Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Vierzehntes Kapitel

Noch am selben Abend hatte Fritz den bayrischen Herkules im Theater aufgesucht und sein endgültiges Einverständnis mit der bereits schriftlich aufgesetzten Abmachung erklärt. Sterzinger war sehr erfreut und lud seinen neuen Schüler zu einem solennen Souper in der ›Springenden Münze‹ ein, aber Fritz empfand seit der letzten wüsten Orgie daselbst einen so ausgeprägten Widerwillen gegen dieses Lokal, daß er dankend ablehnte. Drei Wochen später wurden, da die Saison bereits stark dem Sommer entgegenging und eine frühe Hitze den Theaterbesuch wesentlich beeinträchtigte, die Reichshallen geschlossen. Sterzinger hatte für die Sommermonate kein Engagement angenommen, oder vielmehr Rennerke hatte kein geeignetes für ihn gefunden, – und da der dicke Herkules vorläufig in Berlin zu bleiben beschloß, so konnte die Lehrzeit für Fritz ohne weiteres beginnen.

Er hatte sich das Alhleten-Handwerk leichter gedacht, als es war. Die rohe Kraft allein genügte doch noch nicht, eine fortgesetzte, unablässige Übung erwies sich als unbedingt notwendig, und diese Übungen strengten Fritz 248 trotz seiner erstaunlichen Körperstärke und seiner Widerstandsfähigkeit in der ersten Zeit mächtig an. Eine Art »Turnfieber« bemächtigte sich seiner; Muskeln und Gelenke schmerzten ihm so gewaltig, daß er Nächte hindurch gar nicht zur Ruhe kam und die Befürchtung in ihm aufstieg, er könne sich durch Unvorsichtigkeit vielleicht einen heftigen Rheumatismus geholt haben. Sterzinger beruhigte ihn indessen. Er nannte die Gliederschmerzen, an denen sein Schüler laborierte, den »Athletenkoller« und meinte, in acht Tagen werde Fritz den unangenehmen Gast schon los geworden sein. Und er hatte Recht; der »Athletenkoller« verlor sich schnell, und nach Ablauf der ersten Woche fühlte sich Fritz wohler als zuvor.

Sterzinger bewährte sich als ein tüchtiger, nach einem praktischen System vorgehender Lehrer. Die Übungen, die in seiner Wohnung abgehalten wurden, begannen mit verhältnismäßig leichten Anfängen – mit Hantelgymnastik und dem Jonglieren kleiner eiserner Bälle. Erst später wurden die Aufgaben schwieriger; die Hanteln fielen fort, und an ihre Stelle traten starke Eisenstäbe, an die Stelle der Bälle aber Kanonenkugeln. Zwischendurch mußte Fritz, um sich den Körper geschmeidig zu erhalten und neben der erhöhten Kraftentfaltung der Muskulatur sich auch eine größere Gewandtheit anzueignen, eine Reihe von Streck-, Klimm- und Schwungübungen am schwebenden Reck vornehmen, das in Sterzingers Quartier in der Thüröffnung zwischen dem Wohnzimmer und der Küche angebracht war. Zur Variierung der gebräuchlichsten Athleten-Trics war eine derartige rein turnerische Gewandtheit unbedingt nötig; bei vielen Produktionen war 249 das Reck gar nicht zu entbehren – es pflegte auch nie auf der Scene zu fehlen, wenn ein Herkules auftrat. Bei allen diesen Übungen war Fritz nur mit leinenen Turnschuhen und weiten Drillichhosen bekleidet, der Oberkörper blieb völlig entblößt, um den Muskeln unbehinderte Freiheit zu geben.

Fritz war ein aufmerksamer und gelehriger Schüler. Nachdem er den »Athletenkoller« glücklich überwunden, fielen ihm, Dank seiner phänomenalen Körperkraft, auch die komplizierteren Kunststücke nicht allzu schwer. Sterzinger war selbst auf das höchste erstaunt, als Fritz ihm eines Tages einen »Schlager« aus dem früheren Programme des bayrischen Herkules mit spielender Leichtigkeit vorführte: Klimmzüge und Armstützaufzug am Reck bei Belastung der Füße durch fünfzig Pfund hängender Eisengewichte. Es war eine gewaltige Leistung, die Fritz mit lächelnder Miene, muskelstrotzend und ohne zu zucken, mit fast eleganter Sicherheit vor den Augen seines Meisters ausführte. »Bravo!« rief der dicke Sterzinger und klatschte in die Hände, – aber ein mißgünstiger Zug spielte dabei um seinen breiten, fleischigen Mund; die Eifersucht begann sich in ihm zu regen. Der Schüler übertraf bereits seinen Lehrer! –

Bei Otto hatte sich Fritz nicht wieder sehen lassen, ihm auch trotz seines Versprechens seine Adresse nicht mitgeteilt. Es genierte ihn, sich der Möglichkeit neuer Strafpredigten von seiten des alten Spielkameraden auszusetzen. Dagegen suchte er Hempel eines freien Tages auf. Der alte Jockey war mit Tom und Nickel und einem Zimmermädchen allein im Kölpinschen Hause 250 zurückgeblieben. Das kleine Palais war wie ausgestorben. Der Graf und die Gräfin befanden sich schon seit zwei Monaten auf Reisen, und das ganze Dienstpersonal mit Ausnahme der Erwähnten war nach Deesenhof geschickt worden. Hempel schimpfte über die Langeweile, die er in der ihm aufgezwungenen Unthätigkeit empfand, und sprach davon, noch auf seine alten Tage den Dienst wechseln zu wollen. Nur die Möglichkeit, daß Graf Kölpin seinen Vorsatz, den Abschied zu nehmen, um sich völlig seinen sportlichen Interessen zu widmen, zur That werden lassen könne, halte ihn – so erzählte Hempel seinem jungen Freunde – vorläufig noch davon zurück. Wenn der Graf sich wirklich einen Rennstall einrichten wolle, dann bleibe er unter allen Umständen – aber nur dann! Im übrigen thue der Graf am besten, wenn er diesen Vorsatz ausführe; er sei beim Regimente nicht mehr sonderlich beliebt und riskiere eine Versetzung in die Provinz, wenn er nicht freiwillig »linksum kehrt« mache. Wachtmeister Stille habe ihm, Hempel, darüber nicht mißzuverstehende Andeutungen gemacht – und Stille kenne die Verhältnisse »aus dem ff« . . .

Von besonderem Interesse waren für Fritz die Aufklärungen, die Hempel ihm über den plötzlichen Tod des Zappelphilipp geben konnte. Die Sektion des Kadavers hatte Vergiftung ergeben. Der Zappelphilipp war an Rattengift zu Grunde gegangen – wie aber war um alles in der Welt willen Rattengift in die Krippe des Pferdes gekommen? – Hempel war, wie er erzählte, sofort auf die Idee gekommen, es müsse eine Niederträchtigkeit, ein Verbrechen vorliegen, und zwar richtete sich sein 251 erster Verdacht auf den Intriganten unter den Stallern, auf Vegesack. Im Vertrauen hatte Hempel dem Grafen von seinem Verdachte Mitteilung gemacht; die Kammer des Oberkutschers wurde durchsucht, und in der That fand sich im Bettstroh verborgen, noch eine stattliche Portion Rattengift vor. Selbstverständlich bestritt Vegesack das ihm zur Last gelegte Verbrechen mit aller Energie; seit einiger Zeit hätten sich in seiner Kammer Mäuse gezeigt, und nur um dieses Viehzeugs willen hätte er sich das Gift angeschafft – er wäre ein ehrlicher Mann – der Fiedler würde wohl besser um die Sache Bescheid wissen und was der Redensarten noch mehr gewesen waren. Aber Graf Kölpin hatte kurzen Prozeß gemacht; einen Tag nach dem Abschiede Fritzens mußte auch Vegesack sein Bündel schnüren – aber dem hatte kein Mensch ein herzliches Lebewohl und ein Auf Wiedersehen nachgerufen. Hempel meinte, der ehemalige Oberkutscher hätte dem Zappelphilipp aus keinem anderen Grunde das Gift unter das Futter geschüttet, als um Fritz, den er nie hatte leiden können, einen bösen Streich zu spielen, – und das mochte schon wahr sein.

Es war nur natürlich, daß Hempel sich in aller Freundschaft erkundigte, ob Fritz schon eine neue Stellung gefunden hätte und wo. Fritz antwortete ausweichend: er habe allerdings eine Stellung in Aussicht, aber noch nicht sicher, und deshalb wolle er noch nicht darüber sprechen. Später werde er es Hempel schon erzählen. Und Hempel gab sich damit zufrieden, rief Tom und Nickel herbei und spendierte allen dreien ein paar Weiße mit Kümmel, die Tom aus dem nächsten Budikerkeller 252 holen mußte. Und dann wurde im Stallgange auf einer Futterkiste ein »Vier Männer-Skat« gespielt, bei dem Hempel verlor und Nickel unverschämt gewann. Darüber ärgerte sich der alte Hempel und behauptete, Nickel hätte »gemogelt«; als dieser aber entrüstet widerstritt und einige anzügliche Redensarten wie »alleine Mogler« und »Teckelbeine« fallen ließ, da holte Hempel aus und gab Nickel eine Maulschelle, daß es knallte, und die Pferde scheu in den Ketten klirrten. Nickel heulte und schimpfte gewaltig, und Fritz hielt den Zeitpunkt für gekommen, sich in aller Eile zu empfehlen.

Um die Mitte Juni sprach Herr von Krey eines Nachmittags bei Fritz vor. Er sah sehr elegant aus, trug einen hellen Sommeranzug nach der neuesten Mode, einen grauen Cylinderhut und einen Bambusstock mit silbernem Knopfe.

»Servus,« sagte er eintretend und streckte Fritz die in perlgrauem Glacé steckende Rechte entgegen. »Wollte mich wieder einmal nach Ihnen umschauen, geliebter Heraklide, – Carmella hat mir Wunderdinge von Ihnen erzählt! Sollen ja mit starkem Arme die Erde aus ihren Angeln zu heben vermögen und mit Kanonenkugeln spielen können, als wären es Federbälle! . . Habe übrigens auch noch ein Anliegen, cher Fiedler, und hoffe, Sie werden nicht abweisend sein! Sind ja beide so zu sagen Kollegen – haha – obwohl mir die hochwohllöbliche Polizei mit einem Ausweisungsbefehle gedroht hat, wenn ich es wagen sollte, meine dressierten Vierfüßler einem geschätzten p. t. Publico vorzuführen! Wir leben auch im gepriesenen Preußenland noch ein klein wenig unter der Knute – 253 trotz der liberalen Majorität im Parlamente und der Kapitale des Freisinns! Na – also! Am Sonnabend beabsichtige ich, mich nach Gesetz und Recht mit der ehrliebenden und tugendsamen Jungfrau Carmella Nera standesamtlich kopulieren zu lassen. Zu dieser feierlichen Handlung bedarf ich indessen zweier Zeugen; einen habe ich bereits im großen Berlin gefunden: das ist der Wirt der ›Springenden Münze‹, der brave Herr Rennerke, der sich mir unter der Bedingung freundschaftlichst zur Verfügung stellt, daß meine zukünftige Gattin vom Tage der Heirat ab bis zum gleichen Datum über fünf Jahre sich bei jeglichem Engagement nur seiner Vermittelung bediene. Ein praktischer Geschäftsmann, dieser Herr Rennerke – er weiß die Gelegenheit bei der Stirnlocke zu fassen, um mich klassisch auszudrücken! Nunmehro fehlt aber noch der zweite, und da kam meine vielgeliebte und zuweilen mit einem klugen Einfall begnadete Carmella auf die Idee, Sie, mein teurer Gigant, um die Gefälligkeit der Zeugenschaft zu bitten. Kosten erwachsen Ihnen daraus nicht, wohl aber die Verpflichtung, nach abgeschlossener Kopulation an einem kopiösen Déjeuner dinatoir, so uns in einem Hinterzimmer von Ewest serviert werden wird, teilzunehmen. Und nun nicken Sie gütigst mit dem gewichtigen Kopfe und sagen Sie: all right! . .«

Krey schlug spielend mit seinem Bambussticket auf die Polster des Sofas. Er lachte, als Fritz nicht sofort mit der Antwort bereit war, und er das erstaunte Gesicht des vor ihm Sitzenden sah.

»Die Sache scheint Ihnen noch nicht so recht 254 plausibel zu sein, edler Sieur,« meinte er. »Oder verwundert Sie mein Entschluß, mich for ever mit Rosenketten zu binden? Ja, mein Lieber, das hat so seine eigenen Gründe, von denen Sie doch nichts verstehen würden, wenn ich sie Ihnen auch erläutern wollte! Denken Sie einmal an meinen Nachtbesuch bei Ihrem früheren Dienstherrn zurück; wenn Sie eine gewisse Gewandtheit im Kombinieren besitzen, werden Sie ja wohl den Verbindungsfaden zwischen dem gräflichen Hause Kölpin und meiner Ehe mit einer Athletin finden . . . Nun aber Ja und Amen, werter Freund – sonst muß ich mich weiß Gott nach einem andern Zeugen umthun, so langweilig das auch für mich wäre!« –

Fritz sagte zu und war am festgesetzten Tage, mit seinem besten schwarzen Anzuge bekleidet, in der Wohnung Kreys, wo ihn dieser mit Carmella und dem Agenten Rennerke bereits erwartete. Fritz fand, daß Carmella noch nie so schön gewesen sei als heute. Sie trug ein bronzefarbenes Seidenkleid mit mattgoldenen Stickereien und eine Rose im dunkeln Haar. Ihr Gesicht war blasser als sonst, und der ernste Zug um den Mund prägte sich noch charakteristischer aus. Sie hatte das Profil einer Niobe, diese schöne Athletin.

Herr Rennerke war im Frack und trug erstaunlicher Weise ein reines Chemisette zur Schau, in dem dicke Brillantknöpfe blitzten. Die kolossalen Füße steckten in Lackschuhen, die ihrem Besitzer sehr unbequem sein mußten, denn Herr Rennerke ging wie auf Eiern.

Eine Droschke brachte die vier nach dem Standesamts-Burean des Bezirks, wo die notwendigen 255 Formalitäten in der gewohnten trockenen Weise erledigt wurden. Interessant war es für Fritz, bei dieser Gelegenheit zu erfahren, daß die künftige Freifrau von Krey eine geborne Niedermaier war; ihre Mutter war zwar eine Italienerin, ihr Vater dagegen ein Tiroler gewesen – Carmella Nera nannte sie sich nur für die Bühne.

Als der Standesbeamte Carmella die Feder zur Unterzeichnung der Heiratsurkunde reichte, wurde Leopold Krey unruhig, – eine fahle Blässe bedeckte aber sein Gesicht, als er selbst mit raschem Zuge seinen Namen unter das Dokument setzte, den stolz klingenden Namen der Reichsfreiherrn von Krey, den er in diesem Augenblicke an eine Dirne und Gauklerin verschenkte. Ihm war, als zucke plötzlich ein fremdes und doch wohlbekanntes Gefühl in seinem Herzen auf, und allerhand Bilder der Erinnerung aus glücklichen Kindertagen huschten, Nachtfalter des Gewissens, blitzschnell an ihm vorüber.

Er warf die Feder auf den Tisch zurück und richtete sich straff, ein bitteres Lächeln auf den Lippen, empor. Der Standesbeamte verlas noch einmal die Urkunde – dann war die Ceremonie beendet. Fritz und Rennerke gratulierten dem jungen Paare, und ohne mit der Wimper zu zucken, nahm Krey die Glückwünsche der beiden 256 entgegen; auch in Carmellas, einer tragischen Maske gleichendem Bronzegesicht spiegelte sich nichts von einer tieferen Empfindung wieder, – nur ein Zug flüchtigen Staunens glitt über ihr Antlitz, als Krey ihre Hand nahm und sie an seine Lippen zog.

Man fuhr zu Ewest, wo der alte Montevero die Hochzeiter bereits erwartete. Der Champagnergraf war erst vor einer halben Stunde von einer kleinen Geschäftsreise zurückgekehrt, – Krey hätte ihn sonst gern an Stelle Rennerkes als Zeugen genommen. Graf Hektor hatte zwar auch seit langem mit jeder Tradition aus besserer Zeit gebrochen, aber seine Persönlichkeit war doch immerhin eine sympathischere als die jenes schmutzigen Agenten . . . Der alte Mann war in tadelloser Balltoilette und sah mit seinem vornehmen Legitimistenkopfe ungemein stattlich aus. Zur Feier des Tages trug er sogar – seine letzte wache Erinnerung aus Zeiten höheren Flugs – das rote Band der Ehrenlegion im Knopfloch.

Das Frühstück war gut und schmeckte allen vortrefflich, – bis auf Leopold Krey, der anfänglich still und einsilbig war und erst späterhin geräuschvoll lustig wurde. Fritz sah mit Verwunderung, daß Krey dann und wann stieren Auges auf seinen Teller starrte, zuweilen auch mit flackerndem Blicke jeden einzelnen der Anwesenden voll seltsamen Ausdrucks musterte, und daß seine schlanken weißen Hände, wenn sie nach dem Glase griffen oder das Brot zerbröckelten, nervös zitterten. Und es war wahr: Krey fühlte sich in dieser Stunde unsäglich elend; was er nie geglaubt und nie für möglich gehalten hätte – das Gewissen regte sich in ihm! Es pochte, schlug und 257 hämmerte an seiner Seele und rief eine qualvolle Gedankenflut wach – die gleichen Erinnerungen, die ihn schon vorhin beim Unterzeichnen des Ehekontrakts mit dräuender Gewalt überkommen hatten . . . Riß ein Schleier vor seinem Auge entzwei? – Im Fluge weniger Minuten drängte sich vor seinem Blicke seine ganze Vergangenheit zusammen, und in endloser Kette fügte sich Bild an Bild – traumhaft geschwind, aber greifbar deutlich – aus der Zeit seligen Jugendglücks bis heute. Da tauchte aus dem Waldesgrün der Tiroler Berge das alte Herrenhaus am Monsthal gar stattlich mit seinen ragenden Zinnen empor – und er sah sich als Knabe an seines Vaters Seite vom Turme herab über das grüne Innthal schauen, das sich weithin erstreckte bis zu der Felsenengung der Brixener Klause, und hörte die Stimme des alten, im raschen Abenteurerleben früh zum Greise gewordenen Herrn: »Blick auf, Leopold, – bis zum Hange der Greifensteins südwärts und drüben fast bis nach Innsbruck hinauf war einst das Gebiet der Herren von Krey. Im fünfzehnten Jahrhundert, so berichtet die Chronik, gehörten die Kreys zu den reichsten Adelsgeschlechtern Tirols. Heute ist nur noch die Scholle, auf der wir stehen, und Monsthals alte Burg unser eigen. Ich habe es nicht verstanden, Haus zu halten, und nun, da ich alt geworden, rächt sich das Leben an mir. Sei weiser als dein Vater und besser als er und bringe Namen und Wappen wieder zu Ehren . . .« Das hatte sich fest dem Gedächtnisse Leopolds eingeprägt, aber er war nicht weiser und besser geworden als sein Vater. Er hatte den Leichtsinn der Ahnen als Erbe übernommen, doch nicht ihren stolzen Sinn und die 258 Ritterlichkeit des Geblüts . . . Schnell vergingen die Jahre im Kadetteninstitut zu Wien und beim Regimente. Und dann kam die Zeit, wo er bei seinem Oheim in Trautburg Katinka kennen lernte – und lieben. Ja – lieben! Denn klarer als je wußte er es heute: er hatte sie geliebt, und er wäre ein anderer geworden an der Seite dieses herrlichen Weibes! Sein ungestümes Blut und ein paar nachtschwarze Augen aber trieben ihn weiter auf abenteuerlichen Pfaden – hinüber nach den Großstädten Amerikas und nach den Prairien des Westens, den Indianergebieten von Kansas und den Goldfeldern von Pikes Peak . . . Nirgends war das Glück ihm hold und nirgends half es ihm Fuß fassen. Ärmer, als er ausgewandert, kehrte er eines Tages in die alte Welt zurück.

In einer Vorstadt Hamburgs fand er die nachtschwarzen Augen wieder, deren sündiges Leuchten vor Jahren in Trautburg sein Blut in Wallung gebracht hatten – jene Augen, die der Grund seiner Trennung von Katinka gewesen waren. Obdachlos streifte er eines Abends durch das Jahrmarktsgewühl von St. Pauli, als er auf einer jener Bretterbuden, in denen falsche Indianer, Feuerfresser und Schlangenbändiger das Volk entzücken, seinen Vornamen rufen hörte. Er wandte sich um und sah auf der Schauestrade der Bude Carmella stehen, in Trikot gekleidet und mit Flittern behängt, die schwarzen Haare weit über den Rücken wehend, die nervigen Hände auf eine Eisenstange gestützt . . . Von diesem Augenblicke an begann in dem Abenteurerromane Leopold Kreys abermals ein neues Kapitel – und dieses seltsame 259 Hochzeitsdiner im Hinterzimmer von Ewest war der Schluß desselben noch nicht . . .

Glanzlos und müde ließ Krey den Blick über seine Gäste schweifen, und ein widriges Gefühl kam über ihn. Ihm gerade gegenüber saß der alte Champagner-Graf – auch einer, den das Leben aus geregelten Bahnen hinausgeschleudert hatte, aber einer, der im Kampf mit dem Dasein stumpf geworden war und das Entwürdigende längst nicht mehr spürte, das in der Verbindung seines Namens mit einem schachernden Hausierertum lag. In diesem vornehm ausschauenden Alten lebte nichts mehr von Standesgefühl und edelmännischer Gesinnung; das hatte die bittere Not in ihm erstickt, und als wieder bessere Tage gekommen waren, hatte es nicht mehr aufwachen wollen. Tagaus, tagein lief er von Kneipe zu Kneipe und war glücklich, wenn er in wüster Gesellschaft einen Korb »seiner« Marke an den Mann bringen konnte. Man sagte, er hätte dies Kneipenleben und Handeln und Schachern gar nicht mehr nötig, denn er habe sich ein kleines Vermögen erspart oder habe es geerbt, von dem er immerhin leben könne – aber das Umherirren aus einem Lokal in das andre, das Tändeln und Scherzen mit zweifelhafter Weiblichkeit, der Verkehr mit niedrigem Bohème, das war dem Alten fast schon zur zweiten Natur geworden – er konnte nicht anders. Er war stumpf geworden und spürte seine Würdelosigkeit nicht mehr.

Ein bitteres Lächeln zuckte um die Lippen Leopold Kreys. War dieser alte Mann nicht eigentlich beneidenswert? Er fühlte gar nicht, welch tragikomische Rolle er im Großstadtleben spielte, und das war ein Glück für 260 ihn. Krey aber – o, an dem fraß und nagte sein Schicksal! Der war noch nicht stumpf geworden im Elend, der spürte noch, was als Schande galt im Codex der Gesellschaft! Aber hatte er selbst nicht also gewollt, – war er nicht freiwillig hinabgestiegen bis an die Grenzen des Proletariats – um eines Racheakts willen?! ›Ja,‹ rief er sich zu, und in seinem thörichten Grimme fühlte er nicht einmal das Lächerliche dieses Eingeständnisses, – ›ich hätte ein Besserer werden können, wenn man mit Liebe und Duldung sich meiner angenommen, wenn man mich nicht wie einen lästigen Bettelbruder vor die Thür gestoßen hätte! Nun mögen sie erfahren, wie es thut, wenn mit dem meinen auch ihr Wappenschild rostig wird und auch auf die Ehre ihres Namens Flecken fallen! Der rechtmäßige Ehemann einer Gauklerin, eines verlorenen Geschöpfes, und selbst eine Art Gaukler, den das Publikum auszischen oder dem es zujubeln kann, wie es in Stimmung ist, – Ihr lieben Verwandten, gefällt euch das?!‹ . . . Und Krey lachte heiser auf und stürzte ein Glas Madeira in die Kehle. »Prost, Rennerke, prost – und auf gute Geschäfte!« –

Der Agent war so eifrig mit der Vertilgung eines Bergs von Rehbraten beschäftigt, – wenn es nichts kostete, pflegte er eine gewaltige Klinge zu schlagen, – daß er förmlich zusammenschrak. »Prost,« kam er endlich nach und wischte sich mit der rechten Hand die nassen Lippen ab, als er das Glas wieder auf den Tisch stellte. Leopold nickte. Eine nette Gesellschaft, in deren Kreise er lustige Hochzeit feierte, – so war es recht, so mußte es kommen! Schade, daß Graf Kölpin nicht zuschauen 261 konnte, oder noch besser Katinka! Das Blut stieg ihm ins Antlitz, als er ihrer gedachte; er merkte es, aber er trotzte dieser Wallung von Scham. Sein Blick flog zu Carmella hinüber. Gleichgültig und mit ihrem gewohnten tiefernsten Ausdruck im Gesicht saß sie neben ihm und speiste mit gesundem Appetit. Carmella hatte in ihrer verliebten Selbstlosigkeit Krey vieles geopfert, er hätte ihr in gewisser Beziehung sogar dankbar sein müssen, – und doch gab es Augenblicke für ihn, wo er eine förmliche Wut gegen sie empfand, weil er vermeinte, sie trüge Schuld daran, daß er so tief, so tief gesunken . . . Es war ihm nicht möglich, ihr in solchen Augenblicken in das Gesicht zu schauen, ohne daß es heiß und rasend in ihm aufkochte. Und er kannte diesen Jähzorn und hatte ihn oft genug bereut! –

Da war noch der letzte der kleinen Tafelrunde – Fritz Fiedler, der angehende Herkules! Krey hatte ihn bisher wenig beachtet, – aber als er gelegentlich zufällig einen heiß bewundernden Blick des blonden Riesen zu Carmella hinüber auffing, – da wuchs sein Interesse. War der Junge verliebt? Immerhin, und Krey lächelte – er war nicht eifersüchtig. Seine schwarze Venus hatte schon so manches Männerherz bethört; freilich, man sagte ihr nach, sie sei spröder, als das lockende Flimmern in ihren schönen Augen glauben ließ, – aber Krey war cynisch genug, auch dieses on dit zu belächeln . . . »Prost, Monsieur Fiedler!« – und Leopold hob sein Glas. Fritz gefiel ihm, – das Offene, Freie und Sympathische in seinem Gesicht und seinem Wesen sagte ihm zu. Und wie gut und gewandt wußte sich dieser ehemalige Headgroom 262 zu benehmen, – wie er manierlich zu speisen verstand und wie nett und gewählt er sich ausdrückte, wenn er einmal in die Unterhaltung hineingezogen wurde! ›Schade um den Burschen,‹ sagte sich Krey; ›^ein einziges Coulissenjahr – ein Dutzend Monate im Morast der Specialitätentheater, und es ist vorbei mit ihm! Man sollte sich seiner anzunehmen versuchen‹ – – und wieder glitt ein bitteres Lächeln um seinen Mund, – ›ah bah, man hat genug mit sich selbst zu thun!‹ . . .

Die Kellner schoben bronzierte Weinkühler mit Veuve Clicquot an den Tisch heran – das Ersparte Carmellas ging zu gutem Teile bei diesem Hochzeitsmahle drauf. Der Champagnergraf griff eilends in den ihm zunächst stehenden Kühler hinein und suchte den Flaschenpfropfen zwischen den Eisstückchen hervor, dessen Brandstempel er aufmerksam prüfte.

»Kein Duc de Montevero,« meinte er enttäuscht, »c' n'est pas joli, baron – aber ich verzeihe Ihnen, weil heute ein Festtag ist! Ich trinke sogar mit, – schenken Sie ein, Rennerke, – mehr noch: ich werde eine Rede halten« . . .

Er schlug an das Glas, band sich die Serviette ab, stand auf und begann in geziertem Tone einen langen, an allerhand Bildern und allegorischen Vergleichen überreichen Speech, den er bei jeder Gelegenheit zum besten gab und der schließlich ganz unvermittelt mit einem Hoch auf das »junge Paar« abschloß. Carmella, die sich höchlichst geschmeichelt fühlte, dankte dem Grafen und ließ sich von ihm beide Hände küssen, Krey dagegen sah, als 263 Montevero mit ihm anstieß, so finster aus, daß Rennerke ihm, stutzig werdend, zurief:

»Fehlt Ihnen 'was, Herr von Krey?! Hoch das Leben, die Liebe und die guten Geschäfte!«

Und Krey ließ seinen Kelch so wuchtig an den des Agenten anklingen, daß das leichte Krystall zersplitterte und klirrend zu Boden fiel.

Von nun an trank er hastig Glas auf Glas leer, – er suchte Betäubung für seine zitternden, überreizten Nerven. Als die Kellner Kaffee und Cigarren in das Zimmer brachten, hob Krey die Tafel auf. Man ließ sich an kleinen Tischchen in bequemeren Fauteuils oder auf dem Divan nieder, der die Längsseite des Gemachs einnahm. Montevero, Rennerke und Carmella vertieften sich in ein Gespräch über allerhand Coulissentratsch, – Krey aber warf sich in einen Sessel in der Fensternische, ließ sich noch eine neue Flasche Clicquot bringen und rief dann Fritz zu sich heran.

»Kommen Sie her, Kind,« sagte er; »rollen Sie sich das Taburett neben mich – so – und dann erzählen Sie mir einmal etwas aus Ihrem Leben! Wo stammen Sie her?« –

Fritz erzählte. Leopold hörte stillschweigend zu und warf erst einige Fragen dazwischen, als Fritz von seinem Aufenthalt im Kölpinschen Hause zu sprechen begann. Das interessierte ihn besonders. Er nickte dann und wann, und das glasig gewordene Auge blitzte noch zuweilen auf. Endlich schwieg er ganz. Sein sorgsam frisierter Kopf war auf die rechte Schulter gesunken, die Arme fielen schlaff herunter – er war eingeschlafen. 264

 


 


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