Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Zwölftes Kapitel

Fritz stand vor einer Anschlagssäule und studierte aufmerksam das mächtige brandrote Plakat des Reichshallen-Theaters. »Zum erstenmale in Berlin,« war da in Riesenlettern zu lesen. »Erstes Auftreten der außerordentlichen Athletin und Parterre-Akrobatin Signora Carmella Nera, genannt »la gigantessa italiana« in ihren staunenerregenden Kraftproduktionen – gemeinsam mit August Sterzinger, dem unübertrefflichen bayrischen Herkules« . . . Die schöne Carmella trat zum erstenmale auf – das bestärkte Fritz in seinem Entschlusse, schon heute das Reichshallen-Theater zu besuchen, um nach der Vorstellung die gewünschte Rücksprache mit Sterzinger zu nehmen.

Otto bedauerte, Fritz nicht begleiten zu können; es ging nicht an – er hatte zu viel zu arbeiten und wollte nachholen, was er am gestrigen Tage, an dem der 214 Frühschoppen bis zum Abend verlängert worden war, versäumt hatte.

Fritz machte sich zeitig auf den Weg, um einen guten Platz zu erhalten. Dichte Menschenmassen umlagerten die Theaterkasse, sodaß Fritz es vorzog, sich von einem der auf der Straße postierten Billethändler mit einem geringen Aufschlage einen Platz zum zweiten Rang zu erkaufen.

Da saß er nun und ließ seinen Blick durch den luxuriös ausgestatteten, von blendenden elektrischen Lichtströmen taghell erleuchteten Zuschauerraume schweifen. Das Haus war ausverkauft. Die Verlobungsanzeige des Baron von Krey war von den Blättern, die von Tagesklatsch lebten und in Verarbeitung desselben eine Spezialität suchten, in den redaktionellen Teil hinübergenommen und auf allerhand Weise glossirt worden. Auch eine weitere Notiz von gewissen Schwierigkeiten, mittels derer das Auftreten der italienischen »gigantessa« von Seiten der Polizei hätte gehindert werden sollen – die Notiz war wohl geflissentlich etwas dunkel gehalten worden – hatte das Publikum neugierig gemacht; man war allgemein gespannt auf die »lombardische Riesin« (Erfindung des »Berliner Lokalboten«), die mit der »Schönheit der Brunhild auch deren Körperstärke vereinigt« (Erfindung des »Berliner Morgen-Blattes«).

Die erste Abteilung des Programms brachte nur bekannte Piecen. Miß Anne Hopskin, die berühmte Schlangendame, vollführte, den zierlichen Körper in ein Trikot aus Silberschuppen genäht, die unglaublichsten Verrenkungen, und Henry de Marmotel, der 215 Tierstimmen-Imitator mit dem Napoleonskopfe, fand in seiner großen Glanznummer, der näher kommenden Schafherde, gewohnten Beifall. Fred Deeken-Carobatti, der Malabrist, jonglierte auf wunderbare Weise – ein paar englische Clowns brachten durch ihre Harlekinaden die Lachmuskeln des verehrten Publici in Bewegung – kurz, man unterhielt sich vortrefflich: die Stimmung war da, um den folgenden Haupt-Piecen des Abends volles Interesse entgegenbringen zu können.

Nach einer viertelstündigen Pause teilte sich, während die Musik mit rauschenden Klängen einsetzte, der Vorhang von neuem. Die Bühne zeigte die gewohnte Dekoration, eine ideale Landschaft; im Vordergrunde der Scene stand ein, mit einem goldgestickten Tuche bedeckter Tisch, auf dem Eisenbarren, Eisenkugeln und eiserne Ketten lagen.

Der bayrische Herkules trat mit Carmella Nera gemeinsam aus der rechten Coulisse. Ein Dröhnen des Beifalls rauschte bei dem Erscheinen der beiden durch das Haus. Sterzinger war in ein fleischfarbenes, mit Flittern benähtes Trikot gekleidet – er sah plump und ungefüge 216 in seiner Kostümlosigkeit aus. Anders Carmella. Ein weißer Mantel, eine Art Burnus, umhüllte ihre ganze Gestalt, als sie auf die Scene trat. Hier erst schlug sie den Mantel zurück und warf ihn einem der im Hintergrunde postierten Diener zu. Ein Laut der Verwunderung ging durch das Publikum. Sie war göttlich schön – die lebend gewordene Venus Anadyomene. Das dunkle Haar war zu einem schlichten Knoten auf dem Hinterkopfe vereinigt und frei von der Stirn zurückgestrichen. Bei dem hellen Glanze der elektrischen Leuchter konnten auch die ferner Sitzenden jede Linie ihres wundervollen Profils deutlich erkennen. Ein raffiniertes Kostüm hob die geschmeidige Pracht ihrer Glieder noch mehr hervor. Das knappe, mit altgoldenen Stickereien verbrämte Mieder aus violettem Sammet ließ Hals und Arme frei – und die kräftig geschwungenen, edel gehaltenen Konturen von Arm und Büste, ihre zarte Tönung mußten jedes Auge entzücken. Violettfarbene Seidentrikots schlossen sich prall den Formen der Beine an, und hohe schwarze Lederstiefel bekleideten die außerordentlich kleinen Füße.

Alle Operngläser wurden in Bewegung gesetzt, um dies Fleisch gewordene Wunder betrachten zu können. Der Herkules hatte bereits mit seinen ersten Produktionen begonnen, als das Publikum aus dem Rausche seiner Bewunderung erwachte, in den die seltene Schönheit dieser »gigantessa« es versenkt zu haben schien. Von neuem dröhnte ein nicht enden wollender Beifall durch alle Räume des Hauses. Sterzinger verneigte sich – er glaubte anfänglich, der Applaus gelte ihm und seinem Spiel mit den Eisenkugeln. Aber als der Beifall sich fortsetzte, ohne 217 daß er zu einer neuen Produktion gekommen wäre, wurde er unruhig und ein ärgerliches Zucken flog über sein breites Gesicht. Er trat zurück und machte Carmella Platz, die bis dahin regungslos, wie zu Stein geworden, im Hintergrunde gestanden hatte. Nun trat sie hervor und erfaßte mit jeder Hand eine der Eisenkugeln an ihren Griffen, ließ sie zuerst auf den Boden fallen, um das Publikum davon zu überzeugen, daß es keine hohlen Attrappen seien, und begann dann in ähnlicher, nur vereinfachterer Weise mit ihnen zu jonglieren, wie ihr Partner vorher. Aber was Sterzinger mit einer gewissen brutalen Plumpheit ausgeführt hatte, vollendete sie mit kühner Grazie. Jede ihrer Bewegungen wohnte eine ruhige Schönheit inne, jede ihrer Posen war plastisch. Wenn sie die Arme in Kreuzesform ausstreckte und eine der Kugeln von der rechten Hand in die linke quer über den weißen Nacken roulieren ließ, dann zuckte keine Fiber an ihr, nur die Muskeln spannten sich mächtig an – sie glich in diesem Augenblicke dem Urbild vereinigter Schönheit und Kraft.

Die Produktionen wechselten. In kurzen Zwischenräumen folgte auf jede Kraftleistung Sterzingers eine ähnliche von Seiten Carmellas. Das junge Weib war gewaltig stark. Während der dicke Riese bei seinem mächtigen Körperumfang sehr bald schwerer zu atmen begann, spürte man ihr keinerlei Ermüdung an. Nur ihr Gesicht färbte sich zuweilen bei einer besonders anstrengenden Produktion, um eine leichte Schattierung dunkler, und über das Stirnhaar perlten vereinzelte glänzende Tropfen. Dann und wann, wenn der Beifall der Menge zu tobendem Jauchzen anschwoll, glitt ein Lächeln um 218 ihren Mund – aber es war merkwürdig, ihr Gesicht war nicht für das Lächeln geschaffen. Es entstellte sie nicht, denn ihre Lippen waren kirschrot und von üppigem Schwunge und ihre Zähne blitzend, aber ihr Lächeln hatte etwas Materielles, das jeden feinfühligen Anbeter der Frauenschöne verletzen mußte. In das Bronzeantliz dieser dunkelhaarigen Brunhild gehörte kein Zug fröhlichen Lebens hinein – es schien von der schöpferischen Hand nur für die plastische Wiedergabe starren Ernstes und vielleicht auch herben Leids gemeißelt zu sein.

Der Applaus des Publikums – es war mehr ein fortgesetztes Jubeln, Jauchzen und Tollen – schien kein Ende finden zu wollen, als die Gardine sich endlich geschlossen hatte. Immer und immer wieder mußte sich Carmella an der Seite ihres Partners vor der Rampe zeigen. Sie hatte dabei den weißen Burnus, in dem sie aufgetreten war, wieder um die Schultern genommen, – als aber von der Höhe der Galerien aus frechem Munde der Ruf: »Mantel herab!« laut wurde, erschien sie nicht mehr vor der Gardine. Die Musik mußte mit einem klingenden Marsche einfallen, um den rasenden, doch bald zu allerhand Ungezogenheiten ausartenden Enthusiasmus des Publikums niederzukämpfen.

Vielleicht war der große, stämmig gewachsene junge Mensch, der in der ersten Reihe des zweiten Rangs mit fest auf das Sammetpolster der Balustrade gestützten Armen saß, der einzige im ganzen Zuschauerraume, der nicht in den Applaus der übrigen einstimmte. Seine Hände rührten sich nicht zu beifallsfrohem Klatschen – er war wie versteint, nur seine Augen lebten. Er stand völlig im 219 Banne der Schönheit dieses starken Weibes, das jeden seiner Sinne gefangen nahm.

Die Vorstellung schritt fort. Fritz merkte es kaum. Mechanisch drehte er den Theaterzettel in seinen großen Händen hin und her, und immer von neuem haftete sein Blick auf den Worten Carmella Nera, la gigantessa italiana . . . Eine englische Pantomime mit Ohrfeigen und ähnlichen Knalleffekten schloß das Programm ab. Die das Theater verlassende Menge riß Fritz mit sich. Jetzt erst erinnerte er sich, daß Sterzinger ihn sprechen wollte. Er fragte den nächsten Billetabnehmer, wo der Herkules nach der Vorstellung zu finden sei und wurde in das an den Bühnenraum stoßende sogenannte Konversationszimmer gewiesen, ein kleines Gemach, in dem die Künstler sich während der Zwischenpausen zu versammeln pflegten.

Nur ein Herr war gegenwärtig hier anwesend. Er saß rittlings auf einem Stuhle, rauchte eine Cigarette und plauderte dabei mit zwei Balleteusen, die bereits Zeit gefunden hatten, ihr luftiges Kostüm mit der Straßentoilette zu vertauschen. Als Fritz den Herrn gesehen, zuckte er unwillkürlich zusammen – er hatte den Baron von Krey erkannt.

»Ah – sieh' da,« sagte Krey, während er seine Cigarette zu Boden fallen ließ und sie mit der Spitze seines Stiefels zertrat, »l'ami Fritz – mein ungetreuer Held aus der ›Springenden Münze‹! Zum Teufel, was führt Sie denn in dieses Coulissensanctuarium, Bester?«

Fritz trat bescheiden näher.

»Ich möchte gern Herrn Sterzinger sprechen,« sagte er; »Herr Sterzinger wünschte eine Unterredung mit mir« . . .

220 »Der Herkules – so, so! Wird nicht sonderlich erbaut sein durch die Schönheitskonkurrenz, die ihm heut' abend erwachsen ist! Sei's d'rum! . . . Sterzinger ist noch in seiner Garderobe, mein Freund; er pflegt direkt nach Hause, das heißt in das Bierhaus zu gehen – es dürfte sich also empfehlen, ihn in seiner Coulissenhütte aufzusuchen, wenn Sie ihn sprechen wollen. Gerade aus und dann rechts! . . Apropos, was macht denn Ihr Dienstherr, der Graf Kölpin hochlöbliche Gnaden?« –

»Ich bin nicht mehr in seinen Dienste, Herr Baron,« gab Fritz zurück.

Krey schaute überrascht auf. »Ei der Tausend, das ist mir ja interessant!« rief er aus. »Hat's Krach gegeben? Was?!«

Fritz brachte ein zögerndes »Ja« heraus; die ungenierte Art Kreys ärgerte ihn.

»Bravo!« rief der Baron, »dachte mir's, daß es so kommen würde! Und es ist gut so, Freund Fritz!« . . .

Fritz hörte nicht mehr das helle Lachen Kreys. Er war der Richtung gefolgt, die dieser ihm angegeben und auf einen ziemlich schmalen, von Öllampen erleuchteten Gang getreten. Allerhand Gestalten, Männer und Frauen in eleganter Toilette, in Arbeitsröcken, zum Teil ganz oder halb in Theaterkostümen, zum Teil nur notdürftig bekleidet, huschten an ihm vorüber. Einen dieser Leute hielt Fritz an – er wußte sich nicht anders zu helfen.

»Entschuldigen Sie – wo ist die Garderobe des Herrn August Sterzinger?« . . .

»Rechts – zweite Thür,« wurde ihm zur Antwort, und Fritz klopfte an.

221 Die dröhnende Bierstimme des Herkules rief »Herein«. Sterzinger saß in einem engen Verschlage vor einem Spiegelscherben und kämmte sich das Haar. Er war bis auf den Rock fertig angekleidet. Neben ihm auf einem niedrigen Schemel saß Miß Anne Hopskin, die Schlangenmaid, in Hut und Regenmantel, mit einem halb geleerten Weißbierglase im Schoße.

»Wer ist da?« brüllte Sterzinger. »Hat man auch nach der Arbeit keine Ruhe mehr?!« . . . Er drehte mühsam den auf fettgepolstertem Halse sitzenden Kopf zurück. »Wer sind Sie? was wollen Sie?« fuhr er Fritz an.

»Von Ihnen will ich gar nichts,« entgegnete dieser scharf, »aber man sagte mir, daß Sie mich zu sprechen wünschten! Mein Name ist Fritz Fiedler.«

»Das junge Mann aus die Springende Münze,« erläuterte die Schlangenmaid in ihrem holprigen Deutsch.

»Ah so!« . . . Ein letzter Bürstenstrich – dann erhob sich der Herkules wuchtig und drückte Fritz die Hand. »Entschuldigen Sie, es war nicht so böse gemeint. Ich habe mich heute schmählich geärgert . . . Zur Sache! Rennerke hat Sie nicht vergessen und ich auch nicht. Sind Sie immer noch Bereiter beim Grafen Dingsda?«

»Nein, ich habe meine Stellung verloren und bin frei.«

»Frei,« – der Herkules nickte –»das ist gut, das ist sehr gut! Wissen Sie, was ich Ihnen neulich sagte? Sie müssen Athlet werden, sagte ich Ihnen, denn Sie sind dazu geboren. Rennerke sucht nun eine frische Kraft – Sie entsinnen sich doch Rennerkes, des Agenten für 222 Spezialitätenbühnen und Besitzers der ›Springenden Münze‹ – was? . . . Nun ja, der will Sie also einfangen. Ich aber auch, und das ist die Hauptsache. Ich fange an, alt zu werden und immer dicker dazu. Die Knochen parieren nicht mehr so recht, und das Fleisch macht faul. Ich brauche einen Partner, mit dem ich zusammen arbeiten und mit dem ich mich in den Produktionen teilen kann. Heut abend hab ich's mit der Nera versucht – aber nie wieder! Man jubelt dem Frauenzimmer zu, weil sie eine hübsche Person ist« –

»Das geht sich noch serr an,« fiel die Schlangenmaid ein und rümpfte nichtachtend das Näschen.

»– und weil man ihre Faxen für echt hält,« fuhr Sterzinger unbeirrt fort. »Mich aber vergißt man. Das Publikum ist undankbar – hol es der Geier!« . . . Er nahm die Weiße vom Schoß seiner kleinen Liebsten und leerte das Glas geräuschvoll. »Das geht nicht so weiter,« fuhr er fort. »Ich teile mich gern mit jedermann in den Beifall des Publikums, aber ich will Gerechtigkeit haben. Entscheiden Sie sich kurz, junger Mann, und werden Sie mein Compagnon! Ich bilde Sie unentgeltlich aus, wenn Sie sich verpflichten, drei Jahre mit mir zusammen arbeiten zu wollen. Wie gesagt – ich brauche eine junge Kraft als Beihilfe, und wir werden viel Geld miteinander verdienen. Rennerke vermittelt uns die Engagements« . . .

Fritz antwortete nicht. Er sah die plumpe Gestalt Sterzingers vor sich, und neben ihm wuchs in lockender Schöne das Sirenenbild der Gigantessa empor . . . Ihr nah sein zu können, schien ihm ein beglückender Gedanke, eine Seligkeit. –

223 »Haben Sie noch 'was vor heute abend?« fuhr der Herkules fort. »Nicht? Desto besser! Dann kommen Sie mit in die ›Springende Münze‹. Abgemacht sela. Rennerke wird Ihnen die Sache schon plausibel machen. Meinen Rock, Anne! Puh – das ist warm! Meinen Hut, Anne – da drüben liegt er! So nun kann's losgehen! Halt, meinen Stock! Wo ist denn mein Stock, Anne?!«

Anne kramte den Stock aus einem Bündel alter Tricots hervor. Dann schritt man zu dreien den Garderobengang zurück, eine Treppe hinauf, eine Treppe hinab, und ins Freie.

Ein warmer Regen rieselte vom Himmel hinab. Fritz hatte keinen Schirm bei sich – es that ihm auch wohl, daß ihm die laue Feuchtigkeit in das Gesicht schlug. Ihm war, als siedete das Blut in ihm – ein eiskaltes Bad wäre ihm in diesem Augenblick eine Wonne gewesen. Den kleinen Filzhut weit von der Stirn geschoben, schritt er stumm an der Seite des Herkules daher, der seine Schlangenmaid am Arme, unaufhörlich mit dieser wisperte und flüsterte.

Die »Springende Münze« war, wie gewöhnlich zu dieser Zeit, bis auf den letzten Platz gefüllt, indessen wurde für Sterzinger und seine Genossen sofort ein neuer Tisch in die Nähe des Büffets geschoben.

»Setz' dich, Anne,« sagte Sterzinger und klappte vor seiner kleinen Geliebten die Speisekarte auf. »Bestelle dir Abendbrot, während wir mit Rennerke verhandeln. Erst das Geschäft, dann das Vergnügen . . . Wo steckt denn der Rennerke?!« –

224 Er trat in diesem Augenblicke hinter dem Büffet hervor und begrüßte die neuen Ankömmlinge mit einem gnädigen Winken seiner von Ringen strotzenden, ungewaschenen Rechten.

Sterzinger sprach leise einige Worte mit ihm. Der Agent nickte. »Wird gemacht,« sagte er, »ich hab' es ja gleich gesagt, daß aus dem Bengel etwas werden kann! Mußt ihn aber höllisch in die Mache nehmen, Dicker, damit er uns nicht blamiert!« . . .

Dann ließ er sich von seinem Schützenliesl einen Bittern geben, wischte sich den Mund mit der Hand ab und winkte Fritz, ihm in sein Privatbureau zu folgen.

Es war dies eine kleine, mit vielen Polstern und Teppichen ausgestattete Stube, die äußerst wohnlich hätte sein können, wenn sich nicht überall eine schreckliche Unsauberkeit bemerkbar gemacht hätte. Statt der Bilder bedeckten riesenhafte, bunt kolorierte Plakate, wie die moderne Reklame sie für die Anschlagsäulen erfunden hat, die Wände. Dazwischen hingen hie und da uneingerahmte Photographien, die mit Reisnägeln befestigt waren, und die Chansonettesängerinnen, Balleteusen, Akrobaten und dergleichen Künstlervolk mehr in allerhand gewagten Attitüden darstellten.

Rennerke zündete noch eine Gasflamme an und setzte sich an seinen Schreibtisch.

»Nehmen Sie Platz, Herr Fiedler,« sagte er. »Also kurz und gut: Sie wollen sich zum Athleten ausbilden lassen und meine Vermittlung in Anspruch nehmen. Ich sagte Ihnen schon einmal, daß ich damit einverstanden bin. Ich werde Ihnen vorteilhafte Engagements verschaffen, verlange 225 aber pünktliche Zahlung der Provision. Zehn Prozent – das ist so Sitte bei uns. Sterzinger verlangt nichts für seine Lehrstunden als die bindende Verpflichtung, drei Jahre gemeinsam mit ihm aufzutreten. Produktionen nach Übereinkommen – das versteht sich von selbst. Sterzinger hat nun mich als seinen Vertreter beauftragt, mit Ihnen abzuschließen; ich werde die Kontrakte ausfertigen und bitte dann um Ihre Unterschrift. Sie sind doch einverstanden?«

Fritz rückte auf seinem Stuhle hin und her. Er war sich durchaus noch nicht klar darüber, was er thun sollte.

»Auf wie viel Verdienst würde ich wohl anfänglich rechnen können?« fragte er stockend.

Der Agent legte die Feder hin und schaute Fritz musternd von oben bis unten an, als wolle er die Muskulatur und die Sehnenstraffheit des neuen Herkules prüfen.

»Wenn Sie anstellig sind und sich der Lehrmethode Sterzingers fügen,« erwiderte er dann, »so garantiere ich Ihnen schon als erste Monatsgage drei- bis vierhundert Mark. Ich garantiere sie Ihnen – und wenn ich Ihnen das sage, ist es so gut wie abgemacht.«

Drei- bis vierhundert Mark monatlich – das war ungefähr so viel, wie Fritz bei dem Grafen Kölpin in einem Jahre verdient hatte! Sterzinger hatte ihm ähnliche Summen genannt – wie war es nur möglich, daß man so unmenschlich viel Geld für ein paar lustige Kraftkunststücke erhalten sollte! – Rennerke log doch nicht? Fritz wurde stutzig. Er war kein großer 226 Menschenkenner, aber vertrauenerweckend sah der Agent nicht aus . . .

»Ist das auch wahr?« wagte Fritz zu fragen.

Statt jeder Antwort zog Rennerke ein Schubfach auf, nahm einen Haufen Papiere heraus und entfaltete einen zum Teil bedruckten, zum Teil mit Zahlen und Schriftzügen bedeckten Bogen.

»Schauen Sie einmal her, junger Mann,« sagte er; »das ist der Kontrakt Sterzingers mit den Reichshallen. Sterzinger erhält für jedes Auftreten fünfzig Mark, das wären fünfzehnhundert Mark pro Monat, der Monat zu dreißig Tagen gerechnet – da steht's schwarz auf weiß. Und das ist gar nicht einmal viel! Glauben Sie mir nun, daß ich Ihnen drei- bis vierhundert Mark ohne weiteres garantieren kann?«

Fritz blickte in das Schriftstück – in der That, der Agent hatte nicht gelogen. Und einen so verlockenden Vorschlag sollte er von der Hand weisen – er, der arme Teufel, der Kantorsjunge, dem das Leben so bitterlich mitgespielt hatte? – Was war denn das weiter, dies Fangballspiel mit den eisernen Kugeln, das Sprengen der Ketten, das Krummschlagen einer Eisenbarre auf dem entblößten Oberarm?! Fritz entsann sich, daß er in lustiger Laune schon ähnliche Kunststücke fertig bekommen hatte – oho, auf seine Muskeln und auf die Kraft seiner Glieder konnte er sich verlassen – das ängstigte ihn nicht! –

Der Agent las ihm die Kontrakte vor. Da war zunächst sein Abkommen mit Sterzinger: drei Jahre gemeinschaftliches Engagement, gegen freie Lehrzeit – 227 Gagenberechnnug »apart«, wie Rennerke sich ausgedrückt hatte, doch verpflichtete sich jeder der Kontrahenten während der Zeit des Abkommens kein Engagement allein anzunehmen – bei einer Strafzahlung von zehntausend Mark. (Auch die Höhe dieser Summe imponierte Fritz gewaltig.) Dann kam der Kontrakt mit Rennerke, laut dem Fritz sich keiner anderen Agentur bedienen durfte u. s. w., u. s. w. – ebenfalls gegen Zahlung einer erheblichen Konventionalstrafe.

»Bitte,« sagte der Agent und hielt Fritz die Feder hin – und Fritz unterschrieb.

Rennerke packte seine Papiere wieder ein und behielt nur das auf Sterzinger bezügliche Schriftstück, das dieser noch nicht unterfertigt hatte, draußen. Dann schob er Fritz eine Kiste verdächtig aussehender Cigarren zu.

»Rauchen Sie? Sie ist allerdings nicht leicht . . . Apropos noch eins: wünschen Sie Vorschuß? Sie werden den Sommer über leben müssen« –

»Ich habe noch genug für einige Monate,« fiel Fritz dankend ein.

Tant mieux! Im September beginnen die Spezialitätentheater ihre neue Saison – nur bis dahin brauchen Sie sich durchzuknabbern – im übrigen, ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung! Ich vertraue nun einmal auf Ihren Stern!« . . . Er schraubte die Gasflamme tiefer. »So! Und nun wollen wir unsern Pakt mit einer 228 Flasche Montevero besiegeln; da macht wieder – haha – da macht wieder unser alter Comte sein Geschäftchen dabei! Eine Hand wäscht die andre!« . . .

Sie verließen das Bureau des Agenten und kehrten in die Gasträume zurück, wo Sterzinger und Miß Hopskin sich bereits an einer Abendmahlzeit gütlich thaten. Fritz fand unter den sonst noch anwesenden Gästen eine ganze Anzahl bekannter Gesichter wieder; durch den dichten Cigarrenqualm glaubte er im Nebenzimmer auch Leopold Kreys Gesicht und seinen großen blonden Vollbart schimmern zu sehen, aber er lugte vergebens nach jenem schönen Weibe aus, dessen Bild heute abend sein ganzes Sein erfüllt hatte.

Rennerke ließ sich mit Fritz am Tische Sterzingers nieder und befahl einem der Kellner, eine Flasche Sekt zu bringen. Man stieß auf gute Verbindung, glänzende Geschäfte und treue Kameradschaft an; Sterzinger war sehr aufgeräumt, und die kleine Schlangendame, der nach dem dritten Glase das ungewohnte Getränk zu Kopf stieg, bekam bald knallrote Bäckchen und begann ungeniert englische Gassenhauer zu trällern, über die sich der Herkules, obwohl er kein Wort davon verstand, vor Lachen ausschütten wollte.

Da Rennerke die erste Flasche gegeben hatte, wollte sich Sterzinger auch nicht lumpen lassen und bestellte die zweite. Eine dritte und vierte folgten. Die Tischgesellschaft erweiterte sich. Gegen Mitternacht fand sich, lustig wie stets und den schneeweißen Schnurrbart zu gefährlichen Spitzen in die Höhe gedreht, der alte Champagnergraf ein – glücklich darüber, daß man »seiner« Marke 229 die Ehre gab. Auch Mausebrei, einer der getreuesten Stammgäste der ›Springenden Münze‹, tauchte aus einem Winkel des Nebenzimmers auf und beteiligte sich an dem Gelage; der kleine Schneider und ehemalige Darsteller schleichender Intriguanten schien den Tort, den ihm der Herkules vor einigen Wochen angethan, gänzlich verwunden zu haben, – er fraternisierte auf das Intimste mit seinem einstigen Gegner, und als es ein Uhr schlug, da war sogar die Stunde gekommen, wo er selig in Sterzingers Armen lag und mit ihm den Bruderkuß tauschte . . .

Auch Fritz hatte viel und schnell getrunken, aber er wollte sich heute nicht wohl fühlen inmitten dieser schreienden, singenden und tobenden Gesellschaft. Er wußte selbst nicht, weshalb. Sein Empfindungsvermögen war nicht fein genug organisiert, um ein ästhetisches Unbehagen in diesem Kreise halb oder ganz trunkener Gesellen und Dirnen zu fühlen; es war etwas andres, das ihn bedrückte und ihm die Stimmung benahm. Er war still und in sich gekehrt und verließ bald nach Mitternacht die »Springende Münze«, ohne den vielseitigen Aufforderungen zum Bleiben Gehör zu schenken. –

Otto war noch wach, als Fritz nach Hause kam. Der Student lag im Bette und qualmte aus einer mächtig langen Pfeife, deren Porzellankopf auf den Fußboden stieß. Vor sich hatte er ein juridisches Lehrbuch, in dem er beim Scheine der auf dem Nachttische stehenden Lampe eifrig studiert zu haben schien.

»Salve, mein Sohn,« sagte er beim Eintritt Fritzens, »bewundere mich und neige dein Haupt in tiefem Respekt 230 vor meiner sittlichen Größe! Während du dich in welteiteln Zerstreuungen ergingst, habe ich mich mit den Pandekten beschäftigt. Wenn du eine Ahnung hättest, was das ist, würdest du mich mit andern Augen anschauen, als jetzt. Du scheinst mir betrunken zu sein, mein Sohn. Darf ich fragen, wo du dich herumgetrieben hast?«

Fritz öffnete zunächst das Fenster, um dem Tabaksqualm Ausgang zu schaffen und setzte sich dann am Bettende nieder.

»Ich bin durchaus nüchtern, mein lieber Otto,« antwortete er, »obwohl ich ganz tüchtig gekneipt habe. Weißt du, woher ich komme? – Aus der ›Springenden Münze‹« . . .

»Pfui Geier,« sagte Otto und lachte, »du – das Lokal hab' ich nachgerade satt bekommen!«

»Ich liebe es auch nicht, aber ich mußte Sterzinger, den Herkules aus den Reichshallen, dorthin begleiten. Er hat mir eine neue Stellung verschafft« . . . Und Fritz erzählte von den Geschehnissen des Abends und holte als Beleg für die Wahrheit seines Berichts die Kontrakte zwischen ihm, Sterzinger und Rennerke hervor.

Otto richtete sich im Bette vor. Er fand anfänglich gar keine Worte vor maßlosem Staunen. Fritz Fiedler, ein angehender Athlet, ein Konkurrent des bayrischen Herkules, ein Jahrmarktsgaukler – mußte einem da nicht der Verstand stille stehen? Die Stellung eines Reitknechts war ja auch nicht gerade eine hervorragende gesellschaftliche Position – aber Akrobat, Clown, Feuerfresser (Otto machte in dem neuen Berufe Fritzens keinerlei Unterscheidungen) – das war zu toll! –

231 »Du bist ein großes Kamel, mein lieber Fritz – Ich kann mir nicht helfen, ich muß dir einmal die Wahrheit sagen,« begann er in seiner rücksichtslosen Offenheit. »So eine Dummheit hätte ich dir weiß Gott nicht zugetraut! Du bist doch ein ganz geweckter Kopf, der vernünftig zu denken gewohnt ist und sich nicht gleich von einem paar Hundertmarkscheinen blenden läßt! Begreifst du denn nicht, daß du mit dieser Athletenstellung tief unter das Niveau eines mittelmäßigen Bildungsgrades hinabsteigst, daß du damit auch gleichzeitig jede Verbindung mit der anständigen bürgerlichen Gesellschaft lösest? Ich bitte dich, was sind denn das für Menschen, die dich Kollege nennen können, die zur Erheiterung des grinsenden Publikums Abend für Abend ihre Gesichter schneiden, Kugeln fangen und Purzelbaum schießen? Allerhand verkommene Subjekte beiderlei Geschlechts – nichts weiter! – Du hast mich zur Genüge kennen gelernt, Fritz, und weißt recht gut, daß ich weder ein scheinheiliger Heuchler, noch ein prüde denkender Philister bin. Ich würde kein Wort gesagt haben, wenn du zu mir gekommen wärst und mir erklärt hättest: ich will Schauspieler werden – ich spüre, ich habe das Talent dazu: ich muß zwar von unten anfangen, aber ich glaube, mich auf meine Begabung verlassen zu können – es wird schon gehen, wenn ich auch zuerst nichts weiter zu thun habe, als Stühle und Tische hinauszutragen und dann und wann einmal zu melden ›Die Pferde sind gesattelt‹ oder ›der Herr Graf bittet, seine Aufwartung machen zu dürfen‹ . . . Aber als Athlet – in Tricot und in goldbetreßten Badehöschen vor dem Publikum herumzustolzieren – nein, Fritz, das ist keine 232 Thätigkeit, mit der du dir die Achtung der Nebenmenschen erringen kannst! Es mag komisch klingen, daß gerade ich dir eine solche Strafpredigt halte – du brauchst sie ja auch nicht zu beachten, wenn du nicht magst – ich will dir aber wenigstens meine Meinung gesagt haben! Und damit basta!« . . .

Fritz war anfänglich dunkelrot und dann sehr blaß geworden. Der Gedanke, es könne etwas Entwürdigendes in der öffentlichen Schaustellung körperlicher Kraft und Gewandtheit liegen, wie Otto dies meinte, war ihm noch nicht gekommen. Er begriff das auch nicht. Waren denn die hunderttausend Akrobaten und Athleten, die es gab, wirklich nur ›verkommene Subjekte‹? Gehörte nicht auch zum Bändigen, zur Dressur und zum Zügeln unerzogener Pferde eine erhebliche Dosis körperlicher Gewandtheit, und hatte nicht Graf Kölpin mit seinen Standesgenossen so und so oft, auf zahlreichen Rennplätzen und vor aller Welt, sich in seiner Reitkunst bewundern lassen? –

Mit unsicherer Stimme, gedrückt und verlegen, versuchte Fritz sich zu verteidigen. Aber Otto wollte von seinen Entgegnungen nichts wissen.

»Du bist noch unsäglich naiv in deinen Anschauungen, lieber Fritz,« erwiderte er. »Zwischen einem aristokratischen Sport und einer Schaustellung um des Verdienstes willen ist ein gewaltiger Unterschied. Außerdem merke dir einmal das alte gute Sprichwort: Wenn zwei dasselbe thun, so ist es noch immer nicht das Gleiche! Wenn der Graf Ypsilon in einer Wohlthätigkeitsmatinee durch Reifen springt und eine Feder auf seiner adligen Nase balanciert, so ist er deshalb noch lange kein Clown – 233 du aber bist es, wenn du dich mit derlei Kunststücken um des Erwerbes willen auf der Bühne produzierst! Ist dir das nicht klar? . . . Nun kriech' in die Federn, mein Junge, und lösche die Lampe aus! Wir wollen morgen noch einmal über die Sache sprechen – vielleicht läßt sich dein Kontrakt mit Herrn Sterzinger rückgängig machen. Es wäre das beste« . . .

Schweigend entkleidete sich Fritz und suchte sein Lager auf. Aber der Schlaf wollte ihm nicht kommen. Die gut gemeinten Worte Ottos schlugen immer und immer wieder an sein Ohr; die erste Ahnung von der zermalmenden Macht der Gesellschaft, der Sitte und Konvention dämmerte in ihm auf. Der arme Kantorsjunge hatte noch viel zu lernen! – 234

 


 


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