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Vierzehntes Kapitel

 

41. Die logische Kette. Der Hafen streikt.

Der Tod Clerks erregte in der Stadt ein ungewöhnliches Aufsehn. Die Meinungen schwankten zwischen Selbstmord, Tat eines Geistesgestörten und Verbrechen. Oder: Folge eines Verbrechens.

Der »Democratic Globe«, der gleichsam ein Monopol auf den »Fall Clerk« beanspruchen konnte, fand die wirksamste Aufmachung. Er brachte unter der Balkenüberschrift:

 

Schicksal oder logische Kette

 

im Dokumentarstil eine einfache chronologische Aufreihung der einzelnen Tatsachen: vom Tod der jungen Beß Montez, die nackt im Zimmer des Fliegeroffiziers Clerk gefunden wurde, über deren in eine Decke verschnürte, im Hafen aufgefischte Leiche und die stürmische Versammlung der Friedenskämpfer, auf der Ohm Ernest den großen Fabrikherrn des Mitwissens an der Leichenverschleppung beschuldigt hatte, bis zu dem anschließenden tödlichen »Unfall« jenes Mr. Lee. Und schließlich Clerks Ende.

Diese »logische Kette«, lapidar aneinandergereiht – der Phantasie und der Logik des Lesers weitesten Spielraum lassend –, wirkte stärker als jeder Kommentar. Und obschon die ärztliche Anamnese und Untersuchung einwandfrei den Befund einer schweren Geistesstörung gab, fragte auf Grund der logischen Kette des »Democratic Globe« ein jeder Leser nach den Hintergründen von Clerks Tod.

Die Folgen für die Familie Clerk waren in dieser politisch und wirtschaftlich gespannten Zeit nicht leicht. Die aufgewirbelten Wellen des Falles schlugen bis an das Flugfeld Donalds, wo der Captain Ferry und der Negergefreite Jeff stationiert waren, ferner an den zivilen Flugplatz mit dem Colonel Kennedy und dem Oberfunker Gene Stevens. Davon wird noch die Rede sein.

 

Wichtiger aber war, daß inzwischen im Hafen die Streiklage der Dockers sich in diesen Tagen sehr zugespitzt hatte. Und daß dieses zweite Ereignis auf die Belegschaft der Keksfabrik, die ja mit Geld und Lebensmitteln die Streikenden unterstützte, und auf der Packerin Ann Lees Kampf um ihren Arbeitsplatz zurückwirkte.

Immer mehr Hafenarbeiter hatten sich inzwischen den Forderungen der streikenden Gruppen um Honeycut und des »rank and file«-Komitees angeschlossen, die bei einer Fünftagewoche eine achtstündige Arbeitszeit verlangten mit einer 25-Cents-Zulage die Stunde. King Joe, der Vorsitzende der Hafenarbeiter-Assoziation, hatte unter dem Druck der Front der Dockers im geheimen mit den Schiffahrtskompanien verhandelt und mit einer 10-Cents-Zulage bei nur vier Stunden Garantie je Arbeitstag abgeschlossen. Die Dockers wiesen diese Abmachung zurück und traten – nachdem sich der »Vermittler« der Regierung auf die Seite der Schiffseigner und King Joes gestellt hatte – in den Streik.

Vergebens versuchte Joe, durch sein persönliches Auftreten die Hafenarbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen. Man rief ihm zu: »Abtreten!« und weigerte sich, ihn anzuhören. Nun griff Joe zu einer plumpen Provokation. Er erklärte, der Streik in Brooklyn sei von Kommunisten angezettelt. Aber sogar ein offizieller Vertreter des dortigen Militärstützpunktes mußte mitteilen, daß die Hafenarbeiter einzig zum Zeichen der Solidarität mit ihren anderen Kollegen in den Ausstand getreten waren.

Trotz aller Verleumdungen und Winkelzüge der King Joe-Clique griff der Streik auf alle Piers von Manhattan über, nachdem in Brooklyn auch die letzten neunundsechzig Anlegestellen feierten. Schließlich erschien Joes Leibgarde, gedeckt von den Gangsterchefs – den Brüdern Anastasia –, mit ihrer »Privatarmee« auf zwölf Lastwagen am Hafen. Sie forderten im »Namen des Patriotismus« und der Landesverteidigung die Wiederaufnahme der Arbeit. Hohngelächter der Dockers war die Antwort. Auch die Hafenarbeiter von Boston und Philadelphia traten jetzt in den Ausstand.

Die Regierung wurde nervös, wagte aber keine Kraftprobe – etwa die Besetzung der Docks durch Marinetruppen. Bald lag der Riesenhafen still. Die »Amerikanische Eisenbahnerassociation« hörte auf, Exportfrachten nach dem Hafen zu befördern. Der Rundfunk meldete, daß die Transporte nach dem koreanischen Kriegsschauplatz empfindlich gestört seien.

*

Das war die Lage, als die Packerin Ann Lee nach verlängerter Kündigungsfrist den Betrieb hätte verlassen sollen. Doch in diesen Wochen war manches geschehen. Es wurde in den Fabriken offen für die streikenden Hafenarbeiter gesammelt. Zudem zirkulierten überall die Flugschriften des Friedenskomitees.

Eines Tages nun läßt der Betriebsratsvorsitzende die Kollegin Ann Lee zu sich kommen. Er beglückwünscht sie, daß die Direktion auf seine Fürsprache hin die Entlassung zurückgezogen habe und daß Ann bleiben könne. Er streckt ihr seine schwere Hand hin.

Ann hat während dieser Worte durch das breite Fenster hinausgeblickt, wo in der Richtung der Unterstadt am grauen Oktoberhimmel sich dicke Nebelsäulen vom Meer erheben. Jetzt schaut sie mit ihren hellen, festen Augen den behäbigen Mann an und meint, es sei nötig, daß auch die falschen Entlassungsgründe von der Direktion zurückgenommen würden: daß es verboten sei, während der Freizeit für die notleidenden Kollegen zu sammeln, und ferner, daß der Kampf für den Frieden als staatsfeindliche Handlung angesehen werde.

Der Vorsitzende putzt wieder angelegentlich seine Brillengläser: Ob sie einen neuen Streit vom Zaune brechen wolle?

Den Streit habe nicht sie begonnen, sondern die Direktion. Der Betriebsrat aber habe die Aufgabe, für die Kollegen nicht ein Gnadenbrot von dem Boß anzunehmen, sondern das Recht der Kollegen zu vertreten.

»Das wird nicht durchgehn«, erklärt der schwere Mann irritiert.

»Es wird noch manches durchgehn«, sagt Ann.

 

42. Gene in Gefahr. Der dritte Brief aus Deutschland.

An einem Oktobersonntag trifft man sich wieder bei Mom Rose. Eine milde Sonne liegt über dem Vorort mit den niedern Häusern und ihren Gärtchen, in denen noch dürres abgeerntetes Bohnengerank an den Stangen hängt und vereinzelte bunte Herbstastern und Dahlien blühen. Ein zarter Nebelschleier zieht vom Fluß herauf.

Mom Rose hat heute wieder ihren großen Tag. Sie wirtschaftet in der Küche. Ein Brodem aus Öl, fettem Mehl und gebranntem Zucker durchdringt das Haus. Mag die Erde aus dem Weltall verschwinden, Mom Rose wird noch in letzter Minute die meisterlichen kleinen Kuchen den ihr Anbefohlenen auftischen. Manchmal nur hält sie inne, holt aus ihrer Brust tief Luft und schaut durch den Öldunst, als könne sie in den Dämpfen ein vertrautes Gesicht entdecken. Die nie abreißende tägliche Arbeit ist ihre Rettung.

Im Wohnzimmer sitzen um den großen Tisch Ann, Pat, Adda und Gene – junge Menschen. Man spürt die Lücken. Ohm Ernest fehlt. Auch der Doktor, der vor den Untersuchungsausschuß wegen »unamerikanischen Verhaltens« geladen wurde. In diesem Land, das wie auf wolkenkratzertiefem Eisenbeton zu ruhen scheint, vollziehen sich von Monat zu Monat mit zunehmender Geschwindigkeit gewisse Bewegungen, die vorerst kaum sichtbare Risse in dem mächtigen Gemäuer hinterlassen. Auch in dem Leben der hier anwesenden vier Menschen sind solche ungewöhnlichen Bewegungen eingetreten, über die man sprechen muß. Da ist Adda. Nach Clerks Zusammenbruch und Tod, der bei diesem robusten Mann für sie ein Ausdruck seiner Mitbeteiligung an den letzten dunklen Vorgängen ist, kann sie nicht länger im Schatten der Gespenstervilla leben, noch auch in dem Clerkschen Betrieb für Atombunker und ähnliche Panikproduktion arbeiten. Sie wird kündigen. Sie wird die Gärtnerwohnung verlassen. Sie wird sich schon weiterhelfen. Bloß, was soll aus dem Vater werden? Sie ist aufgestanden, tritt zum Fenster und blickt zu dem nebelumzogenen Himmel, an dem die Sonne nur wie ein kupferner, runder Schatten erscheint.

»Du weißt, ich finde das Ganze nicht so schwierig«, sagt Gene, der offenbar mit ihr hierüber schon gesprochen hat.

»Ich helfe mir selbst!« antwortet Adda gereizt, und dann leiser: »Wo du selbst in Schwierigkeiten bist.«

»Aber, Kinder, so kann man doch nicht sprechen!« meint Pat, der in der Gruppe immer mehr Ohm Ernests Stelle vertritt. »Sind wir denn hier, uns anzuknurren?«

Es stellt sich heraus, daß Gene unterwegs Adda vorgeschlagen hat, sie solle statt der Abendkurse ein bis zwei Jahre das Technikum besuchen, um dann ihr Diplom als qualifizierte Zeichnerin zu erhalten. Das Geld für Unterricht und Leben werde er ihr vorstrecken. Er habe von seiner ehemaligen Kriegslöhnung als Frontflieger und jetzt als Oberfunker ein dickes Bankkonto, mit dem er nichts Rechtes anzufangen wisse. Adda aber hat dies Anerbieten bereits abgelehnt, weil sie »nicht abhängig werden« wolle.

Pat fragt sie nun, ob sie lieber von fremden Menschen abhängig sein wolle als von einem Kameraden? Auch Ann hält Addas Empfindlichkeit für falsch und unkameradschaftlich. Um ihr den Entschluß zu erleichtern, schlägt sie vor, daß auch Pat und sie selbst etwas zu dem Studium beisteuern sollen.

Adda kann eigentlich nichts dagegen vorbringen. Doch aus irgendeinem Grunde bäumt sie sich dagegen auf, gerade jetzt, da sie in der Nacht nach der Versammlung mit Gene schlief, ihm – wie sie glaubt – wegen des Geldes dankbar sein zu müssen. Sie springt daher, ohne Pat und Ann zu antworten, auf den anderen Punkt über: auf die Zukunft ihres Vaters Manuel.

Hier erklärt nun Mom Rose, die sich endlich auch einmal gesetzt hat, geradezu: weshalb denn ihr Schwager Manuel und Adda nicht hier ins Haus ziehen wollten, wo es nach Ohm Ernests und Mackies Tod so leer geworden sei? Ann werde gewiß nichts dagegen haben?

Nein, Ann hat nichts dagegen; sie bittet Adda, diesen Vorschlag anzunehmen.

Adda kämpft gegen ihre Tränen. Es war zuviel diese letzten Wochen, da sie stets den Kopf oben behalten mußte. Sie umarmt Mom Rose, um ihre Schwäche möglichst zu verbergen. Mom Roses dicke Wangen sind feucht von Addas und den eigenen Tränen.

Die eine Frage ist also gelöst. Nun kann man wieder ungezwungen und freier sprechen – über den Streik am Hafen, wo bereits über 50 000 Dockers sich im Ausstand befinden, über die Solidaritätsaktion in der Keksfabrik und den Erfolg von Anns Standhaftigkeit. Der Betriebsrat will in einer Belegschaftsversammlung am Fall von Ann grundsätzlich die Frage klären, ob die Direktion wegen einer Solidaritätsaktion und wegen der Stellungnahme für den Frieden einzelne Kollegen maßregeln könne?

»Wenn Ohm Ernest das noch erlebt hätte!« meint Pat.

Ann schaut Pat erschrocken an wegen Mom Rose, die sich bei ihrer großen Tasse Kaffee an dem Selbstgebackenen gütlich tut. Doch Mom Rose scheint die Bemerkung ganz in Ordnung zu finden; sie blickt dankbar zu Pat und nickt ihm zu.

Auch für Adda ist der Bann gebrochen. Sie fragt – vielleicht, daß sie von den andern einen Rat erhofft – Gene: »Und wirst du bleiben können?«

Gene zuckt die Achseln.

In der letzten Woche begann, offenbar wegen des enthüllenden Artikels des »Democratic Globe«, eine interne Untersuchung im Offiziersstab auch des Zivilflughafens. Oberst Kennedy suchte vorgestern von Gene zu erfahren, ob er bei jenen Marihuanasitzungen etwas über die Fliegenden Untertassen geäußert habe? Gene wich einer Antwort aus, indem er selbst fragte, welche Äußerung der Oberst meine? Kennedy schwieg hierauf. Doch seine Gereiztheit und sein Mißtrauen gegen Gene nehmen täglich zu.

Es ist klar, daß jener politische Bluff der Fliegenden Untertassen in Verbindung mit der W.A.C.-Corporal-Rakete als militärisches Geheimnis gilt, und daß sich von dorther ein Gewitter gegen den Stab von F. 8 und gegen Kennedy zusammenzieht. Denn da sitzen die Menschen, die mit Clerk und seinem Sohn direkte Verbindung hatten.

Als Mom Rose wieder in der Küche ist, beansprucht Adda nun auch hier volle Kameradschaft. Nach Genes kurzem Bericht entsteht zuerst ein Schweigen. Wenn Gene, der damals beim Doktor diese Aussagen des rauschsüchtigen Obersten der Gruppe mitgeteilt hatte, jetzt wegen Verrats militärischer Geheimnisse verhaftet würde? Weil der Oberst die Sache auf Gene abzuwälzen sucht?

Pat, der frühere Soldat, versteht von allen am ehesten die drohende Gefahr. Er stellt Gene die Frage, ob es – zumal bei der jetzigen Kommunistenhetze – nicht ratsam sei, zu verschwinden?

Gene hat sich selbst schon diese Frage gestellt. Aber wie und wohin?

Das sei zu lösen, sobald man entschlossen sei.

Alles im Stich lassen?

Besser als jahrelanges Zuchthaus.

Gene schaut auf Adda.

Adda ist durch die plötzliche Erkenntnis der Gefahr und die drohende Trennung zuerst wie gelähmt. Doch wie sie merkt, daß Gene auf sie blickt, nimmt sie alle Kraft zusammen; ihre »männliche Härte« – so behauptet Gene ja immer – kommt ihr zu Hilfe, indem sie sagt, sie halte Pats Rat für logisch und erwägenswert. Gene müsse jetzt nur daran denken, sich nicht leichtfertig dem Militärgericht selbst auszuliefern, sondern er müsse sich der Zukunft erhalten.

Gene schweigt. Er soll weg? In ein Nichts? Für wielange? Wie kann Adda so reden? Gerade sie? Vielleicht hat sie recht? Vielleicht meint sie unter der »Zukunft« ihrer beider Zukunft?

Mein Gott, wie schwer das alles ist!

Aber vielleicht war das alles nur blinder Alarm? Vielleicht zieht die Gefahr vorüber? Wer kann es wissen?

Gene muß versprechen, sowie er spürt, daß er in die Sache mit hineingezogen werden soll, sofort Pat aufzusuchen, der ihm weiterhelfen wird. So einfach die Frage Addas und des Vaters Manuel war, so undurchsichtig und schwierig ist Genes Situation.

*

Nachdem Gene und Adda gegangen sind, sitzen Pat und Ann noch in dem abendlichen Zimmer, während Mom Rose in der Küche aufwäscht. Die beiden sind wegen Gene in nicht gerade zuversichtlicher Stimmung. Ann meint, es sei eine Schande, daß man vor den Missetätern, die bereits so viele Menschen auf dem Gewissen hätten, immer noch zurückweichen müsse. Stimmt, der Hafenarbeiterstreik habe eine große Bedeutung, auch der Friedenskampf; aber das alles gehe im Wettrennen mit der heranrollenden Kriegsgefahr viel zu langsam. Es müsse jetzt einen Ruck tun.

»Bin ich wahnsinnig?« fährt Pat hoch. »Ich habe ja den Brief vergessen!«

»Welchen Brief?«

Statt einer Antwort ist Pat hinausgerannt. Ann hört den Aufschlag seiner dahinjagenden Sportschuhe draußen auf dem Pflaster. Als er wieder zurückkommt, atemlos, meint er:

»Es ist wegen der Stafette … wichtig auch für Adda und Gene … eine Nachricht von meinem deutschen Freund, dem Studenten …«

»Hat er sie erhalten?«

»Ja, lies!« Er zieht aus der Brusttasche ein Kuvert mit einem Brief. »Erhalten und nicht erhalten! Denn zu den Weltjugendfestspielen kam sie zu spät, aber nicht zu spät zu einer anderen Sache. Lies selbst!« Er reicht ihr den Brief, doch er nimmt ihn wieder: »Darf ich's dir vorlesen?«

»Ja.«

Er ist sehr erregt. Sonst scheint er stets überlegen und kühl. Ann beobachtet, wie dieser fünfundzwanzigjährige Mann alles um sich vergessend von einer Sache entflammt ist, wie sein schmaler Kopf über den sehr breiten, kantigen Schultern an dieses Stück Papier sich heftet.

Also, Hans Böttger berichtet anfangs, wie er die Stafettenkapsel erst Ende August erhielt, als das Weltjugendtreffen in Berlin schon zu Ende war. Die amerikanische Besatzungsbehörde und die deutsche Bundesregierung habe danach Hals über Kopf ein Internationales Jugendlager auf dem Loreleifelsen am Rhein organisiert. Auch eine Bonner Studentengruppe, zu der Hans gehörte, sei eingeladen worden. Hans schreibt:

 

Als Dein Brief, lieber Pat, und die Kapsel ankamen, reisten wir am nächsten Tag in jenes Camp auf der Lorelei. Einer meiner Kameraden hatte zwei Monate vorher die Sprenglöcher an der Rheinstraße dort und bei Bingen mit Zement ausgießen und unbrauchbar machen helfen. Meiner Meinung nach war es von den Organisatoren des Camps äußerst ungeschickt, gerade dort, wo man durch Sprengen des Felsens das ganze Rheintal mit den anliegenden Städten und Dörfern überschwemmen wollte, eine Jugendtagung abzuhalten. Der Erfolg des übers Knie gebrochenen Unternehmens entsprach denn auch jener völligen Verkennung der Gefühle unserer Jugend. In dem Lager, das der »Bundesjugendring« mit Unterstützung der Regierung und der drei westlichen Hochkommissare aufgebaut hatte, war neben der Zeltstadt auch eine Freilichtbühne errichtet worden. Alles schien zuerst tipptopp. Die Verpflegung war »europäisch«. Es gab abwechselnd deutsche, französische, englische und italienische Küche. Auch eine Lagerzeitung in drei Sprachen kam heraus. In der Zeltstadt selbst sollten die Studenten der Dolmetscherschule Germersheim das Sprachproblem lösen. Aber schon beim Verteilen der 1. Nummer der Lagerzeitung »Camp« gab es eine tolle Panne. Denn darin stand – das wird Dich interessieren – ein Artikel des amerikanischen Priesters James Gilles, der schrieb: »Einen Krieg mit Rußland befürworten ist Wahnsinn und Selbstmord. Keiner der Gründe, die bisher von unseren Politikern hervorgebracht wurden, rechtfertigt diesen Krieg.« – Was glaubst Du, Pat, was es da für Diskussionen gab! Wir, die wir den letzten Krieg mitgemacht hatten, sagten: »Wenn der Russe den Krieg wollte, würde er nicht warten, bis die Atlantikstaaten aufgerüstet sind, sondern er hätte bereits losgeschlagen.«

Die Lagerleitung wies die Hälfte von uns aus dem Camp und holte nach dieser Säuberungsaktion neue, bundestreue Gruppen. Aber schon in der nächsten Nummer des »Camp« – weiß der Teufel, wie trotz genauer Korrekturen und Kontrolle im letzten Moment das noch hineinrutschte – stand ein Artikel (wahrscheinlich von einer Darmstädter Studentengruppe) mit der Überschrift: Deshalb schießen wir nicht! Dort hieß es: »Täuscht euch nicht, ihr Herren – wir werden nicht aufeinander schießen! Ihr möchtet, daß Franzosen auf Russen, Engländer auf Polen und Deutsche auf Deutsche schießen sollen. Das wird nicht sein! Wir wissen, die Frontsoldaten würden nicht für ihre Interessen kämpfen, sondern für die der Hintermänner. Wir wenden uns gegen die Leute in Europa, die ihre Praktiken lediglich aus dem faschistischen ›Reich‹ erweitern wollen und darum die ›Nation Europa‹ proklamieren. Wenn das unsere Regierungen nicht einsehen, wir haben es erkannt und werden danach handeln. Also unser Wort: Macht Frieden! Die Völker wollen Frieden! Macht Frieden – oder die Völker werden aufstehen und Frieden machen!«

»Großartig!« sagt Ann. »Das steht wirklich da?«

Und Pat: »Hier, bitte!«

Beide hatten vergessen, daß der Brief in deutscher Sprache geschrieben ist. Ann sucht doch noch einzelne Worte zu entziffern.

»Du kannst mir schon glauben, Ann!« meint Pat. »Hör weiter!«

 

So war unsre Stimmung auf der Lorelei über dem Rhein. Immer wieder wurden Gruppen ausgewechselt. Auch unsere Stunde stand bevor. Da schichteten wir an einem Abend einen Holzstoß ganz am Rande des gewaltigen Felsens, so daß die Flamme sich in den nächtlichen Fluten des Rheins spiegelte, der den flüssigen Feuerschein stromabwärts trug. Wir alten Feldsoldaten sprachen vom letzten Krieg, daß er endlich der letzte bleibe! Ich erzählte von meiner Kameradschaft mit Dir, lieber Pat. Und dann öffnete ich die Stafettenkapsel, las die Grüße Eurer für den Frieden kämpfenden Jugend vor und das Gedicht des Koreasoldaten. Bei dem ersten Vers:

Wir sterben am Rande der Erde
Nicht besser als irgendein Tier,
Wir sind aus der Heimat vertrieben,
Amerika opfert uns hier …

herrschte eine atemlose Stille. Drunten rollte der Feuerschein im Strom talwärts. Einer sagte leise: »Weiter!« Und als ich dann den letzten Vers gesprochen hatte:

Der einzige Trost, den wir haben,
Gellt uns in den Ohren wie Hohn:
Wir kommen bestimmt in den Himmel,
Denn die Hölle, die hatten wir schon …

da schwirrte es im Schatten des Feuerscheins überall von Stimmen: »Sollen doch die Kriegshetzer mit den Generalen zur Hölle fahren! – Sollen sie doch die Sturmkompanien bilden! – Wir brauchen kein Korea!«

»Das sagten die deutschen Boys?« fragt Ann erregt.

»Ja.«

»Bitte weiter!«

Und Pat liest, während Ann ihren Kopf neben dem seinen über das Papier beugt:

 

Natürlich fand hiernach eine gründliche Säuberung des Camps statt. Aber die Stafettenkapsel mit Inhalt war bereits in Sicherheit. Und zwei Wochen später rief eine starke Gruppe von Studenten der Darmstädter Technischen Hochschule ihren Kommilitonen zu: »Wir sind keine Ware und kein Material, das man mit Dollars bezahlt! Wir werden jedem Wehrgesetz, das unweigerlich zum Kriege führt, den Gehorsam verweigern!«

Lieber Pat, findest Du, daß Eure Botschaft zu spät eintraf oder rechtzeitig? Mir scheint, sie kam zur rechten Zeit. Wenn die rechten Menschen mit dem rechten Zeitpunkt und mit richtigen Gedanken zusammentreffen, dann wird der Zeiger der großen Uhr mit einem Ruck vorspringen – bei uns und, wie ich hoffe, auch bei Euch! Schreibe mir, lieber Pat, ob Du diesen Brief erhieltst, wie Du denkst, und wie es bei Euch aussieht.

Von Land zu Land

Dein Kamerad Hans.

 

Ann schaut nachdenklich vor sich hin. »Es kann also 'nen Ruck tun?« fragt sie.

»Wenn die am Rhein auch nicht mehr alles ruhig ertragen …«, meint Pat. »Das ist unteilbar auf der ganzen Erde.«

Ann will noch sagen, daß man diesen Brief aus Deutschland in der nächsten Versammlung bekanntgeben müsse, da hört man von oben die helle Stimme der kleinen Ille: »Ist Pat unten? Ich muß ihm etwas sagen!«

»Sie will wieder eine Geschichte erzählt bekommen«, erklärt Pat und steht auf, um nach oben zu gehen.

»Jetzt nicht!« widerspricht Ann und hält ihn am Handgelenk zurück. »Sie soll schlafen; du verwöhnst sie zu sehr!«

Pat spürt Anns festen Griff um sein Gelenk; es ist ihm unsagbar angenehm, ein Strom von Vertrautheit geht von einem zum anderen. Dann löst Ann ihre Hand von ihm, während Pat lächelnd meint: »Einer muß sie doch verwöhnen.«

Ann schaut ernst zu ihm hin und wendet dann ihren Blick schnell weg.

 

43. Dr. Boyle vor dem Untersuchungsausschuß. Francis stellt ihre Mutter.

Was zu erwarten war, geschah. Man konnte zu dieser Zeit und in diesem Land einen Intellektuellen, einen bekannten Arzt, der offen gegen den Koreakrieg und gegen die Rüstung auftrat, nicht unangefochten herumlaufen lassen.

So steht denn Dr. Boyle vor dem Untersuchungsausschuß wegen unamerikanischer Betätigung. Die Untersuchung findet im Kapitol in Washington statt, im Sitzungshaus des Kongresses. An einem Tisch haben dort der Vorsitzende, der »chairman«, und vier Beisitzer Platz genommen, alle berechtigt, bei dem Verhör Fragen zu stellen. Hinter der Barriere warten die Zuhörer. Die Verhandlung ist öffentlich.

Für jeden in diesem Raum ist es von vornherein klar, daß es darum geht, diesen Friedenskämpfer als einen im Auftrage einer fremden Macht Handelnden zu entlarven und ihn als »Roten« zu brandmarken. Man hält sich also nicht lange mit der Vorrede auf.

Der Schrittmacher des Verhörs ist ein bekannter Abgeordneter aus dem Süden, ein hagerer, erbitterter »Weiße Oberhoheit-Demokrat«. Er redet mit schriller Stimme, arbeitet mit seinen Armen wie mit Windmühlenflügeln und bringt sich selbst – um seinen engen Fanatismus rotierend – zur Weißglut. Sein Spezialgebiet im Kongreß ist der Kommunismus. Er wittert den »Internationalen Kommunismus« in allem, was über seinen Horizont geht und was »links von Louis XIV. steht«, wie ein verurteilter Schriftsteller einmal erklärte – hinter jedem Antrag, der ihm zuwider ist: von der Durchführung der Preiskontrolle bis zum Wohnungsbau für Kriegsteilnehmer. Diese »Weiße Oberhoheit« stellt nun aus einem Protokollbericht an Dr. Boyle die Frage: »Ist es Ihre Meinung, daß der Koreakrieg ein Verbrechen am amerikanischen Volke ist, und daß er durch die Vereinigten Staaten provoziert wurde?«

Die anderen Mitglieder des Ausschusses haben sich bequem in ihre Stühle zurückgelehnt, um das bestimmt interessante Rededuell zu genießen, wie der ergraute Arzt mit eleganten Florettfinten und Konterstößen sich diesem Frontalangriff entziehe. Aber da fällt bereits der Gegenstoß. Nur eine Silbe.

Dr. Boyle antwortet: »Ja.«

Eine Bewegung geht auch durch die Zuhörer. Spielt dieser Doktor va banque? Will er bluffen?

Die »Weiße Oberhoheit« läßt die Windmühlenflügel kreisen; man hört förmlich, wie der Mechanismus der Mahlsteine auf Touren kommt, den Mann zu zerpulvern. »Ist das Ihre eigene Meinung«, fragt der Kongreßmann, »oder haben Sie diese Meinung durch Lektüre und den Verkehr mit Ihren Freunden sich erworben?«

»Es ist meine eigene Meinung.«

»Er läßt die Windmühle leerlaufen!« flüstert ein älterer Zuhörer mit einer spiegelnden Glatze und einem grauen Haarkranz zu seinem Nachbarn.

Die »Weiße Oberhoheit«, eine neue Blöße des Gegners witternd, fragt den Doktor: »Sie haben in der Versammlung am Hafen die Industrie unseres Landes und die Regierung beschuldigt, daß sie an dem Koreakrieg ungeheuer verdiene, und daß dies der Grund sei, weshalb die Waffenstillstandsverhandlungen scheiterten. Wollen Sie das leugnen, ja oder nein?«

»Nein.«

»Aus!« flüstert der Zuhörer mit der Glatze.

Aber da fährt der Doktor, der aus seinem Verhandlungsmaterial sich einige Blätter herausgenommen hat, scheinbar ohne Erregung fort: »Nur ist das nicht meine persönliche Meinung; sondern Mr. Charles Wilson, der Chef unsres ›Office of Defense Mobilisation‹, hat Anfang des Jahres vor der Senatskommission erklärt: ›Sollte es zu keinem Kriege kommen, so wird unsere Produktion abfallen. Ich möchte nicht dabeisein.‹«

»Wenn das stimmen sollte«, brüllt jetzt die Weiße Oberhoheit, »aus welchen besonderen Quellen beziehen Sie Ihre Weisheit?«

Dr. Boyle erwidert: »Wenn es Sie interessiert, so beziehe ich meine Weisheit aus einem Pressebericht.«

»Also doch aus jener Presse!« triumphiert der Kongreßmann.

»Jawohl – aus der ›New York Times‹ vom Januar des Jahres.«

Ein Lachen der Zuschauer spritzt aus dem allgemeinen Schmunzeln hoch. Der Vorsitzende der Kommission droht, »bei einer nochmaligen Störung« den Saal räumen zu lassen. Schon hat die ergrimmte Windmühle sich auf einen anderen Punkt umgestellt: »Sie haben in der Versammlung unschuldige Kinder mit Propagandatafeln vor der Rednerbühne postiert. Es waren das – wie festgestellt – solche Kinder, die sich weigerten, die von den Behörden angeordneten Erkennungsmarken zu tragen. Stimmt das? Ja oder nein?«

»Es stimmt.«

»Sind Sie der Meinung, daß diese Kinder den Behörden den Gehorsam verweigern sollen?«

»Ich bin der Meinung, daß es schon ein Verbrechen ist, unter den Erwachsenen Kriegspanik zu erzeugen …«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage!«

»Ich bin ferner der Meinung – vor allem auch als Arzt –, daß es ein noch weit größeres Verbrechen ist, die Nerven von Kindern mit Atombombenfurcht zu verletzen und in Kriegspanik …«

»Ich untersage Ihnen vor dieser Kommission solche Propagandareden!« brüllt die Weiße Hoheit. »Ihre kommunistischen Weisheiten …«

Der kleine Vorsitzende mit den Insektenaugen, der sich bisher behaglich in seinem Armstuhl zurücklehnte, zuckt zusammen, da die rasende Windmühle hier offenbar in seine – des Vorsitzenden – Befugnisse eingreift. Er wirft spitz hin: »Ich denke, wir lassen den Herrn seine Propagandarede zu Ende halten.«

»Ich weiß nicht, ob Sie, meine Herren, alle selbst Kinder haben«, fährt der Doktor jetzt fort. »Ich weiß auch nicht, ob jeder von Ihnen einen jener famosen Clerkschen Stahlbunker besitzt. Jedenfalls, Millionen Menschen unserer Städte besitzen sie nicht. Hunderttausende unsrer Landsleute – das lassen Sie sich von mir als Nervenarzt gesagt sein – leben durch die Luftalarme, durch die unsrer Presse von gewissen Leuten inspirierte Atombombenpanik in einer solchen Furcht, daß die Nervenkliniken und Irrenanstalten in diesem Lande schon nicht mehr ausreichen …«

»Die Gehorsamsverweigerung der Kinder!« mahnt der Vorsitzende.

»Und die Kinder? Man hängt ihnen heute diese Erkennungsmarken um, damit man – wie man offen sagt – die verkohlten kleinen Leichen nachher identifizieren könne. Wie glauben Sie, meine Herren, daß solch eine Erklärung auf die Nerven der Kinder wirkt?«

»Sehr feine Nerven!« wirft die Weiße Hoheit dazwischen.

»Sehr feine Nerven …«, wiederholt der Doktor und sucht in seinem Material einen Zettel, den er endlich findet. »Nun, der Leiter der Abteilung für Volksbildung im Staate New York scheint ebenso kräftige Nerven zu besitzen wie unser hiesiges hochehrbares Kongreßmitglied, wenn er in einem Zirkular über Luftschutz gegen die Atomwaffe in den Schulen schreibt: Diese Übungen müssen zur täglichen angenehmen Beschäftigung werden, genauso wie die Gewohnheit, sich täglich die Zähne zu putzen.«

Ein »Unglaublich!« aus dem Zuhörerraum geht fast unter in dem Getöse der Windmühle: »Genug dieser Hetze! Sie wollen also, Mr. Boyle, daß die unmündigen Schulkinder in Ihre kommunistische Politik hineingezogen werden und gegen die Regierung auftreten?«

»Ich bitte meine Worte nicht zu verdrehen!« entgegnet Dr. Boyle. Ich habe gesagt, daß ich diese Maßnahme einer Behörde verurteile, und ich glaube, daß die Erregung von Kriegspanik bei Kindern entschieden abzulehnen ist!«

Hier aber kontert ihn die Weiße Hoheit mit dem lapidaren Satz: »Nicht, was der Angeschuldigte glaubt oder sagt, ist maßgebend, sondern was wir glauben, das der Angeschuldigte glaubt, ist authentisch.« Die Zuhörer haben sich noch nicht von diesem profunden Satz erholt, da überfällt der Inquisitor den Doktor erneut mit den Worten: »Ich frage Sie also, sind Sie für die Verordnung der Behörden, was die Erkennungsmarken der Schulkinder anlangt, oder dagegen?«

»Dagegen!« antwortet der Doktor.

»Das genügt!« konstatiert die Weiße Hoheit. Dann wiederholt sie noch einmal die Kernfrage: »Woher haben Sie also Ihre Ansichten?«

Dr. Boyle ist in Gedanken noch bei den Kindern. Doch die letzte Frage des Kongreßmannes reißt ihn wieder in den Saal zurück. »Ich bin weder Kapitalist noch Kommunist«, sagt er. »Das Gerede, daß wir eine westliche Freiheit gegen den Osten verteidigen müssen und daß wir mit den Kommunisten keinen Frieden haben können, bedeutet, daß wir überhaupt keinen Frieden haben können.«

Der Kongreßmann hält jetzt den Augenblick für gekommen, dem Opfer den Fanghieb zu versetzen. »Nennen Sie uns also jene Leute, mit denen Sie verkehren, mit denen Sie sprechen, die Sie häufig treffen!«

Der Doktor schweigt.

»Werden Sie uns diese Leute nennen?«

»Ich verweigere die Aussage.«

»Sie wissen, daß Sie hiermit sich wegen Verächtlichmachung des Kongresses strafbar machen?«

»Soviel ich weiß«, entgegnet der Doktor, »besteht noch unsere Verfassung. Der erste Zusatzartikel der Verfassung besagt aber, daß der Kongreß keine Gesetze erlassen soll, welche die Rede- und Pressefreiheit des Volkes beeinträchtigen könnten, auch zwecks Abschaffung eines Mißstandes sich an die Regierung zu wenden. Und ich werde mich jetzt an die Regierung wenden!«

»Ich denke, die Regierung wird sich an Sie wenden!« bemerkt der insektenäugige kleine Vorsitzende nicht ohne Hohn.

Die Presse bringt das Verhör an sichtbarer Stelle. Es ist klar, die Sache geht jetzt an den Staatsanwalt und nimmt ihren üblichen Verlauf. Eine Freiheitsstrafe steht Dr. Boyle bevor.

*

Mrs. Dorothy lebt nach Clerks Tod und dem »Skandal« draußen auf dem Landgut Dealwood. Da die Oktobernebel und Seestürme den Norden schon nicht mehr erträglich machen, beabsichtigt sie, demnächst auf ihre väterliche Farm im Süden zu übersiedeln. Sie möchte auch Old Josh entgehen, der sie mit geschäftlichen Fragen, die für sie überhaupt kein Interesse haben, belästigt und dauernd von ihr Unterschriften verlangt unter Dinge, die sie nicht versteht.

Alles hier ist so widerwärtig.

Auch Oberst Kennedy wird immer schwieriger. Er deutet an, daß die »Roten« hinter ihm sind, daß einer von ihren Agenten eine vielleicht unvorsichtig gemachte Äußerung über die Fliegenden Untertassen der Skandalpresse überbracht habe, und daß man ihn wegen Verrats militärischer Geheimnisse vor Gericht ziehen werde. In einem solchen Augenblick nimmt Kennedy plötzlich seinen Revolver aus der Tasche und fordert von Dorothy bei ihrer Liebe zu ihm, daß sie »ihm folgen solle«.

Mrs. Dorothy ist trotz aller Erregung viel zu nüchtern, um ihrem Key hier auch nur in Gedanken zu »folgen«. Sie bittet Kennedy, ihr »das Spielzeug« einmal in die Hand zu geben. Sobald sie den Revolver hat, geht sie zu ihrem Sekretärschränkchen und schließt ihn dort ein. »Dazu haben wir immer noch Zeit, Liebling«, sagt sie ruhig. »Was dir und mir jetzt nottut, das ist Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe. Wir werden für dich ein ärztliches Zeugnis besorgen, und dann kommst du zu mir nach dem Süden. Deine Dotty läßt ihren Key nicht im Stich! Verstehst du das?« Sie preßt seinen Kopf an ihre starke Brust. Er beginnt zu schluchzen wie ein Kind. Wahrhaftig, dieser Mann ist nahe dem Ende. Auch für ihn muß sie jetzt sorgen, schon daß dieser Skandal nicht zu dem anderen Skandal kommt und die Existenz der Familie nicht völlig ruiniert wird.

*

In jenen Tagen sucht Francis ihre Mutter in Dealwood auf. Mrs. Dorothy empfängt die Tochter unten in der Diele vor dem Kamin, in dem ein helles Feuer brennt; sie trägt über dem Kleid eine Pelzjacke aus Nerz; sie ist sehr weich und mütterlich.

Diese widerliche Skandalpresse, die nur noch Freude am Gemeinen finde, lese sie nicht mehr. Sie habe genug an dem, was auf ihren Schultern laste.

Ob sie – die Mutter – nicht gelesen habe, was Dr. Boyle drohe, der doch ihr Hausarzt war?

»War! War!« erwidert die Mutter.

»Er darf keinesfalls ins Gefängnis!«

»Er hat es sich selbst zuzuschreiben.«

»Weil er die Wahrheit sagte?«

Mrs. Dorothy verzieht eine Gesichtshälfte, als habe sie auf einen Zahnnerv gebissen. Sie nimmt ihren Pelz höher in den Nacken. »Mein Kind«, sagt sie, »du vergißt, daß auch der Doktor Unheil über unsere Familie gebracht hat.«

»Das Unheil begann viel früher«, erwidert Francis beherrscht, »viel früher. Donald brauchte nicht tot zu sein, die kleine Beß nicht …«

»Bitte, laß das!«

»Dadurch wird doch nichts anders, Mutter! Du hast gute Nerven, Mutter; aber es ist dir peinlich, das zu hören, einfach unangenehm; so frißt es weiter. Und das nächste Mal, was wirst du bei dem nächsten Skandal sagen?«

»Mein Gott, was sagst du da? Was weißt du, Kind?« Sie hat erregt Francis zu sich gezogen. Die Tochter hockt jetzt vor ihr im Schein der glimmenden Glut des Kamins. »Was weißt du?«

»Ich weiß, Mutter, daß es damit nicht zu Ende ist. Die Wahrheit kann man nicht begraben. Auch nicht ins Wasser werfen oder überfahren lassen …«

»Francis, bist du toll?!«

»Ich bin ganz ruhig, Mutter.« Sie hat jetzt im Hocken sich zu ihrer Mutter gewandt, ihre Knie umfaßt und schaut kindlich in dieses verstörte, plötzlich gealterte, verfallene fleischige Gesicht, das sie anstarrt. »Du hast einmal gesagt, Mutter, noch vor Vaters Tod, man könne auch mit der Wahrheit lügen. Ich habe mich mit diesem Satz herumgequält, Mutter – deshalb weiß ich ihn noch so genau –, ob man nicht, um einen lieben Menschen oder einen Verwandten zu schützen, eine Wahrheit verschweigen und totsagen müsse? Ich finde, es ist umsonst. Das kommt noch aus der Erde hervor und tritt, wie man sagt, sogar in das Schlafzimmer.«

»Hast du denn nach alldem kein Gefühl mehr für deine Mutter?«

»So nicht.«

Beide schweigen. Da ist eine schreckliche Kluft. Dazwischen liegt Unverstehen, Fremdheit, Trennung. Kein Übergang. Keine Verbindung mehr mit dem eigenen Kind. »Also deine Familie ist dir nichts, Francis? Wo nur du und ich noch übrig sind?«

Francis schweigt. Ein furchtbarer Schmerz bohrt in ihr. Doch sie kämpft dagegen.

»Und was für ein neuer Skandal?« fragt die Mutter.

»Ich möchte ihn vermeiden.«

»Wie?«

»Man muß dem Doktor helfen, Mutter! Er darf nicht ins Gefängnis! Ich weiß, Mutter, wir haben die Möglichkeit, durch große Anwälte und Kongreßmitglieder Einfluß zu nehmen …«

»Und die Menschen noch mehr aufmerksam zu machen auf den Skandal?«

»Skandal! Skandal!« Francis ist aufgesprungen. »Wenn du ihn absolut haben willst …«

Auch Mrs. Dorothy steht jetzt da. Sie hält die Tochter an den Schultern und schaut ihr mit einem zynischen Blick in die Augen: »Wenn du um deinen Geliebten kämpfst, Francis, dann sage wenigstens die Wahrheit!«

Francis hält dem Blick stand. »Auch das – falls du es so besser verstehst, Mutter. Aber die Wahrheit ist: Das andere ist wichtiger.«

Die Mutter lacht auf. Es ist ein furchtbares Lachen, der furchtbarste Laut von Menschen, den Francis bisher hörte. Vielleicht lacht so eine Dirne, wenn sie glaubt, eine jüngere übertrumpft zu haben.

Francis wendet sich schnell und rennt hinauf in ihr Zimmer.

Plötzlich überfällt die Mutter eine schreckliche Angst. Der Skandal! Ein neuer Skandal! Wenn Francis offen für diesen Doktor eintritt? In aller Öffentlichkeit? Und die Zeitungen! Die Zeitungen! Sie eilt hinauf, pocht gegen Francis' verschlossene Tür: »Mach auf, Francis! Ich habe mit dir zu reden! So mach doch auf, Kind! Willst du denn alles zerstören?«

 

44. Um die fliegenden Untertassen. Gene besucht Jeff.

In diesen Tagen nach dem Dienst ruft der Colonel Kennedy den Oberfunker Gene zu sich in sein Zimmer. Da es schon spät am Abend ist, sind die Stabstelefonisten und Ordonnanzen bereits fort. Der ganze Verkehr ist auf die Nachrichtenzentrale und den Funkdienst umgestellt.

Gene bemerkt sogleich, daß Kennedy seine Erregung unter dem Deckmantel einer jovialen Freundlichkeit zu verbergen sucht. Er scheint in einer ganz anderen Verfassung zu sein als damals, da Gene seine Entlassung einreichte und der Colonel in seiner Bestürzung sich so weit vergaß, daß er noch mehr von dem Geheimnis der Untertassen preisgab. Heute hat Kennedy offenbar wieder die Kontrolle über seine Nerven. Er bietet Gene auch keine Zigaretten an, um nicht gewisse Erinnerungen zu erwecken; sondern er begnügt sich vorerst mit einem Scotch Whisky. Es ist klar, daß er auf irgend etwas lossteuert.

Kennedy behauptet, einmal offen mit Gene als altem Frontsoldaten sprechen zu wollen. Die Pressemeute habe ihnen allen ja einen netten Salat angerührt. Wegen dieser lächerlichen Untertassen. Was sei schon dabei? Überall gebe es Deckworte. Bei dem Unternehmen »Kathedrale« sei das nicht anders gewesen wie bei dem deutschen »Seelöwen« und »Barbarossa«. Aber diese Wichtigtuer in der Atomstadt Oak-Ridge und die Stratosphärenkitzler in Nevada müßten natürlich durch den Geheimspuk ihre kostbare Existenz begründen und die einfachen Menschen, die wirklich selbst flögen oder auf den Flugplätzen arbeiteten, schikanieren.

Kennedy macht hier eine kleine Kunstpause. Er kann doch nicht umhin, noch eine Flasche Curaçao ins Gebet zu nehmen. Er selbst merkt wohl nicht, wie seine knochige Hand mit den hervortretenden Adersträngen und den blauroten Nägeln zittert.

Gene hält noch zwei Gläser mit. Wann wird der Oberst die Katze aus dem Sack lassen?

Was er damals Gene gesagt habe im Marihuanadusel, das sei es nicht, das seien alles Dummheiten. Es habe sich herausgestellt, daß die Untersuchung von einem ganz anderen Punkt ausgehe. Ob er das wisse? – Kennedy schaut Gene mit merkwürdig lächelnden Augen an, wobei die Pupillen wieder zu »tanzen« scheinen und um seinen Mund ein verlegenes Grinsen zuckt. Der Verdacht habe sich nämlich jetzt auf F. 8 als Ausgangspunkt der Gerüchte konzentriert, auf den Negergefreiten und Captain Ferry, von dem auf jener Versammlung gesprochen worden sei.

Was ist das? In jener Versammlung von Jeff, dem Neger? Unmöglich! Diese Personen wurden nicht genannt! Oder hat er, da er immer wieder Adda beobachtete, nicht hingehört? Dennoch – unmöglich! Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Gläser klirren. Unmöglich!

»Was haben Sie?« fragt der Colonel mit einem seltsamen Lächeln. »Sie stehen doch mit F. 8 und jenem Neger in keiner Verbindung? Oder? Jedenfalls seien wir zufrieden, daß wir hier uns aus diesen Dummheiten heraushalten können. Wir beide haben nichts damit zu tun; verstanden, Stevens?« Er stößt mit seinem Glas gegen das von Gene.

»Auch der Neger hat damit nichts zu tun!« platzt Gene heraus. Das also war es! Sich selbst reinwaschen und den andern in den Dreck stoßen.

»Hände weg von faulen Fischen!« warnt jetzt der Colonel. »Ich meine es gut mit Ihnen, Gene!« Das letzte kommt fast schon drohend.

Gene sitzt wortlos da und brütet. Das ist für ihn ein unerwarteter Schlag unter die Gürtellinie. Man wird sich also an Jeff halten. Gewiß, jetzt im Koreakrieg braucht man die Neger; die Farblinie wird verwischt. Aber Jeff ist bloß ein Gefreiter, und der Captain von F. 8 und Colonel Kennedy sind Offiziere. Die Untersuchung wird sich auf Jeff konzentrieren. Und auf ihn – Gene. Denn es kann bei genauer Untersuchung nicht verborgen bleiben, daß er mit dem Korporal den Negergefreiten von F. 8 aufsuchte, und daß der Neger bei ihm hier auf dem Zivilflugplatz war. Natürlich kann er mit Hilfe Kennedys, so wie dieser es ihm eben nahelegte, Mimikry machen und seinen Kopf aus der Schlinge ziehn. Vor der Wahrheit fliehen.

Plötzlich muß er an Adda denken.

Der Colonel hat den Nachdenkenden beobachtet. Es dauert ihm zu lange. Er meint: »Sie wissen, Gene, in solchen Dingen versteht man bei uns keinen Spaß.«

Gene schaut auf, er sieht dem Colonel in die Augen. »Ich weiß das, Colonel Kennedy«, erwidert er förmlich. »Und darum kann man auch jenen Gefreiten von F. 8 nicht im Stich lassen.«

»Wie?«

»Ich denke, wir vier treiben auf einer Planke.«

»Und wenn die Planke nur drei trägt?«

»Das gibt es nicht!« sagt Gene heftig.

»Das gibt es, mein Freund.«

»Würden Sie, Colonel, wenn der vierte abgerutscht ist, ihn nicht an den Haaren packen und wieder hinaufziehen – ihm sogar nachspringen, ihn zu retten?«

Wieder verklemmt jenes verlegene Lächeln Kennedys Mund. Dann erklärt er: »Wie Sie wollen, Gene.«

Gene erhebt sich. Er glaubt, in diesem Raum ersticken zu müssen. Er weiß, es ist keine Zeit zu verlieren. Er ist entschlossen. Der Colonel spürt diese Entschlossenheit. Wenn dieser Bursche, dessen Zähigkeit er von der Front her kennt, als er, selbst verwundet, ihn – den damaligen Major – einen Tag und eine Nacht durch die verschneiten Ardennen schleppte, wenn Gene jetzt Dummheiten macht und in der Untersuchung ihn dann mit hineinzieht … verdammt, so geht das nicht.

»Gene«, sagt Kennedy und faßt ihn an den Schultern, »ich verstehe Ihre Empfindung, wenn ich sie auch nicht teile; aber schließlich hat jeder seine eigene Anschauung. Bloß, wem nützt es, wenn Sie jahrelang in der besten Zeit Ihres Lebens hinter Gittern sitzen? Es gibt für Sie jetzt nur eines: Sie müssen weg! Weg von hier! Und zwar bald! Wie und wohin, das weiß ich noch nicht.«

Beide Männer sehen sich schweigend an. In Kennedys von winzigen roten Äderchen durchzogenen Augäpfeln tanzen inmitten der Iris wieder die Pupillen. »Sie haben mich einmal gerettet, Gene«, sagt der Colonel, »vielleicht kann ich Ihnen jetzt helfen, unsichtbar zu werden; dann sind wir quitt.« Er gibt Gene die Hand, eine von kaltem Schweiß feuchte Hand. »Nur eines, Gene, machen Sie jetzt keine Dummheiten!«

*

Gene sitzt in seiner Bude. Er überlegt: Heute ist Freitag abend. Morgen früh – Sonnabend – beginnt mein Tagesdienst. Am Weekend und Sonntag werden die meisten Offiziere und auch Jeff in F. 8 nicht zu treffen sein. Aber wie der Colonel andeutete, steht die Sache jetzt auf Spitz und Knopf. Am Montag beginnt vielleicht schon das Spezialverhör gegen Jeff, den man dann in Untersuchungshaft nimmt? Er – Gene – könnte sich nach Kennedys Vorschlag hinter den beiden Offizieren decken. Nein, nein, nein! Auch ohne Adda, nein! Diesen Negergefreiten, diesen ihm so vertrauenden Menschen, der ihn auf den Wahrheitspfad brachte, preisgeben – nein! Was also? Den Neger warnen und fliehen? Wohin? Und wie? Montag früh sein Geld von der Bank abheben, in irgendeiner andern Großstadt untertauchen und dann nach Mexiko oder Südamerika mit einem falschen Paß?

Und was wird Jeff tun? Wird er mit ihm fliehen?

Oder sollen sie versuchen, dem gewaltigen militärischen Apparat durch Aussagen der Wahrheit über den Fall Clerk und diesen Untertassenschwindel die Stirn zu bieten? Was wird dann? Kein Zweifel. Jahrelange Haft, vielleicht in einem der Zuchthäuser, dem seine Gesundheit nicht wird widerstehen können. Also, lebt wohl, ihr Freunde in Ohm Ernests Haus! Leb wohl, Adda!

Eines aber ist sicher: Man muß Jeff warnen! Und einmal vor dem Abgrund stehend, muß man springen – springen auf jede Gefahr!

So macht also Gene noch an diesem Abend trotz der Warnung Kennedys doch »Dummheiten«. Er fährt mit seinem Motorrad nach F.8. Er hat Glück. (Oder Unglück?) Er trifft Jeff wieder in der großen Sammelgarage. Sie setzen sich in den Führersitz eines der hinteren Lastwagen, schließen die Tür und sind ganz für sich. Kurz und unverblümt erklärt Gene die Lage. Jeff scheint nicht entsetzt. Obschon er nicht vorbereitet ist auf das, was sich über ihm zusammenzieht, hat er in sich einen wirksamen Standpunkt, der ihn die Dinge ruhig betrachten läßt. Man muß der Wahrheit – oder Gott, wie Jeff immer wieder sich ausdrückt – helfen, daß die Wahrheit nicht begraben wird.

Gene ist hier einer Meinung mit dem Negerkameraden. Nur fragt er sich, ob es der Wahrheit nütze, wenn, wie in diesem Falle, zwei entschlossene Wahrheitswisser in Militärzuchthäusern stumm gemacht würden?

Was das bedeute? fragt Jeff; seine weißen Augäpfel richten sich in der Dunkelheit auf den Freund. Gene entwickelt nicht ganz überzeugt seinen gemeinsamen Fluchtplan.

Jeff schweigt.

Gene kann das Gesicht des Kameraden jetzt nicht erkennen; er hat es gesenkt oder zur Seite gewandt. Gene legt seinen Arm um Jeffs Schulter.

Der sagt leise: »Man kann doch nicht immer wieder vor dem Bösen und der Lüge fliehen. Man muß dem andern zu Hilfe kommen, wenn er allein damit nicht fertig wird. Ich denke, man muß Gott und der Wahrheit zu Hilfe kommen.«

Dennoch finden sie keinen endgültigen Entschluß. Das heißt, der Negergefreite kann und will nicht fliehen. Er hat hier auch seine Mutter und seine kleinen Geschwister.

Dann sagt Gene plötzlich: »Ich werde mit dem Captain sprechen.«

»Mit Captain Ferry?« fragt Jeff jetzt erschrocken.

»Ich habe mich an der Front nicht gefürchtet; ich nehme auch diese Sache auf mich«, erwidert Gene. »Es ist unsre letzte Chance.«

Statt einer Antwort spürt Gene, wie Jeff ihn an sich zieht und ihn umarmt. »Du mußt das tun, was in dir ist«, sagt er.

 

45. Gene stellt Captain Ferry. Nochmals der Fall Clerk.

Es ist gegen 23 Uhr, als der Captain aus der Offiziersmesse kommt. Gene hat ihn, neben seinem Motorrad stehend, vor der Wohnung, die Jeff ihm bezeichnete, erwartet. Da Gene zu einem Militärflugplatz fuhr, hat er seine Ordensspange angelegt, schon um das Gefrage der Posten etwas abzukürzen.

»In dienstlicher Angelegenheit?« fragt der Captain.

»Auch in dienstlicher Angelegenheit«, antwortet Gene.

»Kommen Sie!«

In dem hellen Zimmer wirft der Captain einen Blick auf den Oberfunker. Ein Mann der Front mit vielen Auszeichnungen und einem klaren, etwas abgezehrten, vielleicht leidenden Gesicht, aber kühlen, entschlossenen Augen. – »Nehmen Sie Platz!« Er holt Whisky und Zigaretten. Ein Mann, der um diese Zeit kommt, hat etwas zu sagen. »Was gibt es?«

Gene berichtet von seinem Gespräch mit Colonel Kennedy, allerdings nichts von seiner eigenen persönlichen Meinung, sondern nur Kennedys Worte über den bestimmten »Fall«.

Der Captain hört mit äußerster Aufmerksamkeit zu und sucht in Genes Gesicht mehr zu lesen. Das also ist der vierte Mann? Das heißt: der dritte, der sich mit ihnen, den Offizieren, aus der Sache heraushalten soll. Kennedy hat ihm bereits über den früheren ausgezeichneten Fliegerfunker und Kameraden berichtet. Ja, diesem Burschen kann man einiges zutrauen und anvertrauen; mit solch einem Begleitmann würde er sofort auch heute noch einen Feindflug fliegen. »Und wie denken Sie?« fragt der Captain.

Das ist der Moment vor dem Absprung über die Schlucht. Man muß tief Luft holen, die Augen schließen und dann hinüber! Nein, in diesem Fall muß man die Augen offenhalten und dem andern ins Schwarze sehen. »Ich denke«, antwortet Gene, »wir sitzen in einem Boot und dürfen den Gefreiten nicht über Bord gehen lassen.«

Was ist denn das? denkt der Captain. Er drückt seine Zigarette aus und zündet eine neue an. Dann meint er, ohne Erregung in der Stimme: »Also alle vier über Bord?«

»Danach haben wir im Flugzeug auch nicht gefragt, Captain.«

»Der Vergleich hinkt. Wir sind hier nicht im Krieg.«

Gene liegt eine gefährliche Antwort auf der Zunge – daß sie auch hier im Kriege sind. Aber er verbeißt sich die Antwort.

»Hören Sie, Oberfunker«, fährt der Captain fort. »Ich habe als Soldat nicht weniger Verständnis für Kameradschaft als Sie, das dürfen Sie mir glauben. Aber in diesem Fall liegt nun einmal eine verdammte Preisgabe militärischer Geheimnisse vor, und es begann damit, daß dieser Jeff als erster die Sache mit den Fliegenden Untertassen an Sie verquatschte.«

»Verzeihung, Captain, daß ich etwas richtig stelle«, erwidert Gene, »der Negergefreite hat mir – aus seinem religiösen Gewissen heraus – lediglich von jener Nacht berichtet, in der man das tote junge Mädchen hier in dem Hause fand, und wo man …«

»Dieses schwarze Schwein!« Der Captain ist aufgesprungen. Er hat die Zigarette weggeworfen und sich in seiner gedrungenen Gestalt vor Gene aufgebaut. »Und Sie finden das in Ordnung«, fährt er los, »und kolportieren interne Dinge nach draußen, daß die Roten sie in ihren Versammlungen ausnutzen!«

»Können wir nicht ruhiger sprechen?« meint Gene.

Der Captain merkt, daß seine Nerven ihm durchgingen und daß er dem Mann gegenüber sich eine Blöße gab. »Na also – was weiter?«

»Ich sagte«, fährt Gene ruhig fort, »das sind zweierlei Dinge: die Sache mit dem Mädchen und die mit den Fliegenden Untertassen. Vielleicht gehören sie auch zusammen. Aber das interessiert im Augenblick nicht.«

»Nein, das interessiert nicht«, wiederholt der Captain, angespannt nachdenkend, wie man diesem kühlen und gewiß verwegenen Burschen an den Nerv kann.

»Also das mit dem Mädchen, Captain, erfuhr ich von dem Gefreiten …«

»Alles?«

»Ich nehme es an.«

»Weiter!«

»Und was es mit jenen geheimnisvollen Untertassen auf sich hat, erfuhr ich von Colonel Kennedy.«

»Das hat er Ihnen berichtet?«

»Berichtet – nein. Aber Sie kennen vielleicht des Colonels Vorliebe für Alkohol und Marihuana. Sehen Sie, so erfuhr ich vieles ganz unfreiwillig. Und ich sage das Ihnen, Captain, nicht um den Colonel hineinzuziehen, sondern ich bin zu Ihnen, Captain, so spät in der Nacht gekommen, damit nicht noch mehr Menschen durch diese Sache Schaden erleiden.«

»Noch mehr Menschen – das heißt der Neger?«

»In diesem Fall der Neger.«

»Sehr menschenfreundlich von Ihnen, Oberfunker«, wirft der Captain hin und seine Stimme kippt fast um von unterdrücktem Hohn, »aber ich vermute, Sie kommen da zu spät.«

»Zu spät?!« Gene ist aufgesprungen. »Sie haben den Neger preisgegeben? Sie haben also …«

»Wer erlaubt Ihnen solchen Ton, Oberfunker, gegenüber einem Offizier?« schneidet ihm der Captain das Wort.

Doch Gene, nicht mehr an sich haltend: »Sie haben bereits etwas zu Protokoll gegeben, Captain, über den Gefreiten? Sie wollen noch einen Menschen opfern wegen dieses Schwindels?«

Der Captain hat sich ebenfalls erhoben. Er steht jetzt Brust an Brust vor Gene: »Wollen Sie bitte jenen Satz noch einmal wiederholen, Oberfunker? Ich meine den Satz von dem … Schwindel?«

Gene schaut fest in die Augen des Gegenübers. Aber dieses Auge ist plötzlich undurchdringlich wie das stumpfe Achatauge eines Reptils. Dennoch fixiert Gene dessen Blick, ihm schon ruhiger entgegnend: »Dieser Schwindel mit den Fliegenden Untertassen, dieses Erzeugen einer Kriegspanik kann zu etwas Furchtbarem und Unwiderruflichem führen, Captain, das uns mehr kosten wird als der Koreakrieg.«

» Das also ist es?«

Gene spürt den Atem des anderen. Die Entscheidung ist gefallen. Ihm ist leichter.

»So also sehen Sie dieses militärische Geheimnis zur Verteidigung unsres Landes?« fragt der Captain.

»Ich sehe hier keinen Sinn für unser Land, sondern nur einen gefährlichen Betrug gegen unser Land!«

»Ich verstehe, woher Sie das haben«, sagt der Captain, ebenfalls erleichtert, weil er diesen tolldreisten Burschen jetzt in der Hand hat; er macht ein paar entspannende Schritte im Zimmer und kehrt zu Gene zurück. »Also – diese Sache mit den Untertassen nennen Sie einen gefährlichen Betrug gegen unser Land? Werden Sie den Mut haben, Ihre Meinung vor Gericht zu wiederholen?«

»In Ihrer Anwesenheit, Captain.«

»Natürlich in meiner Anwesenheit! Was denn sonst?«

»Und mit der Begründung«, entgegnet Gene beherrscht, »daß dieser Betrug mit den Fliegenden Untertassen und der ganzen Panikmacherei bereits jetzt hier die ersten Kriegsopfer kostete: von den Toten in der U-Bahn über den Fliegermajor Clerk und das Mädchen bis zu jenem Automonteur Lee und schließlich auch dem alten Mr. Clerk …«

»Den Fall Clerk werden Sie in die Verhandlung nicht mit hineinbringen!« faucht der Captain ihn an, während er das Gefühl hat, als ob der Boden unter ihm schaukle. »Das wird Ihnen nicht gelingen, weil das mit der Sache nichts zu tun hat.«

»Der Fall Clerk hat sogar viel mit der Sache zu tun«, bemerkt Gene, »und Ihre Anwesenheit im Falle einer Verhandlung ist dringend notwendig, Captain, weil gerade Sie zur Aufklärung der Sache beitragen können.«

»Überlegen Sie sich das Ganze nochmals genau, Oberfunker!« sagt der Captain.

»Ich denke, ich habe es mir überlegt, Captain.«

 

Wie Genes Motorrad draußen davonbraust, nimmt der Captain die Gläser vom Tisch und wirft sie gegen die Wand. Er pfeffert die Flaschen hinterdrein. »Kommunistenpack!«

Soll einer diese Burschen verstehn und mit ihnen fertig werden!


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