Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Neunzehntes Kapitel.

Noch weitere vierzehn Tage, und Dot konnte wieder wie sonst ausgehen und war ganz munter. Der Juni war warm und sonnig, und die Bäume verrieten sogar in London, daß es Sommer sei.

Jocelyn hatte seit der Zerstörung seiner Dame in Grau den Pinsel nicht wieder zur Hand genommen. Er wußte, daß er sein Schicksal nicht mannhaft trug, aber er fühlte sich geistig gebrochen und untauglich zur Arbeit, wenn auch sein Herz nicht in Stücke gegangen war.

Daher kam er auf den Einfall, mit Dot in irgend ein bescheidenes Badeörtchen an der See zu gehen. Das Kind sollte dort seine frischen Farben wieder finden, und er – nun er vielleicht sein Gleichgewicht.

So seltsam es andern erschienen sein würde, er konnte stundenlang mit oder wenigstens vor Dot von dem Mädchen sprechen, das ihn so grausam genarrt hatte. Dots Mitgefühl war schweigsamer Art; sie äußerte es nur in einem gelegentlichen Kuß oder indem sie als Zeichen ihres Verständnisses seine Hand streichelte. Niemals aber sah sie bei seinen Reden gelangweilt aus, nie machte sie den Versuch, das Gespräch auf andres zu lenken, wie es ein minder hingebender Zuhörer wohl gethan hätte. Sie ließ ihn reden und toben nach Herzenslust und tröstete ihn nur hie und da mit der Ansicht, daß »Fräulein Twillian« gewiß wieder »nett zu ihm« und »gar nich' mehr drausam« sein werde, immer aber beschloß sie das Gespräch, indem sie mit ihrem eigentümlichen kurzen Kopfnicken sagte: »Einerlei, mich hab' dich sehr lieb.«

Es war ein weltentlegenes, wunderliches altes Nestchen an der Küste von Essex, das sich das ungleiche Paar zur Erholungsstätte ausgesucht hatte, und als die beiden am ersten Abend dort am Strand umherschlenderten, stießen sie zu ihrer größten Ueberraschung auf Pennington. Er war, wie er ihnen erklärte, vor wenigen Tagen mit seiner Frau hierher übergesiedelt. Sie habe in der letzten Zeit furchtbar rasch abgenommen, und der beigezogene Arzt habe ihm gesagt, daß sie höchstens noch ein paar Monate zu leben habe.

»Sie hat immer gewünscht, die Kleine zu sehen,« setzte er hinzu, »willst du nicht morgen früh mit ihr kommen?«

Jocelyn zögerte, aber ein bittender Druck von Dots Hand veranlaßte ihn, diesen Besuch zu versprechen.

Sie gingen ein Stück weit zusammen, dann kehrte Pennington um.

»Ich lasse sie nicht gern lange allein,« bemerkte er. »Sie scheint mich zu vermissen.«

Am folgenden Morgen begab sich Jocelyn mit Dot nach dem kleinen Fischerhaus, wo Pennington ein paar heimelige Stübchen mit Aussicht aufs Meer innehatte.

»Ich gehe lieber nicht hinein,« sagte er im Gärtchen zu Pennington. »In einer halben Stunde will ich das Kind abholen.«

Penningtons Frau lag dicht am Fenster auf einem Ruhebett. Mit den geschlossenen Augen und der kaum merklichen Atmung machte sie einen geisterhaften Eindruck, und die kleine Dot trat halb verwundert, halb ängstlich näher; sie wußte nicht recht, ob die Frau tot sei oder lebe.

»Ich bringe dir Besuch,« sagte Pennington mit sorglich gedämpfter Stimme. »Hier ist die kleine Dot Fraser.«

Mit sichtlicher Anstrengung schlug sie die Augen auf.

»Ach so,« sagte sie, leise und undeutlich sprechend, »du bist das kleine Mädchen, das einmal verloren ging, nicht wahr?«

»Ja,« erwiderte Dot ernsthaft. »Schutzmann fand mich. Warst dich auch einmal verloren?« setzte sie hinzu.

»O ja,« sagte die Frau mit einem Lächeln, das Dot schmerzlich berührte.

»Und wer hat dich gefunden?«

»Mich? Niemand!«

Das ging über Dots Verständnis. Sie sah sich nach Pennington um, daß er ihr das Rätsel löse, aber er war ins Gärtchen hinausgegangen. Durchs Fenster sah man ihn mit den Händen auf dem Rücken langsam auf und ab gehen.

»Bist dich immer krank?« fragte Dot plötzlich.

»Ja, jetzt immer.«

»Hat dich liebe Gott krank gemacht?«

»Nein – ich glaube nicht, daß er viel damit zu schaffen hatte.«

»Hoffe, dich wirst bald danz danz desund.«

»Ich werde nie mehr gesund werden, mein Kind,« entgegnete sie mit Bitterkeit, »und das ist mir auch lieb.«

»Willst dich denn sterben?« fragte das Kind, Entsetzen im Ton. »Mein Pa ist ve'sto'ben und in Himmel gegangen. Wartet auf mich, daß mich auch komme. Bin ganz beinah' gekommen, so krank war ich nach dem Verlorensein.«

Die Frau seufzte.

»Ach! Wenn ich je ein Kindchen gehabt hätte wie dich!« sagte sie mit plötzlicher Weichheit, »Und doch – es war vielleicht besser so –«

»Vielleicht wär' dich dein kleines Kind una'tig gewesen,« bemerkte Dot, sie über das Vermissen zu beschwichtigen suchend. »Mich bin manchmal auch una'tig und eine Plage für Jo. Dann sag' mich, daß es mir fu'ch'bar leid thut und Jo verzeiht's.«

»Wenn du sagst, daß es dir leid thue, verzeiht er,« wiederholte die kranke Frau mit schwacher Stimme.

Sie hatte eine der abgezehrten Hände über ihre Augen gelegt, aber Dot sah zwei dicke Thränen darunter hervorquellen und langsam über die eingesunkenen Wangen hinabrollen.

»Nich' weinen!« bat sie, die herabhängende Hand zärtlich streichelnd. »Bist dich auch manchmal una'tig?«

»O du süßes Engelskind!« rief die Kranke schluchzend, und dabei zog sie die Kleine heißhungrig an ihr Herz. »Sag' du es mir – werde ich auch Verzeihung finden, wenn ich sage, wie leid es mir thut?«

»Weiß nicht,« versetzte Dot, die etwas bestürzt und verängstigt war. »Jo verzeiht immer – mir.«

Penningtons Schatten streifte das Fenster, und gleich darauf stand er selbst im Zimmer. Er war bleicher als sonst, und seine Augen verrieten innere Kämpfe, Dot ging auf ihn zu.

»Darf mich in Garten und darf mich Blumen 'f-lücken für deine Frau, Herr Pen-ning-ton?« fragte sie, die großen Augen bittend auf sein Gesicht heftend.

Er nickte ihr schweigend Gewähr.

Sobald das kleine Gestältchen die Stube verlassen hatte, sank Pennington vor dem Ruhebett seiner Frau auf die Kniee und legte den Kopf auf ihre Kissen.

Zaghaft berührte sie seinen Arm.

»Phil,« kam es scheu und leise von den blutlosen Lippen, »Phil, sie sagen, ich müsse sterben. Ich werde dir nicht mehr lange zur Last sein. Wenn ich dich bitte, mir zu verzeihen – wenn ich dich aus Herzensgrund darum bitte – kannst du vergeben? O, Phil, du hast mich doch einmal geliebt!«

»Gott weiß, daß ich kein Recht habe, dich anzuklagen,« murmelte er heiser.

Bald darauf erschien Dot unter der Thüre, beide Händchen voll roter Rosen.

»Jo mich abholt,« sagte sie.

Pennington stand auf und drückte die Kranke sanft auf ihre Kissen zurück.

»Laß sie – das Kind soll mich küssen,« bat sie flüsternd.

Dot legte ihr die Rosen in die Hände und küßte sie sanft auf die Wange, die jetzt von leiser Röte gefärbt war, was dem verwelkten Gesicht eine fremdartige Schönheit verlieh.

»Dich siehst jetzt ganz hübsch aus,« bemerkte Dot mit sichtlicher Genugthuung, während sie rasch hinaustrippelte, um ihren geliebten Jo nicht warten zu lassen.

Von diesem Tag an geschah es noch manchmal, daß die kleine Dot die schlichte Krankenstube durch ihre Gegenwart hell und heiter machte, ja bald wurde sie darin ein täglicher, stets mit Freude erwarteter Gast.

Das Kind blühte in der gesunden Luft des Badeorts im selben Maß auf, als die blasse Frau von Tag zu Tag mehr hinwelkte.

In einer Augustnacht zur Flutzeit pochte Pennington an Jocelyns Thür. Er sah entsetzlich bleich und hohläugig aus.

»Gibst du mir das Kind?« fragte er statt jeden Grußes. »Meine Frau liegt im Sterben – sie erlebt den Morgen nicht mehr. Der Arzt ging eben weg, und fortwährend verlangt sie nach dem Kind.«

Dot wurde aus ihrem Bett genommen, von hilfreichen, aber etwas ungelenken Männerhänden hastig angekleidet und nach dem Häuschen am Strand getragen, wo Penningtons Frau ihr Leben aushauchte.

Eine Fischerfrau saß an ihrem Bett, entfernte sich aber bei Penningtons Rückkehr.

Die Sterbende sah wunderbar glücklich aus, bei Dots Anblick überflog ein seliges Lächeln ihr Gesicht und verklärte es mit Schönheit.

»Süßes Kind!« flüsterte sie, als Dot schlaftrunken, aber liebevoll die Aermchen um ihren Hals schlang. »Du hast wahr gesprochen, du kleiner, gottgesandter Himmelsbote, Gott segne dich und erhalte dich – immer und immer.«

Dann sagte sie: »Phil–, mein armer, gequälter Phil–, das ist das letzte –«

Er beugte sich über sie und küßte sie. Dot machte sich leise von ihr los und stand schweigend da, mit schlafbefangenen Augen unter ihrem tief herabhängenden Lockenhaar hervorblinzelnd, Trotzdem prägte sich das Bild dem kindlichen Gedächtnis unauslöschlich ein: das schmale, niedere Zimmer, dessen Fenster offen stand, um dem leisen Hauch vom Meere her Zugang zu gewähren, das einförmige Anprallen der steigenden Flut auf dem Gestein der Bucht, die sterbende Frau in ihrer fremdartigen, überirdischen Schönheit, und der Mann, der gesenkten Haupts an ihrem Lager stand und seine Hand auf ihrer Stirn ruhen ließ.

»Du hast mir wahr und wahrhaftig vergeben, Phil?«

»Vor Gottes Angesicht – ja.«

Was nachher noch gefolgt war, dessen entsann sich Dot später nicht mehr. Sie wußte nur, daß Jo sie eilends durch die stockfinstere Nacht heimgetragen und zu Bett gebracht hatte.

Am folgenden Morgen durfte sie der blassen Frau noch einmal Blumen bringen, aber dieses Mal waren es lauter weiße, und die Empfängerin dankte ihr nicht mehr dafür. Sie lag so still, so weiß, so ruhig da, und um die kalten Lippen spielte ein friedliches Lächeln.


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