Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Elftes Kapitel.

Frau Lamb war siegreicher Feldherr des Frühjahrskriegs, genannt Reinemachen. Es hatte der übliche Kampf um Jocelyns Atelier stattgefunden, das unberührt bleiben sollte, wenigstens was Zimmermaler und Tapezierer betraf. Heute verheerte das alljährlich eintretende Erdbeben das Treppenhaus und den Flur.

Jocelyn pinselte träumerisch an Fräulein Tressillians eigentlich fertigem Porträt herum. Dot hatte Seifenblasen gemacht, ihre beiden Puppen zweimal aus- und angekleidet, mit Peter einige Spiele getrieben, die er in tiefster Katerseele verabscheute, und wanderte jetzt unruhig mit einer ihr sonst fremden Planlosigkeit im Zimmer umher.

»Mich möchte danz, danz dleinen Spaziergang machen,« erklärte sie endlich.

»Ich bin beschäftigt, Kind,« versetzte Jocelyn zerstreut.

»Kann gut mit mich allein gehen,« versicherte sie schmeichelnd. »Darf mich, Jo, Lieber?«

»Wenn du magst,« gab er geistesabwesend zur Antwort, denn seine Gedanken hielten sich anderwärts auf.

Dot machte einen kleinen Freudensprung, obwohl sie ihren Ohren nicht recht traute, lief eilends in ihr Stübchen, nahm Hut und Mantel und rannte wie ein Wirbelwind die Treppe hinunter. Den Abschied erließ sie sich, um »Jo« ja keine Gelegenheit zum Widerruf seiner Erlaubnis zu geben. Sie hatte bisher niemals allein ausgehen dürfen, und wäre Jocelyn nicht von andern Gedanken erfüllt gewesen, er würde es gewiß heute ebensowenig gestattet haben.

Es war ein heller, wolkenloser Frühlingsmorgen, die Luft gerade frisch genug, um anregend zu wirken, und Dot zog mit hochaufgerecktem Köpfchen und hübsch auswärts gesetzten Fußspitzen dahin, bis sie an die Schaufenster kam. An der Ecke war ein Blumenmädchen, und Dot erkor sich an ihrem Stand mit Umsicht und Geschmack einen Bund gelber Narzissen, den sie Jo mit nach Hause bringen wollte. Die Blumen fest im warmen Händchen fassend, zog sie triumphierend weiter. Es war ja gewiß viel besser, sein kleines Taschengeld auf Blumen für Jo zu verwenden, als sich selbst Süßigkeiten zu kaufen, so dachte wenigstens Dot.

Als sie sich gerade die reinlichen, kühl aussehenden Eier am Schaufenster einer Milchhandlung betrachtete, trat ein ältliches Weib mit einem Korb voll Wasserkresse an ihre Seite und sagte in schmeichelndem Ton: »Sieh 'mal an, das schöne kleine Fräulein! Wie heißt denn das Herzchen?«

Dot sah rasch auf. Daß die alte Frau kein angenehmes Gesicht habe, war ihr sofort klar. Sie hatte gerötete, aufgedunsene Augenlider, eine faltige, fleckige Haut und höchst beunruhigende Zähne.

»Kenne dich nicht,« sagte Dot, unwillkürlich vor ihr zurückschreckend.

»Du kennst die alte Brigitte nicht?« rief die Unbekannte, sichtlich aufs höchste verwundert. »Das kann nicht sein! All die artigen kleinen Mädchen hier herum kennen die alte Brigitte. Und wie sie mich lieb haben! Alle kleinen Mädchen haben mich lieb!«

»Warum, weil?« fragte Dot, die hellen Kinderaugen fest auf das runzelige Gesicht heftend.

»Warum? Weil die alte Brigitte alles weiß – alles weiß sie! Und was ich für schöne Sachen in meinem Haus habe! Nein, so schöne Sachen hast du noch nirgends gesehen und kriegst sie auch nirgends zu sehen!«

»Weißt dich wahrhaftig alles?« fragte Dot, mit höchster Spannung zu ihr aufsehend.

Brigitte nickte.

»Dann – dann –« der süße Kindermund bebte – »dann weißt dich auch, wo Pa ist?«

»Versteht sich, daß ich's weiß, mein Prinzeßchen. Dein Pa ist bei mir – und nirgends anders ist er.«

Dot stieß einen leisen Schrei aus und ward kreideweiß um die Lippen. Sie schob ihre Finger in die Hand der Alten und rief in höchster Erregung: »Mich zu Pa führen! O, mich zu Pa führen!«

»Natürlich geschieht das, mein Herzchen, und zwar auf der Stelle! Faß du mich nur am Rock an und lauf ordentlich mit.«

Dot that, wie ihr geheißen wurde, und trippelte in fieberhafter Erwartung unaufhörlich plaudernd neben dem alten Weib her. Doch trotz aller Glückseligkeit fanden ihre Füßchen den Weg sehr weit, auch hatte sich der Himmel umzogen, es war kälter geworden, und nun fing es gar zu regnen an. Brigitte schien das nicht zu bemerken; sie ging nur immer rascher und rascher, so daß Dot schließlich laufen mußte, um nur an ihrer Seite zu bleiben.

»Müde geworden,« keuchte sie schließlich. »Sehr müde und danz naß.«

»Jetzt sind wir gleich da,« versetzte ihre Begleiterin in rauhem Ton. »Zerr' du nicht so an meinem Rock, oder du fängst eins.«

Daraufhin begann Dot bitterlich zu weinen.

»Wenn du das Geheul nicht läßt,« herrschte sie die Alte an, deren Freundlichkeit spurlos verschwunden war, »so werf' ich dich dem großen bösen Hund dort an der Ecke vor und von deinem Pa kriegst du auch keinen Rockzipfel zu sehen.«

Dot würgte die Thränen hinunter und lief mit Anspannung der letzten Kraft weiter. Die Narzissen hielt sie immer noch fest umklammert, sie ließen aber schon die Köpfchen hängen.

Endlich bog Brigitte in eine schmutzige, schmale Gasse ein und von dort in einen übelriechenden dunklen Durchgang unter den Häusern. In der Mitte dieses Durchgangs mußte das versprochene Paradies sein, denn die Alte blieb vor einer nur angelehnten Thüre stehen und stieß das Kind vor sich hinein mit einem häßlichen Schimpfwort, daß es Dot vor Entsetzen überrieselte.

Vor einem schmutzigen Kamin, dessen Feuer längst abgebrannt war, saß ein gemein aussehender Mann, der aus einer Thonpfeife schlechten Tabak rauchte. Als das Weib eintrat, drehte er sich um und warf einen bösen Blick auf die zitternde Dot.

»Wem seine Brut schleppst du denn da her?« brummte er, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.

»Sie hat sehr gute Kleider auf dem Leib,« verständigte ihn das Weib. »Wird sie aber nicht mehr auf dem Leib haben, wenn sie ein paar Minuten älter ist.«

Sie stellte ihren Korb ab und fing in einer Ecke der Stube in einem Haufen zerlumpter Kleider zu kramen an. Ein paar Sekunden stand Dot ganz still, dann rief sie kläglich: »Aber wo ist mein Pa? Mich will zu meinem Pa!«

»Dein Pa? Was ist denn das für einer?« sagte der Mann, den Arm ausstreckend, um Dot ihr seidenes Kapüzchen vom Kopf zu reißen. Er untersuchte die Kopfbedeckung aufmerksam.

»Sie hat gesagt, Pa ist hier,« schluchzte Dot entrüstet.

Das Weib drehte sich um und raunte dem Mann leise ein paar Worte zu, worauf dieser zu Dot sagte: »Dein Pa ist nur vorhin um die Ecke gegangen. Er kommt gleich wieder, wenn du nur still sitzen und das Gebrüll bleiben lassen willst.«

Dot würde sich gerne gesetzt haben, denn sie war todmüde, aber wo? Den einzigen Stuhl nahm der Mann mit der Pfeife ein, und der Fußboden war so schmierig, daß sie schauderte.

Während sie sich noch nach einer Sitzgelegenheit umsah, trat die Alte auf sie zu, und in unglaublich kurzer Zeit hatte sie Dots hübsches Kleid und ihren Mantel, den ganzen, mit liebevoller Sorgfalt von Jocelyn gewählten Anzug mit einem zerknüllten elenden Kleidchen, einem zerlumpten Unterrock und einem einst weiß gewesenen zerfetzten Strohhut vertauscht.

»So, jetzt suchen wir den Pa,« kreischte die Alte, Dot gewaltig schüttelnd, um ihrem Jammergeschrei über diese Verwandlung Einhalt zu thun, »und dein Pa will's, daß du gerade diese Kleider und keine andern nicht anhaben sollst. So und jetzt halt' dein Maul, sonst kriegst du Hiebe, dann weißt wenigstens, warum du brüllst.«

Damit faßte sie das Kind rauh an der Hand und zerrte sie hinaus in das Gäßchen. Es regnete noch immer, und der Wind wehte eisig.

»Ist's weit zu Pa?« fragte die arme Dot, leise in sich hinein schluchzend, als sie eine Strecke gegangen waren.

Die Alte blieb stehen.

»So, jetzt lauf' geradeaus die Straße hinunter, so weit du siehst und so schnell du laufen kannst. Und kein einziges Mal bleibst du stehen, hörst du wohl, bis du deinen Pa auf dich zukommen siehst.«

Damit war Brigitte in einem finsteren Seitengäßchen verschwunden.

Dot lief und lief und lief, aber kein Pa war zu erblicken. Ihre Zahne klapperten vor Frost, denn der scharfe Wind ging ihr durch Mark und Bein. Das dünne elende Fähnchen, das sie jetzt trug, war schon durch und durch naß und schlug klatschend gegen ihre Beinchen, aber sie lief immerzu, die ganz welken Narzissen krampfhaft festhaltend.

Es dämmerte stark, und ihr ward angst, sie könnte in der halben Dunkelheit an ihrem Pa vorüberlaufen, ohne ihn zu erkennen. Darum ging sie jetzt langsam, jeden Vorübergehenden mit fragenden, traurigen Augen musternd. Als sie aber endlich vor Erschöpfung am Zusammenbrechen war, kam wie eine Offenbarung die Gewißheit über sie, daß all dies Suchen nach dem Pa doch vergebens sei. Da setzte sie sich auf eine Hausstaffel und schluchzte, als ob das Kinderherz brechen wollte.


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