Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Zweites Kapitel

Die Müdigkeit hatte den Knaben überwältigt. Während draußen aus einem leuchtenden Farbenmeere die Sonne aufstieg und in wonnigem Glanze der Tag anbrach, war Fritzens blonder Kopf allmählich vornüber auf das Totenbette seiner Eltern gesunken. In langsamen Atemzügen hob und senkte sich seine Brust, und aus dem Nebenzimmer tönte verstärkter das Schnarchen des alten Lennert.

Es mochte sechs Uhr sein, als eines der niedrigen Parterrefenster in der Kantorstube von außenher heftig aufgestoßen wurde. Zu gleicher Zeit rief eine dröhnende Stimme in das Zimmer hinein:

»Na, Lennert, schlaft Ihr schon wedder?! Kopp in de Höh', alter Saufaus, und die Oogen uff! – Wo steckt denn der Fritze?«

18 Der alte Lennert fuhr zusammen, rieb sich die rotumränderten Augen, blinzelte ein paarmal nach dem Fenster hinüber und richtete seine schäbig gekleidete, gebrechliche Gestalt mühselig auf – reckte die Arme und erwiderte dann in grämlichem Tone:

»Wo soll er denn sin? Drüben« – und er wies mit dem Daumen seiner verrunzelten Rechten nach dem Nebenzimmer. »Da hockt er – die ganze Nacht hat er geflennt, daß man nich'n Monument zur Ruhe gekommen is! Was gibt's denn schonst wedder?«

»Sei nich so dämlich, Lennert,« gab der andere vom Fenster zurück, »nu wasch dir erst 'mal den Rausch aus 'm Koppe. Du wirst dir woll wedder 'mal mit der Schnapspulle verheiratet haben . . . Punkt achte is Gemeinderatssitzung – da wird uns der Fritze gewaschen und gekämmt, wie's in der Ordnung is, vorgeführt. Hast du verstanden?«

»Na wat soll ich dat denn nich verstehen!« brummte Lennert und drehte Matzenthien den Rücken zu. Er konnte das gestrenge Dorfoberhaupt nicht leiden, denn er war Ortsarmer und wurde von der Gemeinde ziemlich karg gehalten. »Un wat soll sonst noch sin?« –

»Nischt weiter, du Esel,« antwortete Matzenthien, »als daß du dir nicht etwa unterstehst, irgend 'was aus dem Kantorshause zu mopsen, denn zu Mittage kommt das Gericht und versiegelt die Bude und über acht Tage is Aukzejohn« . . .

Matzenthien warf das Fenster zu, daß die Scheiben klirrten und die Spatzen aus der Fliederhecke flüchteten.

Fritz fuhr jach in die Höhe. Einen Augenblick starrte 19 er verwundert um sich, dann sah er die weißen Totengesichter auf dem Bett, neben dem er entschlummert war, und große Thränen perlten ihm über die Wangen.

Durch die Thürspalte zwängte sich der graue Kopf Lennerts und nickte ihm zu.

»Flennst du noch immer, Fritze?« sagte der Alte in tröstendem Tone. »Nu laß das doch sin. Es führt zu nischt, kann ich dir sagen, denn wat hin is, is hin, und das is nu mal so. Und nu geh raus, Junge, und wasch dir und zieh dir die Sonntags-Jacke an; Uhre achte is Gemeinderatssitzung, hat der Schulze gesagt, und da wird abgestimmt, wat aus dir werden soll« . . .

Fritz stand auf, und ein trotziger Zug flog über sein blasses Gesicht. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und stellte sich breitbeinig hin.

»Das eine kann ich euch sagen, Lennerts Vater,« erwiderte er, »Kuhjunge beim Schulzen werd' ich nicht, und wenn er mir noch einen Thaler extra auf den Tisch legt!«

»Hihi,« lachte Lennert, »der wird dir wat hinlegen, der Geizkragen der! Aber du hast Recht, Fritze, laß dir nischt gefallen – laß dir gar nischt gefallen! Gieb's dem Bauernpack fuchtig – du bist ein strammer Bengel und find'st überall dein Unterkommen! Du brauchst noch lange nich Kuhjunge zu werden, Fritze – verstehste mir? Du kannst dir direkt als Knecht vermieten mit deine Muskeln und deine Bildung. Dir nimmt jeder gerne. Wenn ich du wäre, packt' ich überhaupt meine Siebensachen zusammen und wanderte aus. Verstehste? Nach Amerika würd' ich auswandern, wenn ich du wäre, Fritze!« –

20 Die Augen des Knaben glänzten auf. Das Wort Amerika hatte einen berauschenden Klang für ihn – es zauberte mit Blitzesschnelle endlose Prairien, geheimnisvolle Urwälder, rauschende Ströme, Büffeljagden und Indianerkämpfe vor seinen geistigen Blick, die ganze romantische Welt, die Cooper so farbenprächtig zu schildern wußte. Die drei Bände Cooper, die Fritz einmal vom Pastor geschenkt erhalten hatte, als er diesem beim Umräumen seiner Bibliothek behilflich gewesen, waren nämlich bisher seine einzige geistige Unterhaltung geblieben. Dafür hatten sich auch die Geschichten vom letzten Mohican und seinen braunhäutigen Helden unauslöschlich seinem Gedächtnisse eingeprägt.

Er nickte.

»Auswandern – ja, das wär 'was!« entgegnete er. »Aber ich würde wohl nicht weit kommen mit den paar Nickeln, die ich in der Tasche habe, und –«

Er wandte das Gesicht zurück nach dem Totenbette der Eltern und schwieg plötzlich. Das Wehgefühl, die letzten verloren zu haben, die für ihn gesorgt und sein Leben behütet hatten, drängte sich wieder so mächtig in ihm empor, daß es seiner ganzen Tapferkeit bedurfte, ein kummervolles Schluchzen zu unterdrücken.

Der alte Lennert merkte das, trat an Fritz heran, nahm ihn bei der Hand und sagte mit der rührenden Weichherzigkeit, die diesem verkommenen Trunkenbold eigen war und die einen fast aussöhnen konnte mit der Verwahrlosung seines Charakters:

»Nich heulen, Kind – dadermit machst du nich besser, wat nu 'mal is. Kurasche, Fritze, und immer 21 getroste vorwärts! Die Zeit wird ooch vergehen, und denn is sie vorbei und denn is allens anders geworden. Sieh' 'mal mir an: ich bin ein alter versoffener Kerl un habe keine Zukunft nich vor mir und steh' schonst mit einem Fuße im Grabe und muckse doch nich und sage kein Wort. Und nu du erscht! Wer so jung is wie du und so helle Oogen im Koppe hat und so'n strammer Bengel is, der brauch nich zu flennen, weil's der liebe Gott 'mal zu strenge genommen hat in seinem Ärger mit die Welt! . . Nee, laß' man sin, Fritze – die bösen Tage werden vorbeigehen, du weißt nich wie! Und verstehste, mit die paar Nickel, da ist's ooch noch nich schlimm. Woll'n erscht 'mal abwarten, wat die Auktion dir einbringt, und dann weiter miteinander sprechen. Schulden haben die Alten nich ville gehabt, und für dat Mobiljemang wer'n schon ein paar Thaler gezahlt werden . . . Und nu komm und wasch dir und zieh dir die gute Jacke an, damit der Schulze nich wedder dat große Maul aufreißen brauch . . .«

Willig folgte Fritz dem Alten in die Küche, wo auf einer Holzbank das Waschgeschirr stand. Er holte einen Krug frischen Wassers vom Brunnen, füllte das irdene Becken, entkleidete dann seinen Oberkörper und steckte den Kopf in das hochaufspritzende Naß. Währenddessen hatte Lennert Feuer auf der Maschine angefacht und sich einen Topf mit dünnem Kaffee, der noch vom Abend stehen geblieben war, gewärmt.

»Willste ooch en Schluck?« fragte er Fritz.

»Ich danke, Lennert, ich kann nicht . . . Aber wollt Ihr euch nicht waschen? Ich werde noch Wasser holen . . .«

22 »Laß man sin. Ich habe mir schonst gestern gewaschen,« entgegnete Lennert über den Kaffeetopf hinüber.

Wenige Minuten später schritten die beiden über den Dorfplatz nach dem Schulzenhause. Die Sonne stand schon hoch über dem Horizonte; es war sehr heiß geworden. Auf dem Anger hüteten zwei kleine Bauernmädel die Gänse und starrten Fritz mit offenen Mäulchen nach. Mitten auf dem Platze stand die kleine Kirche, und um sie gruppierten sich, von Obstgärten freundlich eingerahmt und von Linden und Ulmen beschattet, die Gehöfte der Kossethen und Bauern. Klein-Busedow war anmutig hineingebettet in ein weites, fruchtbares Thal, durch das die Buse ihre klaren Wasser zur Oder führte. Der Kirche gegenüber, neben dem Kantorhause, lag die Pfarrei, ganz versteckt zwischen Hecken von wildem Wein und dickbuschigen Kletterrosen. Auf der andern Seite der Kirche hatte Matzenthien seinen Hof. Am Eingange desselben war eine Tafel angebracht worden mit der Inschrift: Gemeindevorstand Klein-Busedow. Die schwarzen Lettern auf weißem Grunde glänzten hell im Sonnenscheine.

Das Wohnhaus des Schulzen war das stattlichste im Dorfe. Matzenthien war ein reicher Mann, aber schmutzig geizig. Nur zeitweilig, wenn er einmal über den Durst getrunken hatte, konnte er sogar verschwenderisch sein. Dann kam es wohl vor, daß er sich im Wirtshause mit einem Fünfzigmarkscheine die Pfeife ansteckte oder eine Hand voll Goldstücke aus dem Fenster in den Ententümpel warf, um sich vor Lachen auszuschütten, wenn Alt und Jung auf allen Vieren zwischen kreischendem Federvieh 23 in dem Morast nach den Goldfischen suchte. Matzenthien war ein riesiger Kerl mit einer dröhnenden Baßstimme. Im Vollbewußtsein seiner hohen Würde trug er gern einen dunklen langschößigen Tuchrock und eine gestrickte Weste darunter, auf der sich an einer silbernen Uhrkette ein paar als Breloques gefaßte Sauzähne schaukelten.

In der Gesindestube, dem größten Raum des Hauses, war der Gemeinderat schon versammelt, als Lennert mit Fritz Fiedler eintrat. Auf den Bänken rings um den Eichentisch saßen die Größen des Dorfes mit gewichtiger Miene und tiefem Ernst in den Zügen. Matzenthien präsidierte. Den Platz rechts neben ihm nahm Klein-Schulze ein, so genannt zum Unterschiede von seinem Namensvetter, Groß-Schulze, einem baumlangen, schwindsüchtig aussehenden Bauern. Noch ein dritter Schulze war anwesend, der Stellmacher, und der wurde Bernschulze genannt, weil er Bernhard mit Vornamen hieß. Neben Bernschulze saß der Schmied, ein gutmütiger Hüne, und neben diesem Herr Thomas Fleck, der Schneider, der allgemein für einen sehr gebildeten Mann galt, weil er einen gebundenen Jahrgang der »Gartenlaube« besaß und auf den »Stadt- und Landboten für Tiesewalk und Umgegend« (Tiesewalk war die Kreisstadt) abonniert war, aus dem er seine Weisheit für tiefsinnige politische Räsonnements schöpfte, die er gewöhnlich im Wirtshause oder nach Feierabend auf der Holzbank vor seiner Hausthür zum besten gab.

Der Widerpart des Schneiders war der dicke Fleher, der Krämer, ein würdiger Mann mit konservativen Ansichten, die er aber nicht gern laut werden ließ, wenigstens 24 nicht in Gegenwart eines so roten Demokraten, wie der Schneider war. Der dicke Fleher roch beständig nach grüner Seife oder nach Heringen, und zwar so intensiv, daß man seine Nähe schon immer spüren konnte, wenn er sich selbst noch in ziemlich weiter Entfernung befand. Er sprach sehr wenig und pflegte jeden Satz mit der Bemerkung einzuleiten: »Wat ich sagen wollte, so mein ich doch . . .« Daß er einen Satz beendet hätte, hatte noch nie ein Mensch gehört. Nach den präludierenden Worten versank er gewöhnlich wieder in tiefes Schweigen und nickte nur noch mit dem dicken Kopfe.

Matzenthien, Klein-Schulze, Groß-Schulze, Bernschulze, Fleck und Fleher bildeten die Stützen der Verfassung von Klein-Busedow. Dazu kamen noch die Kossethen Friebe und Mennechen, Leute, die zu allem Ja sagten und für die Matzenthien der erste Mensch auf dem Erdball war, Leute »ohne Rückgrat«, wie der Schneider, der in seiner Oppositionslust selbst das geheiligte Dorfoberhaupt zuweilen nicht verschonte, sehr witzig behauptete – der Witz stammte aber aus dem »Stadt- und Landboten für Tiesewalk und Umgegend«, nicht von ihm selbst.

Es ging immer ziemlich lebhaft in den Gemeinderatssitzungen zu. Die Leute von Klein-Busedow sprachen alle das schlechte, halb dem Berliner Dialekt und halb dem oberschlesischen Patois sich nähernde Deutsch der märkischen Bauern. Nur der Schneider machte eine rühmliche Ausnahme; die Lektüre des Stadt- und Landboten hatte auch seine Sprache und seine Ausdrucksweise veredelt, und er war stolz darauf. Er fühlte sich hoch erhaben über die Mitlebenden in Klein-Busedow.

25 »Setz dir,« sagte Matzenthien mit herablassender Handbewegung zu Fritz Fiedler, und der Junge nahm auf einem Holzschemel vor der Corona Platz, während der alte Lennert nach dem andern Ende des Zimmers humpelte und von einer Fensternische aus den Verhandlungen lauschte.

Matzenthien führte das Wort. Es handelte sich um die Zukunft von Fritz. Der Schulze erklärte, die Gemeinde sei gesetzmäßig verpflichtet, sich des Jungen anzunehmen, bis er großjährig geworden. Der Schneider bestritt dies in zierlichen Redewendungen. Nur bis zu Fritzens vierzehntem Jahre brauche man ihn zu erhalten und keinen Tag länger. Im übrigen sei Fritz ein so strammer Bengel, daß er sich schon jetzt allein durchs Leben helfen könne.

»Das will ich auch – ich brauche euch gar nicht!« schrie Fritz von seinem Platze dazwischen.

Das kränkte Matzenthien in seiner Schulzenwürde. Er erhob sich wuchtig und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß das alte Eichenholz ächzte.

»Du hast nich mitzureden,« sagte er und rollte die Augen; »du wirst nich gefragt. Wat wir thuen, dat thuen wir. Wir sind 'ne Republik – sind wir, und wat Rechtes is, dat soll geschehen. Wir werden deine 26 Eltern auf Gemeindekosten begraben – das werden wir. Und wir werden auch für dich sorgen – verstehste? Und nu biste stille.«

Die Erwähnung seiner Eltern drängte Fritz wieder das ganze Weh zum Herzen. Aber die brutale Art des Schulzen kränkte ihn gleichzeitig so, daß er empört aufsprang und dicht vor den Tisch trat, um den sich die Versammlung geschart hatte.

»Ihr habt mir gar nichts zu verbieten, Schulze,« schrie er Matzenthien an, und seine kräftigen, zu Fäusten geballten Hände zitterten dabei. »Ich lasse mir von euch nichts sagen – weder von euch noch von andern! Ich will auch eure Unterstützung nicht, denn ich weiß ja doch, daß ihr froh wäret, mich los zu sein! Vater hatte ganz recht, wenn er sagte, ihr wäret ein geiziges Bauernpack! Das seid ihr! – Wenn die Auktion vorüber ist, woll'n wir uns wieder sprechen, aber nur zum Adjösagen! Ich fahre nach Hamburg und verdinge mich als Schiffsjunge und wandre nach Amerika aus! So – und nun wißt ihr's!«

Aus der Fensterecke her, wo der alte Lennert mit zusammengekrümmtem Oberkörper stand, ertönte ein leises Grunzen des Beifalls. Das war aber auch die einzige wohlmeinende Äußerung, die der überraschenden Erklärung Fritzens folgte. Die Bauern waren anfänglich starr vor Staunen. Amerika war für sie ein etwas dunkler Begriff, an den sich ungemessene Fernen, Wasserstürme und Schiffsunglücke knüpften. Und nach Amerika wollte dieser dreizehnjährige Bengel! Es war unglaublich.

Am meisten schien der dicke Krämer aus seiner Fassung 27 gekommen zu sein. Er wiegte den Kopf hin und her, starrte Fritz mit seinen runden Glotzaugen voll maßloser Verwunderung an und entschloß sich endlich zu der einleitenden Bemerkung:

»Wat ich sagen wollte, so mein' ich doch . . .«

Und dann schwieg er wieder und schüttelte nur noch in übermächtigem Erstaunen das weise Haupt. Der Schneider aber, der nie eine Gelegenheit versäumte, mit seinen Kenntnissen zu glänzen, schnellte wie eine Feder von Stuhle auf, warf einen triumphierenden Blick auf seine Tischgenossen und begann dann mit seiner dünnen, immer etwas heiseren Stimme:

»Nach Amerika?! Ah – sieh einmal an! Weißt du denn, wo das liegt, das Amerika? Nein, das weißt du nicht. Na, nu hör' einmal zu, ich werd' es dir sagen. Amerika ist weit, sag' ich dir, und eh' du hinkommst, kannst du zehnmal von den Haifischen gefressen worden sein oder von den Seeschlangen oder den Krokodilen. Siehst du, und was ist dann aus dir geworden? . . . Oder es kommt ein Sturm, ein Orkan, wie man's nennt, und das ganze Schiff ersäuft – was hast du dann davon? . . . Oder wenn du wirklich glücklich hinüber bist, so verstehst du nicht einmal das Amerikanisch, das die Leute drüben sprechen, und wenn du Unglück hast, fällst du den Wilden in die Hände, die ihre Nebenmenschen dort noch lebendig fressen. Da sind zum Beispiel die Feuerländer, die kennen weiter kein Mitleid, und die Mexikaner schlitzen ihren Gefangenen den Leib auf und reißen das Herz heraus. Oder die Neger und die Mohren – das sind keine Leute wie hier, Fritz, und die kennen 28 keine Bildung, und das Eine sag' ich dir noch: laß es lieber sein! Und glaubst du vielleicht, daß es da drüben keine wilden Tiere giebt? Da irrst du dich, sage ich dir. Da giebt es Brillenschlangen und – –«

Die schwere Hand Matzenthiens drückte den in förmliche Begeisterung geratenden Sprecher in diesem Augenblicke etwas unsanft auf den Stuhl zurück, und zu gleicher Zeit erhob sich von allen Seiten ein wüstes Geschrei, das indessen nur eine kurze Minute währte, da sich die Thür plötzlich öffnete und Pastor Hartwig im Rahmen derselben erschien.

»Grüß' euch Gott,« sagte der kleine dicke Herr und tupfte sich mit seinem roten wollenen Taschentuche die Schweißtropfen von der Stirn, die der brennende Sonnenschein draußen hervorgelockt hatte. »Ist das ein Gebrüll – man merkt am andern Ende des Dorfes, daß ihr Gemeinderatssitzung haltet! Kann's denn ohne Gezänk nicht gehen? Schämt euch, Leute – in Frieden und Eintracht läßt sich doch besser beraten als unter so unbändigem Gejohle!«

Und dann schritt der Pastor pustend und keuchend an den Tisch heran und reichte jedem einzelnen die Hand, und jeder einzelne reichte sie ihm freundschaftlich wieder, als ob man in herzlichster Versöhnlichkeit miteinander lebte.

»So,« fuhr der Pastor fort und setzte sich an das Ende der einen Bank, dicht neben den Krämer, »und nun erzählt mir 'mal, was es denn eigentlich giebt! Ist Fritz die Ursache eurer Spektakelei? – Ich dacht' mir's beinah' – und deshalb bin ich hergekommen . . .«

Drei Stimmen zugleich versuchten dem Pastor 29 Aufklärung zu geben. Matzenthien überschrie sie alle. Er hatte sich breitspurig vor dem Pastor aufgepflanzt und fuchtelte mit den beiden gewaltigen Armen wie mit Windmühlenflügeln in der Luft umher. Sein Gesicht war dunkelrot, und jedes seiner Worte stieß er mit voller Lungenkraft hervor. Er schimpfte gewaltig auf Fritz und meinte, der verdiene gar nicht, daß die Gemeinde sich seiner annehme – er sei es nicht wert, er sei ein undankbarer Bursche, der auswandern wolle.

»Ja wohl, auswandern,« fügte der Schneider hinzu, dicht neben Hartwig rückend. »Nach Amerika, Herr Pastor – na, Sie wissen ja selbst, was das zu sagen hat und was einem da alles begegnen kann, wo man die Gegend nicht kennt. Aber das kommt von der Unbildung, Herr Pastor, und weil der Fritz von all' den Gefahren keine Ahnung hat, die einem da drüben umlauern. Und das wird auch nicht besser werden, wenn das Volk nicht freisinniger erzogen wird, Herr Pastor – denn wie soll der Mensch wissen, daß es in Amerika anders ist, als bei uns, wenn die Bildung im Volke unterdrückt wird und der liberale Gedanke nicht genug Ausbreitung findet . . .«

Den letzten Passus hatte Herr Thomas Fleck vor einer Stunde im Stadt- und Landboten gelesen und seinem Gedächtnisse eingeprägt. Er freute sich, daß er ihn so schnell und gut verwenden konnte, und alle Anwesenden freuten sich mit. Der Gemeinderat war wieder einmal stolz auf seinen Schneider. Man nickte ihm Beifall zu, nur der konservative Krämer meinte bedächtig:

»Wat ich sagen wollte . . .« und dann schluckte er auch den Nachsatz seiner Einleitungsphrase hinunter und 30 bewegte den Kopf mißbilligend auf den breiten Schultern hin und her.

Der Pastor hatte den Herzenserguß des Schneiders gar nicht beachtet. Er schaute Fritz mit seinen klugen und gütigen Augen prüfend an, rief ihn dann zu sich und ergriff seine Hände.

»Ist das dein Ernst, Fritz?« fragte er milde, »das – mit dem Auswandern?«

»Ja, Herr Pastor! Was soll ich denn anders machen? – Knecht werden bei Bernschulze oder Matzenthien und mir noch sagen lassen, man ernähre mich – – das kann ich nicht, Herr Pastor, und das will ich auch nicht!« –

Fritz hatte dies in ruhigem und festem Tone gesagt und mit einer charakteristischen Sicherheit, die bekundete, daß auch seine innere Entwicklung den Jahren vorgeschritten war. Er wußte, daß Pastor Hartwig ihm wohl wollte – er hatte das mehr als einmal erfahren – und deshalb trotzte er um so zäher den Bauern.

Der Pastor schaute dem Knaben ernst in die Augen.

»Du bist noch zu jung, um von eigenem Willen zu sprechen,« sagte er sanft, »du darfst auch nicht vergessen, daß all' die Leute, die du hier um dich siehst, bereit sind, dir zu helfen, und daß du ihnen deshalb Dankbarkeit schuldig bist. Mit Trotz und Eigensinn kommt man nicht durch die Welt, mein lieber Fritz, aber ich denke, auch du wirst es erlernen, dich zu beugen, wenn es notwendig ist . . . Nun höre zu, Fritz. Deine lieben seligen Eltern waren brave und ehrenwerte Leute, und weil sie es waren und weil ich deinem Vater noch auf dem 31 Totenbette versprochen habe, mich deiner zu erbarmen, darum will ich, wenn du einverstanden bist, dich in mein Haus nehmen. Knechtsdienst verlange ich von dir nicht, wohl aber wünsche ich, daß du die Pflichten, die ich dir auferlegen werde, sorgsam erfüllst. Meine Familie ist groß, und jeglicher muß da die Hände rühren, soll's ordentlich in unserm kleinen Gemeinwesen zugehen. Auch lernen mußt du noch tüchtig, mein Junge, mußt nachzuholen versuchen, was du bisher versäumt hast, damit du einmal als ganzer Mann ins Leben treten kannst . . . Und nun antworte mir: willst du zu mir kommen?«

Fritz wußte nicht, wie ihm geschehen war. Bei aller Hartköpfigkeit besaß er auch ein sehr weiches Gemüt und ein Herz, das warmen Regungen leicht zugänglich war. Die Güte des Pastors rührte ihn tief. Die Thränen drängten sich ihm in die Augen, aber er schämte sich ihrer. Er biß die Zähne zusammen, griff mit beiden Händen nach der Rechten Hartwigs, die er mit krampfhaftem Drucke umspannte, und stammelte nur:

»Ich will – Herr Pastor . . .«

Hartwig erhob sich und ein Lächeln glitt über sein rotes, gutmütiges Gesicht.

»Nun dürfte eure Sitzung ja wohl beendet sein,« sagte er zu den Bauern, die in tiefem Schweigen und mit dem unverhohlenen Ausdruck der Verwunderung den Worten Hartwigs gelauscht hatten. »Ich denke, ihr werdet auch zufrieden sein, daß ich euch den Fritz Fiedler abgenommen habe . . . Matzenthien, ich meine, 's ist Recht so – was?«

Der Schulze wußte anfänglich nicht ganz, was er 32 sagen sollte. Recht war ihm das so im Grunde gar nicht, er hätte nur zu gern, gestützt auf seine Eigenschaft als Dorf-Autokrat, eine gegenteilige Meinung ausgesprochen. Aber das ging nicht an; der Pastor hatte auch ein Wort mitzureden, und Fritz konnte thun, was er wollte. So blieb Matzenthien nichts weiter übrig, als zustimmend mit dem Kopfe zu nicken und mit seinem Löwenorgan in gewichtiger Betonung das denkwürdige Votum zu fällen:

»Wenn der Herr Paster meinen, na denn können ja der Herr Paster thun, wat der Herr Paster belieben. Uns soll's ehngal sin!«

Und dabei schaute Matzenthien sich fragend im Kreise seiner Genossen um, und die Genossen nickten wie er, und Friebe und Mennichen wiederholten gleichzeitig:

»Ja, ja – uns soll's ehngal sin! . . .«

Nur der dicke Krämer schien sich mit andren Gedanken zu tragen, aber er sprach sie nicht aus, weil ihm dies zu schwer ward, und auch Herr Thomas Fleck machte den Eindruck, als sei er nicht völlig befriedigt mit der Erledigung der Angelegenheit. Doch der Pastor wartete die Entgegnung, die der demokratische Schneider im heimlichen Port seines Busens vorbereitete, nicht erst ab, schwenkte sein rotes Taschentuch Kühlung fächelnd um die Stirne, ging erst zum Schulzen und dann zu den andern heran und sagte jedem einzelnen freundlich Adieu, richtete auch an jeden einzelnen noch eine herzliche Frage, wie: »Was macht denn Eure Frau, Bernschulze – hat sie noch immer eine dicke Backe?« oder »Euer Ältester ist im letzten Halbjahr gehörig in die Hopfen geschossen, Mennichen – das wird 'mal ein Goliath!« oder »Grüßt 33 mir Eure Kathrine, Klein-Schulze, und sie soll doch 'mal wieder meine Lotte besuchen« . . . Und die Bauern drückten die Hand des Pastors, sagten »Ich dank' ooch schön« oder »Ja ja,« und damit war die Verabschiedung vorüber.

Der Pastor nahm Fritz bei der Hand und verließ mit ihm die Stube, ohne auf den Lärm zu achten, der losbrach, sobald er die Thür geschlossen hatte.

Dicht hinter ihm humpelte der alte Lennert ins Freie.

»Herr Paster,« rief er mit seiner heiseren Stimme dem Davonschreitenden nach.

Hartwig wandte sich um. »Na, Lennert,« sagte er, »was wollt Ihr denn noch?«

Lennert humpelte näher. »Nischt weiter, Herr Paster,« erwiderte der Alte und schaute Hartwig mit seinen roten, wimpernlosen Augen treuherzig an, »als Ihnen man bloß sagen, daß Sie sich wedder 'nen Gotteslohn verdient haben, dat Sie den armen Bengel, den Fritze, zu sich nehmen wollen. Der wär' unter die Bauern zu Grunde gegangen, Herr Paster, un um den wär's schade gewesen – Herr Paster . . .«

Hartwig nickte. »Das wär's,« entgegnete er sehr ernst, »und seht einmal, Lennert, gerad' so ist's auch um Euch schade gewesen, daß Euch der Saufteufel so ganz in seine Klauen bekommen hat. Denkt Ihr denn gar nicht mehr an Euer braves Weib zurück und an das Versprechen, das Ihr der Marianne noch im Tode gegeben habt?« –

Und ohne die Antwort abzuwarten, schritt Hartwig weiter, und der alte Lennert blickte ihm mit verglasten 34 Augen nach und murmelte dabei mit den welken Lippen unverständliche Worte. Es war ein Elend, daß er die Schnapsflasche nicht lassen konnte, und er hätte es doch so gern gethan! –

Bis zu der Staketthüre, die in den Garten der Pfarrei führte, behielt der Pastor seinen neuen Schützling an der Hand. Dort blieb er einen Augenblick, sich verschnaufend, stehen, steckte sein Taschentuch umständlich in die hintere Rocktasche und legte dann seine rechte Hand in leiser Berührung auf den Blondkopf des Jungen.

»Nun tritt ein, Fritz Fiedler,« sagte er, »und Gott der Herr segne deinen Eingang in dieses Haus.« 35

 


 


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