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Siebentes Kapitel

 

17. Die Nacht bei Adda. Ben Burns sichtet Kontonummer Morris.

Wie Adda gegen Mitternacht durch die Seitenpforte des Portals des Clerk-Parks tritt, kommt Gene aus dem Schatten des kleinen Gärtnerhauses auf sie zu. Während des ganzen Heimweges wurde Adda den letzten Eindruck nicht los, den Gene hinterlassen hatte – ein zerrissener, isolierter Mensch, der in eine Lüge wie in eine Falle geraten war und nun verzweifelt suchte, sich aus dieser Lage zu befreien. Und oben stehen andere und sehen zu, wie er sich abmüht, aus der Grube herauszugelangen. Vielleicht ist Gene ein schwacher Mensch trotz seiner kameradschaftlichen Tapferkeit, die er im Krieg bewiesen hat? Vielleicht eine zu empfindsame Natur trotz seiner »männlichen« Reaktion mit der Flasche in der Faust? Vielleicht fühlte er sich auch durch ihre Gegenwart besonders gedemütigt, so daß sie – Adda – schneller hätte eingreifen müssen, bevor es soweit kam?

Vielleicht stimmt auch keine dieser Vermutungen und ist Gene froh, mit dieser anspruchsvollen »politischen« Gruppe nichts mehr zu tun zu haben?

Doch jetzt tritt er vom Haus weg unter das matte Licht des Viertelmondes, das nur mühsam durch die breitfingrigen Blätter der Platanen rinnt. »Ich hatte vergessen, dir zu danken, Adda.«

Sie findet so schnell kein Wort und zuckt die Schultern.

»Du hattest eigentlich ja keinen Grund, mich zu verteidigen, Adda. Denn schließlich hab ich ja auch dich belogen.«

»Ich denke, Gene, du hattest mir vorher alles freiwillig gestanden.«

»Aber« – er sucht in seinem Gedächtnis – »diese Gemeinheit, daß die ganze Arbeit der Jugend mit der Stafettenkapsel umsonst war, diese bodenlose Schweinerei wird faktisch dadurch nicht anders.«

»Wollen wir einen Moment zu mir hineingehen, Gene?«

Er schweigt.

»Ich meine, wenn dir daran liegt zu sprechen. Wir können hier nicht stehen.«

»Ich wollte dir bloß danken, Adda, ganz einfach danken und mich verabschieden.«

Sie hört den unterdrückten Ton in seiner erregten, heiseren Stimme und schaut ihn besorgt an. »Was soll das, Gene?«

»Du brauchst einen andern Freund, Adda.«

Wie sie ihn an den Schultern packt, um sein Gesicht in das schattige Licht zu drehn, spürt sie, daß seine Muskeln vibrieren wie unter einem leisen Schüttelfrost. »Komm hinein!« sagt sie und führt ihn ins Haus.

Sie schließt die Holzlattenblenden gegen die Mücken, knipst das Licht an und lauscht einen Augenblick auf das tiefe, röchelnde Schnarchen des Vaters in der Kammer neben der Werkstatt; sie wirft Jacke und Barett auf einen Stuhl und hockt in ihrer gewohnten Haltung auf der Couch.

»Setz dich, Gene; sag mir alles!«

Gene sitzt auf einen Stuhl am Tisch nieder und stützt den Kopf müde in die Hände. Was ist da noch zu sagen? Es gilt doch einfach, Schluß zu machen. Er ist für diese Sache nicht geeignet. Diese Menschen sind alle von einer bestimmten Idee besessen – und er liebt Adda, nichts als Adda und nochmals Adda, so daß er zuerst und immerzu an sie denken muß und natürlich diese Dummheit auch ihretwegen begangen hat. Das ist es. Aber sie selbst …

»Du wolltest einfach nicht, daß Pat es machte?«

»Natürlich.«

»Natürlich?« Adda ist aufgestanden; sie beugt sich über ihn und hebt mit beiden Händen seinen Kopf, wobei sie fast lächelt. »Natürlich, sagst du? Ist das wirklich so natürlich?«

»Was?«

»Nun das.«

Er schaut sie hilflos an, von ihrer Nähe verwirrt.

»Weshalb du es getan hast – natürlich?« Und bevor er antworten kann, zieht sie ihn zu sich und preßt seinen Kopf in die Grube zwischen ihren Brüsten, daß es ihm den Atem verschlägt und nur der Duft ihrer heißen Haut in ihn dringt. Er sucht sich zu befreien. Doch sie hält ihn mit ihren festen Armen, sich über ihn beugend, und flüstert ihm ins Ohr: »Wie kannst du zweifeln, Gene? Du bleibst mein Freund …« Sie umfängt ihn, mit den Händen ihm die Augen verschließend, unter ihren Küssen immer wieder ihm beteuernd: »Natürlich, du kleiner Junge … weil du Adda liebst … ist das so furchtbar … darum willst du Adda verlassen, du dummer Junge … deine beste Freundin …« Und wieder Küsse und eine Umarmung, die ihm die Kehle zuschnürt. Dann springt sie auf, tritt zur Seite und preßt ihren Kopf gegen die kühle Wand.

Dieser Abend hat auch von Addas Nerven zuviel gefordert. Sie hat die Kontrolle über sich verloren. Sie findet sich in sich nicht mehr zurecht. Ihre Schultern zucken … ein Gewitter, das über Nacht aufzog und losbrach. In dieser Verfassung sind Himmel und Erde im Aufstand. Die Natur scheint als Person aufzutreten. Die Spannung muß sich wie ein unerträglicher Schmerz entladen – im Geheul des Sturms, in den Zuckungen des Blitzes, im Tränenstrom des Regens. Auch im menschlichen Organismus brechen beizeiten die Elemente los. So wurde Adda von sich selbst übermannt.

Noch immer steht sie da, die Hände flach gegen die Wand gestemmt, die Stirn gegen die kühlen Ziegel gepreßt. Allmählich läßt die Spannung nach. Unmerklich rinnen Tränen. Sie weiß nicht, ist etwas bei ihr zerbrochen oder befreit? Vielleicht muß man die Schalen zerbrechen, um das Leben zu befreien?

Sie ist schon ruhiger, wie Gene ihr die Hände auf die Schultern legt und sagt: »Ich glaube, Adda, wir sollten nicht unser Bestes aufs Spiel setzen.«

Sie wendet etwas den Kopf und lauscht.

»Ich meine das so, Adda, man soll das natürliche Tempo, das jeder Mensch in sich trägt, nicht überziehen. Man muß das nicht unbedingt mit einer Maschine vergleichen, die man beim Höhenflug zu steil stellt, daß sie abrutscht. Aber auch der Mensch hat gewisse Grenzen. Früher bin ich als Sprinter kurze Strecken gelaufen. Ich wollte unbedingt für hundert Meter die Elf-Sekunden-Grenze erzwingen; so lief ich die Strecke fünfmal am Tag, dann sechsmal, schließlich achtmal; es ging immer besser. Auf einmal war es aus.«

»Wie?« Sie schaut ihn an.

»Jawohl – aus. Der Start war schlecht, der Mittellauf, der Endspurt, alles. Übertrainiert.«

»Ich weiß nicht, ob man das vergleichen kann, Gene? Aber es war wirklich ziemlich viel in diesen Tagen; wir brauchen etwas Ruhe.«

»Darf ich einen Wunsch sagen?«

»Bitte.«

»Ich weiß, Adda, auch du bist übermüdet. Du kannst versichert sein, ich bin nicht gekränkt, wenn du nein sagst …«

»Was ist?«

»Ganz einfach, Adda; ich habe den närrischen und vielleicht unmöglichen Wunsch, ruhig in deinen Armen zu liegen.«

 

So ruhen die beiden jungen Menschen angekleidet auf der Couch. Adda hat ihren rechten Arm unter den Nacken des Freundes gelegt und bedeckt mit ihrer linken Hand seine Augen gegen das Licht, das sie brennen ließ. Sie möchte wach bleiben.

Gene ist todmüde. Seine Atemzüge werden tiefer und tiefer. Eine zunehmende Wärme strömt von dem Schlafenden aus. Leise drückt Adda seinen Kopf an ihre Brust. So liegt er schlaftrunken, mit leichtgeöffnetem Mund wie ein Kind bei seiner Mutter. Und diese gesunde Wärme ihrer Körper hüllt sie ein wie in einen weiten Mantel.

Adda schaut zu dem Licht an der Decke. Die kleine elektrische Birne ist, wie die Sonne an dunstigen Sommertagen, von einem regenbogenartigen Farbkreis umgeben. Vielleicht sind es noch die Tränen, die ihren Blick verschleiern und diese seltsame Erscheinung erzeugen. Es ist sehr still. Man hört nur Genes Atem, der tief die Luft einsaugt und sie mit einem kaum vernehmbaren Seufzer wieder wegbläst. Bei seinem tiefen Schlaf kann Adda ihn fester zu sich nehmen.

Wie sie ihn liebt! Trotz allem. Vielleicht grade wegen seiner Schwächen und Konflikte, mit denen er sich herumschlägt. Wieviel einfacher hat es Pat, der schon über den Berg ist und etwas von oben herab auf Gene schaut. Und wie er heute abend auf ihn lostrommelte, Genes schwache Deckung zerschlagend … »Vertrauensbruch, bodenlose Gemeinheit.« Aber Gene hatte doch vorher freiwillig seine Fehler bekannt! Das ist oft schwieriger, als keine Fehler zu machen. Sie neigt ihren Kopf, bis sie Genes Gesicht spürt. Ob er in zwei Tagen dennoch zum Meeting kommt? Besser nicht! Wenn man in dem Flugblatt oder auf der Versammlung Beß' Tod behandeln wird, dann kann auch Mr. Clerk nicht aus dem Spiel bleiben. Mr. Clerk wird bestimmt aus allen Lagen zurückschlagen. Und was wird dann aus ihrem Vater, dem alten Mann, der seit fast dreißig Jahren hier mit seinem Dienst, mit dem Gärtnerhäuschen und dem Park verwachsen ist? Sie weiß, Clerk wird keine weichen Hände haben. Auch nicht Mrs. Dorothy. Aber kann man dieser Sache ausweichen? Hat sie selbst nicht gesagt – oder war es Ann –, daß man die kleine Beß nicht wie eine ins Wasser geworfene Katze vergessen darf? Und jetzt, da nach Genes Bericht alles sonnenklar ist?

Also muß man den Weg gehen. Adda ist nicht feige. Schon als Kind war sie unbändig trotzig; ja, sie hat sich sogar mit den Jungens herumgebalgt, als sei sie selbst ein Junge. Doch hier wird sie unsicher. Es geht ja nicht bloß um sie.

Plötzlich beginnt Gene im Schlaf zu stöhnen. Er wirft sich zur Seite und stößt mit den Fäusten umher, wobei er Addas Kopf trifft; sie hält ihn.

»Beß!« schreit er auf.

Adda legt ihre Hand auf seinen Mund.

Er kniet jetzt auf der Couch, starrt zur Decke, zum elektrischen Licht, schaut Adda an. »Du?«

»Was ist, Gene? Du hast geträumt?«

Er reibt sich die Augen, nimmt Adda um die Schulter, als müsse er sich an ihr halten. »Verdammt will ich sein … aber so deutlich sah ich Beß …«

»Wie?«

»Nun … wie sie lebte, das heißt, doch etwas anders … etwas von dir oder Ann war an ihr, sie war härter als sonst … es war in einer Versammlung …«

»Weil wir den ganzen Abend davon gesprochen haben.«

»Natürlich.«

»Aber was hast du so geschrien?«

»Habe ich?«

»Ja.«

»Weil man ihm die Arme ausdrehte, einem starken Mann … zwei solcher F.B.I.-Kavaliere, die sich von hinten an den Breitbrüstigen herangemacht, ihm plötzlich die Arme nach rückwärts rissen, ihn zugleich in die Knie traten, bis er niedersank, und dann hebelten diese beiden Windschiefen dem starken Kerl den rechten Arm aus, bis es knackte …«

»Genug, Gene!«

»Dachte ich auch, Adda … aber sie drehten weiter, bis der Breitbrüstige es nicht mehr aushielt und zu schreien anfing, während es jetzt schon im Gelenk krachte, er schrie wie ein Tier, da ließen sie ihn fallen wie 'nen Kadaver …«

»Mein Gott, Gene …«, sie kniet vor ihm, »laß das, ich bitte dich, laß das!«

»Es ist schon zu Ende«, sagt er leise. »Bloß, wie er dalag, dieser starke Mensch, graugrün, schrecklich in seiner Ohnmacht, fast kein Lebewesen mehr …«, flüstert er, »aber da kam einer dieser Windschiefen noch mal zurück, als habe er etwas vergessen, und trat dem Breitbrüstigen mit seinen doppelsohligen Stiefeln mit solcher Wucht von oben ins Gesicht …« Als geschehe es ihm selbst, hat Gene sich auf sein Gesicht geworfen, am ganzen Körper zitternd vor dieser grauenvollen Vision.

»Komm zu dir, Gene! Das ist unmöglich, Gene!« Sie sucht ihn herumzudrehen. Doch er bleibt, das Gesicht nach unten. Jetzt hockt sie neben ihm, sie streicht ihm übers Haar und wartet, bis sein Atem ruhiger wird. Ist es nötig, daß auch er in den Wirbel gerät? Noch ist er heil und unversehrt. Aber da liegt der Zertretene am Boden. Nein, nein! Sie wird es nicht zulassen! Leise streckt sie sich aus neben Gene, ihren Kopf neben dem seinen. Gene, ich liebe dich! denkt sie. Und wieder überkommt sie eine heiße Welle von Verlangen. Geliebter …

Doch zugleich erwägt sie: Ist es allein diese Liebe, oder ist es nicht auch der Wunsch nach dem großen Bruder, den sie als kleines Mädchen sich stets ersehnte? Oder vielmehr noch das Verlangen der Mutter nach dem Kinde – etwas, das hundertmal stärker in ihr ist als ihr »männliches Wesen«? Daß sie jetzt darüber nachdenken muß!

Seltsam wach ist sie trotz der Übermüdung. Sie schaut nach der Armbanduhr. Es ist halb drei. Bald werden die Vögel anschlagen. Die Morgenkühle dringt schon durch die Ritzen der Tür und des Fensters. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, höchstens eine halbe Stunde. Sie zieht den Schlafenden behutsam zu sich. In tiefem Schlummer ruht Gene jetzt in ihrem Arm. Ein Kraftstrom flutet von ihrem gesunden Körper zurück zu dem seinen.

Und wieder vereint sich die Wärme seines Schlafes mit ihrer Liebe.

*

Die Kontonummer Joe Morris läßt dem kleinen Ben Burns keine Ruhe. Auch nicht die tote Beß. Bestehen hier Zusammenhänge? Niemals aber hätte er sich in einem andern Falle auf solch ein gefährliches Terrain gewagt, und dazu noch auf so eine verwegene Weise.

Falls seine Annahme stimmte, so wäre es sinnlos, mit der Beobachtung eines Gangs und dessen Chefs ein Detektivbüro zu beauftragen. Ein Privatdetektiv wird höchstens den Gang warnen und das Honorar kassieren, wobei Ben Burns außer der Honorierung des Detektivs nun auch noch die Rache des Gangs auf sich genommen hätte. So geht es nicht. Auch mit der eigenen Nachforschung nach Geschäftsschluß kommt man nicht weiter.

Was blieb also noch für ihn, den kleinen Mann, der keine große Summe einzusetzen hatte? Eigentlich mußte er das Rennen aufgeben. Doch mit der Hartnäckigkeit des Monomanen, der von einer Sache besessen ist, blieb nach tagelangem Grübeln und Erwägen schließlich nur der eine seinen Verhältnissen angemessene, zwar etwas verbrauchte, aber doch noch praktikable Trick.

Er riß eines Abends zu Hause die obersten Knöpfe seines Sommermantels mit solcher Gewalt ab, daß auch noch der leichte Stoff mitzerfetzte. Dann fuhr er gegen 22 Uhr in jene Avenue, wo sich das Büro von Joe Morris befand. Er ging in eine der ruhigen Seitenstraßen, rieb Mantel und Stiefel gegen eine der kalkbeworfenen Gartenmauern, faßte sich ein Herz und begann jetzt zur Avenue zu rennen und um Hilfe zu rufen.

Bald war er von Passanten umringt, die den »Überfallenen« zur nächsten Polizeiwache brachten. Bei dem kurzen ersten Verhör stellte sich mit Hilfe einiger Zeugen heraus, daß man deutliche Hilferufe gehört, daß also auf diesen schwächlichen, sehr schüchternen Angestellten der Cecil Clerk Corporation offenbar ein mißglückter Überfall stattgefunden hatte (wofür auch die mit großer Gewalt abgerissenen Mantelknöpfe sprachen), und daß der Täter dann in einem der nächsten Häuser der belebten Avenue verschwunden sein mußte.

Nachdem die Augenzeugen entlassen sind und das erste Protokoll abgeschlossen ist, betrachten die Cops und der Kommissar diesen Fall offenbar nicht für interessant oder ergiebig genug, sich bei ihrem Farmerwhist länger stören zu lassen. Ben Burns steht noch immer da, mit der Reinigung seines Mantels beschäftigt. So nun sollte die Sache mit drei abgerissenen Knöpfen und einem beschmutzten Mantel enden? Aber bald zeigt sich, daß der kleine Burns in seiner manischen Besessenheit, gleichsam im Dunkeln, richtig kalkulierte. Denn der vierte Mann des Whist – der kiebitzende »Strohmann« – beginnt jetzt zu quatschen und die andern Spieler zu stören. Er meint, das sähe eigentlich Joe Apollo nicht unähnlich, der sich aus alter Gewohnheit gewiß wieder einmal ein Späßchen leisten wollte.

»Halt 's Maul!« sagt einer der Cops, in seiner Berechnung irritiert.

Und der Kommissar: »Das hat Joe heute nötig!«

»Ein Späßchen … grade, weil er's nicht mehr nötig hat.«

»Wird hier gespielt«, knurrt der dritte Spieler ärgerlich, »oder macht ihr Gangsterjagd?«

»Reg dich nicht auf, Jackie, die Zeiten sind vorbei; aber«, beharrt der Kiebitz eigensinnig, »diese Jungens haben immer noch ihren Spleen.«

»Was für 'nen Spleen, 'nen kleinen Menschen zu überfallen?« bemerkt Ben Burns, der seinen Mantel grade wieder überstreift, während alle erstaunt aufschauen. »Möchte sehen, wem so was Spaß macht?«

»Kannst du haben«, grinst der rechthaberische Strohmann, »schau doch mal morgen früh auf der Avenue ins Büro von Joe Morris …«

»Verrückt?« fährt der Kommissar mit einem schiefen Blick dazwischen und zu Burns: »Sie können gehen!« Wie Burns schon an der Tür ist, fügt der Kommissar hinzu: »Ich empfehle Ihnen, mit niemanden über die Sache zu sprechen, bevor wir Sie wieder vorladen!«

 

Obschon also der kleine Burns in seiner sturen Besessenheit sein Ziel erreicht hat, ist ihm draußen gar nicht wohl. Möglichst schnell sucht er diesen Stadtteil zu verlassen. Er nimmt eine Taxe und steigt dann in die nächste U-Bahn. Auf einmal erkennt er ganz nüchtern, in welche Gefahr er sich begeben hat. Wenn nun der Kommissar seine Aufgabe doch ernst nehmen wird und ihn jenem Joe Morris-Apollo gegenüberstellt? So wird man auch ihn zum Schweigen bringen. Denn wer Joe Apollo und Gorillajack ist, das weiß Burns ebenso wie jeder Bürger dieser Stadt. Es gibt immer noch die bewährten Methoden.

Auch der Zusammenhang zwischen der toten Beß im Wasser des Hafens und der Überweisung auf die Kontonummer Joe Morris' ist nun nicht mehr schwer zu erraten.

Die Frage ist bloß, ob es gut ist, solche Dinge zu erraten?

 

18. Adda kämpft für Gene. Gene kämpft für Adda.

Auch Adda richtet an sich die Frage: Ist es gut, solche Dinge zu erraten?

Aber bei ihr geht es ja nicht bloß um diese Dinge – um den Tod von Beß und die Angaben des Negers –, es geht für sie um Gene, den man aus der Gruppe stieß wie einen räudigen Hund und der Verzweiflung preisgab. Konnte die Gruppe denn heute anders handeln? Doch sie – Adda – kann sich damit nicht abfinden. Gerade jetzt im Unglück spürt sie, wie sehr sie Gene liebt mit all seinen Schwächen und Konflikten. Sie muß ihm helfen, ihn herausreißen aus seiner Verzweiflung, ihn vor der Gruppe rehabilitieren!

Gewiß, Gene hat einen groben Vertrauensbruch mit seiner Lüge begangen, doch nicht aus Niedertracht und Bosheit, sondern letzten Endes aus Eifersucht und aus Liebe zu ihr. Er hat seinen Fehler freiwillig vor ihr und der Gruppe bekannt. Soll man einem Menschen nicht die Chance geben, einen Fehler wiedergutzumachen?

Bloß wie?

Sie wird am Sonnabend in die Versammlung gehen, und Gene wird sie da nicht allein lassen. Die letzte Nacht, als er bei ihr lag, schrie er im Traum Beß' Namen – so sehr beschäftigte ihn die Sache. Aber deshalb wird die Gruppe sich nicht anders zu ihm stellen. Pat sagte: Wer garantiere nach solch einer Lüge gegenüber Kameraden, daß auch die Angaben über Beß' Tod und den Neger nicht gelogen seien. Das war der Punkt, bei dem Gene und Pat aufeinander losgingen.

Das ist der Punkt!

Ja, das ist es: man muß Gewißheit erlangen, daß Gene in dieser wichtigen Frage die Wahrheit berichtet hat. Wie kann das geschehen! Plötzlich kommt ihr ein Gedanke.

 

Am gleichen Nachmittag, sofort nach Büroschluß, geht Adda in die Clerksche Villa und läßt sich bei Mrs. Clerk melden. Mrs. Dorothy bezeichnet ja, zumal wenn sie die »undankbare« und immer mehr sich ihr entfremdende Francis stacheln will, Adda wie in der Kindheit als »ihre Tochter«. Tatsächlich hat Adda früher mit Donald und Francis wie mit Geschwistern gespielt.

Jetzt kommt sie zu Mrs. Dorothy, um ihr wegen Donalds Tod das Beileid auszusprechen und sie zu fragen, ob man nicht Briefe oder Andenken von Beß bei Donald gefunden habe?

Mrs. Clerk, die Adda etwas feierlich in den kleinen Salon gebeten hat, scheint nachzudenken und schüttelt dann wortlos den Kopf. Sie fährt sich über die Augen. »Woher Briefe … woher Andenken … woher?«

Da ist ein Kurzschluß für Adda. Sie hat angenommen, daß Mrs. Dorothy in ihrer temperamentvollen Art selbst das Gespräch weiterführen würde, und daß sich von hier eine Verbindung zu Beß' Tod finden lasse. Aber Mrs. Dorothy in ihrem dunklen Trauerkleid schweigt vorerst. Vielleicht hält sie das für geziemend.

Adda selbst ist viel zu gerade und einfach, um hier Theater spielen zu können. Sie hat sich auf ihren natürlichen Instinkt verlassen. Doch da ist kein Weg. Dennoch – sie ist gekommen, um Gene zu helfen. Wie geht es weiter? Sie fühlt, wie die große, reife Frau sie beobachtet, wie jeder auf den anderen wartet. Man muß Geduld haben. Die Nerven behalten. Geduld. Es geht hier nicht um Höflichkeit oder »Kinderstube«. Man muß Klarheit gewinnen! So oder so.

Adda schaut durchs Fenster des kleinen, mit hellen Empiremöbeln ausgestatteten Salons auf die Gipfel der alten Zedern. Sie braucht nicht die Ergriffene oder Nachdenkliche zu spielen, um Zeit zu gewinnen. In ihr kreuzen die verschiedensten Gedanken hin und her: Gene in seiner Zerrissenheit … die kommende Versammlung … ist diese Frau vor ihr wirklich die Mutter Donalds, der Beß auf dem Gewissen hat … und wieder Gene, trostlos und einsam.

Da hört sie Mrs. Dorothys Stimme: »Furchtbar, wie die beiden jungen Menschen enden mußten … mitten aus dem vollen Leben heraus … aber des HERRN Wille ist unerforschlich.«

Adda blickt auf die Frau, auf das fleischige, schon verfallende Gesicht mit dem unerbittlichen Zug um den Mund, der so fremd und so süß reden kann: »Aber wir müssen schließlich alles SEINEM Ratschluß anheimstellen.«

Das sind doch gar nicht die Worte dieser Frau? Es ist ganz etwas anderes! Lüge! Hier ist die Lüge!

Mrs. Dorothy aber fühlt sich sehr sicher und überlegen: »Siehst du, mein Kind, unser beider Verlust ist groß; doch was bedeutet er gegen die Tausende unsrer Jungens, die jetzt in Korea fallen … und gegen das, was, wie unsere Presse schreibt, uns noch bevorsteht?«

Mit einem Schlag ist Adda wach. »Soll man wirklich alles glauben, was in der Presse steht?« fragt sie.

»Wie meinst du?«

»Ich meine, soll man glauben, was in den Zeitungen auch über Donald und Beß stand?«

»Über Donald und Beß …«

»Diese Anschuldigungen!« sagt Adda.

»Alles Bosheit und Lüge! Was redest du da, Adda? Gemeinste Lüge!« Mrs. Dorothy hat ihre Selbstkontrolle verloren. »Kümmere dich bitte nicht um diese Revolverpresse, mein Kind, in der es nicht einmal eine Achtung vor dem Tode gibt!« Und dann spielt sie ihren Trumpf aus. »Hat denn irgend jemand gesehen, wie die beiden umkamen? Wie und weshalb? Ob sie überhaupt zusammen waren?«

Es ist klar, diese Frau wird alles tun, um die Wahrheit nicht ans Licht zu lassen. Adda schaut sie an.

»Was willst du eigentlich?« fragt die Frau jetzt brüsk. »In den Gräbern wühlen?«

»Ich möchte wissen«, wiederholt Adda beharrlich, »ob Beß irgend etwas für den Vater und mich hinterlassen hat?«

Mrs. Dorothy erschrickt mit einemmal vor der Festigkeit in Addas Stimme.

»Glaubst du nicht, mein Kind«, sagt sie in fast mütterlichem Ton, »daß ich selbst gern Näheres erfahren möchte, was mit Donald in jener Nacht geschah?«

Jetzt ist Adda soweit. Hat sie diese überlegene Frau an die Wand gedrängt, wo es kein Ausweichen mehr gibt? »Ich denke«, erklärt sie, »man sollte doch unbedingt von der Presse die Beweise für ihre Behauptungen fordern.«

»Von der Presse Beweise fordern?« Mrs. Dorothy lacht auf. »O du Kind! Weißt du, daß all das ein Vermögen kostet, daß hierzu ein ganzes Verfahren nötig ist, ein richtiger Feldzug mit viel Zeit, Erfahrung und Geld? Hast du das alles? Andernfalls kommt nichts dabei heraus und macht man sich bloß lächerlich.« Sie steht jetzt in ihrer imposanten Figur vor Adda und drückt die sich Erhebende wieder in den Sessel. »Wir haben doch dieselben Gefühle, nicht wahr, wollen dasselbe. Bist du nicht wie meine Tochter, Adda, gehörst zur Familie genauso wie Francis, siehst du! Also überlaß diese Nachforschung bitte mir! Du selbst kannst da nichts tun, gar nichts, verstehst du? Ich werde das alles jetzt in die Hand nehmen.«

Adda ist aufgestanden. Sie glaubt, sie muß ersticken, wenn sie noch länger bleibt.

Mrs. Dorothy, die vor Addas starrem Gesicht plötzlich unsicher wird, streicht ihr übers Haar und sagt: »Das Ganze ging auch über deine Nerven, Adda. Höre, mein Kind, du mußt einmal einen Monat weg von hier! Ich werde mit Mr. Clerk sprechen, daß man dir nach diesem Schock vom Betrieb einen Urlaub genehmigt, natürlich mit Gehalt. Du wirst mich auf meine Farm nach dem Süden begleiten. Ist das nicht das beste? Siehst du!«

Sie geleitet Adda hinaus.

*

Auch Gene hat diesen Abend keine Ruhe.

Er trifft Adda zu Hause, wie sie auf der Couch, für sich denkend, liegt. Sie scheint ihm verändert, fast geistesabwesend; er bekommt kaum ein Wort aus ihr heraus.

Sie verschweigt ihm natürlich den mißglückten Versuch bei Mrs. Clerk, den sie um seinetwillen unternahm. Was hat es auch für einen Wert? Lohnt es sich überhaupt noch, in diesem Sumpf der Lüge zu leben?

»Adda, was ist mit dir?«

»Laß mich, Gene; es hat keinen Wert.«

Zum ersten Male hört er so etwas aus ihrem Munde. Er hockt neben der Couch, faßt ihren Kopf und redet ihr zu: »Das ist Unsinn, Adda! Wir beide sind doch noch da!«

»Zu wenige sind wir«, sagt sie leise.

»Sind wir beide nicht auch was?«

»Ach …« Sie dreht sich zur Wand.

Er nimmt sie, preßt sie an sich, küßt ihre Wangen, ihren Mund. Sie erwidert die Liebkosung kaum. »Mein armer Junge …« Sie streichelt ihn ohne Kraft.

»Komm, Adda, bloß eine halbe Stunde ins Freie!«

Sie schaut ihn liebevoll und traurig an. »Heute nicht, Gene, bitte versteh das! Was soll ich mit meiner Stimmung noch deine verderben?«

»Aber ich laß dich nicht so allein!«

»Ich bitte dich – geh!«

Er ist betroffen, sogar gekränkt. »Wie du willst.«

Er steht auf. Doch sofort tut ihm seine schroffe Antwort leid. Eine heiße Welle von Liebe und Hilfsbereitschaft strömt ihm ans Herz. Und als könne er damit Adda vor dem Weggehen noch etwas Liebes sagen, neigt er sich flüsternd zu ihr: »Morgen hole ich dich ab zur Versammlung.«

*

Wie Gene zum Flugfeld fährt, fühlt er sich nicht weniger zerrissen als Adda. Ist man denn wirklich ganz machtlos gegen diese Menschen wie Clerk, die mit anderen umgehn wie mit toten Katzen? Und die immer wieder die Möglichkeit finden, ihre Untaten zu verbergen?

Adda hat zweifellos nach dem letzten Zusammenstoß bei Dr. Boyle unter seiner Lüge und dem Ausschluß aus der Gruppe gelitten. Mit dem Gefühl des Liebenden spürt Gene, daß sie auch weiter unter diesen Beschuldigungen leidet, als wären sie gegen sie selbst gerichtet. Aus einer gleichen Verbundenheit wird er getrieben, über Jeffs religiös gefärbten Bericht hinaus sich unbedingte Gewißheit zu verschaffen von den Vorgängen in jener Nacht. Und er glaubt – unter dem frischen Eindruck von Addas Verzweiflung –, daß keine Zeit zu verlieren ist. Er will nicht, daß sie länger sich quält.

Er holt das Äußerste aus dem Motor heraus, die Zündungen sind schon nicht mehr unterscheidbar, der Scheinwerfer greift ins Dunkle, die Chaussee schluckt ihn. Der Fahrtwind peitscht sein Gesicht. Gut tut das! Hier wenigstens hat er alle Funktionen in seiner Hand – im Griff des Gashebels. Seine Sinne sind überwach. Plötzlich taucht aus dem vom Scheinwerfer getroffenen milchigen Bodennebel ein Gesicht auf mit verschwommenen Augen und verlegen verklemmtem Mund; er nimmt erschrocken das Gas weg: Colonel Kennedy? Unsinn! Nichts! Seine Nerven spielen ihm einen Streich.

Vollgas!

Der Colonel Kennedy? Ihm kommt ein Plan.

Hat der Colonel ihn nicht zu seinem Rauschkumpan gemacht? Das steht fest. Was er aber in jenem Marihuananebel zu ihm – Gene – gesagt hat, das weiß der Colonel nicht mehr. Wenn Gene ihn darauf mit Andeutungen blufft, wird er vielleicht auspacken. Um aber jetzt glaubhaft an ihn heranzukommen, wird er, der Oberfunker – und das ist der Ausgangspunkt des Planes – sein Entlassungsgesuch einreichen; übrigens ein Gedanke, mit dem er sich schon seit Wochen trägt.

 

Colonel Kennedy ist nicht sehr ungehalten, daß Gene ihn so spät noch aufsucht. Das Verhältnis der beiden Männer ist seit den Januartagen 1945 in den Ardennen und nach den verschiedenen ausgedehnten Sitzungen bei Marihuana und Whisky ein mehr kameradschaftliches.

Allerdings wirkt Genes Entlassungsgesuch um diese Stunde weniger kameradschaftlich, sondern eher wie ein Pistolenschuß. Vor allem kann der Colonel nicht verstehen, weshalb Gene seinen Entschluß ihm noch nachts mitteilen muß.

Ob er – Gene – etwas ausgefressen habe?

Nichts Derartiges.

Sondern?

Er könne diese ganzen lächerlichen Meldungen über die Fliegenden Untertassen und ähnlichen Schwindel, der alle Welt und ihn selbst verrückt mache, einfach nicht mehr ertragen.

»Schwindel? Seien Sie etwas vorsichtig mit ihren Äußerungen, Gene!«

»Verzeihung, Colonel, aber ich entsinne mich, daß Sie selbst vor kurzem mich wegen meines – primitiven Einmaleins als ahnungslosen Säugling verspotteten …«

»Nun?« Der Colonel horcht auf.

»Und mir erklärten, daß jene rätselhaften Untertassen nichts mit Russenflugkörpern zu tun hätten, sondern unsere eigenen Raumraketen seien …«

»Ich? Wahnsinnig, Gene!«

Doch Gene fährt fort: »… sondern, daß es sich um unsere W.A.C.-Corporal-Doppelrakete handle, die sich in 100 km Höhe an die Ionosphäre hänge …«

»Schluß, sag ich, Schluß!« fährt ihn der Colonel an. »Wollen Sie unbedingt vor ein Militärgericht?«

»Ich denke, wir wollen das beide nicht, Colonel«, sagt Gene.

Kennedy bleibt einen Moment die Sprache weg. Woher weiß dieser Bursche von der noch geheimen W.A.C.-Rakete? Sollte er im Marihuanadusel doch gequatscht haben? Es stimmt, er hat ein paarmal mit dem Oberfunker die Stäbchen geraucht, es ging wohl hoch her, Alkohol war auch dabei, versteht sich – möglich ist alles. Vielleicht ist man nach den letzten Pressestänkereien um Donalds Tod jetzt auch dieser Sache mit den Fliegenden Untertassen auf der Spur? Gene muß unbedingt etwas wissen. Deshalb will er so plötzlich abhauen?

Kennedy ist zu seiner »Apotheke« gegangen; er hat einige Flaschen herausgenommen und sich und Gene eingeschenkt. Es ist sinnlos, jetzt den Mann zu reizen. Man muß auf die kameradschaftliche Tour gehen. Er stößt mit Gene an. Stumm trinken sie zwei Gläser. Dann meint der Colonel: Gut. Wenn Gene ein ruhigeres Leben wünsche, er verstehe das. Schließlich sei Gene ja im Grunde Zivilist und kein Berufssoldat. Aber er solle nicht gerade jetzt abhauen; das sähe nach Flucht aus.

»Weshalb Flucht?«

»Nun, wegen dieses verdammten Skandals mit Donald und den Untertassen.«

Gene schweigt. Er wartet. Wird der Colonel weitergehn? Er genehmigt sich noch ein Glas. Die dünnen roten Äderchen in den Skleren des Colonels treten deutlicher hervor. Die Pupillen beginnen wieder zu »tanzen«, ein Zeichen dafür, daß Kennedy auf Touren kommt. Jetzt meint Gene: Was das alles mit ihnen beiden zu tun habe?

»Habe ich vielleicht den Major Clerk nicht gekannt?« braust Kennedy auf. »Verstehen Sie das denn nicht? Quatscht man nicht schon genug über diese Geschichte? Auch in Ihrer Funkbude, Gene? Und jetzt wollen Sie Hals über Kopf abhauen? Wo ein Tropfen dieses Jauchefaß zum Überlaufen bringt! Wollen Sie den Skandal für unseren Flugplatz, Gene? Und auch für F. 8?«

»Was haben wir mit F. 8 zu tun?«

»Mein Gott, Gene, begreifen Sie doch, wo ich mit dem Major Clerk und seiner Familie befreundet bin! Und jetzt beginnt man, in all dem Hühnermist herumzustochern, auch in der Geschichte mit dem Mädchen, das in der Nacht bei dem Major im Zimmer war und nachher aus dem Hafen gefischt wurde – denken Sie, das ist sehr angenehm für mich? Sehen Sie nicht, wie das auf uns alle zurückfällt, auf unsern Flugplatz und auf F. 8? Ein Skandal, Gene, ein ganz toller Skandal! Wollen Sie das, Gene?«

»Mir hängt das alles schon zum Halse heraus, Colonel«, sagt Gene, der nun genug weiß. »Und deshalb möchte ich weg; meine Nerven sind auch nicht mehr die besten.«

»Verstehe ich, Gene, sicher. Aber warten Sie noch etwas, Gene, bis die Leute sich beruhigt haben! Warten Sie noch einen Monat mit Ihrem Gesuch – meinetwegen mir zuliebe, Ihrem alten Kameraden zuliebe! Einverstanden?«

Gene wird in einem Monat sein Entlassungsgesuch einreichen.

 

Er atmet tief auf, wie er über den nächtigen Flugplatz geht, wo die Scheinwerferkegel den aufsteigenden Nebel zu durchbrechen suchen. Er atmet auch auf, weil er nun Gewißheit hat – eine Gewißheit, die er vertreten kann bei Adda und der Gruppe.

 

19. Nackte Frauenleiche im Fliegercamp. Der C.C.C.-Schildkrötenpanzer.

Dr. Boyle hat Mrs. Dorothy Clerk und Francis angerufen, er möchte als Hausarzt und alter Freund der Familie seinen Kondolenzbesuch abstatten. An sich ist es die richtige Zeit, etwa zwei Wochen nach Donalds Tod. Allerdings kommen ihm diese Wochen wie Monate vor. Nach der Zusammenkunft der Gruppe am vorletzten Abend und nach Genes Bericht vom Tod der kleinen Beß auf Donalds Zimmer hat er das unangenehme Gefühl, vor Mrs. Dorothy den mitfühlenden Freund spielen zu müssen, während zugleich die Aussprache mit Francis keinen Aufschub duldet.

Als er von Mrs. Dorothy, die ein Trauerkleid aus schwarzem Moiré trägt, im kleinen Salon empfangen wird, ist sein erster Eindruck, wie wunderbar diese stattliche Frau in Schwarz aussieht. Wie eine Lady Macbeth, wie eine nordische Norne. Zweifellos weiß sie es auch. Mit der Ruhe der Herrin nimmt sie seine Kondolenz entgegen; sie knäult zwar das kleine Spitzentaschentuch in der Hand, doch sie hält es nicht für notwendig, dem alten Doktor eine Szene vorzuspielen. Beide Teile vermeiden es auch, über Donalds Tod konventionelle Worte zu verlieren – über die Vergänglichkeit des Irdischen und »Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben«. Vielmehr nimmt Mrs. Dorothy eine Zeitung von dem Nußbaumtischchen, und, mit dem Finger auf eine Überschrift deutend, meint sie: »Bitte, Doktor, wollen Sie diesen Beileidsartikel unsres Freundes Al Flagg einmal lesen?«

Es handelt sich um den »Democratic Globe«. In ihm befindet sich an gut plazierter Stelle mit einem Bild der im Schauhaus ausgestellten Leiche von Beß ein Artikel mit der wohl von der Redaktion so aufgemachten Schlagzeile:

Nackte Frauenleiche im Fliegercamp

Dr. Boyle ist einen Augenblick frappiert. Er liest nur oberflächlich den Text, der, fast im nüchternen Stil eines Polizeirapports, die Tatsachen berichtet, darunter auch jene Tatsache, daß die Leiche nachts in dem Zimmer des Majors Donald Clerk in seiner am Flugfeld gelegenen Wohnung gefunden wurde, von wo sie auf bisher ungeklärte Weise verschwand, um nach zwei Tagen im Eastriver beim Hafen wieder aufzutauchen. So ruhig gehalten dieser Bericht im Ton erscheint, so aufregend ist sein Inhalt. Denn jeder Leser muß sich fragen: Wie und durch wen gelangte die Leiche von der Wohnung des Majors, der in der gleichen Nacht verunglückte, in den entfernten Fluß und den Hafen? Weiter: Welcher Grund lag vor zu der Verschleppung der Leiche? Ein Verbrechen? Und wer ist eigentlich jener in der gleichen Nacht verunglückte Major Clerk?

Zweifellos, die Öffentlichkeit wird sich nunmehr auf diesen »Kriminalfall« stürzen.

Diese Pressemeute! denkt Dr. Boyle und gibt sich den Anschein, als lese er noch immer den Artikel. Wie konnte der kleine Flagg so aus der Reihe tanzen! Sogleich aber muß er sich gestehen, daß er selbst dazu aufgefordert hat, endlich die Eischalen zu durchbrechen und hervorzutreten.

»Wie finden Sie diese Beileidsbezeigung unsres Freundes?« fragt Dorothy nochmals.

Der Doktor zuckt wie ratlos die Schultern. Hat es einen Sinn, hier um die Wahrheit zu kämpfen? Es würde alles verderben. Er muß zuvor mit Francis sprechen. Wenn Clerk Wind bekommt von der geplanten Versammlung, so wird er seine Gegenminen legen, und die werden nicht leichten Kalibers sein.

»Daß man sich gegen solche Infamie nicht wehren kann!« meint Mrs. Dorothy, ihr Gegenüber beobachtend. Sie weiß von Clerk, der ihr heute früh die Zeitung brachte, daß Al Flagg schon seit drei Wochen – gleich nach der Party – aus seinem Gesichtskreis verschwand, indem er den bestellten Artikel über die Atombombengefahr verweigerte. Also trug dieses Reptil schon damals Gift in seinen Drüsen? Al Flagg wird sich gewiß nicht ihrer Aufforderung stellen wie Sherry, der hoffnungslos dahinsiecht. Ah, wenn sie Flagg, diesen kleinen Molch, einmal draußen in Dealwood unter vier Augen haben könnte, bloß eine halbe Stunde! Das würde genügen!

»Sie sind unser alter Arzt, Mr. Boyle«, fährt Mrs. Dorothy fort. »Lassen wir die Niedertracht der Menschen! Aber Mr. Clerk macht mir nach Donalds Tod Sorge, besonders in den letzten Tagen und seit heute früh.«

»Darf ich wissen, in welcher Hinsicht?«

»Nun – wie soll ich sagen –, Sie kennen Clerk doch seit zwanzig Jahren. Man nennt ihn in seinen Kreisen ›Clerk, the Bull‹. Von dem die Wände durchstoßenden Stier ist wohl nur das Äußere geblieben. Sonst ähnelt er mehr einem empfindsamen Mädchen im Frühling. Er wird plötzlich blaß, wenn man von Donald und dieser kleinen Beß spricht. Und heute früh, als er mir die Zeitung gab, war er blutrot im Gesicht und brachte kaum ein Wort heraus.«

»Die Sache mit Donald ist ihm gewiß sehr nahegegangen.«

»Gewiß.« Mrs. Dorothy scheint zu zögern; dann gibt sie sich einen Ruck. »Mr. Clerk ist wirklich sehr verändert.«

»In welcher Weise?«

»Er redet bei Tisch kaum etwas, schlingt das Essen wie – nun, wie ein Tier und ist oft völlig abwesend. Mir scheint, Doktor, etwas bohrt in ihm. Dann hat er sich auch in eine komische Sache eingelassen, in der furchtbar viel Kapital steckt. Er will New York, Washington, Chikago, Boston und weiß Gott noch was vor den russischen Bomben retten …«

»Vielleicht hat er ›Life‹ oder das ›American Magazine‹ gelesen?«

»Sie meinen das mit den neuen Luftschutzbunkern?«

»Ja.«

»Aber er wird rabiat, wenn man von den Vorschlägen der anderen spricht. Das alles sei seine Erfindung! Er sei der erste gewesen, der einen Beitrag geliefert habe zur Verteidigung der freien Welt gegen die Russen mit der C.C.C.-Schildkröte, wie er den Asbeststahlschutz nennt … am besten, Doktor, wir gehen nach oben in sein Kabinett!«

Während sie die Treppe hinaufsteigen, mahnt noch Mrs. Dorothy: »Ich muß Sie bitten, Doktor, Mr. Clerk von unserem Gespräch nichts merken zu lassen!« Und da sie auf einem breiten Absatz der gewundenen Stiege halten, schaut ihn die Frau, den Weg vertretend, mit ihren kalten hellgrauen Augen an. »Sie werden mir nachher offen sagen, Doktor, wie es mit Clerk steht, bitte, ganz offen!«

Mankiller! Raubtier! denkt Boyle.

In dem großen, mit alten gotischen Möbeln ausgestatteten Arbeitsraum steht Clerk in einer weitgeschweiften runden Seitennische, deren Fenster auf die dunkelgrünen Baumkronen des sommerlichen Parks gerichtet sind. Er hantiert dort an einem Apparat, einer Art Automaten, bei dem er mittels eines Metallgriffs eine Kugel klirrend abschießt, worauf in dem Glasgehäuse mehrere Lichter aufblitzen. Mag es dieses Geräusch gewesen sein oder die intensive Hinwendung Mr. Clerks zu seinem Experiment, er hat das Eintreten der beiden nicht bemerkt. Erst als Mrs. Dorothy ihn laut anspricht: »Besuch, Cecil!«, fährt er herum, mit einer Geste, als wolle er mit den nach hinten ausgebreiteten Händen ein Geheimnis schützen.

An dem entsetzten Blick Clerks – voller Mißtrauen, Abwehr und Furcht – erkennt Dr. Boyle sofort, daß Mr. Clerk seit dem letztenmal in Dealwood tatsächlich »sehr verändert« ist. So also sieht ein Mensch aus als Mitwisser einer solchen Tat? Das ist die andere Koordinate des Lebens? Während Francis, seine Tochter …

»Was wollt ihr hier?« fragt Clerk fast drohend.

Mrs. Dorothy geht auf ihn zu mit der Sicherheit einer Dompteuse. »Aber, Cecil – Dr. Boyle macht uns seinen Kondolenzbesuch.«

»So.«

Clerk weist auf einen breiten Lederdiwan. Er selbst steht immer noch Posten vor der Nische.

Um dieses peinliche Vakuum zu überwinden, sagt Mrs. Dorothy in ihrer unbekümmerten Direktheit: »Auch der Doktor hält Mr. Flaggs Artikel für unerhört.«

Clerk entgegnet hierauf nur mit zwei Worten. »Neid! Konkurrenz!«

Dr. Boyle schaut fragend zu Mrs. Dorothy.

»Sie müssen wissen, Doktor, die Konkurrenz gönnt ihm weder seine erstklassige Erfindung noch auch das großartige Geschäft«, erklärt sie ihm mit einem kaum merklichen Augenzwinkern. »Sie sollten sehen, was Mr. Clerk zum Wohle des Landes und der freien Welt alles plant!«

»Plant!?« braust Clerk jetzt auf. »Wir werden in aller Kürze starten, und wenn diese ganze Russenpresse hier im Lande gegen mich schießt! Sie zweifeln?« Er hat Dr. Boyle am Arm gepackt und zur Nische gezogen. »Was heißt da plant …«

Dort in der Nische steht jener Automat, auf den ersten Blick ein Spielautomat wie alle anderen, die man in den hunderten Vergnügungsstätten findet. »Ist das – geplant?« Clerk zieht den federnden Stahlgriff, läßt los, die Metallkugel schießt durch die Rille … der erste Kontakt: Feuerschweife der Atomraketen am Himmel über den Wolkenkratzern Manhattans … der zweite Kontakt funkt: die Straßen in Flammen beleuchten niederstürzende Riesenhäuser, flüchtende Menschenfackeln … der dritte Kontakt (Clerk ist durch tagelange Übung ein Meisterschütze): im Zentrum blitzt mitten im Weltuntergang ein Keller – eine feuerfeste Zelle – auf, darinnen eine Frau ruhig den Abendtisch deckt, während der Mann im Klubsessel die Zeitung liest und zwei kleine Kinder mit einem Hund am Boden spielen. Darüber aber, in diesem dunkelroten Inferno der untergehenden Stadt, sind zugleich mit dem friedlichen Unterstand in lichtem Hellblau die drei C.C.C. aufgeleuchtet.

»Ihre Produktion?« fragt Dr. Boyle.

»Meine Idee, meine Fabrikation, mein Beitrag zum Schutz der Freiheit, zur Verteidigung der freien Welt!« erklärt Clerk, keuchend vor Erregung. »Die Schildkröte hat ihren Panzer! Der moderne Mensch hat die C.C.C.-Stahlhülle! – Hier!« Er drängt Dr. Boyle seitwärts zu dem vollkommenen Modell des im Spielautomaten propagierten Bunkers. »50 000 solcher Bunker für New York! 50 000 für Chikago! Sollen sie doch kommen! Soll der Kreml sie schicken! Wir sind gerüstet!« Und wieder zieht er den Doktor zum Spielautomaten. »Bei jedem dieser Apparate liegt ein Prospekt: Die Schildkröte hat ihren Panzer! Was hast du? Was wirst du tun, wenn es Atombomben regnet? Willst du verbrennen oder in C.C.C.s Schildkrötenpanzer mit deiner Familie die Hölle überleben? – Habe ich recht? Sehen Sie! 50 000 Apparate und einige zehntausende C.C.C.-Panzer! Wunderbar, was? Eminent?« Er stöhnt vor Erregung. Seine Augen opalisieren in fiebrigem Glanz. Er schnappt nach Luft. Plötzlich schaut er Dr. Boyle mit kühlem prüfendem Blick an, als erkenne er ihn erst jetzt: »Verzeihen Sie, Doktor!«

»Vielleicht sollten wir uns setzen?« Dr. Boyle führt Clerk, der wie ausgepumpt willenlos folgt, zu einem der Sessel.

Doch Mrs. Dorothy nimmt hartnäckig ihr Thema wieder auf: »Auch der Doktor ist über Mr. Flaggs Artikel empört. Man kann das nicht so hinnehmen, Cecil! Wenn die Presse eine Skandalaffäre daraus macht, was – glaubst du – wird aus den staatlichen Aufträgen?«

»Die Konkurrenz, George McKelley, dies kleine Stinktier … die Konkurrenz«, plappert Clerk vor sich hin.

»Und wenn es andere Motive wären?« fragt der Doktor wie unter einem Zwang, angewidert von diesem Glücksspieler eines blutigen Geschäfts.

Und Mrs. Dorothy: »Wieso andere Motive?«

»Die Kommunisten!« stößt Clerk hervor.

»Es gibt heute viele Menschen, die nach der Wahrheit suchen«, erklärt Dr. Boyle, »so oder so.«

»So oder so?« repetiert Clerk. »Man hat mich im Geschäft angerufen wegen dieses Artikels. Ich bin hierher gefahren. Man hat mich hier angerufen. Wir haben das Telefon abgestellt. Gut, Doktor, was? Wir wollen es doch nicht dem Kriegsminister Forrestal nachmachen … Sprung aus der 16. Etage wegen russischer Fallschirmspringer … o nein, wir haben bloß das Telefon abgestellt … hallo, ladies and gentlemen, rufen Sie doch bitte an, wenn es Ihnen Spaß macht, bitte!« Er lacht auf wie über einen großartigen Witz. Und nochmals: »Sollen sie doch anrufen! Hallo! – Niemand antwortet.« Dann schlägt sein Ton wieder um und er resümiert nachdenklich: »Wenn man aber nicht antwortet … vielleicht kommen sie dann persönlich hierher? Sehr viele Leute? Straßenweise? Wie denken Sie, Doktor? Bitte!« Und sofort sich selbst antwortend: »Natürlich, diese Burschen sind verflucht hart. Sie bringen eine Art Atomkapsel mit, in irgend etwas, in einer Lieferung Speck oder Räucherschinken, verstehen Sie … oder ein Maurer baut sie hier bei irgendeiner Reparatur in die Wand mit einem schmalen Spalt für Lichtzündung, ist das klar? Und wenn dann …«

»Nichts: dann! Nichts, nichts!« fährt Mrs. Dorothy dazwischen. »Man muß mit einzelnen Herren der Presse sprechen, daß sie diese Nachricht ignorieren! Oder willst du einen Skandal mit dem Motto: Nackte Frauenleiche im Schlafkabinett von Major Donald Clerk!?« fragt sie jetzt Clerk mit ganzer Brutalität. »Und dann im Hafen aufgefischt wie eine tote Katze, wie es dort so schön heißt.«

»Gut«, meint Clerk, und er ist annähernd der Alte. »Wenn sie wollen, können sie auch noch einen toten Hund dazu haben.«

Es scheint, Mrs. Dorothy, diese energiegeladene Juno, hat den schwer angeschlagenen Boß noch einmal wieder auf die Beine gestellt.


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