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Neuntes Kapitel

 

21. Die Versammlung am Hafen! »Rank and File« entlarvt Provokateure.

Ein Spätsommerabend Ende August. Ein warmer, wunderbarer Abend am Hafen. Und Weekend.

Aus den Dutzenden Kneipen, Cafeterias und Restaurants dringt durch die offenen Fenster und Türen mit ihren Glasperlenvorhängen Lärm, Gesang, Musik und Tanz. Die Lokale sind überfüllt. Vor vier Stunden war Löhnung. Alles Leben des vitalsten Teils dieses Millionenorganismus – der Unterstadt und des Hafens – konzentriert sich auf die wenigen Abend- und Nachtstunden des Weekend.

An diesem Augustabend liegt eine seltsame Zwielichtstimmung über den Gäßchen und Straßen des Hafenviertels. Gewiß – Lärm, Tanz, Musik wie je. Auch die Mädchen sind da und die schon in anderen Sphären schwebenden oder roulierenden Matrosen, Kohlentrimmer, Schauerleute, Händler und Hilfsarbeiter aller Sprachen und Zonen. Aber in einer der Gassen bei der »White Rose« lümmeln sich an den Ecken schattenhafte Gestalten, die nicht wie die anderen über den »Äquator rollen«, vielmehr magnetisch an ihrem Pol festkleben. Zudem rücken ganze Gruppen Schauerleute zu einem Lokal, wo man in den offenen Fenstern des Ballrooms die breiten Rücken der Dockers sieht, deren Gesicht offenbar interessiert einem Punkt des Tanzsaales zugewendet ist, obschon aus diesem Saal keine Musik dringt. Dafür stehen am Eingang drei bis vier Zettelverteiler des »rank and file«-Komitees mit Plakaten vor der Brust und mit Flugblättern in den Händen neben Traktätchenverkäufern der Heilsarmee und anderer Sekten, die sich stets jede Menschenansammlung zunutze machen, hier aber wenig Glück zu haben scheinen. Denn vor dem Versammlungslokal der Schauerleute wird nur das Flugblatt des Komitees genommen und eifrig diskutiert. Es heißt darin:

 

Schauerleute vom Pier 59 und vom Hafen des Eastriver! Wieder gab es in den letzten Wochen drei schwere Unfälle! Wie lange noch? Soll alles beim alten bleiben? Nein! Man muß sich gegen die mangelnde Sicherheit beim Löschen der Ladung zur Wehr setzen. Und gegen die Antreibermethoden. Man muß sich zur Wehr setzen gegen das Günstlingssystem von King Joe, der seiner Garde der Favorites dauernde und bequeme Arbeit garantiert, uns anderen jedoch nach Belieben Bettelbrocken hinwerfen läßt. Wir alle sind gleich nach der Konstitution der Staaten. Daher fordern wir:

  1. Eine Garantie für achtstündige Arbeit bei der Fünftagewoche.
  2. Eine Lohnzulage von 25 Cents die Stunde mit Rücksicht auf die steigenden Preise.
  3. Kontrolle und Verbesserung der Sicherheitseinrichtungen an den Arbeitsplätzen.

Kollegen! Erinnern wir uns, wie vor kurzem die Mitglieder der Nationalen Seemannsgewerkschaft der West- und Golfküste, ferner die amerikanische Radiogewerkschaft, die Union der Schiffsmaschinisten mit insgesamt 80 000 Mitgliedern mit ihrer Forderung einer fünfundzwanzigprozentigen Lohnerhöhung einen Erfolg erzielten. Sind wir einig, so wird der Erfolg auch auf unsrer Seite sein.

 

Kommt alle zur Versammlung!

 

Drinnen in dem engen Ballsaal drängen sich zwei- bis dreihundert Schauerleute, nur die wenigsten an kleinen Tischen sitzend, die meisten stehend oder das niedere Podium, das sonst der Musikkapelle gehört, umlagernd. Alle haben bei der großen Hitze ihre Jacken ausgezogen, sofern sie nicht schon ohne Jacken kamen. Es sind da vorwiegend Männer mittleren Alters, von verschiedener Hautfarbe, Weiße und Neger, massive, muskulöse Gestalten, viele Weiße mit aufregenden Tätowierungen auf den Armen, so wie die Seeleute sie von den Spezialisten in Honolulu und Manila sich einsticheln lassen, alle mit aufmerksam gespannten Gesichtern.

Gerade hat einer der Kollegen in kurzer Rede an Hand des Flugblatts dargelegt, wie der Lohnstopp, der durch das Taft-Hartley-Antistreikgesetz faktisch eingetreten sei, durchaus nicht einem Preisstopp entspreche, sondern wie die Preise munter emporklettern, die Löhne aber die gleichen bleiben, das heißt als Reallohn sogar fallen.

Zuruf: »Dabei hast du oft nur drei Tage Arbeit …«

Und weitere Rufe: »Stimmt … die Favorites, diese Bankerte von King Joe …«

Noch einer: »Am liebsten machten sie aus uns allen Rekruten …«

Wieder ein anderer: »Laßt die Politik aus dem Spiel!«

Noch einer: »Tom Duffy ausreden lassen!«

Auch der Redner Tom Duffy, ein breitschultriger, massiver Mann von etwa vierzig Jahren mit einer Stirnglatze und einem rötlichen Haarkranz, bittet, ihm doch noch zehn Minuten zuzuhören. Er hat sich auf dem Flugblatt einige Punkte notiert, die er gelegentlich zu Rate zieht. An seinem rechten nackten Unterarm ist eine mindestens zwanzig Zentimeter lange breite rote Narbe sichtbar, die seine dort eingeätzte Tätowierung aufteilt. Beides legitimiert Tom in der Versammlung der Schauerleute sofort als einen der Ihren und schafft Vertrauen. Zudem scheint dieser Mann kein Heißsporn oder Radikaler zu sein. Er spricht ohne Übereilung wie ein Vater zu seinen erwachsenen Söhnen. Fast pedantisch geht er die einzelnen Punkte durch und läßt sich durch die Zwischenrufe nicht irritieren. Jetzt legt er dar, wie die ganze Lohnfrage nur dann einen Sinn bekomme, wenn man sie gleichzeitig mit der Garantie der Achtstundenarbeit verbinde.

Wieder Zwischenrufe der erregten Dockers: »Schön gesagt! Aber was willst du machen, wenn King Joe mit seinen Goldjungen …«

»Mit diesen Filzläusen wird man schon fertig …«

»Und wenn die Stewards mit dem Boß unter einer Decke stecken?«

»Weg mit ihnen!«

»Vor allem mit King Joe, dem Gangster!«

»Jawohl, man muß ihm an den Kragen!« ruft ein Schauermann mit einer mächtigen Nase, die vorn noch zwei kleinere Nebennasen geknospet hat. Es ist Cucumber, »die Gurke«, von der White Rose Bar. Er hat gerade die Forderungen des »rank and file«-Komitees durchgelesen und vertieft sich jetzt in ein Flugblatt des Negro Labor Council, des Rates der Negerarbeiter, das ihm durch Honeycut von einem Nebentisch herübergereicht wurde.

In diesem Flugblatt werden die Negerschauerleute aufgefordert, sich im Falle eines Streiks mit ihren Kollegen solidarisch zu erklären und zugleich dagegen Front zu machen, daß die schmutzigste und schwerste Arbeit meist grade ihnen aufgebürdet würde. Sie sollten hier im Hafen in der Arbeit wie in der Behandlung unbedingte Gleichberechtigung fordern. Auch das gehöre zum Befreiungskampf der Neger. Keinesfalls aber dürften sie Streikbrecherdienste leisten.

Cucumber nickt nach dem Lesen Honeycut und Mark, dem schwarzen Athleten, beifällig zu; er glättet das Blatt sorgsam, gibt es zum nächsten Tisch weiter und meint: »Das soll sich King Joe mal hintern Spiegel stecken!«

»Richtig, das ist der Punkt!« sagt hinter ihnen ein hageldürrer, langer Vierziger, der herübergelinst hat und sein Jackett überm Arm trägt. »Mit der Spitze muß man anfangen!« Er sagt das wie für sich, und doch so, daß die drei am Tisch es hören.

»Setz dich, Kollege!« Die Gurke macht ihm eine Stuhlecke frei.

»Reden haben wir genug gehalten!« erklärt der Lange, der seine Heuschreckenbeine im Sitzen hochzieht. »Ich wette, nachher wird man wieder eine Entschließung einbringen mit einem Gesuch an die Union, dies und jenes zu bewilligen.«

»Und wozu bist du hergekommen?« fragt Mark.

»Daß nicht bloß geredet wird!« erklärt der Heuschreck.

»Was also soll geschehn?« meint Honeycut.

Und andere dagegen: »Ruhe! Könnt euch ja nachher zu Wort melden!«

Tom Duffy auf dem Podium ist am Schluß. Tatsächlich hat er darauf hingewiesen, daß man eine an die Gewerkschaft gerichtete Resolution einbringen müsse.

»Wette gewonnen!« sagt Cucumber zu dem Heuschreck.

Der nickt überlegen.

Es melden sich sofort eine Anzahl Diskussionsredner. Jeder bringt einen besonderen Fall – seinen Fall – aufs Tapet: farbige Schauerleute bekamen Krach mit dem Schiffsoffizier wegen der vereinbarten Schmutzzulage, wobei der Betriebsobmann der Gewerkschaft sich drückte … oder aber der Heuerboß ließ zwei frühere Matrosen, die »Stimmung gegen den Koreakrieg machten«, bei der Arbeitszuteilung mit seinem verdammten »I got enough!« absausen … dann wieder Unfälle durch die Antreiberei der Lieutenants, die an dem höllischen Ladetempo mitverdienen, als ob sie mit dem Kickback und den Bestechungsdollars ihrer Günstlinge nicht schon genug in den Rachen bekämen!

Das prasselt wie Hagelschlag auf ein Wellblechdach.

Jetzt tritt ein jüngerer, mahagonibrauner Docker auf, mit einem stark südlichen Akzent. Er stellt sich als Kollege des tödlich verunglückten Kirk Babcock vor, dessen Witwe aus Gnade 20 Dollar monatlich von der Contracting Corporation für ein halbes Jahr erhalte.

»Der reinste Hohn!«

»Was sagt die Gewerkschaft?«

Der junge Docker: »Die Untersuchung habe Selbstverschulden ergeben.«

»Selbstverschulden!?« Wildes, kampfbereites Gelächter. »Soll der Boß sich doch mal unten hinstellen, wenn der Pilot mit den schweren Kisten über ihm wackelt …«

»Und der Wrenchman winkt: Pilot down! Und die Lieutenants wie die irren Affen brüllen: Come on! Come on …«

»Das muß mit in die Resolution …«

»Volle Rente für Kirks Witwe. – Das muß die Union fordern. – Auch für Charly von vorgestern. – Komm herauf, Charly!« ruft es jetzt von allen Seiten. »Zeig dein Naphthagesicht!«

Charly, blaß wie das Leiden Christi, steigt aufs Podium.

»Ich denke, wir setzen die einzelnen Fälle als Beweismaterial in eine Anlage«, erklärt der Versammlungsleiter, der sich die ganze Zeit mit einem kleinen rundlichen Mann in einem Leinenjackett unterhalten hat. »Mr. Roy von der Hafenarbeiter-Assoziation in der A.F.L. wird ein Wort dazu sagen.«

Der Funktionär Roy wischt sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken und von der Stirn, wobei er auch seine dünnen, schweißverklebten Haare zur Seite streicht. »Kollegen«, beginnt er, »eure Ausführungen waren für mich verdammt instruktiv. Sie sind nicht die einzigen in den letzten Wochen. Die Gewerkschaft wird sie gewissenhaft prüfen und die Konsequenzen daraus ziehn …«

»Gewissenhaft prüfen … noch vor Weihnachten?« ruft man ihm zu.

»So kommen wir doch nicht weiter, Kollegen!«

»Was habt ihr für Kirks Witwe getan? – Wann gibt's 'ne Kontrolle der Sicherungen? – Was wird mit den Favorites und den Lieutenants?«

Der Gewerkschaftsmann kneift seine Augen zusammen und antwortet: »Wir werden sie alle wegjagen oder wegen fahrlässiger Körperverletzung dem Gericht übergeben – die Lieutenants, die Favorites, und natürlich auch den Boß! Seid ihr damit einverstanden?« Und die Wirkung dieses bluffenden blutigen Hohns auf die »Radikalen« auskostend, fährt er fort: »Wollt ihr heute die Wurst aufs Brot oder die Weihnachtsgans im nächsten Jahr? Ich denke, wir verlangen erst mal das Mögliche, die 25 Cents Stundenzulage …«

»Die Achtstundengarantie …«

»Die Sicherung bei der Arbeit …«

Der Funktionär erhebt beschwörend beide Hände: »Eins nach dem andern, Kollegen!«

»Eins nach dem andern?« wirft jetzt Tom Duffy von der »rank and file« dazwischen. »Eins nach dem andern – das heißt: keins!«

»Bravo! – Jetzt sollen die Bosse Farbe bekennen! – Die faulen Pflaumen und die Kompromisse mit der A.F.L.-Soße muß man in den Dreckeimer schütten! Harry Bridge hat uns an der Westküste gezeigt, wie man's macht …«

»Dafür sitzt er jetzt im Bunker!« ruft der Heuschreck dazwischen.

»Er sitzt im Bunker dank Mr. Taft und Hartley«, meldet sich jetzt Honeycut und steht auf. »Er sitzt im Bunker für die weißen und die schwarzen Kollegen; ist das vielleicht 'ne Schande? 'ne Ehre ist's!« fährt der alte Neger jetzt los. »'ne Ehre! Und der Streik war damals ein Sieg für Schwarz-Weiß. Und auch wir hier müssen zu unseren Forderungen stehn!«

»Wenn die Corporation ablehnt …«

»Dann Streik – wie die an der Westküste. – Kein Mann mehr auf die Schiffe!«

»Umgekehrt, Kollegen, umgekehrt!«

Alle drehen sich nach dem Tischchen, an dem die Gurke und der Heuschreck sitzen. Das heißt, der Heuschreck hat sich erhoben und spricht jetzt laut zur Versammlung: »Man muß neue Methoden anwenden, Kollegen, Methoden, gegen die der Gegner nicht gerüstet ist …«

»Also?«

»Nicht herunter von den Schiffen, sondern – wie beim Sitzstreik – die Schiffe besetzen samt den Ladekranen und keinen ranlassen! Keinen außer uns! Und keine Hand zur Arbeit gerührt!«

»Donnerwetter! – Klasse! – Mal was Neues!«

»Und wenn die andern es länger aushalten als wir?« meint Tom Duffy. »Wenn die Kapitäne von dem Seemannsrecht Gebrauch machen und uns von den Schiffen runterfeuern lassen?«

»Sollen sie's riskieren!« reizt der Heuschreck.

»Wenn sie's riskieren – mit Polizei und so?«

»Dann werden einige schwimmen lernen!«

»Darf ich Ihre Gewerkschafts- oder Arbeitskarte sehen?« fragt jetzt Tom Duffy.

»Sie sind wohl Kriminalkommissar?« höhnt der Heuschreck.

»Ich bin immerhin kein Provokateur!« sagt Duffy.

»Unerhört! – Frechheit! – Da habt ihr den Bruder von der ›rank and file‹!« So kommt es jetzt von verschiedenen Typen, die sich in der Richtung zu ihrem Kumpan bewegen, sich um ihn drängend.

»Jawohl, die ›rank and file‹!« gibt's Duffy ihnen. »Weil nämlich die ›rank and file‹ die Interessen der Schauerleute in vorderster Reihe vertritt.«

»Mit Flugblättern gegen die Regierung und gegen den Koreakrieg!« Das war die gellende Stimme eines der Kumpane.

»Obschon wir das hier nicht getan haben – hier ist das Flugblatt, bitte«, entgegnet Tom Duffy wieder ruhig, »so kann es andere Versammlungen geben, wo wir auch Flugblätter gegen den Koreakrieg verbreiten.«

»Da seht ihr's! – Fallen unseren Jungens in den Rücken! – 'ne Schande ist's!«

»Was ist 'ne Schande?« Honeycut hat sich vor dem Heuschreck aufgebaut, während Mark, der schwarze Athlet, und Cucumber sich zwischen ihn und seine Kumpane drängen.

Tom Duffy aber vorn, mit flammigem Haarkranz um die spiegelnde mächtige Glatze, ähnelt – beherrscht – weniger einem feuerspeienden Vulkan, sondern mehr dem Phänomen des kühl drohenden, unheimlichen Nordlichts. »Ja, was ist da 'ne Schande?« hört man ihn. »Was? Die Jungens vor der Rekrutierung zu bewahren und vor dem Gemetzel im Fernen Osten? Und glaubt ihr, die Teuerung, das Hetztempo, die ›selbstverschuldeten‹ Unfälle, diese ganze Sklavenhaltermanier hängt nicht mit diesem Krieg zusammen und mit dem nächsten, für den sie euch und das Land weich machen wollen, um dann …«

»Ich muß gegen diese politischen und regierungsfeindlichen Äußerungen aufs schärfste protestieren«, unterbricht ihn aufspringend der kleine rundliche Funktionär.

Und der Versammlungsleiter: »Auch ich finde, das gehört nicht zur Sache …«

Alle weiteren Worte gehen unter in dem wilden Tumult. Die überwältigende Mehrzahl der Schauerleute fordert, daß Tom Duffy unbedingt weitersprechen soll.

»Schluß mit dem Roten!« schreit man vom Heuschreckgang dagegen.

Und der Langbeinige: »Raus mit dem Roten!«

»Da kommen vorher noch andre ran!«

Mark, der Athlet, Honeycut und Cucumber stehen jetzt Brust gegen Brust vor den Stänkern. Auch viele andere Dockers sind aufmerksam geworden und wenden sich gegen die Provokateure.

Honeycut, der Marks Draufgängertum kennt und nicht will, daß man die Sache auf die Spitze treibt, meint beherrscht: »Wer was zu sagen hat, soll auch den Mut haben, es vom Rednerpult zu sagen.«

»Was ich mir noch lange nicht von einem wie dir vorschreiben lasse!« ruft jemand aus der Heuschreckecke.

»Von einem wie mir?«

»Geh doch zum Äquator, du schwarzer Affe!«

Honeycut ist schnell vor Mark getreten, der kaum noch an sich hält; dann sagt er zu dem Provokateur, einem mittelgroßen Burschen im Jackett und weichen Filzhut: »Ich will mit dir nicht streiten, wessen Haut schwärzer oder schmutziger ist. Aber deine Bemerkung zeigt, daß du kein Schauermann bist und überhaupt kein Arbeiter. Denn ein Arbeiter wird niemals einem andern mit der Hautfarbe kommen.«

»Bravo, Old Jonny! – 'ne Schweinerei so was! – Gehörst zu uns, Jonny, black and white, unite and fight!« rufen die Dockers und treten zu Honeycut.

»Die Sache geht ja nicht um Schwarz und Weiß, um Kaffee oder Milchkaffee«, sucht der Heuschreck jetzt auszuweichen. »Aber die Neger stehn nun mal auf Seite der Roten, ist doch klar!«

»Klar ist eins, daß du die Schnauze hältst!« fährt Mark ihn an, »oder du wirst erleben …«

»Ruhe, Mark!« Honeycut schiebt ihn wieder hinter sich und wendet sich jetzt an den größeren Kreis, der sich in dieser Ecke der bewegten Versammlung gebildet hat. »Wir Neger ständen auf der Seite der Roten«, erwidert Honeycut ruhig. »Das behauptet man, nicht weil die Sache stimmt, sondern weil man uns als Kommunisten abstempeln und kaputtmachen will …«

»'ne bequeme Methode!« ruft einer der Schauerleute.

»Jawohl, 'ne bequeme Methode«, wiederholt Honeycut, »wobei ich nicht sagen will, daß es keine Kommunisten unter uns gibt.«

»Aha!«

»Aha? Genauso wie es Rote unter den weißen Kollegen gibt, oder nicht? Was ist denn an den Roten so furchtbar? Daß sie gegen die Rassenhetze sich wenden und für die Befreiung aller Unterdrückten? Ist das was Unrechtes oder 'ne Schande?«

»Da haben Sie ja Verbündete!« wirft der Heuschreck ein.

Doch Honeycut fährt unbeirrt fort: »Und daß wir Neger für unsre Gleichberechtigung kämpfen, ist das so furchtbar? Kämpft ihr, Kollegen, nicht auch für eure Gleichberechtigung gegenüber den Favorites und Goldjungen der Bosse? Wehren wir alle uns nicht gegen die schlechtbezahlte schwere Schmutzarbeit drunten, während die Herrchen von King Joe oben in den Speichern herumspazieren?«

»So ist's! – Old Jonny setzt den Deckel auf 'n Topf! – Gleiches für alle!«

»Glückwunsch!« sagt der Heuschreck. »Dann können wir Weiße ja einpacken!«

»Wollen Sie Ihre Ansichten nicht besser oben vom Rednerpult verkünden?« meint Honeycut überaus höflich und will mit Mark und Cucumber den Provokateur hinaufbegleiten.

Den aber überkommt plötzlich die Angst des Ertappten. »Hände weg!« schreit er hysterisch. »Loslassen!« Er greift in seine Tasche, während mehrere Typen vom Gang herandrängen und er selbst die Waffe frei gemacht hat. Doch bevor er zum Schießen kommt, hat Mark den hageldürren Kerl gepackt, seine Arme nach hinten gepreßt und ihn über die Tische gegen die Fensterwand gewettert, daß dort Glas klirrt. In dieser bewegten Versammlung mit vielen lauten Diskussionsgruppen ist das nur eine Episode. Honeycut und Cucumber halten den wütenden, athletischen Mark.

Der Gang ist wie vom Boden verschluckt.

»Wir müssen ihnen nach, falls sie noch 'ne Schweinerei ausbrüten!« drängt Cucumber.

»Richtig!« sagt Honeycut.

Mark schafft als Rammkeil Bahn. Sie sehen grade noch, wie die Bande in Richtung der Markthalle verschwindet.

 

22. Mene tekel upharsin … »Der Zorn Gottes« spricht.

Es zeigt sich, daß Ohm Ernest nicht schlecht kalkuliert hat, die Versammlung der Jugend und des Friedenskomitees am Hafen einzuberufen. Der parterre gelegene Saal ist gerammelt voll. Die Leute stehen auf der schmalen Straße, draußen an der Tür und vor den offenen Fenstern. Dabei erfolgt eine ständige Fluktuation, ein Hinaus und Hinein, weil manche Neugierige sich drinnen etwas Sensationelleres erwarteten. Vor allem aber ist durch die Fenster zur ebenen Erde ein ständiges Kommen und Gehen.

Honeycut, von Ohm Ernest über die Versammlung der Friedenskämpfer informiert, beobachtet, wie der Heuschreckgang – hier offenbar eine bessere Beute vermutend – durch zwei der Parterrefenster in den Saal steigt.

»Diese Banditen!« Mark will ihnen sofort nach.

Doch der Alte bremst ihn: »Laß sie erst drin sein und sich sicher fühlen! Sie sollen uns noch nicht sehen!«

»Diesmal halten wir sie!« meint Cucumber.

Honeycut, der sich zum Fenster vorgearbeitet und seinen Kopf zwischen den andern hindurchgeklemmt hat, zieht ihn bald zurück und sagt leise zu Mark: »'ne verdammt gemischte Gesellschaft! Mindestens zwei Dutzend solcher King-Joe-Typen, Leute vom Anastasiagang und der F.B.I.«

Es ist klar, daß solch eine Versammlung, die sich offen gegen den Koreakrieg wendet, scharf überwacht wird, und daß man gerade hier am Hafen mit allem rechnen muß. An der Rückwand des Podiums ist ein mächtiges Transparent angebracht mit der Aufschrift:

 

Selfdetermination for all people!
Hands off Korea!

 

Rechts davon auf einer schrägen Pappwand steht:

 

Stop USA-Intervention in Korea!

 

Auf der linken Seite befindet sich ebenfalls eine große Kulisse, auf der drei junge Arbeiter von einem Wortband umschlungen sind:

Read young America's voice!

Die Arbeiter selbst halten je eine Zeitung hoch, woraus die Worte herausspringen:

Peace! Jobs! Freedom!

Vorn auf dem Podium aber steht der greise Prediger Reverend James Hugh, ein Feuerkopf, der für das Reich der Gerechtigkeit und des Friedens auf dieser Erde streitet, ein Jeremia unserer Tage, bekannt als »Der Zorn Gottes«. Dieser Reverend Hugh – durch die Jahrzehnte unermüdlicher Wanderpredigten eine ausgemergelte hohe Gestalt mit einem weißmähnigen Prophetenkopf – ist gerade bei dem Kernpunkt seines Lieblingsthemas angelangt, bei der Haltung der Lauen, der Neutralen, der »Bloßdabeistehenden«. Er hat bereits nachgewiesen, daß dieser Krieg gegen das koreanische Volk mit seinen Hunderten verbrannten Dörfern und Städten, mit seinen durch amerikanische Bomber gemordeten Frauen und Kindern eines der grauenhaftesten Verbrechen ist, dessen Sühne auf das amerikanische Volk zurückfallen werde. Er beugt sich weit nach vorn, wo drunten am Rande des Podiums vier Kinder postiert sind; jedes trägt an einer Schnur ein Pappschild um den Hals, worauf mit einem Pinsel handgeschrieben steht:

Let Daddy come home!
I want my Daddy!
Daddy is in Korea!

und

Bring my Daddy home –
I miss him!

Dieses letzte Schild hat die kleine Ille, Anns Töchterchen, umhängen. Sie steht da in einem kurzen, ärmellosen Hängerkleidchen, aus dem sie herausgewachsen ist, sehr schlank, sehnig, halberwachsen mit ihrem klugen sommersprossigen Gesicht, das so sehr dem ihrer Mutter Ann ähnelt, die oben mit am Vorstandstisch sitzt. Ab und zu nestelt die Kleine an einer zweiten, dünneren Schnur an ihrem Hals, woran eine ovale Metallmarke sich befindet.

»Und was antwortet ihr auf die Bitten dieser Kinder?« ruft Reverend Hugh jetzt eifernd in den Saal. »Wer wird die Bitte dieser Kinder, die, ohne es zu ahnen, vielleicht schon eine vergebliche Bitte an euch richten, abzuschlagen wagen? Er trete vor!«

Schluchzen alter und junger Frauen in den vorderen Reihen. Aus dem Saal ein empörter Ruf: »Wir sind keine Kinder, wir sind Männer!«

»Bist du ein Mann, gut, so tritt nach vorn!« erwidert jetzt mit weit vorgestreckter Rechten und flammenden Augen Der Zorn Gottes. »Und sage mir, was du selbst getan hast oder zu tun gedenkst gegen das Verbrechen?«

Der Mann ist noch nicht vorn, da wendet sich der greise Prediger gegen einen imaginären Gegner, der gewissermaßen riesengroß aus der Mitte des zwielichtigen Saales wächst. »Willst du die Kinder, Frauen und Mütter Koreas weiter unter dem Feuerregen unsrer Bomber vernichten lassen? Und du kannst schweigen dazu? Ich sage euch, eines Nachts wird das Feuer auf euch zurückfallen. Dann aber wird das Wort des Propheten Jeremia sich erfüllen: Wir hören ein Geschrei des Schreckens und sehen alle Männer ihre Hände auf den Hüften haben wie Weiber in Kindsnöten, und ihre Gesichter sind bleich!«

»Wir sind weder Weiber noch Kinder!« ruft jetzt der Mann, der sich bis zum Podium vorgeschoben hat und einen Zettel hochhält. »Hier, dieses Blatt Papier – wißt ihr, was das ist?« Der Mann, ein ganz gewöhnlich aussehender Mensch von etwa fünfzig Jahren, vielleicht ein Portier in einem Warenhaus oder auch ein Zuschneider der Bekleidungsbranche, der trotz der Hitze noch sein Jackett mit Kragen und Krawatte trägt, dieser Mann hält den Zettel hoch und schaut auf Antwort wartend in die Menschenmenge. »Es ist der Einberufungsbefehl meines achtzehnjährigen Sohnes Harry, eine Art Todesurteil – jawohl, und man hat mich nicht gefragt, ob ich mit diesem Urteil einverstanden bin, nein, man hat mich, den Vater, nicht gefragt, und auch nicht die Mutter. Aber deshalb gebe ich doch die Antwort, meine Antwort …« Er nimmt jetzt auch die andere Hand in Brusthöhe und reißt den Einberufungsbefehl in Fetzen, in viele kleine Schnitzel, die er zu Boden fallen läßt.

Eine Totenstille liegt sekundenlang über dem menschengefüllten Raum.

Dann erhebt sich ein Stimmenorkan. Auch am Vorstandstisch sind alle aufgesprungen. Man sieht, wie Dr. Boyle als Versammlungsleiter – seine Freunde rechts und links auf die Sitze niederdrückend – sich Gehör zu verschaffen sucht. Endlich versteht man durch die im Saal diskutierenden Gruppen seine Stimme: Diese Versammlung sei nicht der Ort für solche wilden Aktionen, die eine ruhige Aussprache nur stören und die gute Sache leicht kompromittieren könnten. Er appelliere an die Disziplin der Friedensfreunde …

»Also sollen wir die Einberufungsbefehle ruhig hinnehmen und die Jungens als Killer nach Korea schicken lassen?« ruft einer dazwischen.

Gegenruf eines älteren kleinen Herrn im schwarzen Rock: »Und wenn man der Regierung mit solch gewaltsamem Ungehorsam begegnet, fordert man damit nicht wieder zur Gewalt heraus?«

»Und was wollen Sie tun?«

»Ruhe für Reverend Hugh!«

Der Zorn Gottes stützt beide Hände auf das Rednerpult und schaut – seine weiße Mähne wie eine Windwolke hin und her werfend – wie der Herr Zebaoth in Person auf die turbulente Menschheit. »Was ihr tun könnt?« rollt seine tiefe Stimme langsam an. »Was ihr tun könnt – ja, das ist es. Ich vermute, wir alle hier sind gegen diesen teuflischen Koreakrieg. Wir sind auch bereit, eine Resolution zu unterschreiben. Aber genügt das? Ist das nicht eine Art sonntäglichen Kirchenbesuchs?«

»Und das Zerreißen des Gestellungsbefehls?«

»Willst du mich versuchen – Satanas? Gut, du sollst es wissen! Auch diese Tat, ob sie richtig oder falsch war, bleibt eine Einzeltat, eine Sonntagshandlung … falls du nicht bei jeder Alltagsgelegenheit, das heißt in deinem Geschäft, auf der Straße, in der U-Bahn, täglich die Menschen, die überall von Teurung, Not und auch vom Krieg reden, mit deinem Gespräch zu überzeugen suchst! Und zwar zu überzeugen, was dieser Krieg am anderen Ende der Welt für jeden hier bedeutet, für dich und dich und dich bedeutet, heute noch in Korea, und morgen hier in dieser Stadt! Oh, solche Gelegenheiten gibt es täglich Dutzende! Und prüfe sich ein jeder, wie viele er davon vorübergehen ließ! Jedes Gespräch aber, das du heute unterläßt, deinen Mitmenschen zu warnen und umzustimmen, wird morgen eine Bombe sein, die auf dich und deine Kinder fällt!« Reverend Hugh hält inne.

Im Saal ist eine große Stille eingetreten.

»Es gibt heute nur eine Tatsache, die uns alle angeht«, fährt der greise Prediger fort. »Das ist der drohende Krieg. Weshalb aber droht er, und von wem? Man sagt, die Russen sind es. Ich kenne die Russen nicht. Doch ich kenne die Menschen hier. Und ich weiß, daß man hier in die Herzen meiner Brüder die Angst, den Haß und die Verzweiflung sät, daß man unseren Menschen hier das Allernotwendigste nimmt – das ist der Glaube an den morgigen Tag …«

»Beweise!« ruft jemand.

Alle drehen sich nach dem Zwischenrufer. Es war die Stimme des Heuschreck, der mit seinen Kumpanen an einer Fensterwand steht und auf den jetzt mehrere Frauen einreden.

»Beweise?« Der Zorn Gottes beugt sich weit über das Rednerpult in den Saal. »Habt ihr nicht gelesen, wie unsere Magazine mit der geschäftstüchtigen Anpreisung von Atombombenbunkern auf Ratenzahlung Panik verbreiten, wie Likörfirmen und die Mixer der Hotels in Las Vegas einen ›hochexplosiven Spezial-Cocktail‹ anbieten? Und wie dieser Cocktail in zynischster Weise auf Reklameschildern angepriesen wird mit den Worten: Trink und genieße dein Leben, solange du noch nicht radioaktiv bist …«

»Lächerlich! Kinderei!« kommt es von der Fensterwand.

»Kinderei?« donnert Hugh nunmehr in ganz anderem Ton gegen den Zwischenrufer. »Kinderei? Richtig! Wir sind schon bei den Kindern angelangt …« Und zu den Kindern vor dem Podium sich neigend: »Komm herauf, mein Kind, ja du, mit deiner Halsmarke! Komm!« Und während die kleine Ille von ihrer Mutter Ann hinaufgehoben wird, fährt Der Zorn Gottes fort: »Ja, schon werden im Staate New Jersey – ihr habt es gelesen – von den Schulkindern Fingerabdrücke genommen, um bei Bombardierungen die Leichen dieser Kinder zu identifizieren, während man gleichzeitig schreibt, daß bei 1 Million Grad Hitze die Menschen sofort zu Asche zerstäuben. Wozu aber diese teuflische Komödie der Fingerabdrücke und der Hundemarke um den Hals? Ich sagte euch schon und ich wiederhole es: es geschieht, um in den Herzen der Menschen Angst, Verzweiflung und Panik zu erzeugen …«

»Damit sie in Washington ihre 70 Milliarden bewilligt bekommen …«

»Für die Rüstungen, die wir bezahlen müssen …«

»Weshalb sagt ihr das nicht dem Pentagon in Washington?«

»Wir werden es nicht bloß dem Pentagon sagen, sondern über das ganze Land rufen!« entgegnet der alte Prediger und holt die kleine Ille zu sich heran. Er hebt sie auf das Rednerpult, zieht das an der Schnur hängende ovale Metallschildchen hervor und fährt jetzt fort: »Und auch das werden wir dem Land sagen, daß man in New York den Schulkindern schon heute diese Todesmarken umhängt als Erkennungszeichen ihrer unkenntlich gewordenen verbrannten Körper …«

Eine Frau schreit auf: »Das ist ja furchtbar!«

Die kleine Ille, der die Tränen die Wangen herunterkollern, schaut mutig nach vorn. Ann tritt jetzt zum Podium, nimmt das Kind auf den Arm, bleibt jedoch wie gebannt – das Gesicht dem Saal zu – stehn.

»Die armen Kinder …«

»Das ist ein Verbrechen …«

»Die Kinder verbrennen lassen …«

»Es muß nicht sein, Freunde!« ruft Reverend Hugh in die erregte Versammlung. »Das Feuer, das vom Himmel zu fallen droht bis in die tiefsten Keller, ist heute noch gebändigt, es erscheint heute erst wie eine flammende Warnschrift an der Wand – wie von jener Gespensterhand geschrieben …«, er deutet mit weit ausgestrecktem Arm nach vorn, während viele der Versammelten, der Deutung dieses Armes folgend, sich nach hinten wenden. »Seht, da kamen vor vielen tausend Jahren mitten im nächtlichen Gelage des goldprotzenden, berauschten Königs Belsazar aus der Wand Finger hervor, einzelne Finger wie von Menschenhand … und die schrieben an die weiße Mauer des Festsaals mit Flammenschrift die Worte

Mene mene tekel upharsin …«

»Was ist das für 'ne Sprache?«

»Was bedeutet das?«

»Das bedeutet:

Gezählt, gewogen –
und zu leicht befunden!

Und weiter heißt es im Buche Daniel, daß dieser goldprotzende, übermütige König Belsazar in der gleichen Nacht umgebracht wurde.«

»Eh unsere Kinder verbrennen, sollen lieber unsre Belsazars und Beelzebubs dran glauben!« schreit eine Frau durch den Saal.

Und eine andere: »Jagen wir doch diese Verbrecher zum Teufel!«

»Auf zum Kapitol nach Washington!« knallt einer aus dem Heuschreckgang dazwischen, aufpeitschend und höhnisch zugleich.

»Da habt ihr's!«

Der Sturm der Empörung wirft die Wogen über die Versammlung hinweg bis zum Vorstandstisch, von wo Dr. Boyle vergebens sich Gehör zu verschaffen sucht. Wie viele Meetings hat er schon miterlebt, die wie Sonntagsgebetsstunden oder Collegevorlesungen verliefen! Liegt es am Ort des Hafens, daß soviel Zündstoff die Luft lädt? Ohm Ernest ist von unten dicht ans Podium getreten, um Dr. Boyle zu sagen, er solle jetzt einer Frau das Wort erteilen und so die Aufmerksamkeit der erregten Menschen auf einen neuen Punkt lenken.

Doch plötzlich ist es in dem Saal still geworden. Alle Augen richten sich nach dem Rednerpult. Dort steht seitlich von Reverend Hugh der kleine alte Herr, der vorher die Frage stellte: ob man den Befehlen der Regierung mit »gewaltsamem Ungehorsam« begegnen dürfe? »Sie sehen also, lieber Bruder, wie schnell der Teufel sich unsres besten Willens bemächtigt«, wendet sich der kleine Geistliche in seinem schwarzen, hochgeschlossenen Anzug an Reverend Hugh. »Sie wünschen von ganzem Herzen den Frieden, und die Antwort, die Sie hier erhalten, ist Gewalt, Zerreißen der Gestellungsbefehle und Drohungen: jagen wir die Regierung zur Hölle!«

»Die Menschen sind keine Steine!« erwidert Der Zorn Gottes dem kleinen alten Pfarrer. »Ich habe die Freunde hier aufgerufen, jeden Tag bei jeder Gelegenheit für den Frieden ihre Stimme zu erheben …«

»Aber in Form der Flammenschrift des Menetekel …«

»Unsere Zeit selbst schreibt ihr Menetekel an den Himmel, über Hiroshima, Bikini, über Korea. Und schon droht ›Colliers Magazin‹ offen mit Atombomben über Moskau. Wollen Sie da warten, bis solche Bomben auch über New York, Chikago, Boston und Washington aufflammen?«

»Malen Sie, mein Bruder, nicht ständig selbst das Feuer an den Himmel? Während Jeremia doch mahnt: Du sollst nicht durchs Schwert sterben, sondern du sollst im Frieden gedeihen!«

»Grade darum müssen wir das Menetekel in den Herzen aufflammen lassen, ehe es zu spät ist!« eifert Der Zorn Gottes. »Sie kennen, lieber Bruder, die Trägheit der Herzen. Die Besten denken, ich habe ja den Friedensappell unterschrieben. Gewiß, das ist wichtig und gut. Andere wieder fragen: Weshalb soll es gerade mich treffen? Schließlich gibt es auch solche – und das ist die Mehrheit –, die sich trösten: Ich habe ja selbst weder geschossen noch getötet; ich bin bloß dabeigestanden. Das aber ist das Allerschlimmste! Wie heißt es doch in Lukas, Kapitel 23, als des Menschen Sohn blutend am Kreuz hing und die Häscher um seine Kleider würfelten? Es heißt dort: Und das Volk stand und sah zu. – Das soll nie wieder sein …«

»Wo ist mein Junge? Gebt mir meinen Jimmy zurück!« ertönt jetzt eine helle, klagende Stimme hinten aus dem Halbdunkel. Und schon leiser: »Gebt mir meinen Jungen …«

Man öffnet eine kleine Gasse für diese Frau, ein etwa fünfzigjähriges schmales Wesen, das fast widerstrebend sich nach vorn zum Podium begibt. Ihre Energie scheint mit dem einen Schrei: Gebt mir meinen Jimmy zurück! erschöpft zu sein. Sie erzählt mit leiser Stimme, wie sie seit fünf Monaten auf einen Brief ihres Sohnes wartet, und wie ihre Briefe jetzt zurückkommen mit der Nachricht, daß ihr Sohn vermißt sei. Das alles sagt sie mehr zu sich selber, wobei sie oft über ihre Augen fährt, als müsse sie sich erinnern. Dann richtet sie aufblickend an die Versammlung die Frage: »Ich denke doch, eine Mutter darf das sagen?«

Dieser Satz, einfach und ohne Betonung zu der erregten Menschenmenge gesprochen, dringt tiefer in jeden einzelnen als die flammenden Bibelzitate, die Der Zorn Gottes über die Zuhörer schleuderte. Jetzt nimmt Reverend Hugh die Frau und läßt sie auf seinem Stuhl sitzen.

 

23. Daher bläst der Wind? Händler mit Menschenblut.

Ohm Ernest ist eigentlich etwas enttäuscht über die schwache Opposition – wenn man von den paar üblichen plumpen Provokateuren wie dem Gang dort am Fenster absieht. Auch Pat hat sich das Ganze weniger als Bußpredigt und Streitgespräch der beiden Pfarrer gedacht, vielmehr als einen geistigen Waffengang mit Gegnern aus Regierungskreisen und »patriotischen« Liberalen. Er sieht auf einer der vorderen Bänke Gene und Adda, die ruhig nach oben zum Podium schauen. Er selbst blickt auf den neben ihm stehenden Ohm Ernest. Scheinbar ist der Ohm sich auch nicht darüber klar, ob er sich noch zu Wort melden soll, seine Sache anzubringen und damit gewissen Typen eine billige Gelegenheit zu verschaffen, die Versammlung noch vor Annahme der Resolution zu sprengen? Ob er sein Pulver nicht besser für ein andermal aufspart? Gerade ist am Vorstandstisch Dr. Boyle aufgestanden, um etwas von einem großen Blatt zu verlesen: die Resolution.

»'ne verflucht lahme Ente!« sagt Pat leise zu Ohm Ernest, wobei nicht deutlich ist, ob er hiermit die Versammlungsleitung durch Dr. Boyle, die noch nicht verlesene Entschließung oder das Ganze meint. Man kann der bestvorbereiteten Versammlung nie ansehn, wie sie verläuft. Gibt es Tumult und fliegt die Versammlung vorzeitig auf, so wird der Zweck einer echten Auseinandersetzung und Propagierung der gerechten Sache nicht erreicht. Geht umgekehrt alles wie am Schnürchen, so wirkt das wenig überzeugend, sondern wie bestelltes Theater.

Nun scheint im letzten Moment etwas zu geschehen. Aus dem Saal hat sich noch ein Mann zu Wort gemeldet. Es ist ein etwa dreißigjähriger, sportlich aussehender Mensch in einem Khakihemd, vielleicht ein ehemaliger Soldat und nun Angestellter in einem Warenhaus, vielleicht auch ein älterer Student, vielleicht ein Berufssportler? Jedenfalls zeigt er eine beherrschte Sicherheit. Er geht ruhig zum Podium. Dort erklärt er ohne viel Umschweife, daß er selbstverständlich wie jeder denkende Mensch gegen den Krieg sei. Darüber gebe es keine Uneinigkeit. Nicht einverstanden sei er dagegen mit den Vorrednern über den Weg, den Frieden zu erhalten. Mit den besten frommen Wünschen und mit der Bibel in der Hand könne man keinem schwer gerüsteten Gegner Respekt einflößen.

»Von welchem Gegner sprechen Sie?« ruft Pat.

Der Redner macht mit seiner Hand eine Bewegung, als müsse er eine lästige Fliege verscheuchen. Mit einer gewissen Überlegenheit fährt er fort, daß es eigentlich nur zwei große Kräfte auf dieser Erde gebe – Amerika, das heißt die freie Welt auf der einen Seite, und die Sowjetunion mit China und dem Ostblock auf der anderen Seite.

»Aha, daher bläst der Wind?«

»Falls Sie den Ostwind andeuten wollen, mein Herr, so bin ich bereit, Ihnen zuzustimmen; das ist sogar ein ziemlich kräftiger Wind, der eines Tages zum Orkan werden kann …«

»Die Platte kennen wir! – Kalter Kaffee! – Vorsicht, russische Fallschirmspringer am Timessquare! – Springen Sie doch wie Mr. Forrestal aus dem Fenster!«

Der Mann im Khakihemd schaut lächelnd zum Vorstandstisch, als wolle er sagen: Möchten Sie nicht Ihren Kinderchen ein bißchen Manieren beibringen?

Dr. Boyle klopft an sein Glas. »Freunde, wir wollen jeden Gegner, solange er sich fair verhält, anhören! Wir haben es nicht nötig, jemandem das Wort abzuschneiden.«

Der Redner fährt fort, es sei durch eine tausendjährige historische Erfahrung erwiesen, daß Staaten mit einem so gewaltigen Menschenpotential wie Rußland und China einen natürlichen Expansionsdrang zeigten, der notwendig zu Zusammenstößen mit der anderen Welt führte …

»Also ist ein Präventivkrieg die Lösung?« unterbricht ihn leidenschaftlich Pat.

Und der Reverend Hugh, der auch nicht an sich halten kann: »Das ist ein Spiel mit dem Feuer, junger Freund! Dieses Feuer aber wird den fressen, der hineinbläst – so wie der Prophet sagt: ›Und sie werden toll werden und taumeln vor dem Schwert, das sie selbst gezückt haben!‹«

Er bedaure, erklärt der Khakimann, daß er hier so schnell nicht folgen könne, er sei leider kein Marathonbibelleser.

Hiermit erzielt er einige Lacher. Die furchtbare Hitze macht sich im Saal schon lähmend bemerkbar. Da hört man eine schwere Stimme: »Machen Sie da oben keine Faxen! Sagen Sie uns lieber, in wessen Namen Sie sprechen und was Sie wollen.«

Alles dreht sich um. Es ist Ohm Ernest. Doch schon antwortet der Spaßvogel von dem Podium – allerdings jetzt gar nicht mehr als Witzbold, sondern als ein zur Wand gedrängter Catcher: »In wessen Namen ich spreche? Sehr einfach: in meinem Namen und in dem Ihren, insofern wir beide als freie Menschen leben möchten. Und was ich will? Ebenfalls sehr einfach: stark sein gegen jede Bedrohung! Stark sein und nochmals stark sein! Nur das sichert den Frieden …«

»Also Rüstungen …«

»Mit Rüstungsmilliarden …«

»Und Rekrutierung der Achtzehnjährigen …«

»Ruhe! Zu Ende reden lassen!«

»Ich bin sofort am Ende«, erklärt der Khakimann. »Jeder von uns, der Leben und Frieden wünscht, hat die Wahl: entweder es dem Schicksal zu überlassen, die Hände in den Schoß zu legen und es kommen zu lassen, wie es kommt; oder alle Kräfte zu sammeln, stark zu sein, stärker als der andere! Und das bedeutet: den anderen gar nicht in Versuchung kommen zu lassen, uns anzugreifen. Bereit sein ist alles! sagt Hamlet. Ich finde, Hamlet hat recht – bereit sein und stark sein, das ist alles! Das ist auch die beste Waffe im Kampf um den Frieden!«

Er verläßt ruhig, als habe er bloß einer inneren Verpflichtung gehorcht, das Rednerpult. Beifall prasselt aus verschiedenen Ecken, Beifall, der sich vereinigt und auch manche Zögernden mitreißt. Diese Versammlung ist wirklich eine »bunte Gesellschaft«, wie Honeycut auf den ersten Blick bereits feststellte. Zweifellos ist sie auch von Neugierigen und anderen, vorerst noch undefinierbaren Elementen besucht. Dennoch ist dieser Beifall für den Khakimann eine Überraschung.

»Ich bitte ums Wort!« Ohm Ernest hat sich zum Podium vorgearbeitet und tritt zum Rednerpult. Er greift zum Siphon auf dem Vorstandstisch, füllt sich ein Glas Soda und trinkt es ruhig aus. Auch er verzichtet auf jede rhetorische Einführung; er spürt, wie der Raum dort unten stagniert von Hitze, Schweißgeruch und Ausdünstungen der schon ermattenden Versammelten, die häufiger durch die niederen Fenster sich ins Freie verziehen. Er wendet sich gleich der letzten These des Vorredners zu: Man müsse stark sein, stärker sein als der andere! Dabei erscheint Ohm Ernest bei den ersten Sätzen durchaus nicht aggressiv; vielmehr sucht er mit Ironie die Argumente des Khakimanns nochmals herauszukitzeln und zugleich die Stimmung seiner Zuhörer abzutasten. »Stark zu sein, stärker als der andere!« wiederholt er. »Und das lediglich zu dem Zweck, damit jener Gegner im Osten mit seinem Expansionsdrang nicht in Versuchung gerate, uns anzugreifen. Das ist eine wahrhaft christliche Haltung, der wir unsere Anerkennung nicht versagen können. Nun frage ich jeden der hier Versammelten: Weshalb aber haben wir überall um die Sowjetunion riesige Flotten- und Flugzeugstützpunkte angelegt von Grönland bis Tunis, von Tokio bis Frankreich und England? Wohl um dort das Höhenklima zu studieren?«

»Bleiben Sie bei der Sache!« haut der Khakimann dazwischen.

»Ausreden lassen!« kommt es aus dem Saal. »Man hat Sie auch reden lassen!«

»Doch nicht solchen Unsinn!« schreit der Khaki gereizt.

Und aus der Honeycutecke: »Wieso Unsinn? Haben wir diese Stützpunkte in Frankreich und England und Afrika angelegt oder nicht?«

Wieder der Khakimann: »Hätten wir's nicht gemacht, so hätt's der Russe gemacht!«

»Und wo hat der Russe es gemacht?« packt Ohm Ernest jetzt zu. »Hat er etwa wie wir Dutzende solcher bedrohlichen und kostspieligen Riesenstützpunkte in fremden Ländern angelegt? Nennt sie mir doch! Keiner wird sie mir nennen können. Und hat die Sowjetunion nicht, anstatt wie wir, Milliarden in diese Stützpunkte, in den Atlantikpakt und Superrüstungen hineinzustecken, Geld und Arbeitskraft lieber dafür verwendet, um gewaltige Stauwerke anzulegen und Bewässerungssysteme für die Steppen und Sandwüsten? Wer also ist der Angreifer?«

»Das ist kommunistische Propaganda!« – »Wenn er die Wahrheit sagt?« – »Recht hat er!« – »Ihr wollt also nicht, daß wir uns verteidigen?!« wirbelt es im Saal hin und her.

Ohm Ernest hat seine Hand erhoben. »Verteidigen! Verteidigen?« ruft er in die brodelnde Versammlung. »Also unsre Milliardenrüstungen dienen keinem andern Zweck als der Verteidigung unsres Landes? Nun, ich habe in den letzten Monaten mir aus unseren Zeitungen verschiedene Belege dafür gesammelt, daß diese unsere Rüstungen einzig und allein dem Zweck dienen, unser Land zu schützen und einen angriffslustigen Gegner nicht in Versuchung zu führen.« Ohm Ernest hat aus seiner Hosentasche ein paar zusammengefaltete Notizblätter genommen, die er liebevoll auf dem Rednerpult glattstreicht. Seine muskulösen gebräunten Unterarme zeigen den mit schwerem Material hantierenden Arbeiter, während die Brille, die er jetzt aufsetzt, seinem Gesicht den Zug eines in seine Sache vertieften Forschers gibt. »Wofür also dienen die 77 Milliarden Rüstungskosten dieses Jahres, und das sind über achtzig Prozent des gesamten Staatshaushaltes? Für Panzer, Flugzeuge, Kriegsschiffe, Stützpunkte und Soldaten – gewiß. Nebenbei aber haben die großen Konzerne der Morgan, Dupont, Mellon, Rockefeller in diesem ersten halben Jahr 2,5 Milliarden Dividende mehr ausgeschüttet als im ersten halben Jahr 1950, das heißt vor dem Koreakrieg …«

»Das ist die Hetze der Roten!« schreit einer aus der Fensterecke.

»Moskauer Propaganda!«

»Moment, meine Herren Patrioten! Hier habt ihr die anerkannte Stimme Amerikas, offen und rauh, wie sie nun einmal ist, nämlich die Worte des durchaus nicht roten Kommentators Roger Babson, der sagt: ›Wenn wir nicht die Korea-Angelegenheit hätten, die uns Geschäfte und Beschäftigung einbringt, dann wäre unser aufgeblähter Wohlstand längst geplatzt‹ – ist das deutlich, meine Freunde?« fragt Ohm Ernest noch immer sanft.

Aus der Versammlung beginnt ein wildes, schotterndes Echo wie eine Steinschlaglawine heranzurollen: »Dafür also Korea? – Das ist kein Friedenskomitee da oben, das sind Sowjets! – Ausreden lassen! – Das wollt ihr euch anhören!? – Wir wollen! – 2,5 Milliarden Dividende … sollen doch die Haifische selbst nach Korea schwimmen!«

Ohm Ernest hat seine Hand erhoben. Seine Stimme ist jetzt hart und durchdringend. »Es gibt hier im Saal scheinbar einige Männer mit zarten Nerven, wenn man Stellen aus unsrer demokratischen Presse zitiert. Ich finde, wir müssen ihre Nerven ein bißchen trainieren, indem wir sie an die Wahrheit gewöhnen. Oder findet ihr nicht?«

Dieses Mal geht der Widerspruch völlig unter in einem fröhlich erregten Beifall für Ohm Ernest. Plötzlich scheint die lähmende Hitze ihre Wirkung verloren zu haben. Alle schauen gespannt zum Rednerpult, wie Ohm Ernest weiter eines seiner zerknüllten Notizblättchen nach dem andern hochnimmt, als könne er damit bisher unerhörte Geheimnisse enträtseln.

»Propaganda der Roten?« fährt der Ohm fort. »Nun, hören wir, was uns die Wallstreetpresse, das ›Journal of Commerce‹, nach einer Rundfrage an 4700 Handels-, Kredit- und Finanzunternehmen schreibt, und zwar bei Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen in Korea: ›Die Widersprüche der internationalen Lage mildern sich. Was kann man in diesem Fall tun? Können wir uns retten, oder werden wir den Schlägen einer Krise ausgesetzt sein? Wir wären verloren.‹«

» Darum geht's?«

»Ums Geschäft!«

»So sieht die Verteidigung des Friedens aus …«

Die empörten Zwischenrufe gestatten kaum mehr einen Zweifel über die Stimmung der meisten Zuhörer. Honeycut, der den Heuschreck und seinen Gang nicht aus dem Auge läßt, beobachtet, wie dieser einen seiner Kumpane durchs Fenster wegschickt. »Los, Mark«, sagt Honeycut, »lauf und hol aus der Versammlung unsrer Schauerleute und aus der White Rose, was du kriegen kannst! Die Burschen brüten was!«

»Und wer da noch zweifelt«, läßt Ohm Ernest nicht locker, »der höre den Schluß dieses Artikels, wo es heißt: ›Das Gerede von einer Milderung der internationalen Spannung entwickelt sich immer mehr zu einer panischen Furcht vor dem Frieden.‹«

»Das ist doch unmöglich!« unterbricht ihn Der Zorn Gottes. »Furcht vor dem Frieden … wo steht das? Im ›Journal of Commerce‹? Unmöglich!«

Ohm Ernest gibt ihm den Zettel, während er weiterspricht: »Es klingt tatsächlich unglaubhaft, Freunde; aber es ist die Wahrheit. Es ist genauso unglaubhaft und wahr wie dieser ganze Koreakrieg, an dem jene Händler mit Menschenblut Milliarden verdienen. Und dabei reden sie von Verteidigung des Friedens.« Händler mit Menschenblut – dieses Wort fällt wie ein Blitz in die Versammlung und verschlägt zunächst allen den Atem. Schon geht Ohm Ernest mit einer kurzen Wendung zu den Predigern weiter: »Aber nicht bloß mit Menschenblut, mit unserem Gewissen und mit unsrer Fairneß bezahlen wir diesen verruchten Krieg« – und wieder zur Versammlung –, »wir zahlen auch mit unserem Wohlstand und Lohn dafür. Vielleicht habt ihr darüber noch nicht so nachgedacht, obwohl jeder von uns weiß, daß unser Leben schwerer wird, und daß etwas über die Hintertreppe schleicht, das einer Inflation verdammt ähnlich ist.« Eine Welle der Unruhe antwortet aus dem Saal. »Ihr zweifelt? Wer unsre gewiß nicht linken Gewerkschaftszeitungen durchblättert, der kann dort lesen, daß die Lebenshaltungskosten in unserem Lande heute um achtzig Prozent höher sind als 1941 und die Lebensmittelpreise um fünfzehn Prozent gestiegen sind gegenüber 1950 …«

»Sie sind wohl Statistiker?« ruft ihm jetzt der Khakimann ironisch zu. »Vielleicht wäre es interessant, uns einen kleinen Vortrag über die Wirtschaftskrise in den Staaten zu halten?«

»Sie haben recht«, erwidert Ohm Ernest, »das wäre nicht uninteressant. Ich sagte Ihnen ja schon, wie großartig die Rüstungsindustrie blüht. Weniger bekannt ist, daß die Produktion an Gebrauchsgütern, wie Baumwollwaren, Kleidung, Möbeln, und die Kunstseidenindustrie im letzten Halbjahr bis zu fünfzig Prozent zurückgegangen ist, daß zahlreiche Betriebe Kurzarbeit einführen mußten …«

»Und da wollen Sie mit Ihrem ruckartigen Abdrosseln der Rüstungsindustrie die Krise noch verschärfen?« unterbricht ihn der Lange im Khaki. »Sie wünschen wohl einen zweiten Schwarzen Freitag von 1929, wo grade die kleinen Geschäftsleute dran glauben mußten und Hunderttausende Ihrer Kollegen arbeitslos wurden?«

»Niemand braucht bei uns arbeitslos zu werden, und keiner der kleinen Geschäftsleute braucht den Laden zuzumachen«, erwidert Ohm Ernest, »wenn wir heute Frieden mit Korea schließen und abrüsten!«

»Sie sind wohl ein Zauberer?« ruft einer dazwischen und bucht die Lacher für sich.

»O nein, mein Freund, kein Zauberer«, meint Ohm Ernest jetzt fast sanft, sich mit seinen muskulösen Armen übers Rednerpult stemmend. »Die Sache kommt Sie viel billiger und kostet viel weniger Gehirnschmalz. Heute brauchte es weder Kurzarbeit zu geben noch das Gespenst vom Schwarzen Freitag, wenn …« Und nun spricht er in die atemlose Stille der gespannt Lauschenden: »Könnt ihr mir verraten, Freunde, warum gibt es keine Regierung bei uns, die Handel treibt mit solchen Riesenländern und Absatzgebieten wie China und Rußland …«

»Mit den Roten?« knallt es aus der Fensterecke herüber.

»Mit diesen beiden Riesenländern, und das will sagen: mit über 700 Millionen Menschen, friedlichen Handel zu treiben, das würde jede Krise in unserm Lande unmöglich machen. Niemand brauchte da bei uns zu hungern oder um den morgigen Tag zu zittern. Und der Durchschnittslohn, der vor dem Koreakrieg im letzten Dezember – vor der Erklärung des Nationalen Notstandes durch Präsident Truman – wöchentlich noch 61 Dollar betrug, brauchte jetzt nach acht Monaten nicht auf 42 Dollar abgesunken zu sein …«

»Ich darf mir wohl die Frage erlauben«, zapft ihn der Khaki wieder an, »ob wir uns hier in einem Meeting des Friedenskomitees befinden oder in einer Mitgliederversammlung der Kommunisten?«

 

24. Ohm Ernest packt aus. Die Statistik der einstelligen Zahl.

Nun greift Dr. Boyle als Versammlungsleiter ein. »Ich weise es zurück«, erklärt er, »diese Versammlung mit unverkennbarer Absicht einseitig als kommunistische Mitgliederversammlung deklarieren zu wollen. Hier haben sich Menschen der verschiedensten Bekenntnisse und Überzeugungen zusammengefunden. Und falls ein intelligenter Mensch sich für die Presse unseres Landes interessiert, so braucht er darum wohl noch kein Radikaler zu sein. Ich persönlich halte es jedenfalls für nützlicher, die Berichte des Kongresses in unsrer Presse zu lesen als die Phantasieprodukte jener Magazine, die auf Sensationen, Erotik und Gedankenlosigkeit spekulieren.«

Eine Welle starken Beifalls.

Und Dr. Boyle, diese Stimmung nutzend: »Auch muß ich gestehen, daß mich selbst weniger die Rubrik über Morde, Eheskandale und Rugby interessiert, wohl aber jener Artikel in der ›New York Times‹, wo Mr. Douglas, das Mitglied unsres Obersten Gerichts, schreibt: Jeder, der unseren militärischen Politikastern nicht folge, komme in Verdacht, ein Roter zu sein. Eine Atmosphäre der Furcht werde so erzeugt, indem man ehrliche und mutige Menschen an den Schandpfahl stelle, jener Furcht, sofort das Opfer einer politischen Untersuchung zu werden oder seine Arbeit zu verlieren. – Das ist schändlich!« Und er fährt fort: »Ja, dieser Koreakrieg hat uns schon völlig demoralisiert!«

»Interessant!« hört man's aus der Fensternische, wo sich zum Heuschreckgang andere ähnliche Typen gefunden haben.

»Interessant?« fährt der Doktor fort. »Gewiß, es ist interessant! Aber es ist vor allem schändlich, es ist verbrecherisch! Man schämt sich nicht einmal, wie letzthin im ›New York Times Magazin‹, mit offenem Zynismus zu fragen: ›Was ist ein Soldat?‹ Und als Antwort zu schreiben: ›Der Staat hat für dich einzelnen Soldaten 30 000 Dollar ausgegeben. Du mußt diese Ausgaben rechtfertigen, indem du jeden tötest, den man dir zeigt …‹«

»Aktion Killer!«

Ein wahrer Sturm bricht los. Dr. Boyle ist selbst erstaunt über die Wirkung seiner Worte. Ohm Ernest wendet sich schnell zu ihm. Der Zorn Gottes sucht mit einer weit ausladenden Geste die Versammlung zu beschwichtigen. Die Hilfe kommt jedoch von einer ganz anderen Seite. Einer von dem Fenstertrupp des Heuschrecks ruft zum Doktor: »Darf man wenigstens wissen, wer uns diese Weisheiten verzapft?«

In die Ruhe, die eintritt, da jeder den Namen verstehen möchte, antwortet Dr. Boyle: »Natürlich können Sie es wissen. Mein Name ist Dr. Boyle, Arzt von Beruf, praktischer Arzt und Neurologe.«

»Und der Statistiker neben Ihnen?«

Unmutsrufe aus dem Saal.

»Die Statistik dieses Mannes besteht, was den Krieg betrifft, nur in einer einstelligen Zahl«, sagt der Doktor. »Sein Sohn, sein einziger Sohn, wird seit acht Monaten in Korea vermißt, seit den Kämpfen am Yalufluß.«

Eine bewegte Stille in dem halbdunklen Raum. Ohm Ernest ist auf dem Podium etwas vorgetreten, während der Doktor sich setzt und man das Licht anknipst.

»Ich habe eigentlich nicht die Absicht, von meinen persönlichen Angelegenheiten zu sprechen«, erklärt Ohm Ernest. »Aber da man sich so sehr für meine Person interessiert und man mich sogar zu einem Statistiker befördern möchte – ich heiße Ernest Lee und bin Automonteur in der Werkstatt von Pop Matthews in Clarendon.«

»Interessant!« kommt es wieder vom Fenster. »Bloß, was haben Sie dann hier am Hafen zu suchen?«

Gerade das hätte die Heuschreckbande Ohm Ernest nicht fragen sollen. Denn jetzt schaut der schwere Mann mit schmalen, zusammengekniffenen Augen wie durch den Schlitz eines Panzerschildes zur Fensterwand, um den Rufer genau aufs Korn zu nehmen. »Was ich hier am Hafen zu suchen habe«, nimmt er die Herausforderung an, »wollen Sie es wirklich wissen, meine Herren? – Eine Tote habe ich hier am Hafen gesucht, eine Gemordete, die achtzehnjährige Tochter meiner Schwester, die ein Fliegeroffizier in seine Wohnung verschleppte, und die man dann als Leiche ins Wasser warf wie eine tote Katze, um die Spur des Verbrechens zu verwischen …«

Einen Augenblick scheint es, als wolle Dr. Boyle in der neu ausbrechenden Erregung Ohm Ernest bestimmen, auf dieses Thema zu verzichten. Aber es ist schon unmöglich. Die Schneeflocke ist ins Rutschen gekommen. Die Lawine rollt an. Ohm Ernest befindet sich bereits mitten im Bericht des Falles Robby – Beß – Donald Clerk. Er berichtet hart, unerbittlich, wie unbeteiligt. Mit der Stimme eines Chronisten. Niemand wagt, ihn zu unterbrechen. Man spürt, das ist kein abgestandener kalter Kaffee. Das ist ein frischer Fall zur Frage des brennenden Lebens, zur Frage: Krieg, Verrohung, Verbrechen aus der Situation dieses Krieges. Man hört jetzt sogar Namen, genaue Namen, den Namen eines bekannten Millionärs – Mr. Cecil Clerk.

Adda beginnt zu zittern. Krampfhaft faßt sie Genes Hand. Sie spürt seinen beruhigenden Gegendruck. Dennoch, der Name Clerk ist in einer offenen Versammlung gefallen, im Zusammenhang mit einem Verbrechen. Von dem einfachen Automonteur Ernest Lee, ihrem Onkel. Das ist furchtbar. Unwiderruflich. Das ist eine Kampfansage gegen eine ungeheure Macht. Ein Mensch geht mit nackter Faust gegen einen schweren Panzer. Unmöglich. Nun wird man sie – Adda und den alten Vater – auf die Straße feuern.

Hat sie Furcht? Ja, sie hat Furcht.

Noch immer liegt eine atemlose Stille über den Versammelten. Sogar die Fensterseite lauscht. Auch der Khakimann. Ohm Ernest steht auf dem Podium wie ein massiger Springer auf dem Zehnmeterbrett vor dem Kopfsprung. Man merkt, er ist entschlossen zu springen. Er schätzt die Distanz, prüft die Schwungkraft des Brettes. Seine Muskeln sind gespannt.

»Mit welchem Recht«, ruft er in den Saal, »sperrt man jenen Rekruten Robby ins Gefängnis, weil er sich weigerte, ein Killer zu werden? Mit welchem Recht erlaubt man es jenen Mr. Clerks, Menschen in den Tod zu treiben und ins Wasser zu werfen wie tote Katzen? Weil wir feige zu allem schweigen, meine Freunde! Weil wir – wie Reverend Hugh eben sagte – uns mitschuldig machen an dem Riesenverbrechen, indem wir es dulden und dabeistehen! Jene kleine achtzehnjährige Beß aber ist ebenso eine Kriegstote wie mein Sohn Mackie und wie noch Tausende unsrer Jungens. Deshalb fordere ich, daß in unsrer Resolution die Verantwortlichkeit auch all dieser Kriegsverbrecher festgestellt wird!«

Die gewaltige Spannung, die über dem Saal liegt, entlädt sich jetzt in Beifallssalven. Ohm Ernest ist zu Dr. Boyle getreten und deutet auf eine Stelle des Bogens mit der Resolution. Adda sitzt drunten neben Gene; sie starrt über das Podium weg auf die Hinterwand mit dem großen Transparent:

Selfdetermination for all people!
Hands off Korea!

Sie sieht jedoch ganz etwas anderes. Sie sieht ihren Vater die Möbel auf einen Karren laden und den alten Carretero irgendwohin stumm davonfahren. Mußte Ohm Ernest wirklich die Sache so auf die Spitze treiben und die Namen nennen? Ann ist ebenfalls am Vorstandstisch, sie schreibt eiligst etwas auf einen zweiten Bogen, ihre sonst so durchsichtig blassen Wangen zeigen eine dunkle Röte – gewiß ist sie Feuer und Flamme. Gene sitzt nachdenklich neben Adda. Dennoch hat er bemerkt, wie der Störtrupp am Fenster plötzlich verschwand. Einige der Typen sieht er jetzt dicht an dem Treppchen, das zum Podium hinaufführt. Was wollen sie dort? Jetzt schiebt auch Pat sich zum Podium vor.

»Die Versammlung ist gleich aus!« sagt Gene zu Adda.

Dr. Boyle droben am Vorstandstisch hat sich erhoben; er klopft an sein Glas und gibt bekannt, daß man eine Resolution zur Abstimmung vorlegen werde. Die Entschließung enthalte im wesentlichen drei Punkte. Zur Beendigung des Koreakonfliktes und zur Befriedung der Welt fordre die Versammlung:

1. Einberufung einer Konferenz der vier Großmächte – der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs,

2. sofortigen Waffenstillstand in Korea,

3. Verbot der Atomwaffen,

und als vierten Punkt, so wie der Friedensfreund Ernest Lee vorgeschlagen habe, Bestrafung aller Personen, die im Verlauf der Kriegsvorbereitungen durch Erzeugung von Panik oder durch direkte Handlungen das Leben ihrer Mitmenschen gefährdeten.

Dr. Boyle hat grade diesen Resolutionsentwurf verlesen, er wendet sich an die Versammlung um Ergänzungs- oder Gegenvorschläge, da erlischt das Licht.

In dem überfüllten, nun schon fast dunklen Saal, in den nur ein matter Widerschein des abendlichen Himmels durch die menschenbesetzten Fenster dringt, erhebt sich ein wilder Tumult. Schreie, Frauenstimmen, krachendes Holz der Stühle, kurzes Flackern von Feuerzeugen, wie Glühwürmchen, die sogleich wieder verschwinden – und jetzt hier und da Handscheinwerferlampen, die sich schnell auf das Podium konzentrieren, wo man sekundenlang sieht, wie ein paar Männer auf Ohm Ernest losschlagen.

Der Heuschreckgang ist an der Arbeit.

Gene hat Addas Hand gefaßt. »Adda?«

»Gene!«

»Sie haben die Sicherungen herausgerissen! Wir müssen zu Ohm Ernest! Laß nicht los!« Er zieht sie im Dunkeln nach vorn.

Zweifellos sind da eine ganze Anzahl dieser Typen von King Joe, dem Anastasia- und Heuschreckgang sowie Burschen der F.B.I. im Saal und auf der Straße, die nach einem System arbeiten und sich gegenseitig in die Hand spielen. Das Herausreißen der Sicherung und die Konzentration der Handscheinwerfer auf Ohm Ernest war der erste Coup. Jetzt wird es klar, daß es um Ohm Ernest und einige Personen der Versammlungsleitung geht. Pat, der schon oben auf dem Podium ist, erkennt, wie die Anastasiabanditen mit künstlichen Schmerzensschreien, Schleudern der Stühle in den Saal, Hilferufen und immer wieder aufblendenden Scheinwerfern »Atmosphäre verbreiten«, wie sie den niedergeschlagenen Ohm Ernest an Armen und Beinen auf die Straße zu zerren suchen, wo bestimmt ihre Wagen warten. Das wäre die zweite und dritte Etappe.

Pat hat einen der Burschen von hinten gepackt, ausgehoben und vom Podium krachend in den Saal geschleudert. Er hört noch Anns Stimme, da trifft ihn selbst ein harter Schlag über den Kopf, daß er niedersinkt.

Für Gene ist es in dem Menschengewirr kaum möglich, so schnell zum Podium vorzudringen. Auch will er Adda nicht verlieren. Immer wieder werden sie auseinandergerissen. Jetzt glaubt er, der kleinen Ille schrille Stimme zu hören, aber nicht mehr von droben, sondern seitlich vom Fenster her, das klirrend aus dem Rahmen bricht. Und da sieht er, wie ein Dutzend dieser brutalen Typen mit Fäusten, Totschlägern und Messern durch die zurückweichende Menge sich eine Gasse zum Fenster gesprengt haben, und wie sie grade den bewußtlosen Ohm Ernest durch die Öffnung zerren.

Es ist keine Zeit zu verlieren.

»Adda!« ruft Gene. Ein Glück, daß er sie sofort zu fassen bekommt. Er stößt und schiebt sich mit ihr durch. In einem Knäuel Fliehender und Angreifender rollt er über die Fensterborde auf die Straße.

 

25. Adda unterläuft den Gegner. Der Kampf in der Rouladengasse.

Auch hier ist das Gedränge und Geschrei nicht geringer. Nur daß man bei dem Spätabendlicht sehen kann, was vor sich geht, wer Freund und wer Feind ist. Die Anastasiaburschen und die andern Typen haben sich ihre Arbeit wohl doch zu einfach gedacht. Auf der Gasse stehen Gruppen von Schauerleuten, die durchaus nicht die Hände in den Hosentaschen halten. Aber da ist wieder so ein Klumpen des Heuschreckgangs, der mit etwas Schwerem in seiner Mitte abrollen will.

Gene rennt hin.

Ohm Ernests Arme schleifen wie leblos am Boden. Alles geschieht blitzschnell. Gene schlägt einem der Kidnapper die Faust mit aller Wucht zwischen die Augen aufs Nasenbein, daß er wegsackt und die Schultern des Ohms zu Boden fallen. Bei dem zweiten, der ihm an die Gurgel will, gelingt es Gene, noch einen kurzen trocknen Haken hochzureißen, der diesem Gegner auch schlecht bekommt. Doch hierdurch gewinnen zwei andre Zeit. Der eine packt Gene von vorn und sucht ihm die Arme an den Leib zu pressen, während der vierte, ein auffallend Langer – es ist der Heuschreck –, aus seiner hinteren Hosentasche einen feststehenden Nicker zieht, aus dem die Klinge hervorspringt. Dieses Dolchmesser einem in die Nierengegend stoßen, das bedeutet sicheres Verbluten, bevor die Operation gemacht werden kann. Es ist nicht das erstemal, daß Heuschreck unerkannt diese heimtückische Waffe benutzt. In dem Gedränge ist solch ein Zustoßen überhaupt nicht zu bemerken … es sei denn, daß der Angegriffene einen Kameraden neben sich hat.

Der Kamerad ist Adda. Sie konnte in der ersten Schrecksekunde in den Männerkampf nicht eingreifen. Doch jetzt, da sie instinktiv die nahe Gefahr für Gene erkennt, packt sie von der Seite mit ihren beiden Händen die Hand des Gangsters und reißt sie nach hinten.

»Rotes Miststück!« faucht der lange Bursche. Er kann das kräftige Mädchen so schnell nicht abschütteln. Doch das Messer fällt zu Boden. Adda beugt sich schnell nieder. Der Gangster wartet, bis sie an der Erde danach greift; dann tritt er ihr mit seinen doppelt gesohlten Sportschuhen stampfend auf die Hand. Mit einem Schrei fährt Adda auf und steckt die schmerzenden Finger in den Mund. In dieser Sekunde hat der Bandit das Dolchmesser wieder gefaßt; sein sonst höhnisches Gesicht ist von Wut verzerrt, wie er den Nicker nochmals von hinten gegen Gene zückt. Aber bevor er zustoßen kann, stürzt er mit einem Stöhnen vornüber auf den Asphalt. Adda ist – den Kopf als Rammklotz weit vorgebeugt – gegen ihn gerannt, ihren Schädel mit aller Wucht in seine Magengrube stoßend, in die Gegend des Plexus solaris. Zwischen den Beinen des Wankenden gebeugt hat sie, sich wieder aufrichtend, den Gangster über ihre Schulter geworfen, so daß er mit der Stirn zu Boden knallt. Instinktiv wandte sie den uralten Trick der Indianer an, den Gegner zu »unterlaufen«.

Doch obschon Gene so vor dem tödlichen Stich bewahrt wurde, wäre die Gefahr inmitten der zahlreichen Banditen noch lange nicht beseitigt gewesen, hätten nicht Honeycut, Cucumber und Mark, der Athlet, jetzt eingegriffen. Mark vor allem verrichtet eine großzügige und saubere Arbeit. Er allein schickt eine Anzahl dieser Reptilien ins Traumland.

Dann wird Ohm Ernest in die White Rose Bar gebracht. Ein halbes Dutzend Whiskys bringen ihn allmählich wieder zu sich.

Gene sagt Adda, die um Ohm Ernest bemüht ist, er werde schnell noch Ann, Ille und den Doktor holen. Bevor sie überlegen kann, ist er verschwunden.

*

Draußen sind einige Überfallwagen der Polizei angekommen, die aber nicht in den Kampf eingreifen, vielmehr angesichts der Massen erregter Hafenarbeiter die Straße zu der Polizeistation am Hafen abriegeln. Inzwischen geht der Tumult in den Nebenstraßen weiter. Die Neugierigen haben sich – zumal beim Anrücken der Polizei – schnell verzogen. Gene rennt zur Straße des Versammlungslokals des Friedenskomitees. Dort ist alles leer.

Dagegen dringt aus den Gassen um die Markthalle Lärm. Die Auseinandersetzung geht hier weiter zwischen den militanten Friedenskämpfern, auf deren Seite die streikentschlossenen Dockers stehen, und den King Joe-Leuten, unterstützt von kriminellen Elementen, die überall im Trüben fischen. Dabei spielt Ohm Ernests Bericht über Beß' Ende eine große Rolle. Der Name des Millionärs Cecil Clerk und die Worte »wie eine tote Katze« sind besonders im Gedächtnis haftengeblieben. Als einer der schon betrunkenen King Joe-Typen beim Vorübergehen von Pat und Ann, die Ohm Ernest suchen, losschreit: »Für so 'n Stück, das bei jedem Kerl schläft, ist's ganz okay – abzusaufen wie 'ne tote Katze«, da springt Pat hinzu und tritt diesem Kumpan in den Hintern, daß er an die Hauswand fliegt und hinsinkt. Sofort ist eine neue Schlägerei im Gange, an der sich auch ein Dutzend Schauerleute auf der Seite von Pat und Ann beteiligen.

»Da sind die roten Statistiker!«

»Macht sie zu Roulade!«

Die King Joe-Banditen scheinen sich aus dem Kampf zurückzuziehen. Sie verschwinden in den Häusern. Doch plötzlich, ehe sich's Pat, Ann und die paar Freunde versehen, donnert etwas vom oberen Ende der schmalen Gasse übers Pflaster: es sind schwere Benzintonnen, die von den Banditen in diese schräg abfallende Häuserflucht herabgerollt werden, wo sie unten mit einem furchtbaren Aufprall die rechtwinklige Biegung des Engpasses verrammeln. Das Ganze wirkt wie eine mörderische Falle. Offenbar ist es nicht das erstemal, daß die Gangster diese Methode anwenden, um ihre Gegner zu überrollen und »zu Roulade« zu machen. Die Sache ist gefährlicher, als es zuerst scheint. Die schweren Eisenfässer kommen mit ungeheurer Wucht daher, kanten an einer Hausmauer und rollen dann kreuz und quer durch das Gäßchen. Schon schreit einer der Schauerleute auf. Unmöglich, in eins der Häuser zu entweichen, da schon bei Beginn der Schlägerei die meisten Türen verschlossen wurden und die Banditen ein übriges taten.

Immer wieder donnert eine Metallawine herab. Die Dockers haben ihren verwundeten, stöhnenden Kollegen auf ein Fensterbrett gesetzt. Doch sie selbst müssen dauernd springen. Fast noch schwerer ist es für Pat, der die kleine Ille hochgenommen hat. Ille, auf Pats Schulter sitzend, schimpft gegen die Faßroller wie ein wütender Rohrspatz: »Ihr lausigen Bankerte! Ihr Feiglinge! Das wird man euch heimzahlen, ihr elenden Strolche, ihr Gestank!«

Ann nimmt jetzt abwechselnd Ille, die wie außer sich tobt und spuckt und hinunter will, auf ihre Schulter, daß Pat sich ausruhen und dem Docker mit seinem offenbar gebrochenen Bein helfen kann.

Die Sache sieht nicht gut aus. Aber der eigenartig metallische Lärm der Fässer zieht mit der Gefahr auch die Hilfe heran. Denn Honeycut, der diese Methoden der Gangster in dem »Rouladengäßchen« kennt, eilt jetzt mit Mark, Cucumber und Gene auf das Geräusch los. So gelingt es doch noch, die Faßroller nach kurzem erbittertem Handgemenge am oberen Ende der »Schlucht« auseinanderzuschlagen und in der minutenlangen Pause, bevor noch der in den Häusern zurückgezogene Gang sich wieder sammeln kann, Pat, Ann, Ille, den Verwundeten und die andern zu befreien.

*

Wie sie dann in der White Rose sich treffen, stellt sich heraus, daß nicht bloß der auf eine Bank gelagerte Docker ein Opfer ist; auch Genes Gesicht sieht böse aus. Stirn und Augenlider sind rechts blutunterlaufen und verquollen. Das Auge selbst ist von der Schwellung geschlossen. Die Backe blutet von einem breiten Riß. Adda gelingt es kaum, mit ihrem daraufgepreßten Taschentuch die Wunde zu stillen.

»'nen Arzt!« sagt Honeycut zu Mark.

»Für mich nicht!« wehrt Gene ab. »Gibt bloß Schererei!«

Ohm Ernest, der wieder ganz wach ist und nur einen Striemen über der Stirn hat, meint: »So was bringt man in der Apotheke in Ordnung.« Und lächelnd: »Na, gib mir deine Flosse, Gene!« Er drückt kräftig Genes Hand.

»Habt ihr den Doktor nicht gesehen?« fragt Ann.

Pat meint: »Der ist längst daheim.«

Ann, Pat und Gene mischen sich noch mit einigen Scotch Whisky und Vat 69 auf. Die kleine Ille erhält zwei Eiskreme mit Candy. Alle sind sehr erschöpft. Es wird noch eine lange Heimfahrt geben. Ohm Ernest, Pat und Ann verabschieden sich von Honeycut und seinen Leuten. Adda wird Gene zu einem Drugstore bringen, wo man ihm das Gesicht verpflastert.

»Und was wirst du morgen im Dienst sagen?« fragt Ohm Ernest.

»Glaubt ihr, wir Fliegerfunker haben nicht mal 'ne Keilerei in so 'ner Sonntagsnacht?«

Die drei mit der kleinen Ille sind schon draußen, da kommt Pat nochmals zurück. Er schaut Gene lächelnd an: »Hätte dir das gar nicht zugetraut, Gene.« Er gibt ihm die Hand und sagt noch: »Übrigens, die Stafettenkapsel, die mir Adda vorgestern brachte, ist schon auf Fahrt.«

»Wirklich?«

»Zu meinem Freund, dem deutschen Studenten.«

 

26. Eine harte Nuß. In dieser Nacht …

Nachdem in einem Drugstore mit Nachtdienst Genes Rißwunde über der Backe mit blutstillender Watte und einem Mastixverband versorgt wurde, sagt Adda: »So kannst du nicht gut zum Flugplatz, Gene; komm mit zu mir!«

»Was wird dein Vater sagen?«

»Er schläft.«

»Und ich verbeulter Kanister?«

»Komm!«

Sie hat ihn energisch an der Hand genommen und geht mit ihm zum nächsten U-Bahnhof. In den Straßenschluchten atmet der Asphalt die dunstige Hitze aus. Die Lokale sind voll Tanzmusik. Einmal horcht Gene auf – wo hat er diesen Schlager schon gehört? So viele Songs schwirren durch die Luft … aber dieser? Aha … »Forget the trubbles – be happy!« Natürlich, das war auf jenem Hügel am Strand, als sie heimgingen und er vorher Adda gefragt hatte: »Lohnt es sich noch?«

»Was hast du, Gene?«

»Nichts.«

Sie gehen weiter. Durch den feinen Dunstschleier blicken groß die Sterne des späten Augusthimmels. Seltsam, im lärmenden Herz dieser Millionenstadt ist die Welt plötzlich sehr fern. Die Menschen scheinen wie huschende Schatten. Gene fühlt sich ohne Körperschwere. Vielleicht ist es der Blutverlust. Adda hat bei ihm eingehakt. Sie ist etwas kleiner als er, doch fest und kräftig. Sie führt ihn, und er läßt sich führen. Ein neuer Rhythmus ist in seinem Wesen. Er möchte ausschreiten.

»Geht es besser, Gene?«

»O ja.«

*

Zu Hause bereitet Adda in einer Karaffe Eissoda mit Zitrone und Orangensaft. Gene steht am Fenster; er schaut auf die balkenartigen Schatten der Platanen im Park. Ist das dieselbe Welt wie vor einer Woche? Schnell dreht sich die Erde und saust noch in ihrer Ekliptik dahin. Hat die Lebensbahn des einzelnen nicht auch solche Punkte tiefster Dunkelheiten und heller Nächte?

Adda schließt die Fensterläden. Sie sitzen in dem in sich ruhenden Raum. Der eisgekühlte Saft fließt spürbar durch die Blutkanäle. Adda hat ihr Jackett abgelegt. Sie trägt einen ärmellosen Pullover. Während sie nochmals aus der Karaffe einschenkt, sieht man das Muskelspiel ihrer wohlgeformten kräftigen Arme.

»Denkst du ebenso wie Pat?« fragt Gene.

»Wie?«

»Pat sagte, er habe mir das nicht zugetraut.«

»Weil du dich früher …«

»Und du selbst, Adda, warst erstaunt?«

»Wenn man dich zusammengeschlagen hätte und die F.B.I. deinen Namen dem Flugplatzkommando mitteilte?«

»Erstens, Adda, sind du, Ohm Ernest, Ann und auch Pat mir hundertmal näher als der ganze Flugplatz samt seinem Kommando; aber das allein ist es auch nicht …«

Sie nimmt seinen gazeverklebten Kopf behutsam zwischen ihre Hände. »Was denn, Gene?«

»Was?« Er schaut auf die kahle Wand gegenüber, an der nur der breitrandige Sombrero des alten Manuel hängt. »Ist das nicht unerträglich, was uns Ohm Ernest vorlas? Und der Doktor? Was ist ein Soldat? Weil er 30 000 Dollar kostet, deshalb müsse er jeden Menschen töten, den man ihm zeigt! Und ich selbst war so einer, ohne es recht zu wissen. Und wenn man mir jetzt wieder den Befehl gibt, als erfahrener Funker auf einem Atombomber zu fliegen? Schweine sind wir alle!« Er legt den Kopf auf die Arme.

Sie streicht über sein Haar. »Laß jetzt, Gene! Du hast heute genug hinter dir!«

»Genug? Was hab ich denn schon getan? Jeden Kameraden wird man doch heraushauen.« Er schaut sie gequält an. »Nein, wir sitzen zu tief drin im Morast, bis zum Hals. Schändlich ist das! Man hat uns ums Maul geredet, uns Auszeichnungen gegeben, man sagt heute schon wieder, wir sollten die Ehre der Menschheit retten! Aber wie kann man die Ehre der Menschheit retten, wenn man mitten im Sumpf steckt?«

»Gene, ich glaube, du machst dich selbst blind. Denn du bist bestimmt nicht mehr im Sumpf, wenn du dort stehst, wo Ohm Ernest, der Doktor, Ann und Pat stehen.«

»Du hast recht«, meint er zögernd. »Nur eins hast du noch vergessen … und wo Adda steht.«

Sie lächelt ihm zu und fährt ihm über die Augen.

»Mein Gott, sieh mich nicht so an, Adda! Ich bin heute mit meiner zerschlagenen Fratze kein Anblick!«

»Liebster …«

 

Wie sie auf der Couch bei ihm liegt, Seite an Seite, und sich flüsternd mit ihm unterhält, fragt er: »Weshalb bist du so anders, Adda?«

Sie zögert einen Moment; dann meint sie: »Du warst so traurig, so außer dir, so übel zugerichtet …« Doch schnell verbessert sie sich: »Nein, Gene, das war es nicht. Aber ich spürte, als du in der Versammlung neben mir warst, deine Aufmerksamkeit, deine Wärme, deine Güte und Hilfsbereitschaft, und dann auch später, wie du für Ohm Ernest und Pat einsprangst. Ich kann das alles schwer ausdrücken, Gene. Ich weiß, ich bin eine schwierige, harte Nuß. Das ist meine Art. Was kann man machen?« Ganz nahe flüstert sie jetzt an seinem Ohr, daß er an Wange und Hals ihren Atem spürt: »So ist das, Gene. Meine harte und rauhe Schale ist nur durch Güte zu brechen. Auf Intellekt reagiere ich mit Intellekt, auf Berechnung mit Berechnung, auf Ironie mit Ironie. Nur Wärme und Menschlichkeit kann das andre öffnen.«

Die dunkle Bronze ihres Gesichtes, ihrer Schultern, ihrer Arme strahlt selbst jetzt Wärme aus. Sie nimmt Gene nahe zu sich. Ihre geschmeidigen, festen Muskeln vibrieren vor Lebenskraft. Ihre Haut strahlt vom Licht des Lebens. Ihr Haar knistert Funken. Von ihrem Körper strömt ein Geruch des Waldes aus, von Laub und feuchten Wurzeln. Dann scheint jede Überlegung sie verlassen zu haben vor einer längstvergessenen, fernen Wildnis.

Später liegen sie wieder ruhig und wach und sprechen sich vieles vom Herzen. Es ist, als sei das Gespräch nicht weniger beglückend als die Umarmung.

In dieser Nacht werden sie Mann und Frau.


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