganz vergeben wird er mir freilich nie! Ich kenne ihn, und ich habe mich wehen Herzens damit abgefunden. Ich will nur noch, daß mir seine Liebe bleibt . . . Sag', Fritz, ist es nicht 466 seltsam, daß wir beide trotz der Verschiedenheit unsrer Lebenswege schließlich am gleichen Ziele angelangt sind? Und ist es nicht wunderlich genug, daß aus dem stillen Pfarrhause von Klein-Busedow zwei Leutchen hervorgegangen sind, die den Beruf zur Bühnenkunst in sich fühlen? – Pfarrhaus und Bühne – man sollte meinen, es seien Gegensätze, für die es nie Berührungspunkte geben könnte!«

»Und warum nicht?« warf Fritz ein. »Ich denke, jeder Künstler, der es ernst und wahrhaftig mit seiner Kunst meint, vermag in seinen Zuhörern ein Gefühl von Andacht zu erwecken, das einer ganz ähnlichen weihevollen Stimmung entspringt wie jenes, das eine fromme Predigt in uns erzeugt: das über irdische Sorge hinaus Erhebende, das Gemütbefreiende und Herzstärkende. Kunst und Religion haben ganz gewiß nichts miteinander gemein, aber warum will man unübersteigbare Schranken errichten zwischen dem Manne, der Gottes Wort lehrt und verkündet, und dem Künstler, der sich zum Interpreten von Gott begnadeter Geister macht? – Weltliche und geistliche Musik haben eine Mutter und können in gleicher Weise erheben und erbauen, und Prediger wie Schauspieler wirken auf ihre Zuhörer durch den geistigen Gehalt dessen, was sie, freilich verschiedentlich in äußerer Art und Form, der Menge künden. Ich spreche dabei immer nur von der einzig wahren und ernsten Kunst, nicht von ihren Abarten, wie gerade ich sie habe kennen lernen müssen . . . Man sagt, du seiest eine große Tragödin, Fanny, – ich glaube es. Und da meine ich, daß dein Vater dir vergeben müßte, wenn er dich einmal in einem Drama 467 irgend eines echten Dichters auf der Bühne sähe, denn auch von den Brettern, die die Welt bedeuten, kann der Odem der Göttlichkeit wehen« . . .

Fanny hatte sich erhoben und stand, in Sinnen verloren, vor dem Kamine, in dem das Feuer ausgebrannt war und die letzten Funken knisternd erloschen.

»Vielleicht,« sagte sie, »doch – ich glaube es nicht. Ich gebe dir in jedem Worte Recht, aber – du hast die sociale Kluft vergessen, die zwischen Geistlichen und Schauspielern liegt, und die Pfarrhaus und Bühne trennt. Stärker als alle geistigen Berührungspunkte sind immer die socialen Gegensätze gewesen. In diesem Falle, mein' ich sogar – seien wir ehrlich – mit Recht. Der Talar paßt nicht zu dem allabendlich in andern Farben schimmernden Rocke des Komödianten. Und deshalb verstehe ich auch meinen Vater, so schmerzlich mich seine Nichtachtung berührt.«

Fritz schüttelte den Kopf.

»Ich bin andrer Meinung, Fanny, ich kann mir nicht helfen. Seit ich mich entschlossen habe, zur Bühne zu gehen, beschäftige ich mich in meinen Mußestunden viel mit den einschlägigen Litteraturen allerlei Art. Da hab' ich denn entdeckt, daß Geistlichkeit und Bühne oft genug 468 Hand in Hand gegangen sind. Ich sehe von den Mysterien religiöser Natur und den Passionsspielen gänzlich ab, spreche nur von weltlicher Kunst. Es ist vorgekommen, daß geistliche Herren Intendanten bedeutender Hofbühnen gewesen sind, z. B. Ende des siebzehnten Jahrhunderts der Abbate Grimani, der die Opera all' San Chrysostomo in Venedig leitete und später als erster Dirigent bei der Dresdener Oper angestellt wurde – ferner der Abbé Heusinger in Wien und der Abbate Catana, der unter Lorenzo dem Prächtigen alle Theatervorstellungen am Florentiner Hofe arrangierte. Mir fallen diese Namen nur so beiläufig ein! Und wieviel Geistliche, katholische und protestantische, haben nicht für die Bühne geschrieben!«

Fanny lehnte noch immer am Kamin und schaute aufmerksam, ein Lächeln um den Mund, zu Fritz hinüber.

»Mein Gott, was bist du gelehrt geworden!« meinte sie scherzend, trat dann, als sie sah, daß ein helles Rot der Verlegenheit über seine Wangen strömte, auf ihn zu und nahm seine Hand. »Im Ernste, Fritz: ich bin glücklich über die geistige Regsamkeit, die sich in dir entwickelt hat, und über die Ernsthaftigkeit, mit der du deinen neuen Beruf ergriffen hast. Laß es mich ruhig aussprechen: ich bin sehr glücklich darüber! . . Zur Sache selbst aber – Fritz, was würdest du wohl dazu sagen, wenn in unsern Tagen irgend ein geistlicher Würdenträger Intendant der Königlichen Schauspiele wäre? – Guter Freund, man muß immer mit den Zeiten rechnen, in denen man lebt . . . Doch nun genug. Sei mir nicht böse, Fritz, aber ich 469 muß dich hinauskomplimentieren. Es ist die höchste Zeit, daß ich nach dem Theater fahre. Sieht man dich wieder?«

Fritz griff schon nach seinem Hute.

»Ja – wenn du erlaubst – recht oft . . .«

Sein ganzes Gesicht strahlte.

»Recht oft – ich erlaube es,« lachte Fanny. 470

 


 


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