Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Dreizehntes Kapitel

Als Otto sich am nächsten Morgen um acht Uhr erhob, um sich für das Kolleg fertig zu machen, schlief Fritz noch. Er wachte auch nicht auf, als es an die Thür klopfte, und Fräulein Martha Lehmann, das frühreife, fünfzehnjährige Töchterchen der Studentenwirtin, mit dem Kaffee erschien, – Fritz war erst mit dem dämmernden Morgen zur Ruhe gekommen.

»Pscht, Fräulein Martha,« – und Otto legte den Zeigefinger über die Lippen, als das Mädchen mit freundlichem Gruße in das Zimmer trat, »– leise, wenn ich bitten darf, – mein wackerer Genosse schläft noch, und da er sehr spät nach Hause gekommen ist, möchte ich ihm noch eine Stunde der Ruhe gönnen. Ihren Anblick vor Augen ist freilich das schönste Erwachen, holdselige Martha, – bitte bleiben Sie einen Augenblick in dieser Pose stehen – sie erinnerte frappant an Liotards belle chocoladière und ich möchte gern noch eine Portion Poesie in meine durstige Seele aufnehmen, ehe ich mich wieder in die Prosa des Lebens hineinstürze« . . .

235 Die Kleine schürzte den frischen Mund zu anmutigem Schmollen und setzte das Kaffeegeschirr vorsichtig auf den Tisch nieder, während sie den hübschen blonden Kopf ostentativ von der Seite abwandte, wo das Lager Fritzens stand.

»Sie sind ein unnützer Mensch, Herr Hartwig,« erwiderte sie, »Sie taugen wirklich gar nichts! Wie können Sie mich denn überhaupt eintreten lassen, wenn der Herr Fiedler noch schlafen liegt!? Schickt es sich für ein junges Mädchen, einen Mann im Bette zu sehen? Schämen Sie sich, – aus Ihnen wird einmal ein netter Richter werden!«

Otto lachte lustig auf.

»Das hoffe ich, Marthchen,« antwortete er, »und wenn Ihnen einmal etwas gestohlen werden sollte, sei es ein Kuß oder ein rosa Band, so kommen Sie nur zu mir! . . . Warum wenden Sie nur das Köpfchen immer zur Seite – Sie werden sich die Halsmuskeln lädieren, liebes Kind, und der Anblick meines schlummernden Freundes thut Ihnen wirklich keinen Schaden! Ist eine derartige Prüderie nicht barer Unsinn, Marthchen – sagen Sie einmal selbst? Von meinem Freunde Fritz sieht man gegenwärtig nichts als seinen dicken Strohkopf, – er hat sich die Decken bis an den Hals heran in die Höhe gezogen! Und als Sie neulich zum Tanzkränzchen gingen, geliebtes Fräulein, und sich uns in Ihrem hübschen neuen Kleide präsentierten – wissen Sie, dem rot punktierten mit der Schärpe – da sah man mehr als nur Ihr niedliches Köpfchen, denn das Kleid mit den roten Punkten ist am Halse herzförmig ausgeschnitten. Das 236 genierte Schönmarthchen indessen gar nicht – i Gott bewahre, das ist ja Mode! Aber einen jungen Mann schlafen zu sehen – das schickt sich nicht für ein Mädchen! Nicht wahr, kleines Fräulein, das ist sehr indecent?«

Martha war an der Thür stehen geblieben und wandte sich nun halb gegen den behaglich seinen Kaffee schlürfenden Sprecher um.

»Ich möchte wohl wissen, ob Sie solchen Unsinn auch einmal von der Richterbank herab sprechen werden, wenn Sie erst Staatsanwalt sind oder was sonst,« bemerkte sie spitz und rümpfte das Stumpfnäschen.

»I nun natürlich werde ich das,« gab Otto lustig zurück. »Da werde ich bei gegebener Gelegenheit ganz gehörig gegen die Begriffsverwirrung unsrer Zeit wettern, die eine künstliche Empfindsamkeit hervorruft und das natürliche Empfinden untergräbt! Sehen Sie, mein kleines Marthchen, es ist nämlich ein großer Unterschied zwischen der echten Sittsamkeit und der sogenannten Prüderie. Wenn ich Ihnen zum Beispiel einen Kuß gebe, – kommen Sie bitte einmal her, ich werde Ihnen die Angelegenheit praktisch erläutern, – wenn ich Ihnen also – –«

Da Martha nicht näher kam, so trat Otto an die Kleine heran und faßte sie an das runde, mit einem herzhaften Krübchen geschmückte Kinn. Aber Marthchen schien für die praktische Gelehrsamkeit des angehenden Rechtsmannes kein rechtes Verständnis zu empfinden, denn sie gab ihm einen so schallenden Klapps auf die unvorsichtige Hand, daß Fritz plötzlich mit einem dumpf grunzenden Laut in die Höhe fuhr und sich schlaftrunken 237 umschaute. Marthchen schrie auf, als aus dem Gewirr der Betten dem dicken Blondkopf ein stattliches, nur oberflächlich bekleidetes Schulterpaar folgte, und verschwand eiligst hinter der Thür – Otto aber lachte hell auf und warf Fritz seinen Plaid über den Scheitel.

»Kusch dich, Fridolin!« rief er, »schone die Tugend und die Reinheit zweier Mädchenaugen! . . . Nun kannst du dich wieder herauskrabbeln, denn die Tugend ist vor deinem Anblick geflohen!« –

Fritz wickelte sich mühsam aus dem Plaid und wischte sich den Schlaf aus den Augen.

»Was ist die Uhr?« fragte er.

»Neun, du herkulischer Schlafbold,« antwortete Otto. »Ich muß ins Kolleg – finde ich dich zwischen ein und zwei Uhr in der Akademischen Bierhalle?«

Fritz nickte, noch in halber Betäubung, und Otto stülpte seinen Schlapphut auf den Kopf, griff nach seinen Büchern und Heften und stürmte geräuschvoll fort. Fritz hörte, wie er draußen auf dem Flur mit irgend jemand verhandelte, dann klopfte es, und der Briefträger trat ein.

»Herr Fritz Fiedler?«

»Der bin ich.«

»Einen Eingeschriebenen« – und der Postmann legte Fritz einen voluminösen Brief nebst der Empfangsbescheinigung vor. Fritz unterschrieb, kramte dann seine Taschen nach einer letzten Cigarre durch, die er dem Stephansboten reichte und erbrach das Schreiben.

Es kam aus Klein-Busedow – vom Pastor Hartwig, wie Fritz schon an der Adresse erkannt hatte. Der Pastor schickte das erbetene Sparkassenbuch, das er bis dahin in 238 Verwahrung gehabt hatte, und fügte noch einige wohlmeinende Zeilen an.

»Daß du den Dienst des Grafen Kölpin verlassen hast, halte ich für kein Unglück,« schrieb Hartwig in großen, eckigen, steif ausschauenden Buchstaben. »Nun sei aber auch vernünftig und stecke dir künftighin deine Ziele etwas höher, mein lieber Fritz. Es ist nicht nötig, daß du im Chausseestaube durch das Leben kriechst; du hast zwar nicht sonderlich viel gelernt, aber von dem Schliff und der Erziehung, die ich dir während deines Aufenthalts bei uns zu geben mich bemüht habe, wird hoffentlich noch etwas übrig geblieben sein, auch schreibst du eine hübsche Hand und bist von Natur aus gar nicht so dumm, wie man nach deinem positiven Wissen glauben sollte. Es wäre also schon besser, du bemühtest dich einmal um eine kaufmännische Stellung oder dergleichen, versuchtest in einem Comptoir unterzukommen und dich auf ein wenig feinere Art durch das Leben zu schlagen als bisher. Ich achte und schätze jede ehrliche Arbeit, das weißt du, aber man soll es sich nur nicht gar zu leicht und zu bequem machen. Das führt zu nichts. Bau nicht allein auf deine Körperkraft, sondern strenge auch den Kopf ein bißchen an. Im übrigen verschleudere dein Geld nicht; sei sparsam – die paar hundert Mark, die du in der Sparkasse liegen hast, sind dein Ein und Alles, und das vergiß nicht.

Nun kannst du auch noch dem Otto mitteilen, daß sich gestern seine Schwester Line mit dem Predigtamtskandidaten Werner Stube in Hohen-Augst verlobt hat. Stube soll im Oktober die Pfarre in Belzig erhalten, und dann 239 wird auch gleich Hochzeit sein. Grüße den Otto und er möchte öfters schreiben; der Junge kümmert sich gar zu wenig um uns. Sonst ist alles gesund. Meine Frau, die Gustl, Toni, Line und Bärbchen lassen dir viel Schönes sagen, und ich wünsche dir viel Glück und Gottes Segen auf deine ferneren Wege.

Dein wohlmeinender alter Freund

Hartwig.«

Fritz faltete den Brief zusammen und steckte ihn samt dem Sparkassenbuche zu sich. Dann kleidete er sich fertig an und machte sich auf den Weg nach dem Reichshallentheater, um dort die Privatadresse Sterzingers zu erfragen. Die gütigen Zeilen des Pastors hatten ihn in seiner Absicht, die Kontrakte mit dem bayrischen Herkules und mit Rennerke rückgängig zu machen, bestärkt. Fritz war andern Sinnes geworden. Etwas wie Eitelkeit wurde in ihm rege. War er auch nur ein armer Kantorsjunge, so hatte er doch »Erziehung« genossen – Erziehung in einem Pastorshause, und mit der vertrug es sich nicht, im Stalle die Pferde zu putzen oder als Jahrmarktsgaukler das Publikum zu belustigen! Nein – das sollte anders werden, ganz anders! Und wenn die hohen Gagen, die Rennerke ihm versprochen hatte, auch noch so verlockend waren – besser eine weniger gut bezahlte Stellung, aber in einem anständigen bürgerlichen Berufe! Fritz hatte sich plötzlich entschlossen, seiner »Erziehung Ehre machen zu wollen«, – er sprach diese vielsagenden Worte laut vor sich hin, als er sich vor dem Spiegel die Haare ordnete und den üppig keimenden blonden Schnurrbart glatt strich.

240 Im Bureau der Reichshallen sagte man ihm die Adresse Sterzingers – er wohnte ziemlich weit, draußen in der Rosenthaler Vorstadt, so daß Fritz sich genötigt sah, einen Omnibus zu besteigen. Glücklicherweise fand er den Herkules in seinem bescheidenen Quartiere vor. Er lag in äußerst mangelhafter Toilette der Länge nach auf dem Sofa und las in einem Kolportageroman. Eine weit offen stehende Seitenthür führte in die benachbarte Küche. Dort konnte man Miß Anne Hopskin hochgeschürzt und mit nackten Armen vor einem mit Wasser und Seifenschaum bis zum Rande gefüllten Bottich emsig hantieren sehen; die kleine Schlangendame wusch die Tricots ihres geliebten Polyphem und trällerte dabei mit frischer Stimme: »O my Charlie, when you go from me, schreib mich ein love-letter, so'n große love-letter!« . . .

Sterzinger bot Fritz einen dröhnenden Willkommsgruß, richtete sich dann stöhnend auf und machte seinem Besuche neben sich auf dem Sofa Platz. Er hatte indessen kaum gehört, um was es sich bei der unerwarteten Visite seines neuen Kollegen handelte, als er wie ein Rasender emporsprang und seine kolossale Faust wuchtig auf die Tischplatte fallen ließ.

»Rückgängig machen – unsere Kontrakte?!« brüllte er, »halten Sie mich für einen Narren, junger Mensch?! Heute so, morgen so – das fehlte mir gerade! Nichts da – es bleibt bei der Abmachung! Was ist Ihnen denn über Nacht in die Nase geregnet, Fiedler, daß Sie auf einmal abschnappen wollen?«

Fritz blieb ruhig, drängte aber energisch auf Lösung der Kontraktverhältnisse. Er hätte es sich anders überlegt, 241 – er fürchte, seine Kräfte reichten nicht aus, er wolle lieber einen weniger anstrengenden Beruf ergreifen . . . Sterzinger schnaubte und wütete gewaltig und verschwur sich bei allen Teufeln, nie und nimmer auf seine Abmachungen Verzicht zu leisten. Das gute Recht sei auf seiner Seite; wolle Fritz zurücktreten, was seiner Meinung nach eine grenzenlose Eselei sei, so möge er gefälligst die kontraktlich ausbedungene Konventionalstrafe zahlen: zehntausend Mark an ihn, den Sterzinger, und zwölftausend an Rennerke . . .

Nun wurde Fritz kleinlaut. An diese Strafgelder hatte er nicht gedacht. Du lieber Himmel, wo sollte er auch eine so ungeheure Summe herbekommen! Er wurde verlegen und begann, wie immer, wenn er nichts Rechtes zu antworten wußte, zu stottern. Schließlich mischte sich auch noch Miß Hopskin, die der Unterredung von der Küche aus gelauscht hatte, in das Gespräch ein. Sie stellte sich dicht vor Fritz auf und bemühte sich, ihm in unverständlichstem Deutsch die Notwendigkeit auseinander zu setzen, daß er sein schriftlich gegebenes Versprechen halten müsse, denn »ein Mann, die seine Wort brickt, ist keine Mann, eine solche Mann ist ein rag!« Und dabei fuchtelte die kleine Person im Eifer ihrer Strafpredigt mit ihren hübschen, weißen, nach grüner Seife duftenden Armen so dicht unter den Augen Fritzens umher, daß dieser schließlich in eine Fensternische retirierte.

Mißmutig griff er nach Hut und Stock.

»Also es bleibt beim Alten?« rief ihm Sterzinger nach. Fritz antwortete nicht; er warf dröhnend die Thür ins Schloß und stieg die Treppe hinab. Er hatte sich fangen 242 lassen – ein Rückzug war schwer. Freilich, – und er lächelte, – wenn man zweiundzwanzigtausend Mark Strafgelder zahlen soll, muß man sie erst besitzen! Er aber hatte nichts, so gut wie nichts, und wo nichts ist, hat auch der Kaiser sein Recht verloren! Die Logik gefiel Fritz – er pfiff vor sich hin und seine Stirn wurde heller.

Auf dem letzten Treppenabsatz kam ihm eine jugendliche Frauengestalt entgegen. Sie schaute auf, als sie die Schritte Fritzens hörte und nickte ihm freundlich zu.

»Buon' giorno, Signore – was haben Sie hier zu thun?«

Fritz hielt den Hut in der Hand und nahm errötend die Rechte Carmellas.

»Ich komme von Sterzinger,« sagte er, und mit Entzücken hing sein Blick auf ihren rosigen Zügen, »von Herrn Sterzinger, dem Herkules« . . .

Sie schaute befremdet auf.

»Von Sterzinger? – Ja, da wollt' ich ja auch hin! Was haben Sie denn mit diesem Ungetüm zu schaffen?«

Fritz erzählte, und Carmella hörte ihm mit 243 staunender Aufmerksamkeit zu. Sie lehnte sich gegen das Treppengeländer, und ihr Auge prüfte mit sichtlicher Neugier seine ganze Gestalt; es war ihr überraschend, in dem hübschen, blondköpfigen Jüngling einen angehenden Genossen von der Zunft begrüßen zu können. Sie freute sich dessen, und in ihrem musternden Blick gab sich diese Freude kund; der junge Hüne konnte schon ein tüchtiger Herkules werden! Das war doch etwas ganz Andres als der dicke, ungeschickte Sterzinger mit seiner brutalen Körperkraft! Das war straffe Muskulatur und daneben auch edle Geschmeidigkeit – oh, mit dem mußte es sich weit besser arbeiten lassen als mit dem ungeschlachten Bayern, der noch dazu so eifersüchtig auf die eignen Produktionen war, daß er die Trics seines Partners auf jede mögliche Art und Weise abzukürzen versuchte! –

»Wissen Sie 'was,« sagte Carmella mit leiser, zischender Stimme und trat, sich vorsichtig umschauend, so dicht an Fritz heran, daß dieser ihren warmen Atem spürte, »– lassen Sie sich nur ruhig von Sterzinger in die Lehre nehmen – das versteht er, ich weiß es! Die Gebrüder Donatelli hat er auch ausgebildet – die haben ihm freilich ein gehöriges Honorar zahlen müssen! . . Unter uns gesagt, der Sterzinger wird's nicht mehr lange machen – der bleibt höchstens noch ein Jahr auf der Bühne, – er ist ja heut' schon so dick, daß er kaum noch atmen kann! Wenn er die Ketten sprengt, wird er dunkelblau im Gesicht! Ich bitt' Sie! Mit dem werden Sie nicht lange zusammen zu arbeiten brauchen – fragen Sie 'mal die Agenten: kein ordentlicher Direktor beißt mehr auf den an! – Na – und wenn Sie Sterzinger 244 los sind, dann üben wir zwei uns ein paar gemeinschaftliche Trics ein, und dann sollen Sie 'mal sehen, wie wir das Publikum nehmen werden! Meinen Sie nicht?!«

Sie schlug ihm mit leisem, melodischem Auflachen auf die Schulter und hüpfte die Treppe hinauf. Von oben grüßte sie noch einmal handwinkend herab: »Addio, amico – und auf baldiges Wiedersehn!« . . .

Fritz trat auf die Straße, setzte sich in den nächsten Omnibus und fuhr nach der Wohnung Ottos zurück, wo er in Eile seine Sachen zusammenpackte. Sein Entschluß hatte sich zum zweitenmale geändert, aber diesmal wollte er fest bleiben. Er bemühte sich, an die Einwürfe Ottos und an das, was die eigne Vernunft ihm noch vor einer halben Stunde gesagt, nicht mehr zu denken. Es war ja alles Unsinn! Wer kümmerte sich denn darum, ob er Herkules oder Bereiter, Straßenfeger oder Commis war! Kein Mensch! Er hatte weder Verwandte noch Bekannte, die ein innigeres Interesse an ihm nahmen! Pastors – nun ja – und Otto und vielleicht der alte Hempel – aber die konnten ihm auch nicht weiter forthelfen im Leben! Und auf das Geld verdienen kam es doch an – ganz allein! Fünfhundert Mark im Monat – alle Wetter! und was würde er wohl erhalten, wenn es ihm wirklich gelänge, dem Wunsche des Pastors entsprechend irgendwo in einem kaufmännischen Geschäfte unterzukommen? . . . Es war ja Unsinn! –

»Unsinn! – Unsinn!« wiederholte sich Fritz, während er seine Kleidungsstücke in die hölzerne Kiste warf. »Ein verhungerter Commis ist auch nichts wert! Ah bah – mögen sie reden, so viel sie wollen – ich weiß, 245 was ich thue!« . . . Er bückte sich, um das Schloß in die Eisenkrammen einzudrücken. Das Blut stieg ihm dabei zu Kopfe und plötzlich war es ihm, als stände Carmella in ihren violetten Tricots leibhaftig vor ihm.

Er fuhr sich über die Stirn und lächelte. Das Herz klopfte ihm stärker. Er drückte die rechte Hand auf die Herzgegend und fühlte dabei in seiner Brusttasche den Brief des Pastors knittern. Das ärgerte ihn. Er nahm ihn heraus, zerriß ihn in kleine Stücke und stopfte diese in den Ofen.

»So,« sagte er tief aufatmend. Dann suchte er sich Papier und Feder und schrieb einige Zeilen an Otto:

»Es bleibt beim Alten, lieber Otto; ich habe hin und her überlegt – es ist am besten so. Schönsten Dank für deine Bewirtung; den Kaffee habe ich bezahlt. Sobald ich eine Wohnung habe, zeige ich sie dir an. Viele Grüße dein Fritz.«

Er klingelte. Martha trat ein; sie war erstaunt, daß der Freund ihres »möblierten Herrn« so unvermutet fort wollte. Fritz schützte eine eilige Nachricht vor, die ihn abberufe und bat um seine Rechnung.

Endlich war auch das glatt gemacht. Fritz atmete auf, als er in einer Droschke saß und zum zweitenmale am heutigen Tage nach der Rosenthaler Vorstadt fuhr. Dort wollte er sich, um in der Nähe Sterzingers, seines künftigen Lehrmeisters, zu sein, ein Zimmer mieten. Zettel hingen überall aus den Fenstern hinaus. Vor dem ersten besten Hause in jener Gegend ließ Fritz halten. Er hatte Glück; er fand ein bescheidenes Stübchen zu billigem Preise und schloß auf der Stelle mit der Vermieterin ab. 246 Dann wurde mit Hilfe des Droschkenkutschers der Holzkoffer heraufgeholt und ausgepackt. Die alte Bibel aus dem Heimathause fand diesmal einen besseren Platz als in dem Stallkämmerchen im Kölpinschen Palais; sie wurde auf die Kommode, dicht unter den Spiegel, in dem zwei Pfauenfedern steckten, gelegt. Dafür blieben die Neu-Ruppiner Bilderbogen in der Kiste zurück; Fritz genierte sich, sie in dem hübsch tapezierten Zimmer an die Wände zu nageln. Die Wände waren geschmückt genug. Über dem Sofa hing eine Lithographie: zwei schlafende Knaben, vor deren Bette ein gräulich aussehender Kerl mit einem zu einer Schlinge geschürzten Stricke in der Hand Wache hielt. Darunter stand: »Die Kinder Eduards, Prämienzugabe zu der historisch-romantischen Geschichte aus Englands Vergangenheit: Der Kampf um eine Krone oder durch Blut zum Sieg von Kurt von Eisenschwert. Vorrätig in dreißig Heften à zwanzig Pfennige. Verlag von Werner Kleine in Berlin.« Rechts und links von diesem Bilde waren zwei kleine Konsolen angebracht, auf denen Thonfiguren standen, zwei verhüllte Gestalten von sonderbarer Erscheinung; auf dem niedrigen Postament waren erläuternde Unterschriften eingegossen: »Der Tag« und »die Nacht«. Gehäkelte Deckchen lagen auf dem Sofa und der Kommode, und das Bett sah sauber aus. Über dem Bette selbst hing unter Glas und Rahmen ein Konfirmationsschein, daneben ein Trauzeugnis, und über diesen beiden, gleichfalls eingerahmt, ein welker Myrtenkranz.

Fritz fand dies alles außerordentlich hübsch. Das Zimmer gefiel ihm. 247

 


 


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