Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Sechzehntes Kapitel

Der Vormittag war längst angebrochen, und durch das Stübchen, das Fritz in einem kleinen Gasthofe in der Gothersgade Kopenhagens bewohnte, flutete heller Sonnenschein, aber er wollte den Schläfer nicht wecken.

Es war sehr spät geworden am gestrigen Abend. Die bunten Bilder, die der Traumgott dem Schlummernden vorgaukelte, mußten glücklicher Art sein, denn Fritz lächelte im Schlafe. Er hörte noch den jubelnden Beifall der Menge und sah sich immer von neuem vor die sich öffnende Gardine treten. Sein erstes Debut war glänzend verlaufen. Er hatte sich mit den gewöhnlichen Produktionen der Athletenkunst begnügt, aber die sichere und spielleichte Art, in welcher er dieselben ausführte, seine hübsche Erscheinung und sein gewinnendes Sichgeben hatten das Publikum förmlich begeistert. Der junge Herkules wurde gefeiert, als ob er ein großer Schauspieler oder ein weltberühmter Sänger wäre.

Noch am selben Abend wurde die Rückgangsformel in seinem Kontrakt gelöscht und er auf drei Monate für das Variété-Theater in Tivoli fest engagiert. Die Direktion 283 Brett-Habelschwerdt – sie bestand aus dem einstigen Komiker Peder Brett, der die ehemalige Wiener Kostüm-Soubrette Nanni Habelschwerdt ehelich heimgeführt hatte – schätzte sich glücklich im Besitze der neuen Anziehungskraft.

Nach der Vorstellung begrüßte Fritz (der sich auf den Wunsch von Brett-Habelschwerdt auf dem Theaterzettel als der berühmte märkische Herkules Sterzinger junior bezeichnen mußte) im Restaurationssaale des Variété-Theaters seine übrigen Kollegen. Er fand manchen Bekannten darunter – so den Malabaristen Fred Deeken-Corobatti vom Berliner Reichshallen-Theater, den Tanz-Humoristen Herrn Wilhelm Gackerle samt seiner Herzliebsten, dem blonden Fröken Rida Anderssen, die ihm inzwischen in aller Form Rechtens angetraut worden war, ferner den japanischen Fächerspieler Nisa-Naki und den berühmten Tierstimmen-Imitator mit dem Napoleonskopfe, der die näherkommende Schafherde so überaus naturgetreu nachzublöken vermochte. Die tote Saison in Berlin hatte das ganze Künstlervölkchen in der Fremde von neuem zusammengeweht. Brett-Habelschwerdt galt als zahlungstüchtige Direktion, und Kopenhagen war ein Ort, wo man die edle Zunft der »Spezialitäten« zu schätzen wußte.

Ohne einen gewaltigen Begrüßungstrunk ging es selbstverständlich nicht ab. Fritz mußte, nachdem die Gesellschaft an einem langen Tische Platz genommen hatte, eine Lage »Öl« nach der andern zur Feier seines Erfolges zum besten geben und mußte sich schließlich auch noch zur Zahlung einer Partie leichten Weines verstehen, als die anwesenden Damen gemeinschaftlich erklärten, sie seien an Bier nicht gewöhnt. Es ging lustig zu und fast so 284 geräuschvoll wie in der ›Springenden Münze‹ in Berlin, und es wehte vom Meere herüber bereits ein recht frischer Morgenwind, als Fritz endlich seine Wohnung in der Gothersgade aufsuchen konnte. –

Die ersten Wochen in Kopenhagen vergingen schnell genug für Fritz. Er benutzte seine freien Stunden dazu, die Stadt und ihre entzückende Umgebung kennen zu lernen, wobei ihn das Wetter der selten schönen Herbsttage in besonderem Maße begünstigte. Mit seinen Kollegen am Variété-Theater verkehrte er ziemlich wenig, nur mit einem derselben wurde er im Laufe der Zeit intimer befreundet. Es war dies ein neu engagiertes Mitglied, der Schatten-Silhouettist Mister Tom Price, dessen flüchtige Bekanntschaft er bereits im verflossenen Jahre in der ›Springenden Münze‹ gemacht hatte. Dieser Mister Price hatte seltsame Lebensschicksale hinter sich. Er stammte aus einer sehr guten und angesehenen englischen Gelehrten-Familie und hatte selbst auf der Oxforder Universität Medizin studiert. Der plötzliche Tod seines Vaters hinderte ihn indessen an der Fortsetzung seiner Studien; ein langwieriger Prozeß, den der alte Herr in seinen letzten Lebensjahren geführt und dessen unerwarteter Verlust wohl auch sein Ende beschleunigt, hatte das ganze Vermögen der Familie verschlungen. Da Tom von seiten seiner gleichfalls armen Verwandten auf keine Unterstützung rechnen konnte, so faßte er einen in seiner Art ebenso kühnen wie originellen Entschluß. Er bildete eine vielfach geübte dilettantische Spielerei, mittels Finger und Hände durch Lichteffekte mächtig vergrößerte Schattenfiguren auf eine weiße Wandfläche zu zaubern, kunstgerecht aus und ließ 285 sich als »Schatten-Silhouettist Tom Price« (der Name war ein angenommener) bei verschiedenen Spezialitäten-Theatern auf dem Kontinent engagieren. Die unterhaltenden Scherze Toms, die damals noch den Reiz der Neuheit für sich hatten, – Nachahmer fanden sich natürlich bald, – wurden vom Publikum stets beifällig aufgenommen, und so fehlte es Tom nicht an guten Engagements. Seine ganze Gage benutzte er aber zur Anschaffung medizinischer Lehrbücher, um sich selbständig fortbilden zu können, denn er betrachtete seine seltsame »Künstlerlaufbahn« nur als ein Interimistikum und hoffte binnen zwei Jahren so weit zu sein, sein letztes Staatsexamen ablegen und sich als praktischer Arzt in seiner englischen Heimat, wo man von seiner gegenwärtigen Stellung natürlich keine Ahnung hatte, niederlassen zu können. Obwohl der Bekanntenkreis Toms ein ziemlich beschränkter war, ließ er doch, um jedem unangenehmen Wiedererkennen vorzubeugen, die äußerste Vorsicht walten, trat nur in sehr geschickt gewählten Masken auf und zeigte sich tagsüber so wenig wie möglich auf den Straßen.

Tom Price war vierundzwanzig Jahr alt und seinem Äußeren nach ein echter Engländer: hoch gewachsen, stiernackig und von blühender Gesundheit. Er war ein prächtiger Charakter, ein Mensch von vielseitigem Wissen und ein goldenes Herz. Das offene, liebenswürdige und natürliche Wesen Fritzens hatte ihm gefallen, – ein Zufall hatte beide in nähere Berührung gebracht, man hatte anfänglich gemeinschaftlich miteinander zu Mittag gespeist und sich gegenseitig besucht, war dann vertrauter miteinander und schließlich innig befreundet geworden, – zum 286 besten von Fritz, auf den der lebenserfahrene Tom Price einen entscheidend günstigen Einfluß ausüben sollte.

An einem der letzten Oktobertage, einem jener taufrischen, sonnigen, nervenbelebenden Herbstmorgen, wie man sie in den nordischen Reichen häufiger findet als bei uns, hatte Tom seinen neuen Freund zu einem Frühspaziergange abgeholt. Die beiden schlenderten die sogenannten Smedelinien hinab, den vielverzweigten Promenadenweg, der nach den See-Badeanstalten führt und von dem aus man den herrlichsten Blick über die Rhede von Kopenhagen und den von Schiffen bedeckten Sund genießen kann, und plauderten sich die Herzen aus. Schon ein paar Tage vorher hatte Tom seinem jung gewonnenen Freunde von seinen eignen krausen Lebensschicksalen erzählt, – heute war Fritz an der Reihe.

Arm im Arm wandelten die beiden die Promenade hinab. Tom lauschte mit wachsendem Interesse den Schilderungen Fritzens aus seinen Kinderjahren im stillen Kantorshause von Klein-Busedow, seines Aufenthalts in der Pfarrei des Pastors Hartwig und bei dem Grafen Kölpin und der buntscheckigen Verhältnisse, die ihn schließlich auf die Bühne der Direktion Brett-Habelschwerdt geführt hatten. Hin und wieder huschte ein heiteres Lächeln über das 287 gewöhnlich sehr ernste Gesicht Toms, zeitweilig schüttelte er aber auch wie in leichtem Ärger mißbilligend den blonden Kopf und ließ vereinzelte Ausrufe – »foolish, by Jove!« oder »incredible!« oder »o - o, my boy!« hören. Als Fritz geendet hatte, zog Tom ihn auf eine einsam stehende Gartenbank zwischen den Bosketts und ließ sich dort neben ihm nieder.

»Wissen Sie, mein guter Junge,« sagte er nach kurzer Pause in seinem fast ganz accentfreien Deutsch und in dem metallisch klingenden Tonfall, der ihm eigen war, »wissen Sie, daß es eigentlich recht schade um Sie ist?! – Ja ja, – schauen Sie mich nur verwundert an, ich wiederhole es, es ist schade um Sie, – schade, daß Sie auf abwärts führende Bahnen gekommen sind, statt auf emporsteigende! Soll das so bleiben? – Nein, mein lieber Fritz, so bleibt es nicht, – ich müßte nicht Ihr Freund, und zwar ein guter, ehrlicher und aufrichtiger Freund geworden sein, wenn ich Sie in den Dunstkreisen, in denen auch ich gegenwärtig zu leben gezwungen bin, lassen – ich will ganz offen sprechen, – verkommen lassen wollte! Jawohl, – verkommen! Vielleicht nicht physisch, aber sittlich, – und sicher auch nicht plötzlich, aber nach und nach, – ohne daß Sie es selbst spüren und dennoch unaufhaltsam! Sie sind ein braver und lieber Kerl, mein Junge, aber kein Charakter. So lange der gute Genius in Ihnen die Oberhand behält, werden Sie gegen die Gefahren gewappnet sein, die in dem beständigen Verkehre mit allerhand Gesindel liegen, mit einem zusammengelaufenen Pack von verlotterten Burschen und schamlosen Dirnen, mit der ganzen Crapüle dieses Coulissen-Proletariats! 288 Aber allgemach wird die Gewohnheit Sie abstumpfen, – Sie werden sich gleich den andern aus dem Schwarm der heißhungrigen Weiber ein Liebchen nehmen, und aus dem Netz einer wilden Ehe ist ein gar schwierig Entkommen! Da giebt es tausend Spinnefäden, die Sie enger und enger umziehen; zur Macht der Gewohnheit gesellt sich die Trägheit und zur Trägheit allmählich der Geschmack an einem vie de Bohème, denn jeder Schimmer künstlerischer Genialität fehlt, weil eine Afterkunst niemals Genies erzeugen kann! Nein, mein Junge, wir gehören beide nicht in diese Kreise, – ich nicht, weil Erziehung und Bildungsgang mich andre Wege gewiesen haben, Sie nicht um Ihres guten Herzens, Ihres geraden Sinns und Ihrer unvergifteten Seele willen! Sie sollen nicht untergehen in Schmutz und Elend wie so viele von jenen! Sie sind jung wie ich und haben gleich mir noch das Leben vor sich, – und so sollen Sie denn, gerade wie ich, Ihre fragwürdige Künstlerschaft auch nur als ein vorübergehendes Stadium, – gewissermaßen als Mittel zum Zweck betrachten! . . . Noch wenige Worte, – lassen Sie mich ausreden, Freund, dann sollen Sie mir antworten, – kurzweg, mit einem Ja oder Nein! Ich will Ihnen ohne weiteres mit positiven Vorschlägen kommen, wie sie mir in der letzten Nacht bei der Lampe und bei meinen Büchern eingefallen sind! – Ihr Wissen beschränkt sich, wie Sie mir selbst erzählt und wie ich längst gemerkt habe, auf elementare Grundzüge, – es ist kaum Halbbildung. Da muß zunächst nachgeholfen werden. Ich führe stets ein ziemlich reichhaltiges Bücherlager mit mir, das ich Ihnen zur Verfügung stelle; außerdem müssen 289 Sie Privatunterricht nehmen, um sich im Französischen zu vervollständigen und Ihre historischen Kenntnisse zu erweitern. Englische Konversation werde ich mit Ihnen treiben, und auf unsern Spaziergängen werden wir uns in aller Gemütlichkeit über tausend Dinge, die ein Mensch von Bildung wissen muß, gelegentlich ausplaudern. Glauben Sie nicht, daß Ihnen bei wirklich gutem Willen das Lernen schwer werden wird; es wird Ihnen Freude machen. Erschrecken Sie auch nicht vor der Größe der Ihnen gestellten Aufgabe! Da Ihre Kunstfertigkeit keine allzu langwierigen Proben voraussetzt und Ihr Sklavendienst Sie nur an eine Abendstunde fesselt, so bleibt Ihnen genügend freie Zeit übrig. Sie sind zudem kein schwer begreifendes Kind mehr, sind ein offener Kopf! Lust und Liebe, – das ist alles, was Sie meinem Plane entgegenzubringen haben, – nichts weiter! Und nun, mein Junge: Ja oder Nein?« –

Eine eigentümliche innere Bewegung hatte sich bei den herzlichen Worten Toms Fritzens bemächtigt. So hatte noch niemand zu ihm gesprochen, – auch die, die es am besten mit ihm gemeint, auch Pastor Hartwig und Otto und der alte Hempel nicht! Das kam aus wärmstem Freundesherzen! – Fritz fühlte, daß er weich wurde; er preßte die Zähne zusammen, als er sein »Ja« hervorstammelte, – und halb unwissentlich dessen, was er that, haschte er nach der Hand Toms und küßte sie.

Tom zog mit rascher Bewegung die Rechte zurück und lachte auf.

»Närrischer Junge,« meinte er, »schämen Sie sich! – Aber Ihr ›Ja‹ habe ich, und nun sollen Sie mir nicht 290 mehr los kommen! Wollen 'mal sehen, ob Sie übers Jahr noch Lust spüren, weiter mit eisernen Kugeln zu spielen, oder ob Ihnen ein schlicht bürgerlicher Beruf außerhalb des vagierenden Zigeunertums besser zusagt! Wollens 'mal abwarten, – ich bin neugierig darauf!« – – –

Von dieser Morgenstunde ab begann für Fritz ein völlig neues Dasein. Der Herkules des Variété-Theaters, der Abend für Abend durch seine phänomenalen Kraftproduktionen den biederen Spießbürger Kopenhagens in Entzücken versetzte, wurde zum eifrig studierenden Stubenhocker. Welchen pikanten Stoff zu einer amüsanten kleinen Geschichte hätte diese merkwürdige Thatsache den Klatschblättern der dänischen Hauptstadt nicht liefern können! Ein Athlet, der in seinen Mußestunden französisch lernte und Litteratur trieb! Der »starke Mann«, der beim Lampenschimmer in Trikot vor die Rampe trat und eiserne Ketten sprengte, studierte Geschichte! Das war einmal etwas neues und hätte, geschmackvoll zugestutzt und phantastisch ausgeschmückt, den guten Kopenhagenern als Morgenlektüre schon gefallen! Aber Fritz hütete sich, von seinem Lerneifer irgend jemand etwas zu verraten; es war ein Geheimnis für ihn und für Freund Tom.

Fritz hatte sich eine regelmäßige Tageseinteilung entworfen, die er streng innehielt. Er stand um fünf Uhr auf und nahm dann sofort, um sich die Elastizität und Muskelkraft zu erhalten, deren er zu seinen abendlichen Produktionen bedurfte, eine Reihe von Übungen mit seinem eisernen Handwerkszeug vor. Dann begann seine geistige Thätigkeit nach schematischem Stundenplane. Tom hatte ihm kurz gefaßte, praktische Lehrbücher verschafft und 291 stellte ihm zur Ergänzung seine eigene Bücherei zur Verfügung, die Fritzen zugleich zur Vervollkommnung im Englischen diente. Auf den gemeinschaftlichen, sich oft ziemlich weit in die Umgebung Kopenhagens ausdehnenden Spaziergängen, die stets eine doppelte, körperliche wie geistige Erfrischung für die Freunde waren, wurde das Pensum des Tages resumiert, glossiert und erläutert. Der Abend gehörte der Bühne; unmittelbar nach Absolvierung ihrer Piècen gingen die beiden in ihre gemeinschaftliche Wohnung, wo sie ein frugales Mahl einnahmen und dann ihr Lager aufsuchten.

An Lust und Liebe fehlte es Fritz nicht, – er holte mit wahrhaftem Feuereifer nach, was er in seiner Schulzeit versäumt hatte. Sein heller Kopf und seine rasche Auffassungsgabe erleichterten ihm diese zweite Lernzeit ebenso sehr, wie das praktische Lehrsystem und das philologische Talent Toms, dessen kluge Ratschläge ihn vor einer unrichtigen Ausnützung seines Büchermaterials schützten. »Sie sollen ja um Gottes und aller Heiligen Willen kein gelehrtes Huhn werden, mein guter Junge,« sagte er eines Tages zu Fritz, als dieser sich in überflüssige geschichtliche Details aus römischer Epoche vertiefen wollte; »Sie sollen nur Ihre Schulweisheit wieder auffrischen, sollen sie auszubauen und zu ergänzen versuchen, damit Sie es doch so ungefähr auf den Bildungsstandpunkt eines anständigen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts bringen, und damit es Ihnen späterhin nicht allzu schwer fällt, einen ehrenwerteren – oder sagen wir lieber geachteteren Beruf ergreifen zu können, als den gegenwärtigen. Ob Sie dann Buchhalter werden wollen oder Generalkonsul, ob 292 Sie sich auf ein Spezialstudium zu werfen oder bei einem Apotheker in die Lehre zu gehen wünschen oder was weiß ich, – das ist eine Sache für sich! Mit einem leeren Schädel aber kommt kein Mensch auf löbliche Art durch die Welt – da ist man heutzutage eben nur als Herkules oder allenfalls als Schattensilhouettist zu gebrauchen!« –

Die Zeit verging rasch. Den sonnigen Herbsttagen folgten stürmische Nächte, in denen der Orkan das Meer durchwühlte und die Wellen pfeifend in die Lüfte warf. Mit dem stillheiteren Glanz sommerlicher Nachfeier war es vorüber. Der Winter zog mit Schneegeflocke, mit seinen glitzernden Eiskrystallen und seinem kalten Sonnenblicke ins Land.

Weihnachten kam heran. Die beiden Freunde feierten den heiligen Abend in stiller Beschaulichkeit in ihrem Stübchen; Fritz hatte für einen kleinen Christbaum Sorge getragen und Tom einen mächtigen Punsch gebraut, wie er unter den Kommilitonen in Oxford gebräuchlich gewesen war. Die beiden hatten sich gegenseitig mit einigen harmlosen Kleinigkeiten beschenkt; Fritz, der sich bei seiner geistigen Arbeit das Tabakrauchen angewöhnt, erhielt eine lange Weichselholzpfeife mit unpoliertem Meerschaumkopf, ein prächtiges Ding, das 293 sofort in Brand gesetzt wurde, – und Tom, der wie ein Chinese den Thee liebte und bequem ein halb' Dutzend Tassen trinken konnte, bekam eine neue, blinkende Theemaschine an Stelle seiner alten und abgenutzten aufgebaut. Beide Gegenstände erregten kindliche Freude bei den Beschenkten.

Draußen fiel der Schnee sacht und in dicken Flocken vom Himmel herab und schichtete sich vor dem Fenster fast bis zu halber Scheibenhöhe auf. Fritz hatte die herabgebrannten Lichter des Christbaums ausgelöscht; die grün beschirmte Lampe, die auf der Kommode stand, verbreitete eine trauliche Helle im Zimmerchen, und aus der Punschterrine stiegen langsam lichte und duftende Wölkchen zur Decke auf.

Die beiden Freunde saßen auf ledernen Lehnstühlen am Tische und tranken, rauchten und plauderten. Eine Vorstellung fand heute nicht statt, – der Abend gehörte ihnen. Man sprach von der nächsten Zukunft; die Kontrakte beider waren von der Direktion Brett-Habelschwerdt bis zum ersten März verlängert worden, dann sollte Tom nach Paris, wo ihm an der Arène d'hiver ein gutes Engagement angetragen worden war. Fritz, der den Freund nicht verlassen wollte, hatte Rennerke geschrieben, ihn gleichfalls in Paris unterzubringen. Aus der Antwort des Agenten ging jedoch hervor, daß es schwierig sei, einem deutschen Künstler an einer dortigen Spezialitätenbühne Engagement zu verschaffen; Fritz thäte besser, nach Berlin zurückzukehren, – Reichshallen, Concordia, Wintergarten und American-Theater »gampelten« nach ihm, sein Renommee sei fabelhaft gestiegen, er habe den alten 294 Sterzinger selig im Umsehn überflügelt. Für Berlin dankte Fritz indessen; es gab dort zu viele Bekannte, die von seiner herkulischen Kunstfertigkeit nichts zu wissen brauchten. Er schrieb daher an Rennerke zurück, Reichshallen, Concordia, Wintergarten und American-Theater sollten ruhig weiter »gampeln«, er käme nicht; er wollte nach Paris, sei aber im übrigen gern bereit, dort unter einem weniger intensiv deutsch klingenden Namen wie ›Sterzinger junior‹ aufzutreten, sich eventuell auch mit einer bescheideneren Gage zufrieden zu geben. Die Antwort Rennerkes auf diesen letzten Brief stand noch aus, – Fritz hoffte indessen zuversichtlich, daß der Agent seine Wünsche berücksichtigen würde. Ihm lag unendlich viel daran, mit Tom zusammenbleiben zu können, und auch Paris lockte ihn.

Das Thema der Unterhaltung wechselte schnell, als der eintretende Briefträger Fritz ein großes Schreiben in Amtsformat mit dem Dienstsiegel des Königlichen Polizei-Präsidiums zu Berlin überbrachte. Es handelte sich um die Anzeige, daß die Untersuchungssache bezüglich des Selbstmordes der unverehelichten Annie Hopskin, geboren am 4. Juli 1860 zu Horsham, Sussex, England, als jüngste Tochter des dort noch lebenden Schuhmachermeisters Charles Hopskin und seiner Ehefrau, geborenen Soundso – der Polizeistil war furchtbar – als nunmehr beendet anzusehen sei. Fritz war in dieser tragischen Angelegenheit mehrfach durch das Konsulat protokollarisch vernommen worden, und er hatte es nur den für ihn günstigen Aussagen seiner Berliner Wirtsleute zu verdanken, daß ihm größere Unannehmlichkeiten erspart werden konnten. So war er denn froh, daß auch diese 295 trübselige Geschichte ihren Abschluß gefunden hatte. Unwillkürlich lenkte aber, in Anknüpfung an jenes traurige Geschehnis, dessen Eindrücke Fritz noch immer nicht völlig hatte verwinden können, die Unterhaltung in ernstere Bahnen ein, und bei dieser Gelegenheit erzählte Tom dem lauschenden Freunde zum erstenmal, daß er daheim im grünen England ein blauäugiges sweet-heart besitze, das seiner in Treue harre, bis er das Liebchen als wohlbestallter Herr Doktor zum Traualtare führen könne. Eine alte Kinderliebe sei es, die mit den Jahren heißer und glühender geworden – eine Liebe, die sein ganzes Herz fülle und die ihn rein erhalte in seinem Vagabundenleben. Und als Tom dies sagte – halb zögernd und stockend, als scheue er sich, sein süßes Geheimnis preiszugeben, zog er, während helle Röte seine Wangen bedeckte, aus seinem Notizbüchelchen eine Photographie hervor, die er Fritz reichte: das Bild eines hübschen jungen Mädchens mit wallendem Haar und großen, offenen, treuherzigen Augen.

Fritz hob sein Glas und stieß mit dem Freunde auf die baldige Verwirklichung seiner Pläne und Hoffnungen und auf sein Liebesglück an. Und dann fragte Tom plötzlich, nachdem er sein Glas bis auf die Nagelprobe geleert hatte:

»Sagen Sie 'mal, little boy, haben Sie denn schon einmal so recht aus Herzensgrunde geliebt –?«

Fritz wurde ein wenig verlegen. »Ach ja,« meinte er und dann sagte er wieder »ach nein« – und schließlich erzählte er dem lächelnden Tom mit etwas stockender Stimme, daß auch er so eine Art Kinderliebe im Herzen 296 trage, – immer noch, obwohl Jahre zwischen damals und heute lägen, – denn die kleine Fanny aus dem heimatlichen Pastorshause habe er nie so recht vergessen können, – er denke gar oft an ihr liebes Gesichtchen und an ihre Schwärmeraugen und die immer fleißigen weißen Hände zurück . . .

Darüber freute sich Tom und nahm sein Glas und stieß nun seinerseits mit Fritz auf das Andenken Fannys an, – und gerade in diesem Augenblick ließ sich wie ein dumpfes Echo ein Klopfen an der Thüre vernehmen, – zuerst zaghaft, dann noch einmal stärker und kräftiger.

Tom sah nach der Uhr. »Neun – und jetzt noch Besuch?« meinte er. »Sollte ein vereinsamter Kollege auf den unglücklichen Gedanken gekommen sein, uns Gesellschaft leisten zu wollen? – Well, – man muß sich in alles schicken! Herein!«

Eine tief verschleierte, mit Schneekrystallen überschüttete Dame trat zögernd ein und blieb stutzend an der Thüre stehen.

»O pardon,« sagte sie mit weicher Altstimme, »ich fürchte zu stören . . . ich wollte Herrn Fiedler – oder wollte vielmehr Herrn Sterzinger junior sprechen« . . .

Im ersten Augenblicke hatte Fritz die Eintretende 297 nicht erkannt. Nun er aber ihre Stimme hörte und unter dem weißen Schleier zwei nachtschwarze Sterne blitzen sah, – da brach mit Macht die Erinnerung über ihn herein.

»Carmella!« rief er aufspringend, – »ja, bei Gott, Sie sind es leibhaftig, – und ich habe doch erst vor wenigen Wochen in irgend einem Artistenblatte gelesen, daß Sie bei Ronacher in Wien engagiert seien und dort mit Beifall überschüttet würden!« . . .

»Das war,« erwiderte Carmella und schlug den Schleier zurück, »– aber es ist vorbei. Ich bin leidend und darf nicht mehr auftreten.«

Jetzt erst bemerkte Fritz die Veränderung in der Figur Carmellas und den schmerzlichen Zug in ihrem ernsten, dunklen Gesicht. Eilfertig bot er ihr seinen Sessel an und stellte sie sodann Tom vor.

»Carmella Nera, – Sie werden den Namen kennen, lieber Tom, – seit einigen Monaten Baronin von« –

»Lassen Sie, – lassen Sie,« wehrte Carmella, ihn unterbrechend, ab. »Ich bin nicht eitel genug, um nicht zu fühlen, daß dieser Name zu meiner gesellschaftlichen Stellung nicht paßt, und daß« –

Sie schwieg plötzlich und warf einen scheuen Seitenblick auf Tom, der sich, den Blick verstehend, sofort erhob und nach seinem Mantel griff.

»Ich geh' ein wenig in die Luft, mein Junge,« sagte er und schlug den Havellock um die Schultern; »in einem kleinen Stündchen bin ich zurück. Verzeihen Sie, Madame« – und er verneigte sich vor Carmella.

»Aber sapristi, so bleiben Sie doch!« warf Fritz 298 unmutig ein. »Wir haben doch keine Geheimnisse vor einander! Tom ist mein bester Freund, Carmella.« –

Ohne ein Weiteres abzuwarten, stand Carmella auf, trat auf Tom zu und reichte ihm die Hand.

»Ich bitte Sie, zu bleiben,« sagte sie; »es würde mich kränken, wollten Sie meinetwegen in das Unwetter hinaus. Es ist ein schauerlicher Schneesturm, mich fröstelt noch! Geben Sie mir ein Glas Grog, Fritz, oder was Sie da haben« . . .

Fritz füllte ein Glas, und Tom hing den Mantel wieder an die Thür. Das Rätselauge Carmellas hatte auch für ihn etwas Lockendes. Das war ein seltsames Gesicht mit seinen schönen starren Zügen, der müden Linie um den Mund und der schwellenden Sinnlichkeit auf den Lippen! Halb Sphinx, halb Bacchantin! –

»Wollen Sie nicht ablegen, Carmella?« fragte Fritz, »– Ihr Mantel ist naß vom Schnee, – ich fürchte, Sie werden sich erkälten« . . .

»O nein,« und sie lächelte, »ich bin abgehärtet. Es ist ja auch gleich. Ich habe nicht viel Zeit, mein Mann erwartet mich. Aber es drängte mich, Ihnen guten Abend zu sagen, da ich wußte, daß Sie hier waren. Auf dem Theaterbüreau nannte man mir Ihre Adresse« . . .

»Bleiben Sie vorläufig in Kopenhagen?«

Sie zog die üppigen Schultern hoch. »Vorläufig gewiß, – aber Gott weiß, wie lange. Da ich nicht auftreten konnte, mußte Krey sich nach einem Verdienst umthun. Ein Wiener Agent vermittelte ihm ein Engagement am Storn Ravnsborg, dem kleinen Theater in der Nord-Vorstadt, – er will sich da mit seinen Hunden zeigen. 299 Am ersten Januar beginnen die Vorstellungen« . . . Sie machte eine kurze Pause, knöpfte langsam ihren Handschuh auf und starrte dabei in das grüne Lampenlicht. »Ah ja,« und sie riß den Handschuh von ihrer Rechten, »– es ist ein schandbares Leben! Ich will mich nicht versündigen, aber es wär' besser gewesen, der Himmel hätte mir die Aussichten auf Familienzuwachs erspart! Dreiviertel Jahr Nichtsthuen – wie soll das werden! Und Krey kann sich nicht einschränken, – es ist ein Elend! . . . Denken Sie noch manchmal an meinen Hochzeitstag zurück, Herr Fritz? Was war ich glücklich damals« – und leise setzte sie hinzu: »Aber das Glück wird ja wiederkommen!« . . .

Wirklich – sie sah nicht glücklich aus, die arme Person! Ihr Mann behandelte sie wahrscheinlich schlecht. Fritz hielt ihn für eine brutale und selbstsüchtige Natur, – er hatte ihn nie leiden können. War es von Krey nicht Wahnsinn gewesen, Carmella überhaupt zu heiraten? Man hatte alles Mögliche über diese tolle Eheschließung gemunkelt, – sie hätte einen Erpressungsversuch einleiten sollen, hatten die einen gesagt, sie sei so eine Art Racheakt gewesen, die andern . . . Carmella war einem Schurkenstreiche zum Opfer gefallen, – Fritz glaubte, daran nicht mehr zweifeln zu können, und er nahm sich vor, sich in aller Stille nach den Verhältnissen der jungen Frau zu erkundigen. Er dachte daran, wie berauschend schön sie ausgesehen, als er sie zum erstenmale bei ihrem Auftreten in Berlin hatte bewundern können; wie war sein Herz damals in lohe Flammen aufgegangen, als ihre herrliche Gestalt in den Lichtkreis der elektrischen Lampen trat, und wie hatte das Publikum getobt, gerast, gebrüllt! . . . Und 300 heute? Das Elend sprach aus ihren dunklen Augen und nistete sich in kleinen Fältchen zwischen den Mundwinkeln ein, – es war bejammernswert.

»Kommen Sie einmal zu uns?« – Carmella war aufgestanden und hüllte sich wieder fester in ihren Mantel. In ihrem Blicke lag inniges Bitten. »Wir wohnen in der Ravnsborggade, in dem kleinen Hôtel dicht neben dem Theater . . . – Vergessen Sie es nicht!«

»Ich komme bestimmt,« entgegnete Fritz, ihre Hand drückend, und geleitete sie zur Thür. Sie grüßte noch einmal zurück – zu Tom herüber, der sich höflich erhoben hatte, und trat auf den Flur.

»Wollen Sie sie nicht begleiten?« fragte Tom, als sich die Thür schon geschlossen hatte. »Es ist ein weiter Weg und ein Hundewetter« . . .

Fritz schlug sich vor die Stirn und sprang Carmella nach. Sie war noch auf der Treppe.

»Einen Augenblick, Carmella!« rief Fritz. »Ich begleite Sie!«

Sie wartete, bis er vor ihr stand und schüttelte dann den Kopf.

»Nein, Fritz,« gab sie zurück, »lassen Sie es. Ich finde den Weg allein. Mein Mann könnte böse werden . . . Aber Sie kommen doch? – Vormittags zwischen elf und zwölf, – da ist er bei seinen Hunden. Ich erwarte Sie, – ich möchte mich so gern einmal aussprechen! – Und nun gehen Sie zurück; es ist kalt auf dem Flur, und Sie sind leicht gekleidet. – A rivederla domani!« –

Tom fragte nach dem Lebensgeschick Carmellas, und Fritz erzählte ihm, was er davon wußte. »Sie ist ein 301 bedauernswertes Geschöpf,« meinte er, »und hätte ein besseres Los verdient« . . .

Tom schwieg eine kleine Weile, während er sein Glas von neuem mit der dampfenden Flüssigkeit füllte, und entgegnete sodann leichthin:

»Mag sein, – ich kenne sie nicht. Ich bringe dem Unglück in jeder Gestalt mein Mitgefühl entgegen, – das ist Menschenpflicht. Ob sie aber ihr Los wirklich nicht verdient hat, – können Sie das so genau beurteilen? – Sie häufen alle Schuld auf diesen Herrn von Krey, und das muß ja in der That eine üble Persönlichkeit sein, – aber hätte in Carmella nur noch ein Rest von Sittlichkeitsgefühl und Charakter gewohnt, so hätte sie die Spottkomödie von Heirat gar nicht zugeben dürfen! Oder ist sie so bodenlos thöricht, daß sie auch nur einen Augenblick glauben konnte, Herr von Krey hätte sie aus irgend einem anderen Grunde als aus schnödester Selbstsucht geehelicht, wo er sie doch schon ohne den praktischen Segen des Standesamts sein eigen nennen konnte?!« –

Fritz umging die direkte Antwort.

»Sie hat ihn geliebt,« rief er, »und in ihrer Liebe den Teufel danach gefragt, weshalb er sie heiraten wollte! Es war sein Wunsch, und sie sagte Ja! Sie hat wahrscheinlich zu allem Ja gesagt und in alles eingewilligt, so lange sie ihn geliebt hat!«

Tom lachte auf. »An jeder Dummheit soll die Liebe schuld sein, – so ist's immer gewesen,« meinte er. »Und was nennt man nicht alles Liebe! Eine Liebe ohne Sinnlichkeit gibt's nicht, wohl aber eine Sinnlichkeit ohne Liebe. Und nun schauen Sie einmal recht tief in die Augen der 302 schönen Carmella, – wenn Sie ein klein wenig Blick für das Leben in der Pupille haben, dann werden Sie mir zugestehen müssen, daß aus diesen Augen nichts spricht als schrankenlose, heiße und durstige Genußsucht! So ist's oder so scheint's mir, – aber ich würde mich freuen, wenn ich mich täuschte! Nur eins noch, Fritz: hüten Sie sich vor den Augen Carmellas!«

»Lassen wir das Thema,« gab Fritz zurück und seine Stirn zog sich in Falten. »Ich bedarf einer solchen Warnung wahrlich nicht, – mir scheint, Sie haben übersehen, in welch' leidendem Zustande sich die Unglückliche befindet« . . .

Tom nippte an seinem Glase; er antwortete nicht gleich, trommelte mit den Fingern einen Marsch auf dem Tisch und wiegte den Kopf sinnend hin und her. Dann richtete er sich plötzlich auf und streckte Fritz die Hand über den Tisch hinüber.

»Ich habe Sie nicht verletzen wollen, mein Junge,« sagte er herzlich. »Sie sind ein guter und lieber Bursche und mir ans Herz gewachsen! Hätte nicht gedacht, daß ich noch einmal einen Freund finden würde auf meinen Querzügen durch die Welt! Hand her, Fritz! So – und nun an die Gläser! Wir müssen Brüderschaft trinken – ich und du!« – 303

 


 


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