Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Zehntes Kapitel.

Einige Zeit darauf gab Jocelyn ein Abendessen. In feinen Gesellschaften wuchs die Heiterkeit häufig bis zum Ueberschäumen an. Wenn der Lärm dann etwas toll wurde, pflegte Frau Lamb unten sich kopfschüttelnd zu Bett zu legen und öfter mißbilligend vor sich hin zu brummen: »Nun, aber – aber – aber!«

Sie erhob jedoch nie Einsprache, denn Jocelyn war ein pünktlich zahlender Mieter, der nie Ungelegenheiten machte.

Als die Festlichkeit zu vorgeschrittener Stunde ihren Höhepunkt erreicht hatte, flog die Thür auf und Dot, deren Schlummer nur durch eine dünne Zwischenwand vor den lärmenden Zechgenossen bewahrt wurde, stürzte in einem lang nachschleppenden Schlafrock aus rotem Flanell ins Zimmer.

Sie lief geradeswegs auf Jocelyn zu und legte ihr Köpfchen auf sein Knie.

»So Angst gehabt,« stieß sie schluchzend heraus. »Schrecklichen abscheulichen S-pek'akel gehört. Dachte, wolle jemand rauben mich ...«

Damit brach sie in leidenschaftliches Weinen aus, und Jocelyns Versuche, sie zu beschwichtigen, waren lange vergebens.

»Wir haben auch einen Höllenlärm vollführt,« bemerkte Forsyth, der selbst sein redliches Teil dazu beigetragen hatte und Stimmführer im Rundgesang gewesen war. »Das arme Seelchen! Eine rechte Schande für uns!«

»Und es ist auch spät – oder vielmehr früh,« gestand ein andrer mit einem mitleidigen Blick auf die von Schluchzen erschütterte kleine Gestalt. »In ein paar Minuten drei Uhr.«

»Dann hebt euch insgesamt von hinnen,« erklärte Jocelyn, das Kind auf sein Knie setzend. »Als Familienvater ist's für mich ohnedies am Platz, diese nächtlichen Orgien aufzugeben.«

Als sich alle bis auf Forsyth entfernt hatten, streckte Dot ihr Köpfchen unter Jocelyns Rockklappe hervor, hinter der sie sich während des Abschieds der Herren versteckt gehalten hatte. Sie setzte sich aufrecht hin und rieb schläfrig die nassen Augen.

»Was ist Orgien?« fragte sie mit einem drolligen letzten Aufschluchzen.

Forsyth lachte hell auf.

»Mag nicht, daß Leute lachen,« rief sie wütend. »Zeit, daß dich heimgehst in dein Bett!«

»Ganz richtig, Dot,« sagte Jocelyn. »Namentlich aber wär's an der Zeit, daß du ins Bett gingest! Mach, daß du fortkommst – sei ein artiger kleiner Schneck.«

Sie trippelte gehorsam hinaus, die Schleppe würdig nach sich ziehend. Als sie sich unter der Thür noch einmal umdrehte, um Jocelyn eine Kußhand zuzuwerfen, kam es beiden Männern zum Bewußtsein, wie wenig das unschuldige junge Gesichtchen in diese dunstige, von dichtem Rauch erfüllte Luft tauge, in diesen Raum, der das Bild rohen Uebermuts erweckte. In Jocelyn stieg ein Ekel vor sich selbst auf, und er hätte viel darum gegeben, wenn »sein Kind« ihn nicht in dieser Verfassung gesehen hätte.

Als auch Forsyth sich verabschiedet hatte, goß er sich ein großes Glas Sodawasser ein, warf sich in einen Lehnstuhl und verharrte längere Zeit in tiefem Nachdenken. Der Schein der Lampen fiel – wie ihm jetzt dünkte – höhnisch auf die funkelnagelneuen Goldrahmen der drei Bilder, die von den Schiedsrichtern in Burlington ihrer Wände für unwürdig erachtet worden waren. Es war das dritte Jahr des Mißerfolges, und diese Frühjahrserscheinung der Zurückweisung ward allmählich doch zum wunden Punkt bei Jocelyn.

Mit einem plötzlichen »Aufrappeln« zog er einen Brief aus der Tasche und las ihn aufmerksam durch. Die Verfasserin war Aline Tressillian, die ihn darin bat, am nächsten Sonntag zum Thee zu kommen und die kleine Dot mitzubringen. Er las ihn ohne sonderliches Entzücken – ein Sonntagnachmittag am Ladbrokeplatz, das bedeutete so viel, als Fräulein Tressillians Gesellschaft mit einem halben Dutzend andrer Herren teilen, die in der Unterhaltung eine größere Rolle spielen würden als er. Nichtsdestoweniger sah er ganz genau voraus, daß er hingehen werde, und diese Wahrscheinlichkeit veranlaßte ihn, seine eigene Thorheit laut zu verwünschen, worauf er sein Sodawasser austrank und zu Bett ging.

Am andern Tag zur Dämmerstunde kam Pennington. Jocelyn war allein und nützte das letzte Tageslicht aus, um Aline Tressillians jetzt nahezu vollendetes Porträt prüfend zu betrachten. Glücklicherweise hatte der Vater bestimmt, daß es die Wände der Akademie nicht zieren dürfe, und so war der Maler in der Lage, liebevoll daran zu tüfteln. Dot war unten, denn heute war Frau Lambs Backtag, und das kleine Hausmütterchen war eifrig bestrebt, in verschiedene Geheimnisse der Kochkunst einzudringen, um wie sie sagte, »fertig« zu sein, wenn sie erwachsen sei.

»Du siehst gedrückt aus, mein Alter,« bemerkte Jocelyn, seinen Freund betrachtend. »Hast du Widerwärtigkeiten?«

Der andre nickte.

»Mir schwante so etwas, als du gestern abend nicht kamst,« sagte Jocelyn.

Pennington durchmaß das Zimmer ein paarmal mit langen Schritten, setzte sich dann vor den Kamin und legte den Kopf in die Hände.

Jocelyn zog sich einen großen Schaukelstuhl herbei und holte seine Pfeife. Er steckte sie jedoch nicht an, sondern legte sie gleich wieder beiseite, um seinen Gast mit teilnehmender Spannung zu betrachten.

Plötzlich sagte Pennington: »Ich bin in einer furchtbaren Lage.«

»Das sah ich dir an. Was ist dir widerfahren? Handelt sich's um ein Weib?«

»Ja.«

»Wahrhaftig? Ich hatte dich für ›weiberfest‹ gehalten!«

»Es handelt sich,« stieß Pennington tief aufatmend heraus, »um meine Frau.«

Grenzenloses Erstaunen sprach aus Jocelyns Blick.

»Ich nehme an,« sagte er, nach einiger Zeit seine Starrheit abschüttelnd, »daß du – daß du keine schlechten Witze machst.«

»Seh' ich aus, als ob mir nach Witzen zu Mut wäre?« warf Pennington fast barsch hin.

Er stand auf und stürmte wieder einmal im Zimmer auf und ab.

»Seit Montag renne ich so in London umher,« sagte er dann, »seit Montag – bei Tag und bei Nacht. Heute haben wir Freitag, nicht wahr? Ich glaube, ich werde wahnsinnig –«

»Seit wann bist du denn verheiratet?« fragte Jocelyn mit beschwichtigender Ruhe.

»Ich habe mit einundzwanzig Jahren geheiratet – jetzt bin ich dreißig – also neun Jahre. Großer Gott!«

»So, so. Da hast du ja keine Zeit verloren. Und weshalb hast du deine Heirat geheim gehalten?«

»Weil sie es durchaus so haben wollte. Ihre Gründe dafür kenne ich bis auf den heutigen Tag nicht. – Sie war wunderschön,« fuhr er nach einer Weile fort. »Ich sah nie ein Weib, das sich mit ihr an Schönheit hätte messen können – so, wie sie einst war. Zehn Jahre war sie älter als ich. Damals bemerkte man's kaum –«

Er brach ab. Eine Mischung von Reue, Mitleid und Ekel durchwühlte seine Züge förmlich.

Jocelyn sagte gar nichts. Er war ein Meister im Zuhören. Selten geschah's, daß er viel sprach, aber immer wußte er teilnehmend, verständnisvoll zuzuhören.

»Drei Monate etwa – es mag auch kürzer gedauert haben, länger währte es gewiß nicht –,« fuhr Pennington, langsam und mühsam redend, fort, »war ich glücklich, fieberhaft, wahnsinnig glücklich. Mit Leib und Seele war ich ihr zu eigen. Ich sage dir, ich hätte alles – alles gethan, wenn mich's diese Frau geheißen hätte. Alles gab ich auf um ihretwillen. Ich ging nirgends mehr hin. Unter ›leben‹ begriff ich nichts andres mehr, als bei ihr zu sein, ihre Nähe zu fühlen. Sie hatte mich im Bann. Mein ganzes Dasein ging in ihr auf. Ich betete sie an, ich vergötterte sie und – empfing meinen Lohn wie die meisten Götzendiener.«

»Vor neun Jahren!« überlegte sich Jocelyn, als der andre innehielt, um mit zitternder Hand seine Stirne zu betasten, »Das muß also gewesen sein, während ich in Paris war. Wollte Gott, ich wäre hier gewesen und hätte mich nach dir umsehen können – vielleicht würde ich dich gerettet haben.«

»Pah – mich hätte nichts und niemand retten können! Wer ein Wort gegen sie gesagt hätte, den würde ich erdrosselt haben, dich so gut als jeden andern! Ja – ich glaube, du warst damals in Paris, bedacht hab' ich's nie, denn ich hatte ja rein vergessen, daß es außer ihr und mir überhaupt noch Menschen gab. Gott, mein Gott! Was für ein Narr ich war!«

»Es scheint so,« bemerkte Jocelyn trocken. »Aber was führte denn den Krach deines Glückswahnes herbei? Denn ein Krach muß ja wohl stattgefunden haben? So setze dich doch, Mann! Du hast dir ja in den letzten Tagen offenbar Bewegung genug gemacht.«

»Was ihn veranlaßte?« wiederholte Pennington, schwerfällig in einen Lehnstuhl sinkend. »O, nichts Besonderes – aber siehst du, ich hatte eben nie daran gedacht, daß mir so etwas widerfahren könnte. Es mag so gegen das Ende des dritten Verzückungsmonats gewesen sein, als ich die Entdeckung machte, daß – daß meine Frau eine Morphinistin war. Ich bring's auch heute noch nicht recht fertig, darüber zu sprechen. Das Entsetzen hat mich nahezu das Leben gekostet – aber nicht meine Liebe – anfangs wenigstens nicht. Es ist mir fast, als ob ich sie in der ersten Zeit hernach noch mehr geliebt hätte – ich hatte ja so namenloses Mitleid mit ihr. Und dann – sie muß sich ja in diesen ersten paar Monaten einen furchtbaren Zwang auferlegt haben – wenigstens – aber jetzt ließ sie sich gehen – o mein Gott!«

In diesen letzten Worten lag eine Tragödie.

Jocelyn schwieg; sagen ließ sich ja nichts.

Das Zimmer war so dunkel, daß er Penningtons Züge kaum unterscheiden konnte, und er fühlte, mehr als er es sah, daß der Freund einem Gespenst glich.

»Ekel, täglich verschluckt und tüchtig eingerieben, scheint indes ein sehr wirksames Mittel gegen die Liebe zu sein,« kam es dumpf und tonlos von Penningtons Seite her. »Die meinige hatte zwar ein zähes Leben, aber sie ging doch daran zu Grunde. Mit der Zeit verwandelte sie sich in unbedingten Haß. Erlaß mir die Beschreibung des Vorgangs, ich bitte dich! Zwei ganze Jahre lang bestand mein Leben aus ununterbrochenen Qualen und Demütigungen, dann verließ sie mich. Großer Gott! Mir war zu Mut wie einem Menschen, der lebendig begraben und wieder ans Licht gebracht worden ist. Monate lebte ich in krankhafter Angst, sie könnte wieder kommen, doch nach und nach wurde ich ruhiger, und allmählich hoffte ich, sie werde gestorben sein. Wenn inbrünstiges Gebet erhört wird, mußte sie tot sein.«

»Und jetzt?«

Jocelyns Stimme klang fast schrill durch das Halbdunkel des Zimmers.

Ein paar Sekunden waren tiefe, mühsame Atemzüge das Einzige, was zu vernehmen war.

»Am Montag sah sie mich auf der Straße,« sprach Pennington keuchend. »Sie folgte mir in meine Wohnung – dort ist sie jetzt.«

Jocelyn stand auf und zündete halb unbewußt die Lampe an. Pennington legte die Arme auf den Tisch und vergrub das Gesicht in seine Hände.


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