Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Fünfzehntes Kapitel

Der Sommer ging zu Ende, – es war September geworden. Vor einigen Tagen hatte Fritz in der Wohnung Sterzingers vor Rennerke eine Probe seines Könnens abgelegt und Rennerke war mehr als zufrieden gewesen. Zum Ärger des bayrischen Herkules hatte sich der Agent zu der enthusiastischen Äußerung: »Der Fiedler wird der star der Saison!« hinreißen lassen, und das hatte Sterzinger sehr übel vermerkt. »Wenn er es wird, so ist das mein Werk, denn Fiedler ist meine Schule,« gab er zurück, worauf Rennerke, die Empfindlichkeit des Kolossalmenschen kennend, schleunigst einlenkte und mit ernstem Gesicht hinzufügte: »Die Welt wird es Ihnen danken.«

Thatsache war, daß die Lehrzeit Fritzens als beendet anzusehen war. Was noch fehlte, – nach der Ansicht Rennerkes fehlte allerdings nichts – mußte die beständige Übung bringen. Nun handelte es sich nur noch um ein Engagement. Rennerke hatte bereits ein solches in Aussicht. Die Direktion Brett-Habelschwerdt in Kopenhagen suchte für den ersten Oktober Athleten, Akrobaten und Gymnastiker. Rennerke zweifelte nicht, 265 daß die »Gebrüder Sterzinger« (Fritz sollte als ein Bruder des bayrischen Herkules in die Kunstwelt eingeführt werden) bei Brett-Habelschwerdt sofort gute Unterkunft finden würden; noch am Nachmittage wollte er nach Kopenhagen telegraphieren und auf dem Drahtwege die nötigen Abmachungen treffen.

In der That war die Angelegenheit, Dank der Geschicklichkeit Rennerkes, in Bälde geordnet. Brett-Habelschwerdt boten den Gebrüdern Sterzinger zwölfhundert Mark pro Monat, aber unter der Bedingung, daß die beiden am ersten Auftritts-Abend gefielen. Wenn das Gegenteil stattfinden sollte, gelte der Kontrakt für sofort gelöst. Man kenne August Sterzinger wohl, doch noch nicht den jüngeren Bruder, und das Tivoli-Publikum in Kopenhagen habe seine Mucken. Was die »berühmte Schlangendame«, Miß Anne Hopskin, betreffe (die natürlich mit engagiert werden sollte, – Sterzinger stellte das, wie gewöhnlich, als Bedingung), so wollte man erst einmal sehen, ob der ihr vorangehende Ruf ein gerechtfertigter sei. Im vorigen Jahre sei ein »Reptilien-Mensch«, den Professor Teitelescu in Bukarest für das achte Weltwunder erklärt und den die Direktion Brett-Habelschwerdt daher auf Treu und Glauben für eine ganze Saison engagiert habe, glänzend durchgefallen. Auf anthropologische Autoritäten könne man nichts geben, – in der »Kunst« sei das Publikum Richter.

Selbstverständlich zweifelte Rennerke keinen Augenblick an dem Erfolg seiner Klienten. Er war seiner Sache so sicher, daß er Fritz sogar einen erheblichen Vorschuß bewilligte, damit dieser sich »eignes Material für die 266 Arbeit« und die nötigen Kostüme beschaffen könne. »Aber nicht sparen bei den Kostümen, Fiedler – nicht sparen,« ermahnte er Fritz, als er ihm die Summe aushändigte; »ein schönes Kostüm ist ein halb gewonnener Abend! Seidene Trikots, – keine wollenen! Um Himmels willen keine wollenen Trikots, die an Kyritz und Pasewalk erinnern! Gehen Sie zu Grohe und Compagnie – die werden Sie würdig ausstatten!« –

Grohe und Compagnie thaten ihr möglichstes. Binnen acht Tagen war Fritz im Besitze zweier glänzender Kostüme. Er wurde dunkelrot, als er zum erstenmal mit einem derselben bekleidet, vor den kleinen Spiegel in seiner Wohnung trat. Ein heißes, unwillkürliches Gefühl von Scham, sich so vor Tausenden von Menschen zeigen zu sollen, trieb ihm das Blut in das Gesicht. Fleischfarbenes Seidentrikot bedeckte Oberkörper und Beine, ein Schurz aus flammend rotem Atlas, mit Gold besetzt, die Hüften; die Schnürstiefel mit niedrigen Absätzen bestanden aus imitiertem Juchten. Das war alles. Fritz wußte, daß die modernen Gladiatoren nie anders aufzutreten pflegten und daß das Publikum an dieser Kostümlosigkeit durchaus keinen Anstoß nahm – und dennoch schämte er sich. Ihm fiel plötzlich ein, was ihm Otto einstmals über das Zurschaustellen des eigenen Körpers gesagt hatte, – und mißmutig streifte er den bunten Tand wieder vom Leibe.

Es war nur wenige Tage vor der Abreise der »Gebrüder Sterzinger« nach Kopenhagen, als ein unerwartetes Geschehnis das Engagement am Tivoli-Variété-Theater in Frage stellte. Als Fritz eines Abends 267 ziemlich spät nach Hause kam, fand er auf seinem Tische einen durch Dienstmannshand beförderten Brief folgenden Inhalts:

»Geehrte Herr Fritz! Ich bitten Ihnen instant, kommen Sie gleich bei mich, aber gleich. August ist ser krank und ich ser unglöcklich, weil ich nicht wissen, was machen. Kommen Sie gleich, I you please

Anne Hopskin.«

Fritz sah nach der Uhr. Es ging auf eins; der Brief der Miß Hopskin war aber so dringend gehalten, daß er auf die späte Stunde keine Rücksicht nehmen konnte. Er machte sich ungesäumt auf den Weg, ließ sich vom Nachtwächter das Haus, in dem Sterzinger wohnte, aufschließen und klingelte an dessen Thür.

Er mußte geraume Zeit warten, ehe Miß Anne ihm öffnete. Sie trug ein Licht in der Hand und sah geisterbleich aus.

»Ich bin es, Fräulein,« sagte Fritz, als er sah, daß die Kleine ihn mit großem angsterfüllten Augen wie einen Fremden anstierte.

Anne stieß einen leisen Schrei aus und zerrte Fritz an der Hand in den Küchenraum hinein.

»Sie sind es,« ächzte sie, »o Gott sei Dank, daß Sie da sein, – o Gott, wie bin ich unglöcklich, – o meine arme August, meine arme, arme August! Denke Sie, zu Mittag fallt er auf einmal um und können nicht 268 mehr aufstehen, so daß ich Frau Petersen von nebenbei zum Hilfe rufe müssen, und der Doktor sagt, es sei eine Schlagfluß und serr ernst! O meine arme liebe August!«

Die Kleine jammerte laut weiter und fiel in ihrer Aufregung Fritz um den Hals und preßte ihr thränenfeuchtes Gesichtchen an seine Wangen.

Inzwischen hatte sich mit leisem Knarren die Thür zum Nebenzimmer geöffnet, und ein breites rotes Frauenantlitz lugte zur Küche hinein.

»Pscht, Freileinchen – Sie müssen leise sind! Det jeht so nich – nu will er schlafen, und sonst wacht er am Ende uff« . . .

»Pst!« wiederholte Anne erschrocken und wisperte dann Fritzen ins Ohr: »Das sein Frau Petersen von nebenbei, – eine guter Frau, – sie sein gleich gekommen, wie ich ihr gebeten habe!«

Fritz begrüßte die Frau, eine auf gleichem Flur mit Sterzinger wohnende Wäscherin, und fragte nach dem Verlauf des Unglücksfalls. Die Petersen zuckte mit den Achseln. Das werde wohl zu Ende gehen, meinte sie, mit ihrem seligen Manne sei es ähnlich gewesen. Der sei auch so stark gewesen wie der Herr Sterzinger, und eines Tages sei er, gerade wie dieser, ohne äußere Veranlassung vom Schlage getroffen umgefallen. Die ganze rechte Seite sei gelähmt gewesen, er habe gar nicht mehr sprechen können, und ein paar Stunden später sei Herzschlag hinzugetreten . . .

Fritz trat mit leisem Schritte in das Krankenzimmer. Da lag der arme Herkules lang ausgestreckt in seinem 269 Bette und atmete laut, unregelmäßig und unter pfeifenden Geräuschen, als ruhe mehr als eine Centnerlast, wie er sie oft getragen, auf der riesigen Brust. Er schlief nicht, sondern starrte Fritz mit weit aufgerissenen Augen an, aber ausdruckslos und leer, als kenne er ihn nicht wieder. Das Gesicht sah schrecklich aus, – auf den feisten Wangen lagen dunkelbraune Töne, mit gelben Flecken vermischt, und die Lippen waren bläulich gefärbt.

»Wann war der Arzt hier?« fragte Fritz flüsternd die Petersen.

»So um Uhre neune,« erwiderte die Frau; »ick hatte ihn selbst geholt, weil ick ihn kenne, – und er wollte ooch wiederkommen, aber er hat woll anderschwo zu thun jehabt, denn er hat sich nich wieder blicken lassen. Er hat viel Kundschaft, und ooch feine Leute drunter« . . .

»Lassen Sie sich vom Fräulein die Schlüssel geben und gehen sie sofort noch einmal zum Arzt,« fiel Fritz der Sprechenden ernst ins Wort. »Er soll auf der Stelle kommen, seine Anwesenheit sei unbedingt notwendig. Unbedingt, – sagen Sie ihm das nur« . . .

Die Frau nickte und verließ das Gemach. Fritz setzte sich neben das Bett Sterzingers, während sich die kleine Engländerin leise schluchzend an der Thür niederkauerte und nur zeitweise mit den rotgeweinten Augen furchtsam zu dem Sterbenden hinüber schaute.

Sterzinger lag in der Auflösung, – Fritz zweifelte nicht daran. Er kannte diesen leeren, glasigen Blick, dieses qualvolle, nach Luft ringende Atmen. Er hatte die bangen Stunden nie vergessen können, die er am Todesbette 270 seiner Eltern verlebt . . . Vorsichtig griff er nach der linken Hand Sterzingers. Sie war eiskalt und starr, wie die Hand eines Toten. Ein Schauer überlief Fritz.

Eine Viertelstunde mochte verflossen sein, als der arme Koloß sich plötzlich zu regen begann. In sein Auge trat ein rührender Ausdruck des Bittens und Flehens, und seine Lippen bewegten sich leise.

Fritz glaubte Sterzinger zu verstehen, – er winkte Miß Anne heran.

Von Angst und Grauen geschüttelt und weiß im Gesicht erhob sich das Mädchen, trat an das Bett und sank hier auf die Knie. Der Blick des Sterbenden ruhte voll unendlicher Liebe auf dem an allen Gliedern fliegenden Geschöpf – und seine Lippen bewegten sich unaufhörlich, ohne daß ein Laut hörbar wurde. Anne vermochte nicht, in das Gesicht des Leidenden zu schauen, der Anblick dünkte ihr grauenvoll, – sie preßte das Antlitz in die Bettkissen und weinte laut.

Als Frau Petersen mit dem ob der nächtlichen Störung sich höchst unwirsch zeigenden Arzt zurückkehrte, begann der Todeskampf. Er währte stundenlang, – Sterzingers robuste Natur sträubte sich mächtig gegen die geheimnisvollen Gewalten, die ihn umschwebten. Er stöhnte, ächzte, wimmerte und sein Gesicht verzerrte sich; die halb geöffneten Lippen zeigten die blau gefärbte, geschwollene Zunge . . . Miß Anne war längst aus dem Sterbezimmer geflohen; sie kauerte in der Küche hinter dem Herde und sah mit ihrem gelösten Haar, dem kalkigen Gesicht und den brennenden Augen wie eine Wahnsinnige aus.

271 Als der dämmernde Morgen seine ersten grauen Schatten in das Stübchen warf, fand Sterzinger endlich Erlösung.

* * *

Drei Tage später begrub man ihn. Er hatte wenig hinterlassen, aber genug, ihm ein würdiges Begängnis zu bereiten. Fritz hatte alle nötigen Anordnungen zu der Beerdigung getroffen, die an einem wundervollen Herbstnachmittage auf dem Rosenthaler Kirchhofe stattfand. Von den Kollegen Sterzingers waren dabei nur wenige anwesend, – die ganze Trauergemeinde zählte kaum ein Dutzend Köpfe. Anne Hopskin war unter der Obhut der Frau Petersen im der Wohnung zurückgeblieben; sie geberdete sich in ihrer wilden Verzweiflung wie rasend, so daß es Fritz für besser hielt, sie vom Kirchhofe fern zu halten.

Ein wehes Gefühl beschlich Fritz, als er zum letzten Gruße drei Hände Erde in das offene Grab Sterzingers warf. Der Tote hatte ihm nie nahe gestanden, war ihm auch nie sonderlich sympathisch gewesen und doch konnte sich Fritz eines tiefen Mitgefühls nicht erwehren.

»Armer Teufel,« sagte leise der neben ihm stehende Mann, ein alter Komiker mit grauen, verwitterten Gesichtszügen, – und Fritz nickte. Es war ein bemitleidenswerter armer Teufel gewesen, den man da eingesargt hatte. –

Noch am selben Tage ging Fritz zu Rennerke, um sich seiner Zukunft halber zu vergewissern. Der Agent hatte in seinem Namen bereits eine neue Abmachung mit der Direktion Brett-Habelschwerdt getroffen. Fritz 272 sollte vorläufig allein debütieren; gefiel er, so war er für drei Monate engagiert; Gehalt vierhundert Mark pro Monat.

Fritz war mit allem einverstanden. Auch das paßte ihm, daß er schon am nächsten Morgen nach Stettin abdampfen sollte, um am Abend zu Schiff nach Kopenhagen weiter zu reisen, – Berlin behagte ihm nicht mehr, er sehnte sich hinaus in die Welt. Es wäre ihm schrecklich gewesen, wenn er in Berlin hätte zum erstenmale auftreten müssen; mehr als sonst hatte er gerade in letzter Zeit an das denken müssen, was ihm Otto über die bürgerliche Stellung der sogenannten Specialitätenkünstler gesagt und was ihm der Pastor Hartwig über die Wahl eines anständigen und ehrenwerten Berufs geschrieben hatte. Tausend Bedenken gegen die ihm winkende Coulissen-Zukunft waren in ihm rege geworden und ließen sich nicht beschwichtigen, ob er sich auch noch so energisch bemühte, sie zu zerstreuen. Schon der erste Blick, den er in die Lebenskreise des vagierenden Gauklervölkchens geworfen, hatte ihn stutzig gemacht. War denn das ein beneidenswertes Dasein, das der bayrische Herkules, den man gestern zu Grabe getragen, geführt hatte? – Nein, das war es nicht! Trotz der Tausende, die er verdient, hatte Sterzinger zwischen räucherigen Kneipen und einer verkommenen Häuslichkeit doch immer nur ein elendes Dasein gefristet – war er ein »armer Teufel« geblieben . . .

Jedes Mal, wenn Fritz sich mit ernsthafteren Gedanken über die Ausgestaltung seiner Zukunft trug, wurde er unruhig und ärgerlich. ›Was soll das?‹ sagte er sich, 273 ›zurück kann ich nicht mehr und will es auch nicht! Nein – ich will es nicht! Geld verdienen – das ist die Hauptsache! Gefalle ich dem Publikum mit meinem Hokuspokus, dann kann ich in wenigen Jahren ein hübsches Sümmchen gespart haben und immer noch eine andre Carriere einschlagen! Ich bin ja noch jung! Und wer weiß denn, daß ich mich öffentlich als Athlet und Herkules habe bewundern lassen? Unter meinem eignen Namen trete ich nicht auf, und ein Engagement in Berlin werde ich nach Möglichkeit zu vermeiden wissen! Draußen aber im fremden Lande kennt mich kein Mensch! Also fort mit den dummen Gedanken!‹ – –

* * *

Es war dunkel geworden. Fritz hatte seine Sachen und das schwere eiserne Handwerkzeug, das er sich für seine Produktionen neu angeschafft, zusammengepackt und war reisefertig; am nächsten Morgen um sieben Uhr ging sein Zug ab. Er saß am offenen Fenster und schaute träumend auf die Straße hinaus. Die Gaslaternen waren soeben angesteckt worden, – ein unruhig flutendes Leben wogte die Trottoirs auf und ab. Trotz der späten Stunde herrschte noch ein reger Wagenverkehr auf dem Macadam; die Luft erdröhnte von dem Rasseln und Rollen der Gefährte und dem Stampfen der eilenden Gäule.

Fritz hatte inmitten dieses, bis zu dem dritten Stockwerke hinaufdringenden Straßenlärms ein leises, schüchternes Klopfen, das sich an der Thür vernehmen ließ, überhört. – Es wiederholte sich – und dann wurde die 274 Thür von außen geöffnet und eine Frauengestalt schlüpfte ins Zimmer.

Jetzt erst wandte Fritz sich um. Ein paar große, hellblaue Augen, in denen ein weltfremder, angstvoller, fast irrer Ausdruck lag, starrten ihm aus kalkweißem Gesicht entgegen . . .

»Miß Hopskin!? – Mein Gott, wie kommen Sie hierher? Was wollen Sie? – Mich sprechen?!« –

Das arme Geschöpf stieß einen schluchzenden Laut aus, fiel vor Fritz nieder und umspannte seine Knie.

»O meine liebe Herr Fiedler, o meine einzige gute Freund,« ächzte sie unter Thränenströmen, »lassen Sie mir hier, – ich kann nicht mehr in die alte Wohnung bleiben, – ich bin ganz tot vor Angst, – ich muß ihn immer wieder sehen mit seine gebrochene Augen, und er winkt mir und ich höre, wie er stöhnt! O Gott, wie bin ich unglöcklich! Ich wollen auch sterben!«

Und sie warf sich der Länge nach auf die Erde nieder und bohrte ihr Gesicht in die Handflächen ein; ihr ganzer Körper bebte wie von Krämpfen erschüttert.

Fritz hob sie vorsichtig auf, führte sie zum Sofa und sprach beruhigend und tröstend auf sie ein. Er legte 275 seinen Arm um ihre Schulter und streichelte ihr mitleidig die blassen Wangen, – die arme kleine Person dauerte ihn tief.

Anne wurde allmählich stiller. Immer noch flossen zwar die Thränen, aber die nervösen Zuckungen hatten aufgehört; sie hatte einen Zipfel ihres Taschentuchs zwischen die Zähne genommen und zerrte daran. Von Zeit zu Zeit seufzte sie leise.

Fritz versuchte ihr in schonender Weise klar zu machen, daß sie vorläufig nach Hause zurückkehren müsse. Morgen schon könne sie ja das Quartier wechseln. Er habe auch mit Rennerke ihrer Person halber gesprochen, der wolle sich ihrer annehmen und ihr bald ein anderweitiges vorteilhaftes Engagement verschaffen. Sie solle nicht den Mut verlieren und sich nicht im Schmerze vergessen, solle tapfer sein und Vertrauen zu sich selbst haben . . .

Anne schaute ihn wieder großen Auges an, und wieder prägte sich Angst und nervöses Furchtgefühl in ihren Zügen aus. Sie begann von neuem zu zittern.

»Ich kann nicht zurück, – ich will nicht zurück!« schrie sie auf. »Lassen Sie mir hier, gute Herr Fiedler« – und sie faltete wie zum Beten die Hände, – »ich will ganz artig sein, will mir ruhig auf die Sofa legen und zu schlafen versuchen, – will Ihnen gar nicht stören – aber bitte, bitte, lassen Sie mir hier, denn wenn ich nach Hause komme, dann steht er wieder vor mich und sieht mir an . . . O geliebte Freund, seien Sie erbarmig und lassen Sie mir hier!« . . .

Sie glitt vom Sofa und fiel ihm abermals zu 276 Füßen. Von Natur aus sehr zart veranlagt und zur Hysterie neigend, hatte die Nervenaufregung der letzten Tage eine förmliche psychische Irritation in ihr hervorgerufen. Sie befand sich in halbem Wahne. Ihre Augen glühten und ihre Zähne schlugen aufeinander . . . Plötzlich sprang sie jach empor und warf sich mit wilder Wucht auf Fritz. Sie bedeckte sein Gesicht mit glühenden Küssen und preßte ihn in inniger Umschlingung an ihre Brust. In ihr totblasses Gesicht trat dabei eine fliegende Röte, und mit fieberhafter Hast stieß sie in zehnfacher Wiederholung, bald leise flüsternd, bald schreiend, die Worte hervor: »Lassen Sie mir hier! Ich liebe Sie, – o wie ich Sie liebe! . . . Ich will Ihnen gut sein, ich will Ihnen lieben, aber lassen Sie mir hier, sonst sterbe ich!« . . .

Fritz machte sich mit Anstrengung frei von ihr. Er sah ein, daß es nicht möglich sei, sie in diesem Zustande auf die Straße zu lassen. Auch sein Herz schlug stärker, – er fühlte, daß er erregt wurde; das Blut pochte in seinen Pulsen.

Er hob das leichte Geschöpfchen auf und trug sie auf sein Bett, legte sie hier nieder und bedeckte sie mit seinem Mantel.

»Sie sollen hier bleiben,« sagte er sanft. »Aber nun seien Sie vernünftig und ruhig, – ich verlange das! Versuchen Sie zu schlafen, – ich wache bei Ihnen, Sie brauchen sich nicht zu fürchten« . . .

Anne erwiderte kein Wort. Ihr Auge schaute ihn dankend an.

»Ich bin ruhig,« flüsterte sie.

277 Fritz setzte sich wieder in die Sofaecke. Er hörte, daß ihr Atmen ruhiger und gleichmäßiger wurde. Ihre Lider schlossen sich, – sie schlief ein.

Es war finster im Zimmer. Fritz legte sein heißes Gesicht in die Hände und stemmte den Ellenbogen auf den Tisch. So starrte er vor sich hin. Er fand keine Ruhe, – es wäre ihm unmöglich gewesen, zu schlafen. Von Zeit zu Zeit irrte sein Blick nach der Seite, wo das Bett stand und wo Anne atmete. – –

Es ging auf fünf, und draußen dämmerte es, als Fritz sich leise erhob. Er wusch sich Gesicht und Hände, legte seine Sachen zusammen und trat dann vor das Bette, um Anne zu wecken. Sie hatte die ganze Nacht hindurch fest und ruhig geschlafen. Ihr hübsches, schmales Gesicht, das einen ausgesprochen englischen Typus zeigte, war von lichter Röte übergossen, – ihre Lippen waren geöffnet und ließen die weißen, spitzen Zähne sehen. Unter dem übergeworfenen Mantel zeichneten sich ihre fein geformten schlanken Glieder in deutlichen Umrissen ab.

Fritz hatte sich bei Lebzeiten Sterzingers wenig um die Kleine gekümmert. Jetzt fiel ihm zum erstenmale auf, daß sie merkwürdig hübsch war. In der spröden Herbheit ihrer Formen lag etwas Jungfräuliches.

Wohl fünf Minuten lang stand Fritz unbeweglich vor ihr. Ein durstiges Verlangen kam über ihn. Er beugte sich zu ihr herab und küßte sie auf den Mund. Er erwartete und hoffte, daß sie im Erwachen ihre Arme um seinen Hals schlingen würde, – und dann hätte er sie an sich gerissen, wie sie gestern abend ihn . . .

278 Aber sie erwachte nicht. Ein glückliches Lächeln huschte über ihr Gesicht, und ihre Lippen bewegten sich leise, während sie weiter schlummerte.

Fritz schritt zum Fenster, öffnete es und sog gierig die feuchte Morgenluft ein, – legte sich weit hinaus und atmete stark. Es war, als habe sich ihm über Nacht in inneren Kämpfen eine neue Seelenwelt erschlossen. In seinem heißen sinnlichen Verlangen fühlte er sich zum erstenmale als Mann – als Mann auch in der Stärke seines Entsagens und der Kraft seines Willens.

Als er sich wieder umwandte, hatte sich Anne im Bett aufgerichtet und schaute sich verwunderten Auges um. Das Klirren des Fensters hatte sie erweckt.

Fritz begrüßte sie mit freundlichen Worten. Sie habe trefflich geschlafen und sei nun wieder gänzlich gesundet. Sie solle nur in den Spiegel schauen, – wie ihr Gesicht glänze und wie wohl sie aussehe! – Aber es sei Zeit, aufzustehen. Er müsse fort, der Zug warte nicht auf ihn. Er wolle sie in der Droschke bis vor ihre Wohnung bringen, – und nun sei ja heller Tag, und sie brauche sich nicht mehr zu fürchten. Sie solle nur bald zu Rennerke gehen und sich mit diesem besprechen, dann werde schon wieder alles in die alte Ordnung kommen . . .

Anne erhob sich stillschweigend. Ihr Gesicht war wie erstarrt. Sie trat vor den Spiegel, strich mit mechanischer Bewegung ihr Haar glatt und setzte sich dann auf einen Stuhl, die Hände im Schoße faltend.

»Ich will nur eine Droschke holen,« sagte Fritz, »und bin in fünf Minuten zurück. Bleiben Sie ruhig hier und erwarten Sie mich« . . .

279 Er schloß die Thür auf und trat auf die Schwelle. In demselben Augenblick hörte er hinter sich ein Geräusch – hastende Schritte und das Rascheln von Frauengewändern. Als er sich bestürzt zurück wandte, sah er mit Entsetzen, daß sich Anne auf den Sims des offenen Fensters geschwungen hatte. Mit einem Aufschrei sprang er ihr entgegen, – aber es war zu spät. Seine Hände griffen in die Luft. Lautlos hatte sich das arme Mädchen in die Tiefe gestürzt. –

Als Fritz, von Grauen geschüttelt und beflügelten Fußes, die Treppen hinabgeeilt war, hatte sich unten auf dem Trottoir bereits ein Menschenring um die Unselige gebildet. Ihr blonder Kopf war völlig zerschmettert; das Blut rieselte langsam über das graue Gestein, – es war ein furchtbarer Anblick.

In wenigen Minuten waren Polizeibeamte zu Stelle. Fritz mußte ihnen auf die nächste Wache folgen, wo ein ausführliches Protokoll über die Angelegenheit aufgenommen wurde. Als er nach Hause zurückkehrte, war der Leichnam Annes bereits fortgeschafft, das Trottoir gewaschen und gereinigt worden; über die Stätte des Unglücks wälzte das Großstadtleben wieder rastlos seine Wogen.

Die Wirtsleute Fritzens, die ihren stillen und bescheidenen Mieter stets gern gehabt hatten, waren vernünftig denkende Leute. Fritz erzählte ihnen der Wahrheit gemäß den Hergang des tragischen Geschehnisses; er glaubte, ein Anfall von Geistesverwirrung sei das Motiv der schrecklichen That gewesen, – sie lasse sich nicht anders erklären. Die Wirtsleute wußten, daß Fritz in der 280 Frühe abfahren wollte; da es noch Zeit war, so rieten sie ihm, sich ohne Zögern auf den Weg zu machen, weil er sonst auf langwierige polizeiliche Vernehmungen, möglicherweise sogar auf Untersuchungshaft zu rechnen habe. Sie versprachen ihm, in seiner Abwesenheit für ihn einzutreten und seine Sache zu führen, – er solle nur auf alle Fälle seine genaue Adresse hinterlassen.

Fritz sah die Notwendigkeit schleunigen Handelns ein. Was konnte er der Toten noch nützen? – Und thränenden Auges, tiefes Weh im Herzen, fuhr er davon. Der Zug stand bereits in der Abfahrtshalle, als er auf dem Bahnhofe eintraf. Wenige Minuten später saß er in der Ecke eines Coupés und starrte in die vorüberfliegende Landschaft hinein. Und überall schien aus den herbstlich gefärbten Feldern und aus dem Waldesdunkel, schien zwischen Baum und Strauch und Wiese ihm das blasse, rührend aussehende Gesicht der kleinen Schlangenmaid entgegenzunicken.

Im Grübeln und Träumen aber drängte sich Fritz unwillkürlich die Frage auf: ›Wär es nicht besser gewesen, ich hätte sie, da sie schlafend vor mir lag, inbrünstig an mich gezogen und hätte sie als meine Geliebte mit mir in die Welt genommen, so wie es Sterzinger 281 gethan? Hätt' ich sie dann nicht wenigstens vom Tode errettet? War es richtig, daß ich mich selbst bezwang?« – –

Der Kantorsjunge hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden mehr gelernt, als bisher in seinem ganzen Leben. Er war aber auch über Nacht zum Sophisten geworden. 282

 


 


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