Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Einundzwanzigstes Kapitel.

»Ach, du bist's, kleine Dot!« sagte Aline Tressillian eines Nachmittags, es mochte etwa vier Wochen nach jenem Ereignis sein. »Was machst du denn hier?«

Die Begegnung fand in einer Schreibmaterialienhandlung statt, die sich unmittelbar gegenüber von Jocelyns Wohnung befand. Die junge Dame hatte das Kind nicht angesehen, bis Dot sie mit einer gewissen steifen Zurückhaltung grüßte, die für Aline höchst ergötzlich war.

»Und was für Einkäufe machst du denn?« fuhr sie fort. »Einen Bilderbogen?«

»O nein,« versetzte Dot mit drolliger Würde. »Mich kaufe ein Lernbuch – Jo will mich belernen. Und hat mir den Namen auf diesen Zettel geschrieben und gesagt, mich könne es selbst holen, wenn mich acht geben wolle beim Gehen über die Straße.«

»Komm mit mir, mein Herzchen, und trinke bei mir Thee,« sagte Aline, als der junge Mann hinterm Ladentisch dem Kind das gewünschte Buch hinbot.

»Nein,« lautete die entschlossene Antwort. »Jo würde denken, mich sei verloren.«

»Dann will ich ihm ein kleines Briefchen schicken und ihm schreiben, wo du bist,« entgegnete Fräulein Tressillian, die ihre Pläne auch nicht so leicht fallen ließ. »Ueberdies möchte ich dir auch etwas übergeben – für ihn.«

»Was?« fragte Dot, zur Nachgiebigkeit neigend.

»Das zeige ich dir zu Hause.«

Da Dot in ihrem kleinen Köpfchen die Vermutung aufstellte, daß »Fräulein T'w'illian« wohl wieder »nett« sein wolle, ließ sie sich umstimmen, und Aline schrieb im Laden einen Zettel des Inhalts: »Ich habe Dot zum Thee mit mir nach Hause genommen. Werde sie rechtzeitig heimbringen lassen. A. T.«, schickte diesen durch einen Lehrjungen hinüber, den ihr Trinkgeld zu rasender Eile anspornte, und führte Dot im Triumph davon.

Als sie am Ladbrokeplatz angekommen waren, machte sie's ihrem kleinen Gast recht gemütlich. Dot wurde in einem molligen Stuhl ans Fenster gerückt, bekam Thee und Kuchen und sollte nun plaudern.

»Will das Ding für Jo,« erklärte sie etwas eigensinnig.

»Du sollst's gleich haben, aber sag' mir doch auch, wie es Jo geht. Erzähle mir ein wenig von ihm!«

»Geht ihm gut,« lautete die knappe Auskunft.

Aline goß ihr eine zweite Tasse Thee ein und sagte anscheinend gleichgültig: »Sag' mir doch – spricht er – spricht er manchmal – von mir?«

»Nein,« erwiderte Dot rasch. »Jetzt nie.«

»Also früher, da sprach er von mir?«

»Man'mal,« gab Dot mit großem Unbehagen zu.

»So, und was sagte er denn von mir, kleine Dot?«

»O – viele Sachen.«

»Erzähl' mir doch etwas davon!«

»Nein, Jo könnte sich böse werden.«

»Ach! Hat er denn so abscheuliche ›Sachen‹ von mir gesagt?«

Das Kind schwieg.

»Dot,« hob Aline mit einer gewissen Unsicherheit an, »meinst du – meinst du, daß Herr Jocelyn gern eine Photographie von mir haben würde?«

»Ja,« entfuhr es Dot schnell.

Der heftige Auftritt mit Forsyth, den sie ganz vergessen hatte, stand plötzlich wieder lebendig vor ihr.

»Wenn ich dir diese Photographie gebe, willst du sie ihm bringen und ihm sagen, daß –«

Sie stockte.

»Was?« fragte Dot.

»Nichts, nichts! Gib ihm einfach die Photographie.«

»War's das, was dich im Buchladen sagtest, dich wollest mir geben?«

»Ja – da ist sie. Gefällt sie dir?«

Dot betrachtete das Bild kritisch.

»'s ist ein ganz, ganz klein wenig hübscher als dich,« erklärte sie sachkundig. »Hat selbe Kleid und Hut, das Jo in ›Dame in Grau‹ gemalt hat.«

»Was war denn das für ein Bild? Die Dame in Grau?« fragte Aline hastig.

»'s ist jetzt ze'schnitten,« erwiderte Dot. »Aber vielleicht will Jo nicht, daß mich's sage.«

Aline war rot geworden.

»Ich glaube nicht, daß er etwas dagegen hätte,« versicherte sie etwas erregt und heftiger atmend. »Höre mich an, mein Herzchen – aber komm und setze dich auf meinen Schoß.«

»Nein, danke – mich sitze gern hier.«

Aline schwieg eine Weile, dann fragte sie: »Weißt du vielleicht, kleine Dot, daß ich verlobt war – jemand heiraten wollte?«

Dot nickte.

»Ich thue es aber nicht.«

»Warum weil?«

»Ach – das weiß ich selbst nicht!«

»Möchtest dich lieber Jo heiraten?«

Aline stand ganz ohne Veranlassung auf und ging im Zimmer umher, dann kam sie wieder und setzte sich neben Dot.

»Vielleicht möchte Jo mich gar nicht haben,« sagte sie, ein wenig gezwungen lachend.

»Das weiß mich nicht,« erwiderte die undurchdringliche Dot, setzte aber gleich hinzu: »Soll mich Jo fragen, ob dich heiraten will?«

»Ums Himmels willen, Kindchen – nein! Das sollst du nicht.«

Dot ließ sich langsam von ihrem Stuhl heruntergleiten.

»Mich gehe jetzt,« erklärte sie, die Photographie festhaltend.

»Warte nur noch, bis der Wagen da ist, dann begleite ich dich bis an die Hausthüre und setze dich hinein, Liebling. Und jetzt laß mich die Photographie in einen Umschlag stecken – so – da hast du sie!«

Als Dot kurz darauf mit glückstrahlenden Blicken und einem hohen Bewußtsein ihrer Wichtigkeit in Jos Atelier trat, fand sie einen frostigen Willkomm.

»Dot,« sagte Jocelyn mit ungewöhnlicher Schärfe, »ich verbiete dir ein für allemal, ohne meine ausdrückliche Erlaubnis Besuche zu machen.«

Das Kind war wie aus den Wolken gefallen.

»Fräulein T'w'illian',« begann sie nach einer Weile demütig, »hat mir was gegeben – für dich.«

Sie streckte ihm die Photographie hin. Jo nahm sie, ohne eine Bemerkung zu machen, warf sie auf einen Tisch und malte weiter. Das war zu erstaunlich für Dot.

»Jo!« begann sie vorwurfsvoll. »Dich hast's ja gar nicht angesehen! 's ist eine Photog'aphie von Fräulein T'w'illian – und sie will sich auch gar nicht mehr heiraten – hat mir's gesagt.«

Jocelyn gab auch darauf hin keine Aeußerung von sich, und Dot ging langsam hinaus mit vor Verblüffung und Enttäuschung geröteten Wangen. Als sie nach einer Weile wiederkehrte, fragte sie mit einem ganz befremdlichen Stimmchen: »Willst dich ganzen Tag böse sein mit mir, Jo?«

Jocelyn strich ihr mit der freien Hand leicht über die Haare.

»Ich bin dir nicht böse, Kindchen.«

»Dann – was warst dich, als mich heimkommen bin?«

»Aergerlich, du weißt es ja.«

»Weil mich zu Fräulein T'w'illian gegangen bin?«

»Wir wollen's nicht mehr erörtern, Dot. So schlimm war's ja nicht, nur wenn du wieder hingehen willst, so frag' mich vorher.«

Sie nickte beistimmend und fragte, ob sie Seifenblasen machen dürfe, unterbrach aber diese fesselnde Beschäftigung nach einiger Zeit, um die Frage aufzuwerfen: »Jo, warum weil heiraten sich Leute?«

Er malte erst schweigend weiter, dann sagte er: »Vermutlich weil sie einander lieb haben und immer beisammen sein möchten.«

Dot ließ nacheinander zwei farbige Kugeln aufsteigen, dann sagte sie: »Und haben sich einander lieber als alles auf Welt?«

»So sollte es wenigstens sein.«

Dot machte ein sehr ernstes Gesichtchen.

»Jo, wenn's dich heiraten thätest, würdest dich mich immer noch lieb haben?«

»Ganz gewiß, mein Liebling!«

»Gerade so lieb als – die?«

»Das wäre eben eine ganz andre Art von Liebe, kleine Dot.«

»Warum weil?«

»Das verstehst du noch nicht!«

»Versteh mich's, wenn mich groß bin?«

»Wahrscheinlich.«

»Glaube nicht, daß mich heirate, Jo. Mich könnte niemand lieb haben als dich.«

Er lachte.

»Warte noch ein Dutzend Jährchen, dann wird's anders lauten.«

Dot vertiefte sich wieder in ihre Thätigkeit und brachte drei Prachtexemplare von Seifenblasen fast bis zur Decke hinauf, was ihr verschiedene Jubelrufe entlockte.

»Jo, warum weil bin mich nicht hübsch wie Fräulein T'w'illian?« fragte sie dann plötzlich.

»Wie kommst du darauf, an deiner Schönheit zu zweifeln, Elfenkind?«

»In Spiegel geguckt und bemerkt,« versetzte sie mit einem Seufzer. »Mich bin nicht weiß und rot wie Fräulein T'w'illian, gar nicht hübsch wie sie. Mund groß und abscheulich.«

»Mir bist du hübsch genug, Frauenzimmerchen, also mach' dir darüber keine Sorgen.«

Sie schlich sich hinter ihn und rieb ihr Gesicht an seinem Aermel.

»Mich will Schoß genommen sein,« erklärte sie.

»Nur noch ein paar Minuten Geduld! Dieses Stück Stoff muß ich fertig machen.«

»Nein – mich will gleich auf Schoß genommen sein, müde!« sagte sie mit der zähen Beharrlichkeit, die ihn so oft bezauberte.

Er legte auch richtig die Pinsel beiseite und hob sie auf seine Kniee.

»Du herrschsüchtiger kleiner Kobold!« sagte er zärtlich. »Ich verziehe dich furchtbar, daß du's nur weißt.«

»Nein, thust dich nicht,« sagte sie, vor Wonne jubelnd und ihr Köpfchen an seinen Hals schmiegend. »Mich verziehe dich!«

Er stand mit ihr auf und legte sich mit seiner Bürde in einen tiefen Schaukelstuhl, wo sich's erst recht wohlig an seiner Brust ruhte.

»Will Geschichten erzählt haben,« befahl sie jetzt.

»Was für Geschichten?«

»Wunderhübsche!«

»Dann laß mich erst eine Cigarette anstecken.«

»Nicht Geschichten von kleinen Mädchen,« belehrte sie ihn vorsorglich. »Von ganz e'wachsenen Leute –«

»Wie Sie befehlen,« sagte Jocelyn, den Schaukelstuhl in gewaltigen Schwung bringend. »Es war einmal ein Mann –«

»Ein Prinz?« unterbrach ihn Dot.

»Nein, ein Prinz war er gerade nicht.«

»Was für ein Gesicht hatte er?«

»Nichts Besonderes – ein Gesicht wie andre Leute auch.«

»Sag' doch, ein Gesicht wie dich, Jo, Lieber!«

»Gut, lassen wir's dabei. Er hatte also ein Gesicht wie ich, und er zog aus, um sein Glück zu suchen.«

»War's vor viele, viele Jahre?«

»Ja, es war schon vor manchem Jahr.«

»Und was für ein Glück hat er sich denn suchen wollen?«

»Das wußte er selbst nicht recht – er glaubte es zu wissen, aber es war nichts damit.«

»Und hat er sich sein Glück gefunden?«

»Nein, er merkte nach einer Weile, daß er nicht auf dem rechten Weg zu seinem Glück war oder daß das Glück nicht dieses Wegs komme, aber er ging und kletterte trotzdem mühselig weiter, und was ihm mißlang und was ihm Böses geschah, das behielt er hübsch für sich, obwohl er sich oft sehr einsam fühlte und ein schweres Herz hatte. Und was geschah? Eines Tags kam ein Vöglein geflogen, ein kleines, winziges, flaumiges Vögelein, das keine bunten Federn hatte, aber das allersüßeste Stimmchen von der Welt, und das flog auf ihn zu und machte sich ein Nestchen gerade an seinem Herzen.«

»Ein Nestchen? Nicht mehr fo'tzufliegen?«

»Nein, es blieb bei ihm. Und wenn er nun hinfiel, was manchmal geschah, oder seinen Fuß an Steinen und versteckten Wurzeln wund stieß oder wenn er in die Dornen geriet und sich die Hände blutig riß oder wenn Regen und Wind um ihn her stürmten, dann hielt das kleine Vögelchen sein Herz warm und sang ihm vor. Da kam ihm gar nichts mehr so schwer vor als früher. Und als eine Zeit kam, wo das Vöglein sein Köpfchen hing und gar nicht mehr singen konnte, weil es müde und traurig war, da war der arme Mann ganz verzweifelt, denn er dachte, sein Vögelchen würde für immer von ihm gehen.«

»Und that's?«

»Nein. Er behütete es wohl und pflegte es gut, und dann wurde es wieder frisch und munter wie zuvor.«

»Hat er lieben Gott gebittet, daß es gesund wird?«

»Wahrscheinlich.«

»Und dann?« begehrte Dot die Fortsetzung, indem sie wonnig in sich hinein kicherte.

»Und dann, dann kam eine Zeit, wo der Mann ganz finster und unglücklich war,« fuhr Jocelyn langsam fort, »denn er war ein rechter Narr gewesen und weit vom Weg abgewichen, um einem Schmetterling, einem schönen, schimmernden Schmetterling nachzujagen, der vor ihm hergeflattert war, sich dann und wann bei ihm niedergelassen hatte und wieder weiter geflogen war. Und schließlich merkte er, daß es dunkle Nacht geworden war, daß er mitten im tiefen Moor stand und daß der Schmetterling für ihn verloren war.«

»Hat sich ihn sonst wer gefangen?«

»Ja, sonst wer hatte ihn gefangen. Als er nun ganz müde und zerschlagen sich wieder durcharbeiten mußte nach seiner alten Straße, da zwitscherte das Vöglein so lieblich und sang ihm so tröstliche Lieder, daß der furchtbare Schmerz linder wurde.«

»Wo that's ihm denn weh? Gerade in sein Herz?«

»Ja, wenigstens glaubte er, es sei sein Herz. Nachher merkte er, daß sein Stolz mehr verletzt war, als sein Herz.«

»Was ist Stolz?«

»Stolz ist der Teil unsres Wesens, der, wenn er verletzt wird, am längsten schmerzt.«

»Wie Augen von Leuten, die sich im Dunklen an 'was Hartes stoßen?«

»Ja, so ist's ungefähr.«

»Weiter – weiter!«

»Nun, es gibt nicht mehr viel zu erzählen. Alle Tage hatte der Mann sein Vöglein lieber und lieber, und schließlich war ihm zu Mut, als ob ihm kein Unglück etwas anhaben könnte, solang er nur sein Vöglein behalten dürfe!«

Eine ganze Weile war Dot mäuschenstill. Dann streckte sie eine Hand in die Höhe, legte sie an Jocelyns Wange und flüsterte: »Mich war das kleine Vöglein!«

Er lachte und zog ihr die Locken ins Gesicht, daß sie wie ein Schleier über ihre Augen fielen.

Sie richtete sich auf, kniete auf sein Knie und legte beide Arme um seinen Hals.

»Jo,« flüsterte sie ihm ins Ohr, »wenn dich den schönen S'mette'ling gefangen hättest, hättest dich dein kleines Vöglein auch noch lieb?«

Dies wunderbar feine Verständnis für jede nur angedeutete Stimmung war's, was ihm das Kind so unbeschreiblich lieb machte.

»Meine kleine Weisheit,« sagte er liebkosend, »zwanzig schöne Schmetterlinge könnten den Platz nicht ausfüllen, den das Vöglein hat.«

»Netter, kleiner Jo!« murmelte sie, tief aufatmend vor Befriedigung.


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