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Zwölftes Kapitel

 

34. Ohm Ernest erhält den Brief. Ein »Unglücksfall«.

Wie Ohm Ernest am Freitagabend von der Arbeit heimkommt, findet er einen Eilbotenbrief, der – mit Schreibmaschine auf einem neutralen Viertelbogen geschrieben – Addas Unterschrift trägt. Der Brief hat folgenden Inhalt:

 

Lieber Ohm Ernest!

Ich bitte Dich, heute abend gegen 21.00 zu mir und Vater in unsre Wohnung zu kommen. Es gibt noch einiges in der Familie zu besprechen, und bei uns ist es am ruhigsten. Sprich mit keinem darüber, wir möchten jeden Tratsch vermeiden. Deshalb bringe auch niemanden mit. Verbrenne den Brief, wenn Du ihn gelesen hast. Ich habe noch viel Arbeit im Büro. Deshalb nur dies in großer Eile. Auf Wiedersehn heute abend!

Deine Adda.

 

Das also ist die von Adda bereits angekündigte Besprechung mit dem Doktor, um das Notwendige für die Sonnabendversammlung festzulegen. Natürlich kann man jetzt nicht mehr in des Doktors Wohnung zusammenkommen. Aber bei Adda und Manuel – direkt vor der Höhle des Löwen –, das wird keiner vermuten, das bietet die größte Sicherheit. Ohm Ernest liest den Brief noch einmal. Alles in Ordnung. Bloß über einen Satz stolpert er. »Verbrenne den Brief, wenn Du ihn gelesen hast.« Weshalb? Gewiß hat der Doktor, der das Konspirative leicht übertreibt, jetzt, da ihm die Untersuchung wegen unamerikanischen Verhaltens droht, dies so angeordnet. Hoffentlich läßt er sich nicht von dem Untersuchungsausschuß auf der Nervengeige spielen! Er muß sich klar sein, daß es bei aller gebotenen Klugheit hier kein Zurück mehr gibt.

Auch er selbst kann heute nicht mehr an Familie und Werkplatz denken. Grade die kleinen Rücksichten sind es oft, die das große Unheil ermöglichen. Sein Mackie könnte noch leben, wenn er, der Vater, damals ein hartes Wort gesprochen hätte. Und wer gibt Adda und Manuel etwas dafür, daß sie schwiegen, nachdem Clerks Sohn die junge Beß in sein Fliegerquartier lockte und man das Mädchen danach wie eine tote Katze ins Wasser warf, damit ja der edle Name Clerk nicht beschädigt werde? Nein, diese edlen Herren muß man endlich einmal vor aller Welt beim Namen nennen! Diesen Haifischen muß man eine eiserne Schürstange in den Rachen stoßen, daß sie mit ihrem Mördergebiß nach oben treiben! Er wird morgen kein Blatt vor den Mund nehmen. Auch der Doktor soll kein Wasser in den Wein gießen, sondern die volle Wahrheit sagen. Die Kriegsdrohung ist zu nah, als daß man noch Zeit hätte, auf Umwegen an die Menschen heranzukommen. Die Menschen beginnen heute schon, die halben Wahrheiten von der vollen Wahrheit zu unterscheiden. Sie erwarten eine klare Antwort auf die Frage: Wohin gehen wir?

Sie sollen die Antwort haben!

Ohm Ernest fühlt sich leichter nach dieser inneren Entscheidung. Er wird freier atmen können, wenn er das seit Monaten auf ihm lastende Schweigen von seiner Brust gewälzt hat, wenn er nun offen in den besten aller Kämpfe – in den Kampf gegen diesen Krieg – eingetreten ist.

Er geht in sein Gärtchen seitlich des Hauses. Es ist einer der mittleren Septembertage. Doch die Wärme des August atmet noch aus der Erde, haftet in den schon dunkelgrünen Blättern der hochgeschossenen Bohnen und Kürbisse, strahlt vom langsam dunkelnden Himmel. Ohm Ernest hängt an diesem Gärtchen. Er hat die Stangen für die Feuerbohnen im Frühjahr kreuzweise wie Tore gesteckt und in die Gabel zwischen zwei Tore noch quer eine Latte gelegt. So entstanden grüne Korridore, unter denen die Katzen ebenso wie die Kinder dahinschlüpfen. Seltsam, wie an dem Gerank unten die noch nicht abgeernteten gelben Schoten hängen und wie ganz oben die feuerroten Schmetterlingsblüten sitzen. Welche Kraft solch ein Pflänzchen hat! Frucht und Blüte zugleich!

Ohm Ernest pflückt eine Schote, um zu sehen, ob sie voll ist. In diesem Augenblick wäre er fast zu Boden gefallen. An jedem Hosenbein wird er mit einem wahren Indianergeheul gezerrt. »Nichts gemerkt hat der Grandpa!« schreit die kleine Ille und klammert sich an sein Bein. Und Jimmy ebenso: »Jetzt haben wir ihn!«

Es stellt sich heraus, daß die Kinder Ohm Ernest suchten. Ganz aufgeregt fragen sie, ob man Jimmy einfach aus der Schule schicken dürfe und ob er innerhalb sechs Wochen die Staaten verlassen müsse? Der Alte geht mit den Kindern an die Rückwand des Hauses; dort setzen sie sich auf einen umgestülpten Schubkarren.

Das habe alles der »Hundefänger« gemacht, der hier herumschnüffle, weil sie die Hundemarke nicht tragen wollten. Aber wenn Jimmy von der Schule gejagt würde, dann gingen sie – Ille – und noch fünf Kinder ebenfalls nicht mehr hin. Was Mutter Ann für den »Fuchs« getan habe, das werde sie ebenso für Jimmy tun! Was der Grandpa davon denke?

Ohm Ernest schaut lächelnd auf die kleine Ille, deren Gesicht vor Erregung so gerötet ist, daß sogar die Sommersprossen verschwinden. Diese Vögelchen sind wirklich nicht schlecht, fürchten sich nicht vor den großen Nachteulen. Er hat gehört, wie die Kinder gestern dem F.B.I.-Mann die Nerven abforderten und ihn dem Gelächter preisgaben. Und alles aus eignem Trieb und Verstand. »Vielleicht ist es denen gar nicht unangenehm, Ille, wenn ihr aus der Schule wegbleibt. Dann haben sie noch einen Grund gegen euch.«

»Aber, Grandpa, sollen wir denn die Hundemarke tragen?«

»Das nicht. Bloß, ihr sollt jetzt keinen Krach machen und euch noch ruhig verhalten.«

»Aber, Grandpa, hast du letzten Sonnabend dich denn ruhig verhalten?«

»Und morgen soll doch wieder 'ne Versammlung sein«, ergänzt Jimmy. »Gehen wir da mit?«

»Du auf keinen Fall, Jimmy!«

»Und Sie, Ohm Ernest?«

»Wird sich zeigen«, meint Ohm Ernest schmunzelnd. »Sonntag werde ich euch alles erklären; bis dahin verhaltet euch ganz still! Habt ihr verstanden?«

»Ja, Grandpa.«

*

Um 20 Uhr macht sich Ohm Ernest auf den Weg. Es ist ein so schöner Abend, daß er nicht hetzen will. Zudem ist es von der U-Bahn bis zur Clerkschen Villa noch etwa zwanzig Minuten Fußweg durch die Parkstraßen der vornehmen Vorstadt. Er hat mit Mom Rose wie immer zu Abend gegessen und gesagt, er besuche noch einen Gewerkschaftsfreund. Ann ist mit Pat schon früher zum Fluß gegangen, diesen vielleicht letzten warmen Abend zu genießen. So kam er leicht los, nachdem er Addas Brief verbrannt hat.

In der U-Bahn brütet eine drückende Hitze. Er ist froh, nach einer halben Stunde herauszukönnen. Er hat also Zeit und kann langsam gehen. In der stillen, schon dunklen Avenue mit den mächtigen Bäumen am Rande der Fußwege streckt er die Arme in die Luft und füllt sich die Lungen mit dem kühlen Aroma der Blätterkronen. Dann hebt er die Unterarme in Ellbogenhöhe und beginnt einen kleinen Dauerlauf. Teufel, wie jung man ist, wenn eine solche Sache einen begeistert! Jetzt bricht er den Lauf ab – nicht wegen Atemnot. Doch wenn ihn einer der Wächter oder Cops sieht? Die müssen ihn ja in dieser respektablen Gegend für einen flüchtenden Verbrecher halten! Es wird dann ein Verhör auf der Polizeiwache geben, und er kommt nicht rechtzeitig zu dem Treff. Nein, heute will er unbedingt pünktlich sein! Er hat so manches mit dem Doktor zu besprechen, ihm vielleicht den Rücken zu steifen. Diese Versammlung muß ein wichtiger Ausgangspunkt werden für die neue Marschroute. Die Jungen sollen im Hintergrund bleiben als taktische Reserve, falls die Älteren verhaftet werden. Aber gerade für diesen Fall muß man ihnen Anleitung geben … mündlich natürlich; obschon dieser Kampf für die beste Sache der Welt geht, darf man diesen stupiden, boshaften Burschen der F.B.I. nichts Schriftliches in die Hand spielen. Die Jungen muß man vorbereiten, wachsam erhalten, am Leben erhalten. Ann, Adda, Pat und Gene – da ist ein guter Boden. Und die kleine Ille und Jimmy und die Kinder, die sich so tapfer gegen die »Hundemarke« wehren – das ist schon ein ganzer junger Wald selbständiger Stämmchen, die aus gesundem Boden emporschießen. Nein, der Boden des Menschen ist nicht krank. Man muß ihn bloß nicht versumpfen lassen. Wenn sich aber ein Sumpf bildet mit Fieberdunst, so muß man rücksichtslos eine Lichtung ins Gehölz schlagen, Licht hereinlassen, dem stickigen Gewässer Abfluß verschaffen, die gründliche Bewegung wiederherstellen. Dieser Augenblick scheint jetzt gekommen zu sein. Die Menschen geraten in Bewegung auch in diesem Lande, die Stagnation der öffentlichen Meinung beginnt sich zu lösen, die Jungen machen den alten Trott nicht mehr mit, auch in vielen Alten bäumt sich der Kämpfergeist Lincolns noch einmal auf, und diese Kinder wie Ille und Jimmy, gerade diese Kinder …

Durch die schweren Schatten der alten Bäume zu beiden Seiten der stillen Avenue fallen jetzt Scheinwerferkegel von einem Personenwagen, der senkrecht aus einer Seitenstraße heranrollt. Ohm Ernest scheint es einen Augenblick, als werde das Auto von einem Betrunkenen gesteuert, so scharf fährt es auf die Bordkante des Fußgängerwegs und auf ihn selbst los. Die Männer, die aus dem Wagen springen, stehen vor einem Menschen, der eben noch ganz mit seinen Gedanken beschäftigt war und gerade auf die Beobachtung des wild gewordenen Fahrzeuges umschaltet.

Aber da trifft den Wehrlosen schon der erste schwere Schlag ans Kinn, und noch einer an die Halsschlagader, und den schon niederstürzenden Bewußtlosen eine ganze Serie harter Hiebe. Im Nu ist der am Boden Liegende auf die Fahrbahn geschleift, und nun rollt ein Fünf Tonner-Lastwagen heran, fährt zwei-, dreimal hin und zurück über den »Verunglückten«, seine Brust und seinen Schädel zermalmend, wobei Gorillajack, am Boden kniend und dirigierend, vor allem darauf achtet, daß die mächtigen Räder über die Stirn des schon nicht mehr Atmenden gehen.

Das Ganze vollzieht sich in knapp zwei Minuten. Joe Apollo hat 100 Meter vor und hinter der »Unfallstelle« die Straße durch je einen Lastwagen, die quer zur Fahrbahn stehen, blockieren lassen … eine Vorsichtsmaßregel, die in der um jene Stunde fast unbefahrenen Straße lediglich eine fachmännische Sicherung bedeutet. Joe Apollo – gewissenhaft wie er ist – packt das Opfer am Rockrevers und zerrt es etwas hoch. Der zermalmte Kopf, aus dem Blut und Gehirn austreten, fällt wie ein Fremdkörper nach hinten. Joe greift schnell in die Brusttaschen des Toten, ob vielleicht der Brief nicht verbrannt wurde und noch darinsteckt? Aber es sind da nur ein Arbeitspapier und ein Gewerkschaftsausweis in einer Zellophanhülle.

Der Gangster springt jetzt in seinen Wagen, den Gorillajack in die Querstraße lenkt. Die Motoren brausen an. Nach einer weiteren Minute liegt die baumbestandene Allee mit der Unfallstelle wieder in völliger Ruhe da.

*

Niemand in der Welt konnte aus dem Befund der Verkehrspolizei über die mitten auf der Fahrbahn am späten Abend gefundene Leiche etwas anderes feststellen als einen schweren Verkehrsunfall.

Aus den Ermittlungen der Kriminalpolizei ergab sich ferner, daß jener Meister der Autowerkstatt von Pop Matthews identisch sei mit dem Versammlungsredner des Friedenskomitees am letzten Sonnabend, und daß er sich wahrscheinlich auf dem Wege zu seinem Schwager Manuel Montez, dem Gärtner von Mr. Clerk, befand. Offenbar wollte er in der Dunkelheit die Fahrbahn überqueren, als er von einem aus der Nebenstraße heranrollenden Lastwagen erfaßt wurde. Irgendwelche Anhaltspunkte für ein Verbrechen sind nicht vorhanden, weder Stich- oder Schußwunden noch auch Spuren eines vorausgegangenen Kampfes. Die Kriminalpolizei kann sich bald an der Person jenes Automonteurs Ernest Lee für uninteressiert erklären und ihre Ermittlungen auf die Person des Chauffeurs des Lastwagens konzentrieren. Diese Bemühung verspricht allerdings wenig Erfolg.

Eine ganz andere Auffassung von dem »Verkehrsunfall« haben Ann, Pat, Adda und Dr. Boyle. Ihnen scheint es sicher, daß der Tod von Ohm Ernest nicht zufällig gerade jetzt erfolgte. Zweifellos befand sich der Ohm auf dem Wege zu Adda und Vater Manuel. Doch was wollte er dort, da man die Besprechung mit dem Doktor am Sonnabendnachmittag vor der Versammlung erwartete? Hatte man ihn, der fast nie das Gärtnerhaus der Clerkschen Villa betrat, dorthin bestellt? Und wer in diesem Falle? Weshalb auch hatte er an dem Abend weder Mom Rose noch Ann und Pat ein Wort davon gesagt? All das war höchst fragwürdig. Weniger fraglich war die Methode der alten Gangs, einen Mann durch einen »Verkehrsunfall« still zu machen.

Obwohl also für Ohm Ernests Freunde kein Zweifel darüber besteht, daß sein Tod kein zufälliger ist, so gibt es vorerst keinen Beweis für den Tatbestand des Mordes noch einen Anhaltspunkt über die Person des Täters.

 

35. Mom Rose hält die Totenwacht. Wo sind die Mörder?

So schwer und unfaßbar der Schmerz über den jähen Verlust des geliebten Menschen auf allen lastet, so spüren sie, daß Ohm Ernest nicht damit einverstanden wäre, wenn sie trauernd zu Hause dasäßen und der Versammlung fernblieben. Im Gegenteil, es scheint, als spräche der tote Ohm Ernest noch lauter als der lebende die Worte: »Heraus aus dem Schneckenhaus!«

Das alles sind kluge Erwägungen. Aber sowie die Leiche Ohm Ernests im Hause ist und der schnell gekaufte Sarg unten im Wohnraum aufgestellt wird, überwältigt doch alle der Schmerz. Das zerschmetterte Gesicht des Toten ist furchtbar entstellt. Man hat den verbundenen Kopf zur Seite gedreht, daß nur der nicht völlig zertrümmerte Teil sichtbar wird. Es scheint nun, als habe sich Ohm Ernest zur Seite gewandt und rufe einer auf ihn wartenden Menge leidenschaftliche, zornige Worte zu.

So stehen Ann, Pat und Adda vor dem Toten. Wortlos. Sie fühlen: Das ist nicht das Ende. Es wird noch eine Zeit harter Prüfungen kommen. Ohm Ernest wird ihnen da sehr fehlen. Aber er war doch bei ihnen und wird bei ihnen sein. Ein herzensguter Mensch und ein unerbittlicher furchtloser Fighter. Er wird ihnen sehr fehlen.

»Einmal werden wir mit der Bande abrechnen!« sagt Ann erbittert. Pat legt seinen Arm um sie.

Man läßt den Sarg nicht lange offen, schon wegen Mom Rose und der Kinder. Er wird nur geöffnet, wie Gene kommt. Adda schaut mit ihm auf das wie unter einer Steinlawine verschüttete und verwandelte Gesicht. Kaum kann man die guten Züge des vertrauten Menschen hervorsuchen. Und doch scheinen sie bei längerem Betrachten hindurch.

»Ist so etwas möglich?« fragt Gene.

Man legt Blumen – Rosen und rote Nelken – ganz dicht über Ohm Ernests Gesicht, bevor man Ille hinzuläßt. Sie starrt mit offenem Mund auf das seltsame Bild und stammelt bloß »Grandpa, was machst du?« Schnell nimmt man sie wieder weg. Dann schließt man den Sarg. Es bleiben noch zwei Stunden zur Versammlung. Man wolle dort Ohm Ernest ehren. Und obschon alle angespannt darüber sprechen und über die notwendigen Maßnahmen zur Durchführung, sind ihre Gedanken hier bei dem Toten. Doch bald müssen Pat, Ann, Adda und Gene aus dem Hause. Sie versichern Mom Rose, daß sie schnell zurück sind.

Mom Rose hat die kleine Ille zu Bett gebracht. Aber das Kind will nicht oben in der Kammer bleiben. Sie nimmt es hinunter mit Kissen und Decke und bettet es auf der Wandbank des Wohnzimmers. Sie setzt sich neben die Kleine, ihren Kopf streichelnd. Und die kleine Ille hält ganz still; sie schweigt und quält Mom Rose nicht mit Fragen; sie fühlt wohl, daß die Grandy nicht antworten, sondern an den Grandpa denken möchte.

So ist es.

 

Mom Rose, die den ganzen Tag von tausend Kleinigkeiten und Aufregungen geplagt wurde, kommt erst jetzt langsam zu sich. Den ganzen Tag hat sie die Tränen unterdrückt, und auch jetzt sind ihre Augen heiß und trocken. Langsam wird ihr bewußt, daß ihr geliebter Mann tot ist … daß er nicht mehr abends heimkommt und in seiner gutmütigen Art sie foppt: heute sei der Jahrestag ihres ersten Sommerausflugs oder ihres ersten kleinen Zanks gewesen. Ob sie daran gedacht und zur Feier ihre berühmten apple-pies gemacht habe? Immer hatte er mit ihr zu scherzen. Manchmal verstand sie es erst nach einer halben Stunde. So lange ließ er sie zappeln. Aber dann gab er ihr einen Kuß und erklärte ihr alles. So ein guter Mensch! Alles erklärte er ihr oder suchte es ihr zu erklären. Sogar die Politik. Dabei nickte sie ihm zu, obschon sie lange nicht alles verstand und auch im stillen nicht billigte. Was mußte der Mensch einen Teil dieser schönen und kurzen Lebenszeit in Versammlungen sitzen, in dumpfen stickigen Sälen, wo man lärmte, aufeinander losredete und sich sogar die Köpfe zerschlug, wie das letzte Mal bei dem Friedensmeeting? Mußte das sein? Konnte man nicht ruhig zu zweit und zu dritt miteinander sprechen? Da würde Ohm Ernest jeden herumgebracht haben.

Wie oft hatte sie ihm das geraten! Aber dann hatte er ihr erklärt, weshalb auch das andere sein müsse; sie hatte dabei mehr auf seine ruhige tiefe Stimme gehört als auf die Worte. Im übrigen brauchte er ja bloß zehn Worte zu sprechen, und sie vertraute ihm. Sie vertraute ihm in allem. Das war das Wunderbare.

Sie war ein blutjunges Ding, als er sie nahm und schon nach einem Jahr als einer der Anführer beim Streik aus dem Betrieb flog. Damals trug sie Mackie unter dem Herzen. Es war wirklich nicht leicht. Man sagte, sie solle zu ihren Eltern gehen. Aber sie blieb bei ihm, bei Ernest. Mit ihm zusammen war alles leicht trotz des Schweren. Er brauchte ihr bloß über den Kopf zu streichen und zu sagen: »Na, mein Schimmelchen!«, und alles war in Ordnung. Soviel Vertrauen ging von ihm aus, soviel gute Laune und Zuversicht. Das sagten auch seine Kollegen, und deshalb wählten sie ihn auf die Posten, wo's hart herging. Weil er allen Mut machte und immer ans Gute glaubte, und daß es schließlich mit dem Guten gut ausgehen werde. Und in den schlechten Jahren, da er als Gelegenheitsarbeiter kaum das Brot verdiente, und als Arbeitsloser nicht mal das, da ging sie als Wäscherin und Reinemachfrau und brachte eine Schüssel Essen mit heim für den Mann und den Kleinen. Aber er war drum nicht untätig. Er saß und las und studierte. Er erzählte ihr wunderbare Sachen von einer Welt, in der alle Menschen Arbeit und Essen hatten. Ja, an das glaubte er. Und sie begann, es langsam auch zu glauben.

Und jetzt liegt er da tot im Sarg und kann ihr nicht mehr erzählen und über den Kopf streichen. Auch nicht mehr den Menschen erzählen von dem, was kommen soll. Vielleicht wollten sie es gar nicht wissen, die Menschen, und haben ihm deshalb den Schädel eingeschlagen.

Plötzlich wird ihr das Herz so schwer. Sie fühlt sich so verlassen und allein auf der Welt. Da liegt er tot, Ernie, ihr Liebstes auf der Welt. Was soll sie allein noch hier? Ein Schluchzen schüttelt sie, Tränen stürzen aus ihren Augen. Sie steht auf und umklammert den Sarg, das harte trockene Holz.

»Grandpa …«

Was war das? Die kleine Ille wirft sich unruhig im Schlaf auf die andere Seite, daß die Decke heruntergleitet.

Mom Rose wendet sich zu dem Kind und bedeckt es behutsam. Dann tritt sie wieder zu dem Sarg, legt die Stirn an die Bretter und weint still, immerzu.

*

Die vom Friedenskomitee einberufene Versammlung am Samstagabend ist überfüllt. Im Stadtzentrum hat sich natürlich ein anderes Publikum eingefunden wie am Hafen. Diesmal überwiegen die Kaufleute und die kleinen Angestellten, ergänzt durch Studenten, Künstler, Ärzte, Lehrer und Angehörige der verschiedenen Kirchen. Nicht zu vergessen der starke Trupp der Dockers, die von Honeycut, Cucumber und Mark heraufgeführt wurden.

Wieder hat den Vorsitz Dr. Boyle, von dem alle wissen, daß er letzte Woche einem Polizeiverhör unterzogen wurde und wahrscheinlich vor den Kongreßausschuß muß. Wieder stehen Der Zorn Gottes und sein Partner, der kleine zarte Geistliche, auf der Rednerliste. Sie sitzen oben am Vorstandstisch. Dort ist ein leerer Stuhl. Um ihn hängt ein großer Kranz aus Tannengrün mit eingeflochtenen blutroten Rosen; auf dem einen Schleifenende liest man: Ernest Lee, auf dem anderen Ende: Dem Friedenskämpfer!

Vor dem Podest des Vorstandstisches stehen wieder die kleine Ille, Jimmy und noch zwei Kinder. Sie tragen diesmal nicht verschiedene, sondern gleiche Schilder um den Hals; auf jedem dieser Schilder liest man die Worte:

 

Wo sind die Mörder von Ernest Lee?

 

In der Versammlung selbst kommt es zu keinerlei größeren Zwischenfällen. Vielleicht will The Lord erst einmal beobachten, mit welcher Wirkung er Ohm Ernest »ins Traumland schickte«? Auch die F.B.I.-Leute halten sich im Hintergrund; ihnen hat diese Sache mit Ohm Ernest völlig das Konzept verdorben. Dabei lag gerade gegen diesen Mann nach der Fliegeralarmnacht solch erstklassiges Material der »Kinderbriefe« aus der Werkstatt von Pop Matthews vor. Und jetzt hat Costello oder irgendein anderer Gang ausgerechnet dieses Schmuckstück der F.B.I. abserviert! Gewiß, vielleicht hätte dieser Ernest Lee heute noch mehr gegen Mr. Clerk in Sache der kleinen, im Hafen angeschwemmten Stenotypistin ausgepackt. Aber was interessiert die F.B.I. jener Fabrikant Clerk und diese lächerliche Skandalaffäre? Dagegen hat offenbar nicht bloß Mr. Clerk, sondern auch der Chef eines Gangs hier Dreck am Stecken. Für die F.B.I. aber sind die Friedenskämpfer der Hauptfeind. Und mit der Ermordung des alten Autoschlossers ist diesem keineswegs der Mund geschlossen worden. Er sitzt jetzt oben am Vorstandstisch auf dem leeren, bekränzten Stuhl. Und wieder sieht man ihn dort mit seinen aufgekrempelten Ärmeln und den muskulösen, tätowierten, vertrauenerweckenden Unterarmen eines alten Heizers oder Hafenarbeiters. Und wieder kommen jetzt seine Worte – aber aus dem Saal: »Mit welchem Recht erlaubt man es jenen Clerks, mit ihrer Atombunkerreklame Kriegspanik zu erzeugen, die Menschen in den Tod zu treiben und dann ins Wasser zu werfen wie tote Katzen?«

»Und wer dagegenspricht, den werfen sie unter ein Lastauto!« ruft einer dazwischen.

»Mr. Lee …«

»Ohm Ernest …«

»Seit wann darf man einen Menschen ungesühnt ermorden?«

»Er war der Vater meines Mannes«, sagt Ann; sie ist aufgestanden und geht ruhig nach vorn an den Rand des Podiums. »Er ist der dritte Kriegstote unsrer Familie – erst mein Mann am Yalufluß in Korea, dann meine Schwägerin, die kleine Beß, die man aus dem Eastriver fischte, und jetzt mein Schwiegervater, dem man mit einem Lastauto die Brust zerquetschte, damit er nichts mehr sagen kann … verschiedene Methoden für dieselbe Sache, für diesen verfluchten Krieg. Aber glaubt nicht, daß dies das Ende ist!« Sie hat ihre sehnige Gestalt gereckt, ihr helles, sommersprossiges Gesicht steht wie in Flammen; mit einer von kaltem Feuer gehärteten Stimme ruft sie jetzt in den Saal: »Die Herren sollen sich nicht zu sicher fühlen! Die Gefallenen und Gemordeten sitzen hier neben uns; sie werden uns eines Tages vorangehen, sie werden durch die Mauern gehen und in den Schlafstuben der Herren erscheinen!«

Ann schweigt. Es ist alles gesagt.

Einen Augenblick schweigt auch der große, menschenüberfüllte Saal. Die kleine Ille mit ihrem Schild vor der Brust:

 

Wo sind die Mörder von Ernest Lee?

 

schaut fragend hinauf zur Mutter.

»Wir werden die Mörder finden!« ruft einer.

»Sie werden nicht mehr ruhig schlafen können …«

»Schluß mit den Koreakillern …«

»Hier und dort …«

Die eingebrachte Resolution, so wie sie Dr. Boyle am letzten Sonnabend verlesen hatte, wird mit gewaltiger Mehrheit angenommen.

 

36. The Lord's letztes Gespräch mit Clerk. Die Toten, die durch Mauern gehn …

Wieder bringt der »Democratic Globe«, der sich auf diese Affäre zu spezialisieren scheint, einen ausführlichen Bericht der Versammlung. Er setzt Anns leidenschaftliche Worte:

 

Die Toten werden in den
Schlafstuben der Herren erscheinen!

 

als Fettdruck in Schlagzeile.

Wie in Fußangeln bleiben Clerks Blicke beim Lesen der Zeitung an diesen Worten hängen. Ihm hat die Ermordung seines unbekannten Gegners keine Beruhigung verschafft. Im Gegenteil, er brütet darüber nach, was geschieht, wenn durch einen der notorischen Zufälle die Sache mit dem fingierten Brief oder dem Gangsterlastwagen herauskommt? Addas Namen hat er selbst von einer der Zeichnungen mit einem Kopierapparat nach Betriebsschluß abgezogen. Doch da bemerkt er plötzlich, daß er in dem gehetzten Durcheinander dieser Tage den Schlüssel zu seinem Arbeitskabinett mit dem Spielautomatenmodell in der Wohnung steckenließ. So rennt er heim und gerät sofort wieder in den Bann des Automaten.

Am nächsten Morgen bringt ihm der kleine Ben Burns den Kopierapparat, der auf Clerks Schreibtisch stand, »da ihn Mr. Clerk wohl in der Eile vergessen hat«. Clerk sieht die existenzlose Null, diesen undurchdringlichen Zwerg, mit einem entsetzten Blick an. Doch Ben Burns reinigt bloß mit etwas Benzin die Walze und verschwindet wortlos.

Ob dieser Burns noch einen Abzug von Addas Namen gemacht hat? Und wenn Ernest Lee den Brief nicht verbrannte? Clerk beginnt zu kombinieren. Soll er Ben Burns, dem häßlichen Zwerg, Geld zustecken, daß er schweigt? Der nimmt vielleicht das Geld und gibt ihn doch preis? Vielleicht macht auch gerade dieser Bestechungsversuch ihn überhaupt erst verdächtig? Burns sah ihn so seltsam an. Wenn er wirklich noch einen Abzug von der Unterschrift Addas nahm und man den Brief an den Onkel mit genau derselben Unterschrift findet? Wenn der »Democratic Globe« dies erfährt und die beiden Unterschriften im Faksimile veröffentlicht – dann muß der Staatsanwalt eingreifen.

Der elektrische Stuhl!

Clerk kann schon an nichts anderes mehr denken als an die Indizienkette, die seine Mitschuld an der Ermordung jenes Ernest Lee aufrollt. Zudem scheint der Mord umsonst gewesen zu sein. In der Versammlung am letzten Sonnabend wurde wieder der Name Clerk genannt, jetzt von anderer Seite. Und was war noch mit Ernest Lee? Für ihn war ein leerer Stuhl am Vorstandstisch reserviert. Und ein Redner zitierte die Sätze von Mr. Lee: »Wieso haben jene Clerks das Recht, mit ihrer Atombunkerreklame noch mehr Panik zu erzeugen, die Menschen in den Tod zu treiben und dann ins Wasser zu werfen wie tote Katzen?«

Dieser verfluchte kleine Revolverjournalist des »Globe« hat die Sätze offenbar mitgeschrieben, so eindrucksvoll erschienen sie ihm, ebenso wie die Worte: daß die Toten durch die Mauern gehen und in der Schlafstube des Mörders erscheinen.

Ob die Toten durch Mauern gehen können – das ist noch die Frage! Aber jenes fanatische Weib, das dies behauptete, und diese roten Burschen können sich leicht in der Rolle des Rächers gefallen. Er wird morgen unbedingt mit einem Detektivbüro sprechen, daß sein Haus Tag und Nacht überwacht und geschützt ist. Das würde der Bande so passen, in seine Schlafstube einzubrechen und in seinem Arbeitskabinett das Automatenmodell zu zerstören. Von heute ab wird er auf der Couch im Arbeitszimmer schlafen.

*

An jenem späten Nachmittag ruft The Lord an. Er bittet Clerk nach draußen in den Country Club.

Wieder sitzen die beiden Männer auf der breiten, dem Waldsee zugewandten Terrasse. Auch The Lord hat den Artikel in dem »Globe« gelesen. Daß man es wagt, den Ernest Lee – einen auf solche Weise einem »Unglücksfall« Erlegenen, das heißt: einen von ihm ins Traumland Geschickten – in öffentlicher Versammlung zum Mittelpunkt zu machen, das ist neu. Neu ist auch, daß man in öffentlicher Versammlung einen Mann wie Clerk mit Namen zu nennen, des Mordes zu beschuldigen und auf die Hintergründe hinzuweisen wagt. Auch daß die Pressemeute sich hier festbeißt. Es fehlte bloß noch, daß durch irgendeine Ungeschicklichkeit sein eigener Name mit hineingezogen wird. Hat er deshalb sich mit wilden Lungen aus dem Dschungel des alten Gangsters emporgearbeitet, sich in der Gesellschaft eine Position geschaffen, seine Tochter Nora in den besten Colleges Europas studieren lassen, damit jetzt dieser Clerk, dieser halbirre Bulle, ihn wieder in den Sumpf zurückstößt? Es gilt, auch hier kurzen Prozeß zu machen.

Er zieht den »Globe« aus seiner Rocktasche und schiebt ihn Clerk hin.

Clerk, ohne das Blatt zu berühren, nickt zum Zeichen, daß er den Artikel kennt. Er mißversteht jedoch völlig den Zweck dieser Begegnung mit The Lord und fragt, ob bei den Autofahrern an jenem Abend eine Panne geschehen sei?

The Lord gießt noch einen Martini hinunter, ohne auf diese lächerliche Frage einzugehen, und meint scheinbar unvermittelt: »Wieso standen da vier Kinder vor dem Podium mit den Schildern:

 

Wo sind die Mörder von Ernest Lee?«

 

»Das ist sehr betrüblich«, sagt Clerk, »aber ich sollte ja nichts unternehmen.«

Auf diesen leichten Vorwurf entlädt sich wie ein Präriegewitter urplötzlich The Lords ganzer Grimm. »Das wollte ich Ihnen auch geraten haben!« fährt er los. »Was habe ich eigentlich mit Ihrem verdammten Mr. Lee zu tun? Und mit dieser kleinen Pute, die Ihr Sohn verführt hat? Schön in den Dreck geritten haben Sie mich mit Ihren Affären!«

»Wie konnte ich das wissen?« erwidert Clerk hilflos.

»Elend haben Sie mich hineingelegt! Niederträchtig! Und ich alter Hund schnappe nach so einem Knochen? Aber jetzt ist Schluß! Vergessen Sie mein Telefon und meine Hausnummer!«

»Was soll das heißen? Unsere Automaten …«

»Ich schenke Ihnen die Stange Gold, die ich hineingesteckt habe, ich schenke sie Ihnen …«

»Aber wir sind doch im besten Zuge …«

»Nicht mit mir! Suchen Sie sich einen anderen Narren, jawohl, ich sagte Narren!« The Lord hat die fade Maske des Gentleman fallenlassen. Der alte Gangster tritt jetzt wieder in Lebensgröße und voller Naturschönheit hervor: »Und wenn ich Ihnen einen wirklich guten Rat geben darf, Mr. Clerk, so vergessen Sie auch meinen Namen«, sagt er mit nicht mißzuverstehendem Unterton. »Vergessen Sie jedes Wort, das wir miteinander gewechselt haben!«

»Aber wer soll denn die Automaten aufstellen?« stößt Clerk fassungslos hervor. »Die Automaten …«

»Jedes Wort, Mr. Clerk! Meine Telefonnummer, alles haben Sie vergessen, Mr. Clerk, auch meinen Namen! Ob Sie mich verstanden haben?«

Die ganze Unterredung dauert kaum zwanzig Minuten. Wie The Lord zahlt, schaut Clerk ihn mit verzweifelten Augen an. Dieses Riesengeschäft soll mit einem Schlag liquidiert sein? Und alles wegen dieses Mr. Lee? Ob mit diesem Ernest Lee nicht doch etwas passierte, was man ihm verheimlichte? Er steht auf, faßt den seinen Mantel überstreifenden The Lord am Ärmel und flüstert ihm zu: »Die Sache mit Mr. Lee ist doch nicht verraten oder aufgeklärt?«

»Wenn das sein sollte«, erwidert The Lord, »so weiß ich, wer mir dafür zahlen und mit mir in die Hölle reisen wird!« Mit einem Ruck zieht er seinen Arm weg und verläßt den Klub ohne ein weiteres Wort.

 

37. Der tote Ohm Ernest fährt durch die Stadt.

Für Montag ist die Bestattung Ohm Ernests angesetzt. Die Automobilgewerkschaft hat es sich nicht nehmen lassen, gebührend daran teilzunehmen. Als der Trauerzug in Taxis die Straße, wo Ohm Ernests Häuschen steht, verläßt, sind es bereits über dreißig Wagen, die dem großen Leichenauto folgen. Außer der Familie, der Friedensgesellschaft, der Gewerkschaft und der Jugend sind auch die Schauerleute vom Hafen in einem Lastwagen erschienen. Honeycut, Mark, Cucumber haben sich mit ihren anderen Kollegen nicht lumpen lassen. Sie folgen in einem großen, mit schwarzem Flor umhangenen 5-Tonner mit einem imposanten Kranz, den Honeycut über den Wagenrand hält. Zuletzt schließt sich Pop Matthews mit Old Bill und den Lehrjungen in dem großen Studebaker an, den Ohm Ernest noch zur Generalüberholung hatte.

In dem Funeralparlour, einer Halbkirche des Beerdigungsinstitutes, wird der Sarg auf ein Postament gehoben. Er ist bedeckt mit dem Sternenbanner und der blauen Friedensfahne mit der Taube. Einen Teil der Kränze hat man in die Halle mitgenommen. Sie liegen über den Fahnen. Vor dem Sarg stehen die kleine Ille und ihr Freund Jimmy, sie tragen die gleichen Schilder um den Hals wie in der Versammlung:

 

Wo sind die Mörder von Ernest Lee?

 

Vor dem Katafalk haben sich als Ehrenwache postiert: vorn Pat von der Gewerkschaft und Honeycut von den Dockers, dahinter eine Frau des Friedenskomitees und eine Arbeiterin aus Anns Betrieb, und schließlich Gene in seinem Fliegerdreß mit all seinen Kriegsauszeichnungen und ein Vertreter der Jugendliga.

Es ist eine seltsame Feier, aber Ohm Ernest angemessen. Der Zorn Gottes hält die Trauerrede, indem er nach einem Wort des alten Propheten verkündet, daß die Zeit nahe ist, da DER HERR zwischen die Stühle der Mächtigen mit seiner eisernen Stange schmeißen werde, daß sie zusammenfallen würden wie trockner Lehm. Dann singt man das alte »Solidarity forever«, unter dem Ohm Ernest sooft vor Jahren mit der Gewerkschaft demonstrierte.

Dr. Boyle tritt vor. Er begründet mit wenigen Worten, weshalb die blaue Friedensfahne mit der weißen Taube den Sarg des Toten bedeckt. Ohm Ernest ist gefallen als tapferer, unbestechlicher Kämpfer für den Frieden. Noch gehöre heute mehr Mut dazu, für den Frieden zu kämpfen, als in den Krieg zu ziehen. Ohm Ernest habe seinen Mut, den Menschen den Weg der Vernunft zu zeigen, mit dem Leben bezahlt. Er wollte den künstlichen Gegensatz Ost-West beseitigen und die beiden Hälften der gemeinsamen Erde wieder vereinen helfen. Die Nutznießer der Spaltung der Erde aber ließen ihn ermorden. Ihr Name werde noch bekannt und auf den Straßen für alle Augen angeheftet werden! Mit Ohm Ernests Tod sei der Kampf nicht beendet, er beginne erst jetzt mit ganzer Heftigkeit …

Der Doktor schweigt und tritt zurück. Er spürt, daß er Dinge gesagt hat, die er sonst dachte, aber nie aussprach. Er spürt, wie ein kräftiger Blutstrom ihm durch die Adern bis zum Hals hinaufjagt.

Da steht vorn vor dem Sarg zwischen den Kindern schon Honeycut, der alte Neger und Hafenarbeiter, in seinem sauber gebürsteten blauen Tuchjackett über einem gestreiften Trikot. Er hat des Doktors letzte Worte aufgegriffen und sagt: Ja, der Kampf beginne erst! Die Dockers von über vierzig Piers hätten den Gewerkschaften ihre Forderungen übergeben, und, falls innerhalb einer Woche keine befriedigende Antwort eintreffe, beginne im Hafen der Streik gegen die Bosse und großen Haifische, an dem bestimmt über zehntausend Arbeiter teilnehmen würden. Ohm Ernest aber habe auch für sie ein Herz gezeigt, für sie alle, die schwarzen und weißen Dockers, als er vor zwei Wochen in der White Rose Bar mit ihnen an einem Tisch saß und an der ersten Streikberatung teilnahm, da man den Ammoniakverletzten aus dem Schiff mit der Kriegsladung trug. Damals habe Ohm Ernest mit seinen klugen, mutigen Worten sofort das Herz der Schauerleute, der Schwarzen und der Weißen, gewonnen. Das würden sie ihm nie vergessen. Und das zu sagen, sei er hier.

Honeycut fährt sich mit seiner verstümmelten Rechten über das dunkle Gesicht, vielleicht, um seine Erregung zu verbergen, vielleicht, weil er nachdenkt, ob er nicht doch etwas vergessen habe? Dann meint er leise für sich in die Stille des halbrunden, kapellenartigen Raums: »Er wird ebensowenig sterben wie Joe Hill.« Und er beginnt – immer noch vorn stehend –, das Lied auf Joe Hills Tod zu summen:

»Salt Lake Joe«, sag ich, »bei Gott,
Sie fingen dich nicht fair.« –
Doch Joe sagt drauf: »Ich bin nicht tot!
Niemals sterb ich!« sagt er.

Und jetzt fällt plötzlich die helle Stimme der kleinen Ille mit ein, den Brummbaß des alten Hafenarbeiters belebend:

»Joe Hill«, sagt er, »nicht sterben kann,
kann sterben nimmermehr …«

Und die Hafenarbeiter im Halbrund mit den Männern der Gewerkschaft und den Jungen und Frauen aus Anns Betrieb:

»Solang im Streik steht noch ein Mann,
Steh ich bei ihm!« sagt er.

Plötzlich ist es, als ob alle die Arbeiter und Arbeiterinnen, die Männer von der Automobilgewerkschaft und vom Hafen sich des Songs entsonnen hätten. Denn nun dröhnt der letzte Vers des Lieblingsliedes von Ohm Ernest durch das Gewölbe der steinernen Kapelle wie eine trotzige Hymne, in der Illes und Jimmys Kinderstimmen wie die hellen Angriffstöne eines französischen Clairons wirken:

Von San Diego bis nach Maine
Maschinen schreien schrill.
Wo Männer an der Werkstatt stehn,
Steht mit ihnen Joe Hill.

*

An einer Straßenkreuzung etwa in Höhe der VII. Avenue – dort, wo mehrmals Arbeiterdemonstrationen belästigt wurden – wäre es fast zu einem Zwischenfall gekommen. Man hätte diesen belebten Verkehrsknotenpunkt vermeiden können. Aber die Vertreter der Automobilgewerkschaft und der Hafenarbeiter waren der Ansicht, daß man Ohm Ernest »nicht hintenherum« wie einen Selbstmörder verscharren solle, sondern daß er bei seiner letzten Fahrt nicht weniger ein Recht auf die Hauptstraßen habe als ein an der Front gefallener General.

Der Leichenzug fährt also langsam durch die belebte Hauptstraße. In den vorderen Wagen neben den Fahrern sitzen Gene und Pat mit ihren Kriegsauszeichnungen. Die Vertreter der Automobilgewerkschaft, der Friedensgesellschaft und der Jugend halten ihre Kränze seitlich aus den Wagenfenstern. Das Ganze sieht recht imposant und feierlich aus, so daß die Verkehrspolizisten annehmen können, hier werde ein Großer dieser Erde zu Grabe getragen. Schließlich aber wird der Zug mit seiner langen Taxikolonne von einem riesigen irischen Verkehrspolizisten, der mit seiner kreisenden Hand Halt gebietet, an der Avenuekreuzung gestoppt. Mag sein, daß die King Joe-Garde von dieser Demonstration der streikenden Schauerleute Wind bekommen hat oder daß politische Rowdys im Spiel sind – jedenfalls drängen einige dieser Burschen jetzt, da der Zug hält, gegen die Wagen, aus denen die Kränze mit roten Schleifen gehalten werden, vor und suchen die Schleifen wegzureißen. Im Nu sind Mark und einige jüngere Dockers von dem Lastwagen gesprungen und haben sich einen dieser Typen geangelt. Der lange irische Verkehrsschutzmann kümmert sich nicht um die für ihn nicht zuständige Angelegenheit, sondern wendet seine Aufmerksamkeit noch intensiver dem Durchschleusen der Querkolonnen zu.

Inzwischen drängen sich immer mehr jener Typen um die Wagen mit den rotbeschleiften Kränzen. »Jetzt demonstrieren die Roten schon mit 'nem Leichenzug!« schreien sie. Und gegen die Schauerleute: »Das sind die Kommunisten, die keine Schiffe entladen und unsere Jungens in Korea verrecken lassen wollen! Heraus mit den roten Hunden!«

Das hat den Schauerleuten gerade gefehlt. Zwei der Maulhelden liegen bereits am Boden. Eine Blutlache rötet den Asphalt. Immer mehr Menschen umringen die Wagen. Gleich muß der irische Polizist die Durchfahrt freigeben. Aber jedes einzelne Auto ist belagert. Schon rufen Straßenpassanten: Polizei!

Da hört man plötzlich eine Männerstimme: »Sagt, ihr Helden, die ihr euer Maul aufreißt, wo wart ihr eigentlich, als wir in Europa gekämpft haben?« Es ist Gene, der in seinem Fliegerjackett – auf der Brust sechs Auszeichnungen – vorn vor den Wagen steht. Pat tritt neben ihn.

Im Augenblick herrscht Ruhe.

Auch die Dockers, die Automobilgewerkschaftler, Ann mit den Arbeiterinnen und die anderen sind aus den Autos gestiegen. Die beiden Gruppen stehen einander stumm gegenüber. Da ruft jemand von den fragwürdigen Figuren: »Was habt ihr denn da für 'nen blauen Lappen mit 'nem Piepmatz überm Sarg?«

Alle schauen zum Sarg, über dem die beiden Flaggen ruhen. Und Gene mit seinen sechs Kriegsauszeichnungen auf der Brust antwortet: »Dieser Lappen … ist die Weltfriedensfahne.«

Vorn gibt der Fahrer des Leichenautos ein Signal. Die Durchfahrt ist frei. Alle springen wieder in die Wagen. Der Leichenzug mit Ohm Ernest überquert langsam die Straßenkreuzung und fährt durch die Stadt.


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