Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Zwanzigstes Kapitel.

Jocelyn vermißte Forsyths Umgang und Freundschaft sehr, und auch dieser fand sein Dasein verarmt und verödet, seit der Maler keinen Teil mehr davon bildete. Beide mußten sich im innersten Herzen eingestehen, daß sie eine erprobte Freundschaft der Laune eines Mädchens geopfert hatten, die offenbar gerade so unfähig war, Liebe zu empfinden, als fähig, sie einzuflößen. Beide hatten sie das unbehagliche Gefühl, mit Bewußtsein und Kunst genarrt worden zu sein, und empfanden insgeheim ein Verlangen, sich darüber auszusprechen und ihre Erfahrungen auszutauschen; aber die einstige Vertrautheit, wie sie noch vor ein paar Monaten zwischen ihnen geherrscht hatte, schien ja ein unwiederbringlich verlorenes Gut zu sein, denn nichts ist schwerer zu kitten als eine in Stücke gegangene Freundschaft. Wie man die Splitter auch zusammenleimen mag, es fehlt immer irgendwo ein Eckchen, und der Sprung bleibt fast in allen Fällen sichtbar.

Um diese Zeit geriet Jocelyn wieder einmal in Geldverlegenheiten, weshalb er wie gewöhnlich von schrankenloser Ueppigkeit in seiner Lebensweise zu stark davon abstechender strenger Sparsamkeit überging, die jedoch nie lang vorzuhalten pflegte.

»Was heißt ›knapp dran sein‹?« fragte Dot eines Morgens.

Sie hockte nach Schneiderart in einem Lehnstuhl dicht bei der Staffelei und war eifrig beschäftigt, Socken zu stopfen. Jocelyn, der seit ihrer Heimkehr von der Sommerfrische wieder tüchtig an der Arbeit war, rieb erst mit einem Lappen ein mißglücktes Kinn von der Leinwand, ehe er Antwort gab.

»Knapp dran sein, Wichtelmännchen?« warf er etwas geistesabwesend hin, »Nun, das bedeutet, daß man kein Geld hat.«

»Aber dich sagtest doch gestern zu dem Herrn, daß dich knapp dran seist?«

»Bin ich auch – hol's der Kuckuck!«

»Aber, Jo,« wandte sie vorwurfsvoll ein, »Dich hast doch Geld! Dich mußt doch nicht auf der Straße stehen und Bettler sein!«

»Vielleicht kommt's dieser Tage auch noch so weit,« sagte er halb ingrimmig, halb zerstreut.

»Muß mich denn auch Bettler sein?« erkundigte sie sich, zwischen Neugierde und Grauen schwankend.

»Natürlich! Du hältst dann den Hut hin, daß die Leute Kupfergeld für mich hineinwerfen – aber, Kindchen, was in aller Welt treibst du denn mit meinen Socken?«

»Mich stopfe Löcher,« belehrte ihn Dot mit entsprechender Wichtigkeit.

»Aber da glaube ich, daß es besser wäre, du würdest sie nicht zu solch harten Buckeln zusammenziehen,« bemerkte Jocelyn mit Milde. »Ich kann mir nicht denken, daß diese Knollen sehr angenehm am Fuß sind, oder meinst du?«

Dot sah ihr Werk an, und nachdem ihr die schöne Selbsttäuschung darüber benommen worden war, zog sie entsagungsvoll das Fingerhütchen ab.

Nach einiger Zeit schien ein großartiger Gedanke in ihr aufgetaucht zu sein, denn sie kletterte eilends von ihrem Stuhl herunter und verließ das Zimmer.

Jocelyn mischte indessen mit Seelenruhe abschreckende Fleischtöne, summte eine Melodie vor sich hin und baute Luftschlösser, bis ein feines Stimmchen aus nächster Nähe zu ihm sagte: »Jo, Lieber, sieh her!«

Er sah hin und erblickte Dot, die eine Schokoladeschachtel mit einem Paradiesvogel auf dem Deckel sorgsam in beiden Händen hielt.

»Mich habe Geld, mich!« erklärte sie freudestrahlend. »Fu'ch'bar viele Schillinge – Dich hast mich fu'ch'bar oft Schilling geschenkt, daß ich mir Süß'keiten kaufe. Aber Herr Pen–nington sagt, Leute sollen nicht alles Geld ausgeben, was haben, drum hab' mich meiniges nicht ausgeben. Und nun sollst dich's haben, Jo, Lieber, mich brauche es wirklich nich' – wi'klich.«

Er war tief gerührt, und seine Stimme klang ein wenig verschleiert, als er ihr zur Antwort gab: »Nein, Frauenzimmerchen, du mußt deine Schillinge behalten! Ich kann dir unmöglich dein Geld wegnehmen.«

»Mich will, daß dich's nimmst!« sagte sie, die Mundwinkel verdächtig herabziehend. »Mich hab' dich gar nich' lieb, wenn dich's nich' thust.«

Dabei quollen schon zwei helle Thränen hervor und rollten über die runden Wangen. Jo legte die Palette aus der Hand, zog die Kleine auf seine Kniee und trocknete ihr mit seinem Taschentuch die Thränen.

»Nun denn, wenn dich's so betrübt, will ich sie ja nehmen – dir zuliebe! Du wunderliches, liebes Seelchen! Und wenn du recht artig bist, sollst du auch mit mir ausgehen – ich muß mir ein paar Pinsel und chinesisches Weiß besorgen.«

»Von meine Schilling willst dich's kaufen?« fragte sie glückstrahlend.

Er küßte sie auf beide Augen.

»Versteht sich, Herzchen, versteht sich!«

Sobald sie aber hinaus gegangen war, um sich fertig zu machen, verschloß er die Schokoladeschachtel in einem Fach seines eingelegten Schrankes.

»Gesegnet sei ihr Herz!« murmelte er dabei.

Auf dem Heimweg gingen sie auf Dots besonderen Wunsch Westbourne Grove entlang, und Jocelyn machte den Vorschlag, bei einem bestimmten Zuckerbäcker besonders feine Crêmetörtchen zu kaufen, die dem Leckermäulchen beim Thee munden sollten.

»Aber so fu'ch'bar teuer!« warnte sie ihn, als er schon in den Laden trat. »Kann sein, sind nicht Schillinge genug.«

»O doch! Es reicht,« lautete die zuversichtliche Antwort. »Bleib' du nur unter der Thür stehen und sieh dich nach dem Omnibus um, so lang ich bezahle.«

Nun traf sich's aber, daß auf der andern Seite der Straße Forsyth vorüberging. Er winkte ihr mit der Hand einen Gruß zu, was sie irrtümlich für eine Aufforderung hielt, zu ihm herüber zu kommen. Da zudem gerade eine kleine Pause in dem ungeheuren Wagenverkehr verhältnismäßig freien Uebergang gewährte, war sie im Nu mitten in der breiten Straße.

Im selben Augenblick aber bog ein Coupé in vollem Trab um die Ecke, und es sah aus, als ob die Kleine im nächsten unfehlbar unter den Hufen der Pferde liegen müßte. Rasch wie ein Blitz aber stürzte Forsyth vom entgegengesetzten Fußsteig herbei und riß sie mit Geschick und Kraft unter den Pferden hervor, die sie in unfaßlicher Weise noch nicht berührt hatten, und in der nächsten Sekunde schon ruhte Dot, am ganzen Leib zitternd, aber unversehrt in Jocelyns sie leidenschaftlich umschließenden Armen.

Dieser selbst war geisterhaft bleich. Schweigend hielt er Forsyth die Hand hin, die dieser ohne ein Wort herzlich drückte.

Natürlich hatte sich sofort ein Volksauflauf gebildet und ein Schutzmann (nicht 230 H!) schrieb die Nummer des Droschkenkutschers auf.

»Machen wir, daß wir aus diesem verdammten Gewühl kommen!« rief Jocelyn aufgeregt.

Er hielt eine eben leer vorüberfahrende Droschke an und setzte Dot hinein.

»Komm' mit uns nach Hause, willst du nicht?« sagte er dann mit heiserer, unsicherer Stimme zu Forsyth.

Der andre zögerte einen Augenblick, dann sagte er einfach: »Gut!«

Im Wegfahren gewahrte Dot einen großen braunen Hund, der die Düte mit ihren Crêmetörtchen auf dem Fußsteig herumzerrte. Sie machte indes ihre Begleiter nicht aufmerksam darauf, denn sie hatte ein dunkles Gefühl, Jocelyn könnte ihr böse sein.

Dazu hatte er freilich keine Muße, denn er zitterte immer noch wie Espenlaub und war ganz verstört, und Forsyth hatte genug zu thun, den Schmerz in seinem linken Arm zu verbeißen, den er sich übel verstaucht hatte.

So fuhren alle drei schweigend nach Jocelyns Wohnung, wo sich Dot mit dem ihr eigenen echt weiblichen Takt unsichtbar machte.

»Forsyth, wie kann ich dir's danken?« sagte Jocelyn heiser, sobald sie im Atelier waren. »Ich hätte nicht mehr zu rechter Zeit kommen können – ich sah die Gefahr erst, als –« er brach ab.

»Schwatz' doch keinen Blödsinn!« erwiderte Forsyth in der zierlichen Ausdrucksweise unsres Jahrhunderts. »Wenn ich nicht zugesprungen wäre, hätt's ein andrer gethan! Bist du an etwas Neuem?« setzte er hinzu, indem er seinen Kneifer zurechtrückte und vor die Staffelei trat.

Durch diesen Zwischenfall waren Groll und Hader verwischt, und obwohl die beiden jungen Männer nicht zu den Naturen gehörten, die überflüssiger Gefühlsseligkeit nachhängen, kam beiden die Welt wieder schöner und sonniger vor.


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