Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Dreizehntes Kapitel.

»Haben Sie die Kleine gesehen?« rief Jocelyn um Mittagszeit übers Treppengeländer zu Frau Lamb hinunter.

»Nein, Herr Jocelyn,« versetzte Frau Lamb, für einen Augenblick aus Staubwolken auftauchend. »Dachte nicht anders, als sie wäre im Atöliö! Vielleicht ist sie wieder im Dachstock.«

Eine weitere Untersuchung förderte das Ergebnis zu Tage, daß die Mauern dieses Hauses für den Augenblick keine Dot beherbergten, und dann erst besann sich Jocelyn darauf, daß er ihr ja Erlaubnis gegeben hatte, »mit sich allein« spazieren zu gehen. Das mußte schon mehrere Stunden her sein, und er nahm sich vor, ihre Verspätung strenge zu rügen.

Geschehen konnte ihr ja nichts, sagte er sich, und doch – behaglich war ihm gar nicht zu Mute, und als es schließlich vier Uhr wurde, hatte sich das Unbehagen zur hellen Angst gesteigert. Er machte sich auf, um zu Forsyth zu gehen. Dot bei ihm zu finden, dazu war ja nicht die geringste Aussicht, aber Forsyth war in manchen Dingen ungemein zuverlässig und findig, und so oft ihn Jocelyn auch des Leichtsinns zieh, so wenig versäumte er es, bei besonderen Schwierigkeiten seinen Rat einzuholen.

Er traf den Schriftsteller in seiner Höhle, wo er in Hemdärmeln, mit borstig emporstarrenden Haaren und einer Cigarette zwischen den Zähnen am Schreibtisch saß. Ein Berg von beschriebenem Pandektenpapier, der neben ihm auf dem Fußboden lag, zeugte von seinem Fleiß; auch jetzt flog die Feder noch emsig weiter.

»Sprich ums Himmels willen nicht, eh' ich dir's sage!« war der Gruß, womit er Jocelyn empfing.

So groß seine Ungeduld auch war, setzte sich der Maler doch gehorsam in eine Ecke, bis nach einiger Zeit Forsyth wirklich die Feder beiseite legte und sich mit strahlender Miene im Stuhl zurück lehnte.

»Dreitausend Wörter seit heute frühe,« rühmte er sich, »das will etwas heißen! Dreitausend Wörter zu ...«

»Ich bitte dich, erlaß mir das Rechenexempel!« fiel ihm Jocelyn aufgeregt ins Wort, »und höre mich an! Ich weiß nämlich nicht, was aus dem Kind geworden ist, Forsyth – seit heute vormittag ist sie fort, und jetzt ist's bald fünf Uhr. Blödsinnigerweise gab ich ihr die Erlaubnis, ›mit sich allein‹ spazieren zu gehen, und stehe jetzt eine Höllenangst aus.« Auch Forsyth machte ein bedenkliches Gesicht, sagte aber nach kurzer Ueberlegung: »Es sollte mich nicht wundern, wenn sie zu Fräulein Tressillian gegangen wäre. Jedenfalls lohnt's der Mühe, dort nachzusehen – ich will nur einen andern Rock anziehen.«

Als sie an den Ladbrokeplatz kamen, stellte sich's jedoch heraus, daß Fräulein Tressillian für den ganzen Nachmittag ausgegangen war, und daß die Dienerschaft einstimmig versicherte, das kleine Fräulein habe sich nicht blicken lassen. Jocelyn und Forsyth stürzten nun ins Atelier zurück, aber Dot war nicht heimgekommen.

»Hältst du's für möglich, daß sie bei Pennington wäre?« fragte Forsyth, sich ratlos durch die Haare fahrend.

»Ich weiß nicht – einmal nahm ich sie mit zu ihm – es könnte sein. Wenn du mir einen Gefallen thun willst, so bleibst du hier – für den Fall, daß sie käme, und ich laufe zu Pennington. Schon halb sechs Uhr, mein Gott! Wo kann die kleine Range nur stecken? Wenn sie nicht da ist bis zu meiner Rückkehr, so müssen wir einen Wagen nehmen und alle Polizeistationen und Spitäler von ganz London abfahren!«

»Bist du nicht auf heute abend zu den Carringtons eingeladen?« fragte Forsyth.

»Die Carringtons können mir gestohlen werden!« rief Jocelyn außer sich. »Ich kann ihnen ja abtelegraphieren.«

Das Hausmädchen in Penningtons Herberge »meinte«, Herr Pennington sei »vorhin« nach Hause gekommen, worauf Jocelyn, immer drei Stufen auf einmal nehmend, ins oberste Stockwerk hinaufstürmte und an Penningtons Wohnzimmerthür pochte.

»Herein!« rief es, aber die Stimme war nicht die Penningtons, und Jocelyn zögerte, einzutreten.

»Herein!« rief die Stimme zum zweitenmal, jetzt etwas ärgerlich.

Als er eintrat, erhob sich eine weibliche Gestalt vom Sofa, wo sie geruht hatte. Wie ein Blitz durchfuhr es Jocelyn – die unheimliche Geschichte von Penningtons Ehe hatte er rein vergessen gehabt! Weder der Freund, noch er selbst hatten seit jenem Abend je wieder daran gerührt.

»Ist – Herr Pennington zu Hause?« fragte Jocelyn unsicher.

»Nein,« versetzte die Frau.

Ihre trüben, aber noch immer schönen Augen wichen den seinigen nicht aus. Sie mußte wirklich einst eine große Schönheit gewesen sein, diese Frau, die ihres Mannes Leben und auch das eigene verwüstet hatte. Die Linien des Gesichts, der Umriß des Kopfes waren vollendet schön, die Haut aber fleckig und aufgedunsen, die Lippen spröd und rissig, und die Augen lagen tief eingesunken unter bläulichen schlaffen Lidern. Das Haar war offenbar heute noch in keine Berührung mit Kamm oder Bürste gekommen, der Anzug war schmachvoll verwahrlost, das Kleid nicht zugeknöpft.

Ein zerfetzter Romanband lag am Boden; die Luft im Zimmer war dumpf und verbraucht, dicker Staub lag auf den Möbeln, der ganze Raum war furchtbar unordentlich.

»Mein armer alter Kamerad!« dachte Jocelyn schaudernd.

Sobald er erfahren hatte, daß seine Nachfrage ohne Ergebnis war, daß Pennington früh ausgegangen sei und spät zurückkommen werde, verabschiedete er sich eilig.

»Himmel, was für ein Wrack!« war sein Gedanke, als er die Treppe hinunter eilte.

Zu Hause erwartete ihn keinerlei Nachricht. So setzte er sich denn mit Forsyth in eine Droschke, und sie hielten in der That in allen Spitälern und den meisten Polizeistationen Umfrage. Thatsächlich ist, daß sie auch die Station besuchten, wo 230 H sein Hauptquartier hatte; da dieser Wackere jedoch von Dots Vorhandensein um diese Stunde noch keine Ahnung hatte, wurde ihnen auch dort keine frohe Botschaft zu teil.

Wieder nach Hause zurückgekehrt, brachte Jocelyn in verzweifelter Stimmung einen Aufruf für die Hauptzeitungen zu Papier. Forsyth erbot sich, ihn in der Nacht noch zu besorgen, und versprach, in der ersten Morgenfrühe wieder bei ihm vorzusprechen.

In qualvoller Angst pendelte Jocelyn mindestens noch eine Stunde vor seiner Hausthür hin und her. Er lauschte angestrengt auf jeden Fußtritt, bis deren endlich immer weniger wurden und die Straße schließlich ganz menschenleer war.

Was konnte dem Kind zugestoßen sein? War sie gestohlen worden oder gar – er wehrte diese Vorstellungen mit Gewalt von sich ab. Sein Heim, sein Leben ohne sie zu denken, war ihm unerträglich; sie hatte sich in sein Herz eingenistet mit ihrem weichen, zärtlichen Wesen, aber bis jetzt hatte er keine Ahnung davon gehabt, wie unentbehrlich sie ihm geworden war.

Der Regen strömte hernieder, und schließlich ging Jocelyn ins Haus. Frau Lamb stand kopfschüttelnd und voll schlimmer Ahnungen in der Halle, aber er lehnte ihre Teilnahme mürrisch ab und schloß sich in seine Werkstatt ein. Auf Dots kleinem Tisch lag ein primitiver Bilderbogen, den sie heute früh mit kühnster Farbengebung bemalt hatte – eine gewisse Verwandtschaft mit seinem eigenen »Kolorismus« entging leider seinem Künstlerblick! – daneben standen noch das Wasserglas und der Farbenkasten, und eine Puppe lag mit dem Gesicht am Boden. Jocelyn hob sie beinahe zärtlich auf.

Das Zimmer kam ihm unheimlich still vor. Ehe er das Kind bei sich gehabt hatte, war es ihm nie so vorgekommen. Er hielt es nicht aus darin und ging in ihr Stübchen hinüber. Ihr Nymphengel lächelte ihm vom Kaminsims entgegen; das kleine weiße Bett sah so kalt aus – wie ein Totenbett, fuhr es ihm durch den Sinn. Der Anblick that ihm weh.

Als die fahle Morgendämmerung anbrach, warf er sich auf sein Lager und wälzte sich im Halbschlummer hin und her, bis Frau Lamb und Sally ihm mit Haushaltsgepolter in unholder Weise den Tag verkündeten.

Eine Stunde darauf kam Forsyth mit den ersten Morgenblättern und die beiden Freunde durchforschten eifrig die Verzeichnisse der Unglücksfälle, als die Thür aufging und Dot in Person herein kam, geradeswegs auf ihren geliebten Jo zu und in seine Arme. Gut eine Minute lang drückte er sie an sich, ohne ein Wort zu sprechen; das Herz war ihm zu voll. Er hörte und verstand auch kaum, was sie ihm in atemloser Hast von ihren Abenteuern und Erlebnissen erzählte.

»Mein Herzenskind!« sagte er wieder und wieder, sobald er zu sprechen im stande war. »Mein Herzenskind!«

Und nun wurde »Frau Jim« durch die Hauswirtin feierlichst vorgestellt, erzählte, was zu erzählen war, und ging höchlich befriedigt von dannen. Sie hatte es nicht zu bereuen, daß sie ihre Wäsche im Stich gelassen hatte, und auch 230 H machte an diesem Tag die Erfahrung, daß Pflichterfüllung unter Umständen recht lohnend sein kann.


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