Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Sechstes Kapitel.

Vier Wochen waren seither vorüber; man schrieb den letzten März. Von Angehörigen oder Freunden des verstorbenen Fraser hatte nichts verlautet, obwohl Jocelyn die Anzeige seines Todes in den gelesensten Blättern dreimal hatte wiederholen lassen.

Mit der köstlichen Erneuerungsfähigkeit des Kindes schien Dot die Bitternis ihres Verlustes verwunden zu haben, wenigstens weinte sie nicht mehr Tag und Nacht, wie sie anfangs gethan hatte. Allerdings kam es immer noch vor, daß irgend ein Gegenstand Erinnerungen wachrief, die ihr Kinderherz zum Verzweifeln brachten. Dann kam sie aber zu Jocelyn und weinte sich in seinem Arm aus, denn sie hatte ihn auf ihre ernsthafte, eigenartige Weise sehr lieb.

Ohne daß sie sich darüber geäußert hätte, mußte es ihr doch irgendwie zum Bewußtsein gekommen sein, daß ihr Pa nicht mehr zurückkehren werde, denn sie sprach jetzt selten von ihm. Auf der Treppe und im Atelier hörte man häufig wieder ihr zwitscherndes Stimmchen und ihr fröhliches Lachen; sie war auch nicht mehr so mager, sah auch nicht mehr so verhärmt aus, ja sogar manchmal überraschend hübsch.

Im Atelier hatte sie ihr eigenes Winkelchen, worin sie sich ganz zufrieden vom Morgen bis zum Abend aufhielt, falls Jocelyn nicht mit ihr spazieren ging. Es standen dort ein eigens für sie gekaufter kleiner Tisch und Stuhl, auch eine Fußbank mit rotem Kissen für Peter, der fett und träge zu werden begann. Das Tischchen war meist mit Puppenkleidern bedeckt, manchmal auch mit Farbenschalen und Pinseln, ein Geschenk von Forsyth, dem die kleine Person äußerst merkwürdig und ergötzlich vorkam. Er hatte ihr auch Bilderbogen zum Bemalen gegeben, eine Thätigkeit, worin sie seinem Ausspruch nach Jocelyn entschieden übertraf.

Forsyth lebte in Bayswater in einer nicht eben geistesverwandten Familie, die verschiedene häßliche, äußerst tugendhafte Schwestern aufwies. Wenn er nicht an der Arbeit war, verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit in Jocelyns Atelier, wo auch Pennington häufig einkehrte, wenn er sich von seiner Arbeit erholen wollte, die Forsyth ehrfurchtslos als »Armensport« bezeichnete. Dieser Apostel bewohnte zwei armselige Stübchen in einem Dachstock des St. Karlsplatzes. Seine Einkünfte beschränkten sich auf die Zinsen des kleinen Vermögens, das ihm die Mutter hinterlassen hatte, deren abgöttisch geliebter Sohn er gewesen war. Sein Vater, mit dem er sich vor Jahren überworfen hatte, war ein reicher Mann, der seine fünfzehntausend Pfund im Jahr zu verzehren hatte, Verhältnisse, die Forsyth bekanntlich abgeschmackt fand.

An diesem kalten, klaren März lag Jocelyn in außerordentlich schlechter Laune auf dem weichsten Ruhebett in seiner Werkstatt ausgestreckt. Die Ursache seiner Verstimmung war in erster Linie ein heftiger Schnupfen mit Kopfweh und Fieber, der ihn zur Arbeit untauglich machte, und in zweiter eine berufliche Widerwärtigkeit. Er hatte von einem wohlhabenden Makler den Auftrag erhalten, das Bildnis von dessen Tochter zu malen, und nun schrieb ihm Aline Tressillian (Aline Tressillian war diese betreffende Tochter und gegenwärtig Jocelyns Ideal der Weiblichkeit), daß sie für einige Zeit verreise und ihm den Tag der nächsten Sitzung noch nicht bestimmt angeben könne.

Unter der Macht dieser gehäuften Uebelstände ließ er seiner bösen Laune die Zügel schießen und hatte sogar die kleine Dot schon ein paarmal rauh angelassen. Mit einer Feinfühligkeit, die sonst Kindern fremd ist, merkte sie indes wohl, daß sein Groll nicht ihr persönlich galt, sondern der Weltordnung im allgemeinen. Pa war auch oft in dieser Weise heftig gegen sie gewesen.

Um drei Uhr fand sich Millie in der Werkstatt ein. Auf Jocelyns barsche Mitteilung, daß er heute nicht arbeiten könne und sie nicht brauche, erwiderte sie ziemlich sanftmütig: »Man sieht's Ihnen an, daß Sie nicht wohl sind, Herr Jocelyn. Kann ich nichts für Sie besorgen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe höllische Kopfschmerzen,« erwiderte er etwas erweicht, »und ich glaube, nun kommt auch noch Halsweh.«

Millie ließ die Rollvorhänge herunter, kehrte den Staub vor dem Kamin zusammen und machte da und dort wohlgemeinte Ordnungsversuche im Zimmer. Dann setzte sie sich zu Dot und wollte sie auf den Schoß nehmen, aber das Kind widerstrebte heftig.

»Mich kann alles für Jo thun,« erklärte sie – Jo war der Name, den sie sich mit planvoller Buchstabenersparnis für Jocelyn zurecht gemacht hatte, »ganz aus mein Kopf,« wie sie sich Pennington gegenüber rühmte – »mich kann alles machen für Jo. Kein sehr kleines Mädchen mehr. Fünf Jahre ist viel – viele Kinder erst vier oder drei. Jo mich lieb und wäre sehr einsam ohne mich.«

Sie bekräftigte ihren Ausspruch durch ein bedeutsames Nicken. Millie warf einen wehmütigen Blick auf den in Frage stehenden jungen Mann. Daß er heute besonders vorteilhaft ausgesehen hätte, ließ sich gerade nicht behaupten. Er war nicht rasiert und entbehrte des Hemdkragens; seine Haare waren à la Struwelpeter frisiert und seine angeschwollenen Augenlider gerötet, aber diese Umstände machten ihn für Millie nur noch begehrenswerter und rührten ihr Herz. Sie stand auf und sagte mit gedämpfter Stimme: »Er schläft – ich will jetzt gehen. Willst du mir einen Kuß geben, Kleine?«

»Nein,« entgegnete Dot bestimmt. »Mich gebe niemand Kuß außer gerade Jo.«

Millie lachte hellauf. Jocelyn, der nicht geschlafen, sondern nur die brennenden Augen geschlossen hatte, machte eine ärgerliche Bewegung. Millies Anwesenheit ging ihm auf die Nerven und er wartete mit Ungeduld auf den Abschied, Als sie fort war, richtete er sich fröstelnd auf.

Dot verschwand aus dem Zimmer, kehrte aber bald zurück, mit Aufwand all ihrer Kraft einen schweren, grauen Schlafrock nach sich schleppend. Jocelyn griff mit dankbarer Freude danach und hüllte sich warm ein.

»Verständiges Frauenzimmerchen!« brummte er vor sich hin. »Gerade das Richtige.«

Dann zog er einen Lehnstuhl vors Feuer, legte Kohlen nach und lehnte sich stöhnend zurück.

Dot kam und kauerte sich neben ihm im Stuhl zusammen.

»Jo!« begann sie nach einer Weile.

»Nun?« machte Jo, ohne die Augen aufzuschlagen.

»Ist sich Millie eine Dame?«

»Hm – nein.«

»Aber Fräulein T–w–illian – meine das hübsche Fräulein, wo dich und mich am Sonntag in einer schönen Stube Thee getrunken haben – die ist sich doch eine Dame?«

»Gewiß.«

»Wird mich eine Dame werden, wenn mich groß bin?«

»Ich hoffe.«

»Sind Menschen selber schuld, wenn sie nicht Dame sein?«

»Dot – siehst du, ich bin schrecklich müde und das Sprechen thut mir sehr weh – im Hals.«

»Mich still sein wie danz danz kleines Mäuschen – wie zwei kleine Mäuschen!«

Sie stahl sich leise von ihm weg und suchte seine Pfeife und den Tabaksbeutel. Mit spitzen Fingerchen und ganz auf ihr Werk gerichteten großen Augen begann sie die Pfeife zu stopfen und – o Wunder – sie verstand's! Hatte sie doch oft genug ihrem Pa die Pfeife gestopft. Sie holte dann noch die Zündhölzchen und sagte, an Jocelyn herantretend, leise: »Vielleicht thäte dich kleiner kleiner Rauch gut.«

Jocelyn schlug die schweren Lider auf.

»Du bist ein lieber, kleiner Kerl,« sagte er gerührt. »Wahrhaftig, es sollte mich gar nicht wundernehmen, wenn der Tabak mich wieder auf die Beine brächte.«

Dot setzte sich auf die Armlehne seines Stuhls.

»Dich siehst nicht nett aus heute,« erklärte sie nach längerer schweigender Betrachtung.

»Du weißt ja, daß mir's elend ist,« wandte er gekränkt ein.

»Nein, das nicht weswegen. Dich hast nicht gewaschen und Kratzbürste im Gesicht und keinen Kragen und die Haare so struwelig.«

Im gedrückten Bewußtsein dieser Mängel steckte Jocelyn schweigend seine Pfeife an, aber nach wenigen Zügen legte er sie weg.

»Ich kann auch nicht rauchen, Dot. Ich glaube, ich will mich ins Bett legen – ich tauge doch zu nichts.«

»Sehen, ob Fenster zu,« entgegnete Dot, aus dem Zimmer huschend.

Als sie wiederkam, versicherte sie mit gesetzter Miene: »Alles in Bett aufgedeckt, dein Nachthemd da und alles – komm!«

Sie faßte seinen Arm und trippelte, ihn stützend, mit ihm ins Schlafzimmer. Erschöpft setzte er sich auf sein Bett.

»Mich zieh' dich jetzt Schuhe und Strümpfe aus,« erklärte sie, ihr Werk sofort mit berufsmäßiger Gewandtheit beginnend. »Dann zieh' dich deine Uhr auf und mich gehe hinaus, bis dich drin liegst, dann komme mich wieder.«

»Komisches kleines Ding!« brummte Jocelyn vor sich hin, als er rasch die Kleider abwarf und sich mit Wonne auf seinem Lager ausstreckte, denn er fühlte sich in der That schachmatt. »Mir kommt's nach und nach ganz so vor, als ob sie mir gehörte.«

Nach geraumer Zeit kratzte es an der Thüre.

»Seist dich im Bett?« fragte das Stimmchen von außen.

Auf seine bejahende Antwort wurde die Thüre mit Schwierigkeiten geöffnet, denn Dot hielt eine Tasse in der Hand, die sie mit größter Vorsicht trug.

»O Himmel! Was wird das nun wieder sein?« brummte der Patient in sich hinein. »Siehst du, meine kleine Dot, ich mag jetzt gerade nichts nehmen ...«

»Mich ganz allein gemacht,« seufzte Dot schmerzlich enttäuscht, »So herrlicher Thee für dich.«

Das kleine Gesicht sah so kläglich und bekümmert zu ihm auf, daß er sich trotz allen Widerstrebens aufrichtete und den Trank verschluckte, ja sich sogar halb erdrosseln ließ mit einem wollenen Tuch, das seinen Halsschmerzen zu gute kommen sollte.

»Hast dich gebetet?« fragte Dot, nachdem sie ihn von Tasse und Untertasse befreit, die Vorhänge zugezogen und ihm die Hände unter die Betttücher gesteckt hatte, damit er »schön warm« habe.

»Nein,« gestand Jocelyn.

»Mich will für dich beten,« sagte sie mit Entschiedenheit.

Sie kniete an seinem Bett nieder, faltete andächtig die Händchen, schloß die Augen und sprach: »Lieber Gott, Jo ist heute krank und hat Beten vergessen. Aber bitte, mach' ihn deshalb doch schnell gesund, daß er viele Bilder malen kann. Amen.«

Pause. Dot machte die Augen auf.

»Dich mußt Amen sagen,« belehrte sie ihn, aufs schmerzlichste überrascht. »War ja dein Gebet!«

Jocelyn fühlte sich sehr schuldig.

»Amen,« sagte er demütig.

Dot kletterte auf sein Bett, küßte ihn und ging auf den Zehenspitzen hinaus.


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