Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Achtzehntes Kapitel.

Pennington war in Jocelyns Abwesenheit ins Atelier gekommen und von Dot empfangen worden. Es war heute eine sehr demütige, bußfertige, kleine Dot mit geröteten Augenlidern, die emsig Staub wischte, aber nur von den Gegenständen, die zu berühren ihr gestattet war. Penningtons Besuch wurde gnädig aufgenommen.

»Jo ist fort,« sagte sie, »und mich bin so fu'ch'bar allein, bleib dich nur da!«

Die Aufforderung war ihm willkommen, denn er war müde und erhitzt und der große Raum wohlig kühl. Dot legte ihr Staubtuch beiseite und rollte sich wie ein Kätzchen in seiner Nähe in einem weichen Lehnstuhl auf.

»Eine halbe Stunde kann ich ja warten,« sagte Pennington. »In der Zeit wird er wohl heimkommen?«

»Mich weiß nicht,« gab sie mit einem heimlichen Seufzer zur Antwort. »Jo hat nichts gesagt. Mich war unartig, als er weg-de-gangen ist.«

Ihre Unterlippe zitterte bei diesen Worten.

»Unartig warst du, kleine Maus? Ich dachte, so etwas könne bei dir gar nicht vorkommen!« »Doch bin. Bin ganz oft. Mag nicht davon reden.«

Nach einer Pause sagte sie plötzlich: »Möchte, dich e'zähltest mir von Leuten, denen dich Gutes thust.«

»Von Leuten, denen ich Gutes thue?« wiederholte Pennington zerstreut. »Deren gibt's leider Gottes nicht viele!«

»Doch, Jo sagt, dich thust Masse Leuten Gutes, dich gibst ihnen alles Geld, das dich hast.«

»Da irrt sich Jo.«

»Herr Pen-ning-ton,« begann das Kind nach einer kleinen Weile, »hast dich eine Frau?«

Peinlich berührt sah er Dot an.

»Wie kommst du darauf?« fragte er unwirsch.

»Weil sich Frau Lamb einmal zu Sally gesagt hat, sie glaube, dich hättest eine Frau, und ›der arme Herr‹ hat sie gesagt.«

Pennington brummte etwas vor sich hin, was Dot nicht verstand.

»Sag's, ob dich eine Frau hast,« wiederholte sie mit der hartnäckigen Wißbegierde aller Kinder.

»Ja,« sagte er einfach.

»Erzähl' dich mir von ihr,« befahl der kleine Plagegeist, sich erwartungsvoll zurechtrückend.

Pennington lehnte eine Weile mit geschlossenen Augen im Stuhl zurück, dann willfahrte er ihr unwillkürlich, indem er sagte: »Sie ist häufig krank und noch häufiger unglücklich.«

»Ist sie denn nich' eins von den Leuten, denen dich Gutes thust?« fragte die Kleine in ihres Herzens Unschuld.

Penningtons vergrämtes Gesicht überzog sich flüchtig mit dunkler Röte. Des Kindes Wort hatte ihn ins Innerste getroffen. Es kommt ja vor, daß einer die Pflichten, die ganz einfach auf seinem Weg liegen, mit Füßen tritt, um dem lockenderen farbenreicheren Ideal einer Pflichterfüllung am fernen Horizont nachzujagen. Er schwieg jetzt betroffen, und das Kind stand von seinem Sitz auf und setzte sich auf die Armlehne seines Stuhls.

»Warum weil siehst dich immer so bet'übt aus ?« fragte sie mitleidig. »Und warum weil sind sich deine Augen immer müde? Ist's weil deine Frau sich immer krank ist und nicht sehr glücklich?«

»Wahrscheinlich.«

»Hast dich gar keine kleine Kinder bekommen?«

»Nein, kleine Dot.«

»Warum weil nicht?«

»Es können nicht alle Leute kleine Kinder haben, Dot,« versetzte er.

»Pa hat mich gehabt,« meinte sie überlegend, »und jetzt hat mich Jo. Kannst dich nicht irgendwo ein kleines Mädchen kriegen? Vielleicht würde sich dein Frau dann nicht häu-fig un-dlücklich sein.«

Pennington gab darauf keine Antwort.

»Mich will einmal zu deiner Frau zu Besuch genommen sein,« erklärte Dot plötzlich.

Er sah sie an und in den sonst so matten Augen schimmerte es freudig.

»Ja, mein Herzchen,« sagte er mit einer gewissen Unsicherheit, »daran will ich denken.«

Kurz darauf erhob er sich, um aufzubrechen.

»Sag' Jocelyn, daß ich ein andres Mal wiederkommen werde – guten Abend, Frauenzimmerchen und – ich danke dir.«

»Mich hab' dir ja nichts deschenkt,« erwiderte sie verwundert.

Er berührte ihr Haar flüchtig mit seinen Lippen und lächelte so seltsam dabei, daß Dot noch lange, nachdem er gegangen war, mit zusammengezogenen Brauen dasaß und sich das Köpfchen zerbrach über den Sinn seiner Rede.

Dann dachte sie wieder an ihren Jo; er blieb ungewöhnlich lange aus, und doch hatte sie gerade heute so großes Heimweh nach ihm. Sie wollte ihm ja auch sagen, wie »fu'ch'bar leid« es ihr thue, ihn gestern und heute nicht geküßt zu haben. Bruchstückweise nach Kinderart führte sie sich vor die Seele, wie gut er gegen sie gewesen sei, und das kleine Herz schwoll dabei an von Gewissenspein. Der gestrige Auftritt war aus ihrem Gedächtnis gestrichen.

Als es für sie schon an der Zeit war, ins Bett zu gehen, hörte sie ihn den Schlüssel in die Flurthüre stecken. Das Zimmer war jetzt so dämmerig, daß er Dots Anwesenheit zuerst gar nicht bemerkte. Er warf einen verdrießlichen Blick auf das seiner harrende Häufchen von Briefen, machte aber keinen davon auf. Dann ging er zur Staffelei hinüber wo ihn die halbvollendete »Dame in Grau« spöttisch anlächelte.

Das ungewisse Zwielicht verlieh dem schattenhaften Gesicht eine seltsame Lebenstäuschung. Ein paar Minuten stand er schweigend davor, dann griff er, ein böses Wort zwischen den Zähnen hervorzischend, nach seinem Taschenmesser und machte einen zackigen Schnitt durch die ganze Leinwand.

Nachdem er in halber Betäubung lange auf das Wrack seiner eigenen Arbeit hingestarrt hatte, sank er mit allen Anzeichen tiefster Erschöpfung in einen Lehnstuhl und vergrub sein Gesicht in den Händen. Zu ihrem unsäglichen Staunen und Schrecken vernahm Dot einen schluchzenden Laut, dem bald ein zweiter folgte. Dann wurde es ganz still, unheimlich still.

Ein winziges Gestältchen kam leise aus der dunklen Ecke hervorgeschlichen und geradeswegs auf den Mann zu, der mit gesenktem Kopf und wehem Herzen dasaß, und dem es zu Mute war, als ob der Himmel über ihm zusammengestürzt wäre. Diesen Zustand lernt wohl jeder im Leben kennen – einmal wenigstens. Jocelyn machte diese Erfahrung zum erstenmal, und er trug sie nicht allzu heldenhaft.

Jetzt schrak er heftig zusammen, denn zwei weiche kleine Arme hatten sich in der Dämmerung um seinen Hals geschlungen, und ein schmeichelndes Kinderstimmchen flüsterte dicht an seinem Ohr: »Jo – mein kleine, kleine Jo – mich hab' dich lieb – mich hab' dich viel mehr lieb als ganze Welt. Thut mir fu'ch'bar leid, daß mich dir nicht Kuß geben wollen – mich will dir Kuß geben – jetzt –« und die frischen Kinderlippen suchten und fanden die seinigen.

Er umschloß das Kind fest und zog das zierliche Geschöpfchen auf seine Kniee.

»Mein kleines Mädelchen,« murmelte er mit stockender Stimme, »Mein kleines Mädelchen – sei nur ruhig, mußt nicht weinen!«

Die reine, unschuldige Hingebung dieses kleinen weiblichen Wesens that ihm unbeschreiblich wohl in dieser Stunde. Er empfand eine wunderbare Linderung der stechenden, brennenden Schmerzen in seinem wehen Herzen.

Eine ganze Weile saßen die beiden eng umschlungen und schweigend bei einander, dann sagte Dot im Ton tiefsten Entsetzens: »Dich hast ihr Bild ze'schnitten!«

Er nahm eine leichte Veränderung in seiner Stellung vor, sagte aber nichts.

»Hast dich sie nich' mehr lieb?« fragte sie.

»Schweig', mein Kindchen –«

Sie rieb die lockigen Haare gegen seine Wange.

»Thut nichts,« flüsterte sie ihm zu. »Mich hab dich lieb!«

Er nickte schweigend und küßte sie.

»Bist dich müde – sehr müde?« fuhr sie fort.

Er nickte abermals. Ja, er war sehr müde, todmüde. Seit er das Haus am Ladbrokeplatz verlassen hatte, war er viele Meilen weit umhergewandert.

»Dich sollst Sofa liegen,« ordnete Dot an. »Mich will dir Haare streicheln.«

Er stellte sie sanft auf den Boden und stand auf. In seinem Kopf pochte es, als ob ein Dampfhammer drin arbeitete, all seine Pulse klopften stürmisch.

»Nein, Herzchen, still liegen kann ich jetzt gerade nicht,« sagte er. »Ich will ein wenig auf und ab gehen, und für dich, mein Liebling, ist's Bettzeit.«

Gehorsam bot sie ihm das Mündchen zum Gutenachtkuß.

»Dich könntest nicht sein ohne dein kleines Mädchen?« fragte sie mechanisch.

»Nein, mein Herzchen! Gott weiß es, wie ich dich brauche!«

Daraufhin ging sie leise hinaus und machte die Thür, sorgfältig ohne das geringste Geräusch hinter sich zu.


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