Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Drittes Kapitel

Zwei Tage später wurden der Kantor und die Kantorin auf dem Dorf-Kirchhofe zur Ruhe bestattet. Das war noch eine schwere Stunde für Fritz Fiedler. Er stand am offenen Grabe zwischen der Pastorin und Pastors Gustel, und wie er auch die Zähne fest auf die Unterlippe preßte, sodaß er das warme Blut zu fühlen vermeinte – der Schmerz ließ sich nicht meistern. Aber es war doch gut, daß die Frau Pastor und ihr zwanzigjähriges Gustel neben ihm standen – sonst hätte er laut aufgeschrieen und sich über die beiden Särge geworfen, die schwarz und mahnend neben der Gruft aufgebahrt waren. Es war ein rasender Schmerz, der die Seele des Knaben durchwühlte, etwas Ungebändigtes und Ursprüngliches, das ihm zu unterdrücken wahrhaft qualvoll wurde. Er hatte noch nicht gelernt, sich zu beherrschen; so trotzig und starrsinnig er auch sein konnte, so sehr war es anderseits ein Lebensbedürfnis für ihn, sich auszutoben, wenn er den Drang danach spürte.

Das ganze Dorf war bei dem Begräbnis zugegen. Man hielt das immer so. Freundschaft oder Pietät sprachen nur in Ausnahmefällen mit. Man ging zu den Begräbnissen, wie man zu den Kindtaufen oder des 36 Sonntags in die Kirche ging – aus traditioneller Gewöhnung. »Dat is 'mal so,« pflegte Matzenthien zu sagen, und einen andern Grund gab es für die meisten Bauern auch wirklich nicht. Es war 'mal so, und damit war's gut. In ihren langen schwarzen oder dunkelblauen Sonntagsröcken, Hut oder Mütze in den gewaltigen, arbeitsharten Händen und das Gesangbuch unterm Arme – die Frauen in ihren besten Kleidern und mit hart gesteiften Schürzen – so stand die Gemeinde dicht gedrängt um die Grabstätte und lauschte den Worten des Pastors. Hartwig sprach kurz und schlicht, aber eindringlich und zu Herzen gehend. Und ging's auch keinem weiter zu Herzen, einer war doch da, der die warme Liebe spürte, die von den Lippen des Geistlichen floß, und der in seiner frommen Einfalt erschüttert ward durch das Gebet, das die Seelen der beiden Entschlafenen Gott empfahl.

Während der Feierlichkeit war ein Gewitter am Himmel aufgestiegen, und gerade, als man die Särge in die Gruft zu senken begann, zuckten die Blitze auf und der Donner krachte. Gleich darauf fielen die ersten Regentropfen klatschend auf die Blätter der Eichen, die an der Kirchhofsmauer standen und die Gräber in weitem Umkreise beschatteten. Es blieb aber nicht lange beim Tröpfeln; einem gewaltigen Donnerschlage, der in langhallendem, dumpfen Grollen verklang, folgte ein rauschender Guß. Und nun kreischten die Frauen plötzlich auf, rafften die Oberkleider empor und begannen zu flüchten. Die Männer lachten, obwohl ihnen der Regen wenig erwünscht kam, denn man stand mitten in der Ernte. Sie lachten über die Drolligkeit ihrer Weiber, wie sie die 37 Röcke über den Kopf schlugen, damit das Haar nicht naß würde, und dann im Sturmlauf nach der Kirchhofsthür eilten. Auch mit der äußeren Andacht war's nun vorüber. Als der Regen heftiger wurde, flüsterte Matzenthien seinen nächsten Nachbarn einige Worte ins Ohr, und dann stülpte er seinen breitkrämpigen Sammethut auf den triefenden Kopf und zog sich langsam zurück. Der Schneider, Friebe und Mennichen waren die ersten, die ihm folgten – und nicht lange währte es, da war die ganze Gemeinde zerstoben, wie ein Haufen gelbes Laub, in das ein Windstoß bläst . . .

Der Pastor ließ sich in der Beendigung der Ceremonie nicht stören. Er stand aufrecht neben dem frischen Grabe und barhäuptig, ob auch der Regen in kleinen Rinnsalen über seine Schultern den Talar hinabfloß. Mit festen und klingenden Worten sprach er das Schlußgebet und das Amen und markierte das Zeichen des Kreuzes über den Schollen, welche die Toten deckten. Dann erst setzte er das Barett wieder auf und schaute sich um, und nun glitt etwas wie ein Lächeln über sein gutes Gesicht. Er trat an Fritz heran und streichelte ihm die blassen Wangen.

»Sieh', mein Junge,« sagte er, »so geht's oft im Leben, wie heute. Man glaubt an die Freundschaft und wird verlassen. Aber eins bleibt uns doch, wenn uns auch alles verläßt: das ist der liebe Gott und seine ewige Kirche.«

* * *

Ein paar Tage danach traf der neue Kantor in Klein-Busedow ein, und dann fand auch die Versteigerung 38 des Nachlasses der verstorbenen Kantorsleute statt, in die Fritz gewilligt hatte.

Natürlich fehlte auch hierbei keiner der Bauern. Das war ein Ereignis, an dem man sich nicht alle Tage erfreuen konnte. Als Auktionslokal war anfänglich die Schulstube gewählt worden, und hier wurde zunächst das Hausgerät zur Versteigerung gebracht. Vieles davon kaufte die Pastorin, deren Gatte zu Gunsten Fritzens die Preise nach Möglichkeit in die Höhe trieb. Dann ging es von Stube zu Stube weiter an die Veräußerung des Mobiliars.

Der Pastor zog Fritz an sich heran.

»Willst du dies oder jenes behalten, so sag's,« flüsterte er dem Knaben zu – der aber schüttelte nur den Kopf. Was sollte er mit all' den Sachen! –

Das Harmonium wollte der neue Lehrer, ein junger Mann, der eben erst vom Seminar gekommen war, kaufen. Aber als er einige Mal über die Tasten gefingert hatte, verzichtete er – es war ihm allzu verstimmt. Nun wollte es Matzenthien an sich bringen – für seine »Jöhren«, wie er sagte. Das ärgerte den Pastor, und er bot drei Mark mehr, wofür ihm das wertlose Ding zugeschlagen wurde.

Unter der kleinen Büchersammlung des verstorbenen Fiedler fand sich auch noch eine alte lateinische Bibel vor, die im untersten Fache des Regals lag. Der Auktionator schlug ein Taschentuch um die Finger, ehe er den staubigen Folianten, der in dickes Schweinsleder gebunden war, hervorholte, um ihn dann auf den Tisch zu werfen.

39 »Wer bietet?« krächzte der Versteigerer. »Niemand – ahä? . . .«

Der litterarisch gebildete Schneider trat näher, um sich das schweinslederne Ungetüm anzusehen, aber es war ihm zu alt – es war nichts für einen Mann von Bildung, der den Fortschritt liebte.

»Ahä – also niemand?« wiederholte der Auktionator. »Dann bleibt's . . . ahä – dann bleibt's für den Trödler . . .«

Fritz zupfte den Pastor am Rocke. Er entsann sich, daß seine Mutter in früherer Zeit öfters in der alten Bibel geblättert hatte – sie stammte aus ihrem heimatlichen Försterhause – und Fritz wollte nicht, daß sie an den Trödler verschleudert würde. Der Gedanke that ihm weh.

»Herr Pastor,« flüsterte er, »– ich möchte die Bibel behalten . . .«

Der Pastor nickte.

»Fünfzig Pfennige,« rief er, und der Auktionator wiederholte das Angebot. Das Buch wurde dem Pastor zugeschlagen, der den Folianten in die Arme Fritzens legte. Der aber stürmte damit fort, ohne erst das Ende der Versteigerung abzuwarten, und verwahrte das Schweinslederne im letzten leeren Fache der Birkenholzkommode. welche die Frau Pastorin aus ihrer eigenen Schlafstube in sein Kämmerchen hatte schaffen lassen.

Als das letzte Stück des Fiedlerschen Hausrats in andere Hände übergegangen war, wurde Kasse gemacht. Die Auktion hatte nach Abzug aller Kosten hundertundsiebzehn Thaler (man rechnete in Klein-Busedow noch 40 gern nach Thalern) und fünfunddreißig Pfennige gebracht. Das war das Erbe und Eigentum Fritzens, der sich dafür auf Hartwigs Rat ein Sparkassenbuch kaufte.

Zwei Tage später zog Herr Baldewin, der neue Lehrer, in das kleine Haus mit dem großen Giebeldach, und von nun ab sprach man nur noch selten von den verstorbenen Kantorsleuten, um deren Doppelgrab sich das grüne Geschlinge des Epheus immer dichter zu ranken begann. Herr Baldewin war unverheiratet und von anderm Schlage als der stille selige Fiedler. Der neue Kantor rauchte keine lange Pfeife, sondern Cigarren, das Stück für fünf Pfennige, und kneipte des Abends mit den Bauern im Extrazimmer des Kruges. Er führte dort das große Wort, schlug mit der Faust auf den Tisch wie Matzenthien und schimpfte gemeinsam mit dem Schneider über alles, was nicht in seinen Kram paßte. Das gefiel den Bauern. Baldewin wurde im Umsehen beliebt.

Fritz Fiedler lebte sich inzwischen zum besten im Pfarrhause ein. Ganz oben im Giebel lag sein Stübchen, ein kleiner Bretterverschlag von wenigen Fuß Breite, sodaß darin gerade die eiserne Bettstelle, die gelbe Kommode aus Birkenholz und ein Schemel Platz hatten. Die Wände hatte Fritz sich sehr schön selbst tapeziert, 41 und zwar mit Neu-Ruppiner Bilderbogen, von denen ihm Veitel Aron, der Lumpenmatz, aus alter Freundschaft sechs Stück für zwanzig Pfennige abgelassen hatte. Gerade über Fritzens Bette hing der Sturm auf die Düppeler Schanzen und die Einnahme von Konstantinopel durch die Kreuzfahrer, und wenn er morgens aufstand, ergötzte sich sein schönheitstrunkener Blick an der Landung des Kolumbus und an dem bunten Federschmucke der Indianer, die den großen Entdecker mit himmelblau gemalten Augen anstarrten. Ein weiteres Bild stellte Garibaldi dar, wie er in einem flammend roten Hemde und mit einem Rubens-Barett auf dem Kopfe über ein Schlachtfeld reitet, das im Hintergrunde von einem schrecklichen feuerspeienden Berge begrenzt wird – und noch ein andres die Tiere der Arche Noah, wobei jegliches Viehzeug poetisch erläutert ward, z. B.:

Die Ameise hat nimmer Ruh,
Der Affe sieht behaglich zu –

oder:

Der Elefant hat einen Rüssel,
Der Eber frißt aus keiner Schüssel –

oder auch:

Das Zobeltier lebt hoch im Norden,
Das Zebra lebt an andern Orten.

Die tiefe Weisheit dieser Verse hatte zwar auch Fritz bisher noch nicht ergründen können, aber das that der Pracht der bunten Bilder keinen Abbruch, an deren leuchtendem Farbenreichtum sich sein Auge alle Morgen erfreute.

Das Leben im Pfarrhause war ein sehr geregeltes. Die Dienstmagd klopfte früh um fünf Uhr an Fritzens Thür, und zwar stets mit so gewaltiger Faust, daß auch der 42 vielverschlungenste Traumfaden, der den Schlummernden umsponnen hielt, auf der Stelle schnöde zerrissen wurde. Stiefelputzen und Kleiderreinigen mußte sich Fritz selbstverständlich eigenhändig, aber auch sonst hielt ihn der Pastor scharf zu häuslicher Arbeit an. Es gab immer etwas zu thun in Haus, Hof und Garten, und ruhten die Hände aus, dann mußte der Geist heran. Das war nun eine schlimme Sache. Auf seiner Fäuste Kraft hatte Fritz immer mehr gehalten, denn auf die Zucht seiner geistigen Fähigkeiten. Vom Lernen wollte er nicht gern etwas wissen. Aber der Pastor fragte viel danach, was Fritz wollte oder nicht wollte. Jeden Tag von zehn bis zwölf Uhr – zwischen der Butterstulle des zweiten Frühstücks und dem Mittagessen – wurde gelernt. Der Pastor unterrichtete seine sämtlichen Kinder selbst. Gustel, Line und Fanny waren über die Lernzeit hinaus, die vierjährige Mieze war noch nicht reif dazu – blieben Toni, Bärbchen und Otto übrig, mit denen zusammen Fritz in den Vortempel der höheren Bildung eingeführt wurde. Der Pastor lehrte seine kleine Gesellschaft alles, was er selbst wußte, ohne in pädagogischem Sinne schematisch vorzugehen; er lehrte seine Mädchen Latein und Griechisch lesen ebensogut wie das Französische (das war aber seine schwächste Seite, weil er sich mit dem Accent nicht so recht verständigen konnte), und führte sie in die Geheimnisse der Naturkunde mit gleichem Feuereifer ein wie in den Wirrwarr der historischen Geschehnisse vor Christi Geburt. Hartwig war ein sehr geschickter Präzeptor; er hielt sich nicht lange bei Einzelheiten auf, sondern begnügte sich mit großen Zügen, und er erreichte 43 damit vollkommen seinen Zweck: seine Mädchenschar war in allem Wissenswerten wohl bewandert, und der neunjährige Otto konnte auf der Stadtschule nachlegen, in die er Ostern übers Jahr gebracht werden sollte.

Fritzen wurde das Lernen recht schwer. Seine Gedanken waren überall anders, aber nie bei der Arbeit. Wenn er in der kleinen, vollgerauchten Amtsstube des Pastors neben Otto, Bärbchen und Toni, Hartwig gegenüber am Tische saß, dann schweifte sein Auge gewöhnlich sehnsüchtig hinaus, wo hinter den regenverwaschenen Fenstern das dunkle Grün der Apfelbäume und das sonnenbrandige Rostbraun des Dorfangers erglänzte. Und statt an die Seeschlacht von Salamis oder ut mit dem Konjunktiv dachte er dann daran, daß er heute noch Matzenthiens Labander, den langen Karle, durchprügeln müsse, weil er gestern von ihm mit Sand beworfen worden war, und daß er eine notwendige Verpflichtung habe, dem bissigen Köter von Bernschulze eine Ladung Lehmkugeln durch das Pusterohr auf den Pelz zu blasen. Und wenn dann der Pastor wissen wollte, wer bei Salamis gesiegt hatte, dann sperrte er den Mund auf, gab aber keine Antwort, und wenn dann nicht Bärbchen so gutmütig war, ihm das Richtige ganz heimlich zuzuraunen, so wurde der Pastor böse, schlug mit dem Lineal auf den Tisch und behauptete, Fritz sei ein dummer Junge und werde es wohl für Zeit und Ewigkeit bleiben. Und dann wurde Fritz purpurrot im Gesicht vor Scham und Verlegenheit und nahm sich fest und heilig vor, künftighin besser aufzupassen, was aber nicht hinderte, daß sein Gedankenflug fünf Minuten später wieder hinauskreiste über die 44 verräucherten vier Wände der kleinen Stube und sich im Karnickelstall des Kossethen Braunmüller oder in der »Sandkuhle« am Dorfende verlor, wo die männliche Jugend von Klein-Busedow sich wie die Bewohner von Patagonien in Erdhöhlen einzunisten pflegte.

Unser junger Held lernte also wenig Positives. Es fehlte ihm nicht an Begabung, aber an Lust und Liebe zur Sache; jedes Lehrbuch war ihm ein Greuel, jede Lehrstunde erschien ihm als Urbegriff der Langeweile. Das einzige, was ihn noch einigermaßen interessierte, war die Geographie, weil die weite Ferne mit ihren ungeschauten Wundern seine lebhafte Phantasie stets mächtig beschäftigte. Selbst die Violine ruhte in ihrem hölzernen Sarge aus. Er verstand ihr nur liederliche Weisen zu entlocken, wie sie die Burschen beim Heumachen und auf dem Felde sangen – das aber hatte sich der Pastor verbeten. Er gehörte nicht zu den prüden theologischen Seelen, die im heiligen Amte sich scheuten, der Erinnerung an die leichtsinnigen Strophen aus der Studentenzeit Raum zu geben – aber es paßte ihm nicht, daß man den Singsang von der Straße in das Zimmer übertrug, wo sein Harmonium stand. Draußen im Garten mochte Fritz fiedeln, wie es seinem Geschmacke zusagte, dagegen hatte der Pastor nichts – Fritz war aber trotzig genug, die Violine lieber ganz beiseite zu legen, ehe er sich auf Konzessionen einließ.

Mit seinen Spielgenossen im Pfarrhause vertrug er sich gut. Das waren Otto, Bärbchen und Toni; die andern galten schon als erwachsen, obwohl die vierzehnjährige Fanny in ihrem Äußeren noch völlig kindlich 45 erschien. Gerade Fanny aber war Fritzen am liebsten. Er hegte eine Art romantische Schwärmerei für sie, seit sie ihm einst heimlich einen mächtigen Teller voll Butterstullen auf das Zimmer gebracht, als ihn der Pastor einer Dummheit wegen zu Hausarrest bei Mehlsuppe und trocknem Brot verurteilt hatte. Fanny war ein merkwürdiges Mädchen – völlig anders geartet als ihre Geschwister, äußerlich und seelisch. Die ganzen Pastorschen waren blond, strohblond, »märkisch blond«, wie Hartwig, dessen Familie seit Jahrhunderten im Oderbruch ansässig war, mit einem gewissen Stolze zu betonen pflegte. Nur Fanny war brünett. Sie schlug nach der Großmutter mütterlicherseits, die eine Französin war, eine geborne Dutêtre. Diese längst verstorbene Großmutter, deren Silhouette in einem schmalen goldenen Barockrahmen über dem Kamin im Zimmer der Pastorin hing, war gewissermaßen der »dunkle Punkt« in der pfarrherrlichen Familie. Sie war Bonne in einem gräflichen Hause gewesen, und dort hatte sie der seiner Zeit ebendaselbst als Hauslehrer angestellte Vater der Pastorin kennen und lieben gelernt. Die Ehe der beiden war aber nicht glücklich verlaufen. Zwei Jahre nach der Heirat wurde sie gerichtlich getrennt; die schöne Französin ließ sich als Sprachlehrerin in der Hauptstadt nieder und ging später zur Bühne. Nach jahrelangen Irrfahrten durch halb Europa erreichte sie in Brüssel ein tragisches Geschick. Das Theater, in welchem sie auftrat, brannte nieder, und auch die hübsche Soubrette fiel dem entfesselten Element zum Opfer.

Fanny sollte ihrer Großmutter ähnlich sein. Sie 46 war ein selten schönes Kind. Ein Gesicht wie eine Camee – von wundervoller Regelmäßigkeit im Schnitt und jenem matt olivenfarbenen, weiß abgetönten Teint, den der Südländer Morbidezza nennt, und den man am häufigsten unter den jungen Jüdinnen des Orients findet, wo sich die Rasse noch rein erhalten hat. Haar und Augen waren von leuchtendem Schwarz, das Haar von seltener Üppigkeit und das von schön gezeichneten Brauen überwölbte Auge von unbeschreiblich mildem und träumerischem Ausdruck, wie er dem dunklen Blick sonst selten eigen zu sein pflegt. Es lag etwas Schwärmerisches in diesen schönen Kinderaugen, etwas rätselhaft Fragendes, das seltsam, zuweilen fast unheimlich berühren konnte, weil es in seiner geistigen Reife merkwürdig kontrastierte mit der körperlichen Entwickelung der überaus zierlichen und puppenhaften Mädchengestalt.

Fanny war ein stilles und sanftes Wesen zu eigen; unter ihren lebhaften, oft wilden und ungeberdigen Geschwistern saß sie wie eine kleine scheue Schwalbe im Nest lärmenden Spatzenvolks. Sie war der Liebling der Mutter, die sie zum steten Ärger des rauheren Vaters gern ein wenig verzog. Zu zart für die derbere und gewöhnlichere Arbeit, an der sich Gustel, Line, Bärbchen und Toni gleichmäßig beteiligen mußten, war ihr im Bereiche des Hauswesens das Gebiet der Handarbeiten übertragen worden. Sie strickte, stickte und stopfte tagein tagaus mit ihren schlanken, weißen, immer fleißigen Fingern. Im Winter hatte sie den Nischenplatz am letzten Fenster der Wohnstube inne, von dem aus sie den ganzen, unter der Schneedecke ruhenden Dorfplatz überschauen 47 konnte – und zur Sommerszeit saß sie meist in der Fliederlaube im Vorgarten, und rings um sie her gluckerte und gackerte ein zahlreiches Volk von Hühnern und Enten, das sie zuweilen durch eine Handvoll Gerstenkörner zu erfreuen pflegte, die gewöhnlich in einer mächtigen, bunt bemalten Thonschüssel neben ihr standen. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern liebte Fanny eine stille geistige Beschäftigung. Sie las gern und viel und alles, was ihr unter die Hände kam, mit Vorliebe aber dramatische Werke. In der kleinen Bibliothek ihres Vaters standen die Dramatiker einer vergessenen Epoche zu ganzen Haufen. Gelb eingebunden leuchtete Gerstenbergs »Ugolino« zwischen der düsteren Römertragödie des Herrn von Brave »Brutus« und dem »Julius von Tarent« Leisewitzens wie ein Symbol fressenden Neides hervor; nebenan waren Klingers Sturm- und Drangwerke in Reih' und Glied aufgepflanzt, und dann folgte Maler-Müllers rührsame »Genovefa«, Leopold Wagners schaurige »Kindesmörderin« und schließlich in Massen Auffenbergs Dramen, Iffland und Kotzebue. Eine bunte Gesellschaft halb und ganz verschollener Namen, nur noch von Interesse für die Litterarhistoriker – und für Fanny. Ihre blassen Wangen röteten sich, und in fieberhaftem Eifer nestelten die Hände am Strickstrumpf, wenn sie, dicht über das Buch geneigt, sich von Maler-Müller von der Niedertracht des Ritters Golo oder von Kotzebue die abenteuerreiche Geschichte der Kreuzfahrer erzählen ließ. Während der Lektüre arbeitete ihre Phantasie mächtig mit. Sie sah die Leute handelnd vor sich und lebte und litt mit ihnen, und so ganz war sie zuweilen in ihren Lesestoff vertieft, 48 daß sie es kaum merkte, wenn der unartige Otto sich hinter sie schlich, um sie mit den langen Zöpfen am Stuhle festzubinden oder ihr einen Frosch in den Schoß zu werfen.

Otto neckte Schwester Fanny ganz besonders gern, bekam aber dann mit Regelmäßigkeit eine gut gemeinte Tracht Prügel von Fritz. Daraus machte sich Otto freilich nicht viel, denn hatte Fritz auch derbe Fäuste – der Rücken des kleineren Gegners war nicht minder derb und konnte schon etwas aushalten. Sie waren beide ein paar rauflustige Buben, die sich beständig knufften und pufften. Sah es die Pastorin, so schalt sie, und sah es der Pastor, so freute er sich. Er war der Meinung, daß Prügel empfangen und per comptant zurückgeben, nicht nur die Muskeln, sondern auch den Charakter stärke. Er hatte Otto einmal gehörig ausgelacht, als der Junge ihm heulend geklagt hatte: »Vater – der Fritz hat mir eine 'runtergehauen.« »Hau' ihm wieder eine,« gab der Pastor zurück. »Das habe ich schon,« erklärte Otto, bereits trockenen Auges, »aber Fritzen seine war derber.« »Dann gieb ihm noch eine hinterher,« riet der spartanische Vater – und Otto ging hin, wo Fritz gerade im Sande buddelte, stellte sich breitbeinig vor ihm auf und sagte: »Fritz, guck 'mal her.« Und als Fritz neugierig aufschaute, hatte er bereits mit der Randbemerkung »Vater hat's befohlen« seinen Schilling weg. Im nächsten Augenblicke aber wälzten sich beide Burschen im Sande und prügelten sich mit vergnügten Gesichtern und wetteten dabei um Murmelkugeln, wer Sieger bleiben würde. –

Die Lust am Schmökern hatte Fritz von der Fanny 49 erlernt. So ungern er sich mit den Lehrbüchern des Pastors befaßte, so leidenschaftlich liebte er die alten Rittergeschichten, die noch aus dem Nachlasse des Vaters der Pastorin stammten und zu Ballen zusammengeschnürt, mit Staub und Spinneweben bedeckt, in der leerstehenden Giebelstube des Hauses lagen. Da schlich er sich oft in aller Heimlichkeit hinauf, suchte sich unter den alten Scharteken irgend einen Roman mit recht schauerlich schönem Titel heraus und lief damit ins Freie, um hinter einem Heuhaufen oder in den Waldkuscheln am Dorfende sein Buch mit fiebernder Spannung von Anbeginn bis zu Ende durchzulesen. Und dabei erging's ihm genau wie Fanny: er lebte und webte mit den Leuten im Roman, sprengte als Löwenritter im heißen Wüstensande dem Sultan Saladin entgegen, begleitete die heilige Vehme an ihre unterirdischen Versammlungsorte und kämpfte mit den Seeräubern des Mittelmeeres – bis seine Wangen brannten und seine Augen glänzend wurden . . . 50

 


 


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