Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Siebentes Kapitel.

Eine sehr schöne Frau kam häufig, um dem Maler zu sitzen, in der Regel an Tagen, wo Millie nicht da war. Sie war das Modell seiner tragischen Gestalten, hatte dunkle, traurige Augen, regelmäßige Züge und nahezu klassische Arme und Schultern. Jocelyn und Forsyth nannten sie nie anders als »Sternenschein« und Dot wußte überhaupt nicht, daß sie einen andern Namen habe.

Eines Tages kam sie und traf mit Millie zusammen, die sich nach Jocelyns Befinden erkundigen wollte. Sein Schnupfen hatte sich zu einer heftigen Halsentzündung entwickelt, die ihn seit vierzehn Tagen ans Bett fesselte.

Dot war gerade mit Millies Botschaft in sein Schlafzimmer gegangen und kam jetzt mit wichtiger Miene zurück.

»Jo sagt, er sei beinah wieder auf – auf dem Damm, sagt er, will morgen aufstehen, arbeiten am Mittwoch.«

Damit zog sie sich in ihre Privatecke zurück.

Sternenschein stand vor dem angefangenen Bild auf der Staffelei. Es war ein sehr verklärtes mythologisches Gemälde, aber Jocelyn hatte den »Sternenschein« fabelhaft richtig charakterisiert. Seine Begabung drängte ihn entschieden zum Bildnismaler, nur war er sich dessen unglücklicherweise nicht bewußt, sondern hielt sich für einen großen Koloristen.

Als der Sternenschein so dastand in einem schwarzen Kleid von ausgesuchter Schlichtheit, wirkte Millie in ihrem billigen allermodernsten Putz doppelt »aufgetakelt«.

Forsyth kam und wurde von beiden begrüßt, von jeder auf ihre Art, Millie warf ihm eine aufgeschnappte Redensart aus der neuesten Posse hin, der »Sternenschein« neigte ernsthaft das Haupt. Als die schwarze Gestalt jetzt das Zimmer verlassen wollte, kam Dot aus ihrer Ecke und faßte sie an der Hand.

»Komm' – mich zeige dir meinen Nymphengel,« flüsterte sie ihr zu.

Der Sternenschein ließ sich in das kleine Schlafstübchen führen, das bisher als Rumpelkammer gedient hatte, und wo jetzt der Nymphengel den Ehrenplatz auf dem Kaminsims einnahm.

Dot nahm ihn ehrfürchtig und vorsichtig herunter, erging sich in begeistertem Lob seiner Schönheit und stellte ihn behutsam an seinen Platz zurück. Jetzt erst sah sie zu der schwarzgekleideten Frau auf und entdeckte, daß ihre Augen voll Thränen standen.

»Willst dich zu weinen anfangen?« fragte sie ängstlich.

Statt aller Antwort nahm der Sternenschein das Kind in die Arme und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus.

Dot setzte sich nicht zur Wehr, wie sie sonst that, wenn jemand sie vom Boden aufheben wollte. Sie schlang sogar einen Arm um den Hals der schönen Frau und flüsterte: »Nicht weinen! Dich kriegst sonst Kopfschmerzen! Dich mußt nicht weinen!«

Dann setzte sie hinzu: »Dich sollst auf den danz danz kleinen Stuhl sitzen und mich auf dein Knie.«

Sternenschein setzte sich und löste den sie umschlingenden Arm ein wenig.

»Du erinnerst mich,« sagte sie mühsam, »an ein andres kleines Mädchen, das ganz deine Augen hatte.«

»War's dein kleines Mädchen?«

»Ja – einst.«

»Und wo ist's denn jetzt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ist's ve's-to'ben wie mein Pa?«

»Ich weiß es nicht.«

»Nicht weinen – mich will dir auch Kuß geben!«

Der kleine Mund bot sich ihr vertrauensvoll dar, aber die schwarze Frau schreckte davor zurück.

– »Nein, Kind – ich darf dich nicht küssen,« flüsterte sie.

»Warum weil nicht?«

»Weil ich bin – was die Welt eine schlechte Person nennt, kleine Dot.«

Eine jähe Blutwelle färbte das schöne blasse Gesicht glühend rot.

Dot überlegte sich den Fall ein Weilchen und fragte dann: »Sagt dich der liebe Gott auch eine ›slechte Person?‹«

»Ich fürchte, ja – falls es einen Gott gibt,« lautete die bittere Antwort.

»O ja, gibt Gott,« entgegnete Dot mit Ernst und Eifer. »Pa hat's gesagt – und Pa wohnt jetzt beim lieben Gott –«, das Stimmchen wurde ein wenig unsicher – »Pa muß wissen.«

Die traurige Frau schwieg.

»Jo erzählt nicht gern von Gott,« fuhr Dot weiter, »er sagt, mich bin zu klein. Und Herr Forsyth sagt, mich bin zu jung. Und Herr Pen-ning – Herr P'ington –« dieser Name kostete immer einiges Stolpern – »sagt, alle diese Sachen sind ein My-Mysterium. Was ist denn ein My-Mysterium, Fräulein Stern'schein?«

»Alles und jedermann, glaube ich,« versetzte die Frau träumerisch.

»Mich bin kein Myster'um,« versicherte Dot etwas beleidigt. »Und Jo ist auch nich' keins.«

Der »Sternenschein« stand auf und rückte sich den einfachen schwarzen Capotehut zurecht. Ueber Dots Waschtischchen hing ein Spiegel, aber sie warf keinen Blick hinein.

»Leb' wohl, kleine Dot,« sagte sie, wehmütig über des Kindes Haare streichend. »Betest du auch zuweilen?«

»Alle Tage!«

»Willst du manchmal auch ein Gebet sagen – für mich?«

Dot nickte ernsthaft.

»Will Gott schön bitten, daß er dich vergnügt macht,« versprach Dot.

Ein seltsames Lächeln spielte um die Lippen der Frau. Dann nahm sie das Kind rasch noch einmal auf den Arm, setzte es fast heftig auf den Boden und ging hinaus.

Dot ging wieder ins Atelier, wo Millie und Forsyth allein geblieben waren. Sie standen dicht nebeneinander vor dem Kamin, fuhren aber beim Klang ihres hellen Stimmchens auseinander.

»Hast dich Millie geküßt?« fragte Dot verwundert.

Millie wurde nicht rot; das hatte sie sich abgewöhnt, sie lachte nur, daß man ihre blanken Zähne blitzen sah.

»Herr Forsyth hat nicht Erlaubnis, mich Kuß zu geben,« erklärte ihr Dot mit würdevoller Strenge. »Glaube nicht, daß Jo gern Leute küssen läßt in sein Attö-li-ö.«

»Alle Rechte vorbehalten,« brummte Forsyth, dann setzte er hinzu: »Bist du eigentlich an mehreren Orten zugleich, Dot? Wie fängst du denn das an?«

»Bin mich nicht. Kann nur an einem Ort sein auf einmal. Auch Jo kann nicht an zweite Orte sein auf einmal.«

»Was, nicht einmal der allmächtige Jo?« rief Forsyth lachend. »Jetzt geh' nur hinein zu ihm und frage, ob ich ihn besuchen darf.«

Dot zögerte.

»Soll mich fortgeschickt werden, weil dich Millie küssen willst?« fragte sie mißtrauisch.

Forsyth würdigte sie keiner Antwort, sondern nahm sie vom Boden auf und hielt sie so hoch in die Luft, als es die ansehnliche Länge seiner Arme gestattete. Er hatte das ernsthafte kleine Ding sehr gern, genoß aber ihr Vertrauen durchaus nicht in demselben Maß wie Jocelyn, nicht einmal wie Pennington. Sie zappelte und sträubte sich heftig, bis er sie wieder niedersetzte und, sie zärtlich an ihren Locken zupfend, wieder freigab. Dann ging er, Millie gleichgültig zunickend, in Jocelyns Schlafstube, wohin ihm die Krankenpflegerin, deren kleines Gesicht gerechten Unwillen verriet, auf dem Fuße folgte.

Das Zimmer war behaglich erwärmt und der Leidende ruhte wohlig in einem Nest von Kissen, seine Pfeife und einen neuen Roman genießend.

»Nun, altes Haus, wie steht's und geht's?« fragte Forsyth, sich aufs Bett setzend. »Siehst ja prächtig aus – ich glaube, dir fehlt rein gar nichts!«

»Heute geht's auch wieder,« erwiderte Jocelyn, sich mit Ergebung darein findend, daß ihm Dot den Teppich bis unters Kinn schob und seine Kissen zu einem Gebirge auftürmte.

»Er hat sich Millie geküßt in deinem Attö-li-ö,« bemerkte sie, den Missethäter mit einem entrüsteten Seitenblick streifend.

»Was du doch für ein Geselle bist, Forsyth,« sagte Jocelyn träge. »Ich glaube, es ist dir geradezu unmöglich, fünf Minuten mit einem weiblichen Wesen allein zu sein, ohne eine Liebelei anzubändeln!«

»Was ist Liebelei anbän'den?« fragte Dot, die jetzt auf Jocelyns oberstem Kopfkissen thronte und seine Haare glatt strich. »Ist's bös?«

»Mädel, du bringst mich noch um mit deinen Fragen!« rief Forsyth.

»Ist's bös?« wiederholte sie hartnäckig.

»Es ist bös, wenn ich's thue – wenn's Jocelyn thut, nicht,« lautete Forsyths lachend gegebener Bescheid.

Dot beugte sich zärtlich über Jos Gesicht herunter und er lächelte ihr zu, wie ihn außer Dot noch niemand hatte lächeln sehen.

»Du hast eine Stubenfarbe, Maus,« sagte er. »Bist ja auch so lange nicht in der Luft gewesen – sag' einmal, Forsyth, würdest du nicht mit ihr spazieren gehen? Du scheinst ja für heute Schicht gemacht zu haben, sonst wärst du nicht hier – thu' mir den Gefallen!«

»Mein Kopf hat die Arbeit eingestellt – ich bin wieder einmal rein fertig,« erwiderte Forsyth erschöpft, um gleich darauf hinzuzusetzen: »Nun, Maus, willst du mir die Ehre erweisen, mit mir spazieren zu gehen, oder bin ich immer noch in Ungnade?«

»Mich thun, was Jo haben will,« versetzte die Kleine ernsthaft.

»So lauf' und zieh' dich an,« sagte Jocelyn, die Frage in ihren Augen beantwortend.

»Mein neues Kleid?« fragte sie, langsam vom Bett herunterkletternd.

»Versteht sich!«

Als sie das Zimmer verlassen hatte, stand Forsyth auf und reckte die langen Glieder.

»Für einen guten Kerl hab' ich mich von jeher gehalten,« brummte er, »aber daß ich je Gastrollen als Kindermädchen geben würde, hätt' ich mir doch nicht zugetraut.«

Nach einer Weile warf er mit einem großen Aufwand fast krampfhafter Gleichgültigkeit die Frage hin: »Hast du Fräulein Tressillian in letzter Zeit gesehen?«

»Nein,« lautete die kurze Antwort.

Die große Stille, die darauf eintrat, wurde durch Dot unterbrochen, die in aller Pracht und Herrlichkeit des »neuen Kleids« hereinsegelte. Es war ein etwas ungewöhnlicher, sehr niedlicher roter Anzug, dessen Schnitt Jocelyn eigens für sie entworfen hatte.

»Donnerwetter! Was für ein Prinzeßchen!« rief Forsyth, die Augen mit der Hand beschattend, als ob der Glanz ihn blendete. »Ja, Dot, da muß ich wohl eilends heimlaufen und mich auch in meinen Bratenrock werfen?«

»Ist sich nich' nötig,« versetzte sie mit einem Ausdruck nachsichtiger Ueberlegenheit, der die beiden Freunde höchlich ergötzte. »Mich denke, Leute werden dich vielleicht nicht ansehen.«


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