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Beß wirft sich herum. Die Kälte der ersten Morgenstunde hat sie geweckt. Was ist? Wie liegt sie da? Nackt? Und wo? Licht brennt. Ist das ihr Bett?
Sie zieht die Decke hoch, schaut sich vorsichtig um, denkt nach.
O Gott, das alles ist doch ein Traum! Sie greift ihr Haar, zerrt daran … ja, sie ist es. Der Kopf schmerzt. Ihr Kopf. Sie kniet auf und schaut unter der Decke hervor, spähend, voll Angst, wie im Dickicht unter einem schützenden Blättervorhang nach einem wilden Tier.
Da am Boden liegt ihr Hemd, ein kleiner Knäuel, dort ein Strumpf. Schnell kraucht sie wieder unter die Decke zurück, kugelt sich ganz zusammen, ganz in sich, den Kopf zwischen den Knien, sie stöhnt, sie schluchzt, alles schmerzt plötzlich, das Handgelenk, der Oberarm rechts, der Kopf, der Leib … ein Ekel steigt in ihr hoch … schnell, sie muß hinaus … sie stürzt zum Fenster, übergibt sich … mein Gott, sie ist ja nackt; sie reißt die Steppdecke vom Bett, schlägt sie um sich, rennt in den Korridor, in die Küche, über dem Ausguß würgt sie, bricht alles heraus, es riecht nach Alkohol … pfui Teufel, ihr wird doppelt übel bei dem Gedanken … wie sagte sie doch noch, als sie herausfuhren und später, als Donald telefonierte: Ein prächtiger Mensch! Wahrhaftig: »Ein prächtiger Mensch!«
Sie muß sich am Ausguß halten, sie preßt ihren Leib gegen die Kante, daß auch der letzte Alkohol herauskommt; jetzt ist ihr wohler, aber sie fühlt sich todmatt, so elend, ihre Zähne klappern vor Frost … »der prächtige Mensch« muß doch wo sein … soll sie schreien, ihn rufen? Niemals! Sie schlägt die Decke wieder um sich und geht zum Schlafkabinett. Die Wohnung ist leer. Schnatternd vor Kälte kriecht sie ins Bett.
Vielleicht ist er zu seinem Freund gegangen, dem Captain, wegen des Fluges nach Robbys Camp? Aber wie kann er vor Robby treten, nach dem, was geschehen ist? Wie kann er sie – Beß – noch ansehen? Ist es möglich, hat er deshalb immer wieder auf Robby und das Gelingen der Befreiung mit ihr getrunken, um sie zu berauschen und willenlos zu machen? »Dieser prächtige Mensch!« Wem kann man noch vertrauen? Schufte sind alle! Alle!
Wer weiß, wie Robby ist?
Himmel, ist sie wahnsinnig? Robby, Liebster, verzeih deiner »lieben, kleinen Frau«!
»Ich kann nicht mehr, kann nicht mehr …« Sie möchte schreien, sie verbirgt sich unter der Decke. Ein Weinkrampf schüttelt sie. Aber das Weinen erleichtert nicht. Denn die Gedanken bohren und bohren.
Wie kann sie diesen Morgen Adda begegnen? Und dem Vater? Und später Robby? Oh, soll er zehn Jahre gefangen sein! Sie kann ihn jetzt nicht wiedersehn! Und wenn sie ein Kind bekommt? – Von wem?
Sie beißt sich in die Hand. Fester, fester, es muß schmerzen! Alles schmerzt, vor allem ihr Leib. So roh, so gemein. Das sind nun Offiziere! Diese Herren! Sie saufen, sie schießen, sie morden, und sie tun auch das! Mit einem Menschen, dem sie helfen wollen!
Weg von hier, nur weg!
Sie springt aus dem Bett, streift ihr Hemd über, den Schlüpfer, nimmt den einen Strumpf vom Boden … wo ist der andere? Da liegt ein Schuh, der zweite im Nebenraum, sie sucht an der Erde nach dem andern Strumpf … was ist das? Hart. Kalt. Der Revolver.
Sie hat ihn in der Hand, starrt ihn an.
Richtig, damit zerschoß er den Teller in der Luft, die Fliegende Untertasse. Ein Meisterschütze, dieser prächtige Mensch. Schwer ist der Revolver, schwer und kalt. Aber wenn man schießt, wird er heiß.
Wenn sie bloß jemanden fragen könnte? Es ist bestimmt ganz einfach. Die einfachste und schnellste Lösung. Jetzt, da er sie schändlicher wie ein Tier behandelt hat, kann sie seine »Güte«, Robby zu befreien, nicht mehr annehmen. Was soll sie überhaupt noch mit Robby?
Sie schaut auf den Colt. Sie dreht den Lauf und blickt in die Mündung. Die Mündung wird immer größer, sie beginnt sich zu drehen, kommt näher auf sie zu … eine Riesenhand will ihr den Revolver wegnehmen; aber sie hält ihn fest, krampfhaft, er ist ja ihr Letztes … fest umklammert sie den Griff und reißt ihn – weg, die fremde Hand! – mit einem Ruck zu sich; sie hört den Schuß nicht mehr krachen, der ihre Stirn zerschmettert.
*
Aber ein andrer hört den Schuß. Er schaut nach der Uhr – es ist 2.10 –, Jeff, der Negergefreite, die Nachtwache vom Garagendienst, hat bei seinem Rundgang um 2 Uhr das Licht bei Major Clerk beobachtet. Er weiß, daß der Major mit dem Flugzeug aufgestiegen und noch nicht zurückgekehrt ist.
Die Lady ist noch oben. Was ist geschehen? Ein heftiger Zwang treibt ihn, nachzuschauen. Es ist nichts Ungewöhnliches, daß er den Major früh weckt und im großen Buick begleitet; auch nicht, daß die Haustür nicht geschlossen ist; doch daß die Etage oben offensteht … der Major muß in großer Hast oder Kopflosigkeit die Wohnung verlassen haben.
Jesus Christ! Weg von hier! Nichts gesehen haben! Da liegt im Lichtband der Lampe des Nebenraums hier im dunklen Arbeitskabinett ein junges, halbnacktes Weib am Boden, den Revolver noch haltend, eine furchtbare Wunde in der Stirn. Weg von hier!
Im Parterre knarrt eine Tür. Schritte. Der Captain Ferry? Wenn er jetzt wegrennt, macht er sich noch mehr verdächtig. Schnell knipst er das Licht an. Oh, sie ist fast noch ein Kind! Und die Weinflaschen am Boden und auf dem Tisch … die Scherben eines Tellers am Boden.
»Jeff, was ist?!«
Der Captain steht vor ihm, starrt ihn an und schaut auf den Boden.
»Wo ist der Major?«
»Weiß nicht, Captain.«
Ferry geht ins Schlafkabinett, kommt zurück, sieht die Jerezwein-, die Tokaierflaschen, den Curaçao … er begreift. Er hat, wie er heimkam, von Donalds Start gehört; er schaut jetzt nach der Uhr: 2.15; eineinhalb Stunden sind nach dem Aufstieg vergangen. Donald müßte eigentlich zurück sein. In einer Stunde kann man in dem Höhenjäger mit Raketenantrieb bei dessen ungewöhnlicher Steigfähigkeit und Geschwindigkeit sehr viel durchführen; allerdings kann man nicht allzulange oben bleiben.
Doch was sind das für Erwägungen jetzt? Da liegt ein junges Weib mit blutender Stirn. Er kniet nieder, hebt ihren Kopf; der fällt zurück wie ein Stein. Er hebt die Hand mit dem Revolver; sie fällt nieder wie ein Stein.
Tot.
Und die Weinflaschen ringsum? Die Scherben? Wenn Donald nicht wiederkehrt, oder zu spät? Wenn man am Morgen die halbnackte Leiche des Mädchens hier findet? Ein Skandal! Ein Riesenskandal! Die Journalisten werden sich auf diesen fetten Bissen stürzen. In übelster Weise kommt der Flugplatz in die Schlagzeilen der Presse. Auch sein Name! Donalds Name! Der Staatsanwalt … Militärgericht … medizinische Sachverständige … Untersuchung, Gericht, Untersuchung …
»Jeff!«
»Das was hier ist, ist nicht.«
Der Negergefreite starrt ihn an.
»Verstanden?!«
»Aber wie?«
»Wenn du noch ein Wort fragst, du Stinktier«, der Captain verliert plötzlich jede Selbstkontrolle, »wenn du deinen geilen Augen mehr glaubst als meinem Wort: Hier ist nichts! – wenn du etwa einen Offizier, der sein Leben in einem Nachtflug riskiert, mit deiner schleimigen Zunge besudeln willst …«, der Captain ist ganz nahe an den schwarzen Gefreiten herangetreten, »gut, da liegt die nackte weiße Lady, und dich traf ich bei ihr! Weißt du, was mit einem Nigger geschieht, den man so antrifft … was mit Willie McGee geschah?«
»Captain Ferry! Captain …«, stöhnt Jeff, seine Lippen beben.
»Ruhe!« fährt ihn Ferry an. »Du hast mich verstanden?«
»Ja, Captain.«
»Du wirst schweigen?«
»Ja, Captain.«
»Kein Wort, Jeff, kein Wort!« Einen Moment erschlafft Ferry und sagt wie erklärend: »Es wird für sie dadurch ja nichts anders, wenn das Gericht käme, gar nichts anders … oder würde sie dadurch lebendig, Jeff?«
»Nein, Captain.«
»Also, Jeff, nimm hier die Wolldecke, wickle sie darin ein, such eine Schnur oder 'nen Riemen und mach es zu! Was stehst du?«
Jeff steht wie Holz.
»Hörst du nicht?!«
»Und der Colt, Captain?«
»Gib her!«
Während Ferry ins Schlafkabinett geht und im Telefonbuch eine Nummer sucht, führt Jeff des Captains Befehl aus und schnürt die tote Beß in eine der auf der Couch liegenden Wolldecken. Plötzlich sieht er entsetzt, daß Blut an seinen Händen klebt, daß auch auf seiner Militärbluse Blutflecken sind. Er springt zum Bad, sich zu reinigen.
Der Captain hat Cecil Clerk offenbar aus tiefem Schlaf gerissen. Clerk versteht zuerst nicht, wer mit ihm spricht, daß »ein Freund von Donald« ihn sofort sprechen müsse; er solle ihn außen vor der Pforte der Villa erwarten … jawohl, allein! Er könne Vertrauen haben, er sei der Freund von Donald, der vor vier Wochen mit ihm in Dealwood war, wo sie im Sprunggarten geritten seien und das Pferd des Doktors zum Stall raste … na also, jetzt wisse er Bescheid … in vierzig Minuten sei er vor der Villa … ob mit Donald etwas passiert sei … das werde er ihm berichten … so long!
Der Captain befiehlt Jeff, unauffällig während seiner Wache das Bungalow im Auge zu behalten und, falls der Major zurückkomme, ihm zu sagen, er – der Captain – sei in zwei bis drei Stunden spätestens zurück. Der Major solle bis dahin ruhig auf seinem Zimmer bleiben, niemanden anrufen und nichts unternehmen!
*
»Unmöglich, Captain! Das kann nicht sein!«
»Es ist so, Mr. Clerk. Und es hat wenig Sinn, jetzt nach den Motiven zu suchen oder mit Vorwürfen und Jammern Zeit zu verlieren. Wir haben bis 5.30 etwas über zwei Stunden Zeit; bis dahin muß die Leiche aus Donalds Zimmer geschafft sein …«
»Wo ist Donald?«
»Er ist zu einem Nachtflug aufgestiegen.«
»Mußte er das?«
»Wahrscheinlich.«
»Und weiß er von dieser furchtbaren Sache in seiner Wohnung?«
»Mr. Clerk, wenn Sie wünschen, daß heute sämtliche Abendblätter auf der ersten Seite berichten, daß im Schlafraum des Sohnes des bekannten Fabrikanten Clerk eine nackte erschossene junge Frau gefunden wurde, dann fragen Sie bitte weiter!«
Sofort ist Clerk nüchtern und klar.
Wer kann hier helfen? Moment!
Es gibt da nur einen Mann seiner Bekanntschaft, der hier gewissermaßen zuständig ist.
The Lord.
Clerk will nicht unnötig mehr ins Haus. Er fährt mit dem Captain zum Zentralbahnhof und ruft von einem Automaten den Freund an.
Für »The Lord« sind diese nächtlichen Intermezzos auch heute nichts Ungewöhnliches. Bei seinen weitverzweigten Unternehmungen liebt er die Nachtgespräche als die ungestörtesten. Aber daß ein Partner ihn gegen 3 Uhr früh unbedingt persönlich sprechen will, ist doch etwas absonderlich. Immer noch denkt The Lord aus seiner vergangenen Praxis an eine Mystifikation, an eine »Falle«. Allerdings, so plump wird niemand vorgehen. Zudem vermag Clerk, sich sofort zu legitimieren, indem er an ihr Gespräch unter vier Augen im Van-Dyck-Club erinnert.
Wie gut, daß er vor kurzem mit The Lord die Verbindung wieder aufnahm, und zwar unter Hinzuziehung von Donald in dieser familiären, sehr verbindlichen Form. Ein Glück auch, daß The Lord sich gerade in seiner Stadtwohnung aufhält. Und ein weiteres Glück, daß der Freund auf einem zweiten Apparat seinen Spezialchef für solche »akuten Fälle«, Joe Apollo, mit Gorillajack sofort mobilisieren und ihm einen Treffpunkt auf der Mitte der Chaussee zum Flughafen F.8 angeben kann; dort werde er mit dem alten Nachmittagsgruß erwartet von einem Geschäftsfreund, der volle Prokura besitze.
Das alles erfährt Clerk wieder am ersten Telefon, auch daß The Lord sich freuen werde, ihn morgen zum Five o'clock im Club wie letzthin zu sehen.
Wahrhaftig, ein Glück bei allem Unglück! Die Sache mit Joe Apollo und Gorillajack verläuft programmäßig. Diese beiden Spezialisten hängen sich nach der Begrüßung: »Gute Gebirgsluft heute?« mit ihrem Wagen an den des Captains. Es ist bereits kurz vor 5 Uhr, da sie im Morgendämmer das Wolldeckenkolli mit den Sachen von Beß in Empfang nehmen und diesmal eine bereits stumme Last fachmännisch »take for a ride« – zu einer Spazierfahrt – abholen. Sofort brausen sie davon über die große Chaussee zur Stadt.
Niemand außer dem Captain und Jeff hat den Vorgang bemerkt.
Clerk, der eine gute halbe Stunde zuvor heimgekehrt ist – indem er genau wie bei seinem Weggang die kleine Seitenpforte neben dem Tor benutzte –, Clerk hat in der kühlen Frühdämmerung wieder sein Schlafzimmer erreicht und fröstelnd sich zu Bett gelegt. All das ist so schauerlich und irreal, daß er einfach nicht mehr daran denken will. Er nimmt zwei starke Tabletten und fällt in wenigen Minuten in einen tiefen Schlaf.
Wie die Radioverbindung zwischen dem Major Clerk und der Funkstation abbrach, hatte der Funker etwa eine halbe Stunde versucht, das Flugzeug auf der ausgemachten Kurzwelle anzupeilen. Störungen waren bei solchen Höhenflügen nichts Seltenes. Doch als nach etwa vierzig Minuten der Major immer noch nicht antwortete, meldete es der Funker dem Offizier vom Dienst. Dieser ließ an alle Funkstationen der Flugplätze im Umkreis von 1000 km durchgeben, daß ein Düsenjäger mit dem Rufzeichen Ontario-Winnipeg seit etwa einer Stunde nicht mehr antworte und überfällig sei.
Es verging eine weitere Stunde, bis ein Flugfeld 800 km südsüdwestlich von Donalds Start funkte, man habe vor über zwei Stunden nördlich einen auffallenden, bald verlöschenden Lichtschein beobachtet. Obschon man nun mit großer Wahrscheinlichkeit eine Katastrophe des nächtlichen Düsenjägers und seines wagehalsigen Piloten annehmen mußte, wollte der Kommandant von F. 8 bis zur technischen Aufklärung des Falles noch ein übriges tun. Deshalb erschien er gegen 7 Uhr früh in Donalds Bungalow, um womöglich hier ein Anzeichen für des Majors Verschwinden zu entdecken. Doch man fand keinerlei Aufzeichnungen noch Anhaltspunkte, die auf irgendeine persönliche Ursache des Absturzes des Nachtfliegers hätten schließen lassen. Die paar leeren Weinflaschen in der Küche gehörten zum Lebensstandard eines Offiziers.
Auch Captain Ferry, der mit Donald das Bungalow bewohnte, hatte in dieser Nacht nichts Sonderliches bemerkt; allerdings war er selbst erst nach 24 Uhr heimgekehrt, zu einer Zeit, da der Major sein Quartier bereits verlassen hatte. Es blieb also nichts übrig, als das Ergebnis der Suchaktion abzuwarten.
Der Kommandant nimmt gerade seinen Tee ein, da wird ihm gemeldet, daß 920 km südsüdwestlich von F. 8 im Steppengelände das völlig zertrümmerte Wrack des Düsenjägers mit der in seiner Kabine eingeklemmten und verbrannten Leiche des Majors gefunden worden sei. Ein verflucht ehrgeiziger, etwas leichtfertiger Bursche war dieser Clerk ja stets. Wahrscheinlich hatte er die Maschine überanstrengt. Bei der enormen Geschwindigkeit kann man diesen Düsenjäger sogar bis 90 Grad senkrecht hochziehen und »an die Latte hängen«. Aber doch nur auf kurze Zeit. Schließlich gibt es auch bei den Steuerseilen eine Grenze der Zerreißprobe. Unangenehm – ganz abgesehen natürlich von dem Menschlichen –, der junge Clerk ist der einzige Sohn des Großindustriellen der bekannten C.C.C. Klar auch, daß die Sache mal wieder auf den Kommandanten zurückfällt: mangelnde Instruktion der jungen Kader und ähnliche überaus kluge Erwägungen von oben.
Natürlich schon ein Anruf auf der direkten Leitung. Kommandant Kennedy vom Zivilflughafen. Wäre es nicht sein alter Waffenbruder von der Normandie und den Ardennen, hätte er aufgelegt. Zudem ist Kennedy ein Freund des Hauses Clerk und des Toten. Er möchte mit dem Bergungskommando von F. 8 starten und die Leiche heimholen.
*
Donalds »tragischer und heldenhafter Tod« ist zweifellos ein schwerer Schlag für die Familie Clerk. Mrs. Dorothy kann sich tagelang nicht fassen. Solch ein stets wohlgemuter, begeisterter und von Grund auf anständiger Junge wie Donald! Gerade nach den Besten streckt der Tod seine knöcherne, kalte Hand! Das sei immer so gewesen und werde wohl immer so sein, bemerkt Colonel Kennedy düster … in der Normandie, in den Ardennen und auch hier zwischen Himmel und Erde. Was sonst übriggeblieben, was sei es anders als Bruch, Schrott, Kompost?
Ob er – Key – Freude daran fände, ihr alles zu nehmen?
Nein, aber er werde Donald rächen!
An wem?
Er wisse schon an wem.
Wenn auch er sich noch in Gefahr begäbe? Mein Gott …
Der Russe schieße diese ferngelenkten Raketen von großen U-Booten ab, als Vorprobe für die späteren Atombomben! Wenn man diese Bedrohung im Stab so leicht nähme und die besten Flieger ohne Schutz starten lasse, wenn vielleicht sogar im Stab Agenten säßen …
Dorothy legt ihre Hand auf seinen Mund. Sie ist größer als er. Sie nimmt jetzt seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und schaut ihn starr an. Er dürfe keinesfalls etwas unternehmen, bevor die Untersuchung über Donalds Flugzeugkatastrophe geklärt sei, keinesfalls, ob er sie verstanden habe … er selbst sei ein wunderbarer Flieger, das wisse sie … er habe seine Pflicht als Offizier, aber er müsse diesmal seiner Dotty folgen … noch ein Unglück würde sie nicht mehr hinnehmen!
Sie umarmt ihn. »Und nicht mehr trinken ohne deine Dotty, bitte, Key, bitte, bitte!«
Das Weiße seiner Augen ist von winzigen roten Äderchen durchzogen. Sie kennt das. Aber sie hat ihn schon wieder unter ihrer vitalen physischen Gewalt.
Die Tage der Trauer beanspruchen das Haus Clerk derart, daß nach außen hin das Verschwinden der kleinen Beß kaum vermerkt wird. Welchen Anteil sollte hieran auch die Öffentlichkeit nehmen, da man nicht einmal weiß, ob das achtzehnjährige, äußerst sensible Mädchen in ihrer Erregung über Robbys Schicksal eine Unüberlegtheit begangen hat, ob sie vielleicht zu dem Trainingslager gefahren oder zu einer noch exaltierteren Verzweiflungstat geflüchtet ist?
Als Beß den ganzen Tag nach jener Nacht nicht heimkommt und Vater Manuel inmitten des Trubels um Donalds Beerdigung die Polizei benachrichtigen will, hält Adda ihn zurück, da sie vielleicht wisse, wo Beß sei.
Gene ist an diesem Nachmittag trotz mehrfachen Anrufs nicht erreichbar. Adda fühlt sich in einem merkwürdigen Zustand. Sie ist sich durchaus nicht mehr klar darüber, was sie am vergangenen späten Abend am Portal der Clerkschen Villa gesehen hat. War wirklich der Wagen mit Donald und Beß davongefahren? Hatte Gene es nicht ebenfalls beobachtet? Oder war das ganze ein Traum? Vielleicht auch eine Gedächtnistäuschung oder eine nachträgliche Kombination, die sich ergab aus dem gleichzeitigen Verschwinden von Beß und dem Ende Donalds?
Was stimmt hier?
Und weshalb konnte sie nicht wie sonst Gene erreichen? Ließ er sich verleugnen? Seltsam. Gespenstisch. Unwirklich. So etwas liest man doch nur in den Schlagzeilen der Zeitungen. »Unaufgeklärter Todesfall einer Achtzehnjährigen …« oder »Der Fall der jungen Beß Montez wird immer rätselhafter«.
Weg mit den Vermutungen!
Sie muß mit Ohm Ernest sprechen. Aber bat er nicht gestern, daß man nach der Sache mit der F.B.I. jetzt nur über den Doktor mit ihm verkehren solle? Ja, der Doktor ist hierfür der Richtige. Als Arzt wird er den Fall sachkundig beurteilen.
*
»Bist du deiner ganz sicher, Adda?«
»Ich denke, ja.«
»Ich denke, ja – das ist keine Sicherheit!«
»Ich habe die beiden im Wagen gesehen.«
»Du hast die Gesichter erkannt?«
»Ja.«
»Hatte Beß eine Mütze auf oder war ihr Kopf frei?«
Adda zögert.
»Und Donald?«
»Es müssen die beiden gewesen sein! Weshalb zweifeln Sie?« fragt Adda erregt. »Mein Vater hörte doch Donalds Wagen, und nachher war Beß fort aus dem Zimmer. Weshalb sind wir nicht hinterhergefahren? Oh, Beß!« Mit einemmal scheint es mit ihrer Kraft aus zu sein; sie läßt den Kopf auf den Tisch sinken und beginnt fassungslos zu schluchzen. Wie ein undurchsichtiger Schleier bedeckt ihr dichtes blauschwarzes Haar Schultern, Hals und Gesicht.
Der Doktor tritt schweigend zu der Kristallsammlung – der »Vernunft der Steine« – in der Seitenvitrine. Das alles kommt nun Schlag auf Schlag. Er hat noch keinen Überblick über den »Fall Beß«, so wie Adda im ersten Anhieb ihn schildert; ihre Aussage ist zu ungenau. »Wir müssen Gene sprechen! Hast du seine Nummer, Adda?«
Sie hat den Kopf noch fester auf die Arme gepreßt und atmet jetzt tief wie eine Schlafende.
Der Doktor berührt ihre Schulter: »Hörst du mich, Adda? Genes Telefon!«
Sie hebt den Kopf. Erbarmenswert sieht ihr verweintes, halb von den Haaren verhülltes Gesicht aus. Sie schüttelt den Kopf: »Gene antwortet heute nicht.«
»Und dein Vater?«
»Er hörte nur den Wagen, war in seiner Werkstatt; wie ich ihn dort herausholte, waren die beiden schon fort.«
»Sei kein Tor, Adda, sag mir Genes Telefon!«
Sie gibt ihm die Nummer. Der Doktor ruft den Flughafen an; er erhält die gleiche Auskunft, daß Gene nach dem Nachtdienst abgelöst sei.
»Vielleicht ist er bei deinem Vater?«
Adda ruft die Pförtnerloge an. Vater Manuel antwortet: Nein, auch dort sei weder Gene noch Beß.
»Man muß es wohl doch der Polizei melden, Doktor? Morgen auf jeden Fall!«
Dr. Boyle denkt nach. Was ist möglich? Donald kann die junge Beß in sein sturmfreies Quartier am Flughafen mitgenommen haben; aber dann müßte sie irgendwo zu finden oder heute zurückgekehrt sein? Vielleicht hat auch Donalds plötzlicher Tod sie gänzlich verwirrt, und sie ist in einem Dämmerzustand irgendwohin gerannt? Falls sie nicht in einer sinnlosen Verzweiflung, in einem temporären Wahnsinnsanfall, etwas Unwiderrufliches begangen hat? Letzte Möglichkeit – und dafür spräche die Fahrt zum Flugplatz –, Donald hat sie einem Piloten anvertraut, der nach dem Trainingscamp von Robby flog, da es ja auf Stunden ankommt, wenn man Robby noch retten will.
Er teilt Adda seine Erwägungen mit. Bis morgen früh soll man die Anzeige bei der Polizei und die Benachrichtigung Ohm Ernests noch aufschieben. Er wird versuchen, Francis Clerk, die Studentin, zu erreichen und bis morgen auch Gene. Sie selbst – Adda – solle versuchen, vernünftig zu bleiben; sie brauche ihre Nerven die nächsten Tage.
»Ich verstehe, Doktor«, sagt Adda und gibt ihm die Hand. »Kann ich mich etwas in Ordnung bringen?«
Er zeigt ihr das Bad.
Wie sie zurückkommt und er ihr in das Jackett hilft, meint er: »Adda, wird Gene uns das sagen, was er sah und weiß?«
Sie wendet sich, schaut ihn an und erwidert: »Ich weiß es nicht, Doktor; aber haben wir ein Recht, einen Menschen vorher zu schwächen, indem wir an ihm zweifeln?«
*
Von Beß auch am folgenden Morgen keine Spur. Adda geht zum nächsten Polizeirevier und erstattet dort Anzeige. Sie wundert sich, daß der Beamte weder erschüttert ist noch irgendwelche Fragen stellt, sondern lediglich ihre Angaben und ihre Adresse vermerkt; sie erhalte Nachricht.
Im Betrieb macht Adda dem Personalchef Meldung. Sie muß ihre ganze Kraft zusammennehmen, nicht zu versagen. Nie im Leben fühlte sie solche Schwäche, solche Angst. Der Chef, ein rundlicher Fünfziger, mit einem grünen Arbeitsschirm über den Augen und einem auffallenden Goldtopas am kleinen Finger, fragt, ob sie eine Erklärung für Beß' Fernbleiben habe? Da Adda verneint, schlägt er vor, die Polizei zu verständigen. Das sei bereits geschehen? Ausgezeichnet! Sie solle sich nicht unnötig beunruhigen, sondern ihm gegebenenfalls Weiteres mitteilen.
Gegebenenfalls.
Auch Ben Burns, der Chef des Sekretariats, ist inzwischen informiert. Er bittet Adda zu sich hinauf. Er nimmt kaum Notiz von der äußeren Erscheinung des großen kräftigen Mädchens, die mit ihrem indianischen Typ so gar nicht der kleinen hellen Beß ähnelt. Nur ab und zu schaut er wie beiläufig während der Fragen von der Korrespondenz und den Geschäftspapieren, die vor ihm gehäuft sind, auf. »Schon zwei Tage, sagten Sie, Miß Montez?«
»Zwei Nächte und einen Tag.«
»Das war nie zuvor?«
»Nie.«
Wieder kämpft Adda mit aller Gewalt gegen das Weinen. Ben Burns, mehrere Kontoauszüge angelegentlich hin und her ordnend, macht mit dem Bleistift Zahlennotizen, die er nachher wieder wegradieren wird. »Haben Sie Vermutungen, Miß Montez?«
»Mein Gott …« Adda schluchzt jetzt los.
Burns steigt eiligst von seinem hohen Stuhl. Der Zwerg steht neben dem sitzenden Mädchen, das er nun aus gleicher Höhe anschaut. »Verzeihung, es war nicht meine Absicht …« Er findet keine Worte, etwas schnürt ihm die Kehle zusammen. »Vielleicht ein Glas Wasser?«
»Nein, nein!« Adda wischt sich energisch die Tränen von der Wange und aus den Augen. »Noch nie war das, noch nie!«
»Junge Menschen sind oft exaltiert … es braucht nichts Schlimmes zu sein, Miß Montez … das Kino, ein Buch, diese Kriegsangst …«, er redet darauf los, er möchte sich selbst ohrfeigen; aber wie gehetzt geht es weiter, »… das war doch in der Untergrund vor einem Monat, hatte Beß nicht einen Schock, sehen Sie … etwas ist da zurückgeblieben, vielleicht irrt sie in der Stadt umher, das Gedächtnis setzt aus … die Polizei ist verständigt, gut, aber was haben Beamte für ein Interesse?« Noch nie hat er soviel hintereinander geredet.
Adda ist aufgestanden.
Er kann nicht an sich halten, er schaut zu ihr auf. »Gar kein wesentliches Interesse hat die Polizei, lassen Sie es sich von mir sagen … außer man belebt ihr Interesse mit einigen Dollarnoten, was natürlich im Grunde unstatthaft ist, aber man könnte einen anderen Weg gehen, falls es sich bestätigen sollte …«
»Ich danke Ihnen«, sagt Adda, der wieder die Tränen kommen. Ohne Burns Worte aufgenommen zu haben, verläßt sie das Zimmer.
Der Kleine steht da, während seine Lippen lautlos sich weiterbewegen.
Dr. Boyle erreicht an diesem Morgen gegen 8 Uhr Gene in seinem Dienst. Er bittet ihn wie vor drei Tagen um die gleiche Zeit zu sich. Einen Augenblick ist Stille im Apparat. Dann sagt Gene zu.
Mit Francis verabredet sich der Doktor für 10 Uhr in der Bibliothek der Universität. Er hat das Empfinden, Clerks Villa besser vorerst nicht betreten zu sollen. Die ganze Nacht hat er sich mit dem Verschwinden der kleinen Beß herumgeplagt und bereits um 7 Uhr Adda angerufen.
Nein, sie sei nicht heimgekehrt.
An eine Möglichkeit hatte er gestern nicht gedacht, daß der Fall Beß im Zusammenhang mit der Arbeit der F.B.I. stehen könne. Wie kompliziert die Welt doch ist! In Wirklichkeit oder in unserer Vorstellung? Wahrhaftig, das Leben ist heute lebensgefährlich. Hat auch ihn schon diese »Weltangst« angesteckt? Das Dunkle, das über dem Leben liegt, irgendwo, unfaßbar? Vor zweieinhalbtausend Jahren waren es die Götter, die mit den Geschicken der Menschen würfelten und durch die Furcht herrschten. Überall. Wie schrieb doch Sophokles: »Die Furcht hört überall ein Rascheln der Gefahr.«
Gut. Das Rascheln hören, aber sich nicht fürchten – darauf kommt es an.
Er wartet auf Francis im Leseraum der Bibliothek. Im Moment erkennt er sie kaum. Sie trägt schwarz. Sonst sträubt sich Francis mit einer geradezu kindlichen Widerborstigkeit gegen jede Konvention. Offenbar hat das plötzliche Unglück sie überrumpelt, oder sie will keine Auseinandersetzung mit der Familie.
Dr. Boyle steht auf und verläßt wortlos mit ihr den Saal. In der Garderobe drückt er ihre Hand: »Sehr traurig, liebe Francis! Gehen wir!«
Sie nickt.
Boyle wählt ein Café im Universitätsviertel, wo morgens die Studenten ihren Imbiß nehmen und harmlos lärmend diskutieren … für ein ruhiges Gespräch der beste Ort.
»Deine Meinung, Francis?«
Sie schaut ihn forschend an, als wolle zuerst sie des alten Freundes Stellung erfahren. Dann blickt sie seitlich auf den Tisch. Zwei senkrechte Falten furchen ihre Stirn, ihr fester keltischer Rundschädel mit dem blassen Gesicht und den dunklen Augen scheint in einer Art düsterer Stille, fremd dieser geschwätzigen Umgebung.
»Was ist mit Beß?« fragt sie als Antwort.
Der Doktor ist kaum erstaunt, wie Francis seine Gedanken sogleich aufnimmt. »Richtig, Donald und Beß – darum geht es wohl.«
»Wo ist Beß?«
Dr. Boyle saugt durch den Strohhalm seinen Tomato juice. Zweifellos steht diese Affäre Beß im Vordergrund. Doch dahinter steht die andere größere Sache, und er weiß, er kann einen Menschen wie Francis nur dann zum Verbündeten gewinnen, wenn er ein ehrliches Spiel mit ihr spielt und an ihren »Kristallisationspunkt« rührt. Jetzt treffen dort unerwartet zwei Momente aufeinander: die äußeren Ereignisse der Katastrophe von Donald mit dem Verschwinden von Beß, die in der Gesamtlage der Kriegspanik plus Fliegender Untertassen gleichsam die zeitlich gesättigte Lösung darstellen, und die Drohung des F.B.I.-Agenten gegen Ohm Ernest, die den Anstoß geben kann zur Kristallisation – zur Erkenntnis und Tat. In diesem Prozeß aber kann Francis eine nicht unwichtige Koordinate sein. Derart müßte man sie verstehen.
»Donald war so sprunghaft, so unberechenbar«, meint Francis mehr zu sich, des Doktors Schweigen überhörend, »damals in Dealwood war er so ausfallend gegen Adda, weil sie nicht an die Fliegenden Untertassen und den ganzen Hexenspuk glaubte; jetzt ist er selbst ein Opfer dieses Wahnsinns geworden.«
»Er wird nicht das einzige Opfer sein«, sagt Boyle.
»Woran denken Sie, Doktor?«
»Liebe Francis, jetzt leiden wir unter dem Schicksal von Donald und der kleinen Beß. Ich kenne euch alle doch als Kinder, habe als Arzt manche Nacht an euren Bettchen gesessen, mich erregt wegen eines Grads Fieber, habe aufgeatmet, wenn der Husten sich zu lösen begann, die Eiterpfröpfchen aus den Mandeln verschwanden. Und wenn diese Dinge in den letzten Tagen nicht geschehen wären, dann hätten wir ruhig so weitergelebt, nicht wahr, obschon Tausende unsrer Jungens heute in größerer Gefahr sind als wegen einer Mandeleiterung und täglich tausende Kinder in Korea sterben und durch zerbombte Städte gehetzt werden durch diese unsre Jungens …«
»Glauben Sie, Doktor, ich denke nicht darüber nach, ich leide nicht darunter?«
»Genügt das, Francis?«
Francis schweigt. Sie starrt auf den Tisch, auf dem die blaue Ader des billigen Marmors in einem Riß endet. Auch der Doktor schweigt.
»Ich weiß, es geht um mehr«, sagt Francis leise, »aber Donald ist mir nahe.«
»Er könnte Ihnen noch näher sein, er könnte leben, Francis! Bei Gott, ich will Ihnen nicht weh tun; aber er könnte tatsächlich noch leben. Ich will dabei auch nicht untersuchen, Francis, wie sehr Donald schon vergiftet war; als Arzt kämpfe ich um das Leben eines jeden Menschen bis zum letzten. Ja, Donald könnte noch leben, wenn wir rechtzeitig gegen diese verteufelte Psychose, gegen diesen uns alle ansaugenden Strudel von der Küste unsres gesunden Denkens eine noch stärkere, riesige Menschenkette bildeten, Hand in Hand, hundert Millionen Hände, nicht hypnotisiert zuschauende Augen, nein, die Kette der hundert Millionen Hände … das wäre not, Francis!«
»Ich weiß, Doktor, ich weiß, und was tun Sie selbst?«
Die Koordinate wirkt zurück. Es ist der Punkt, wo ein Mensch eine Sache zu Ende führen oder auf alle weitere Mühe verzichten muß.
»Was ich tue, Francis? Ich werde jetzt in Versammlungen der Friedensliga und der Jugendverbände gehen, ich werde gegen den Koreawahnsinn und die Kriegspsychose auftreten …«
»Unmöglich, Doktor! Man wird Sie als Kommunisten verhaften!«
»Und wenn man schon hinter mir her ist?«
»Doktor!«
»Also – ich bin jetzt in Ihrer Hand, Francis; falls Sie eine gute Amerikanerin sind …«
»Habe ich das um Sie verdient, Doktor?«
»Verzeihung, Francis, ich denke nicht, daß Sie mich denunzieren werden …«
»Reden Sie doch leiser!«
»Richtig; ich denke bloß, daß wir als gute Freunde unsre Verbindung jetzt lösen müssen, ich möchte Sie nicht mitgefährden.«
Francis wendet ihr Gesicht ab. Dann nimmt sie ihre Tasche, sich zu erheben.
»Eine Minute, Francis!«
Sie schaut ihn an. Qual entstellt ihr Gesicht. »Muß denn heute alles so unmenschlich sein? So ohne Vertrauen, ohne jeden Anstand?«
»Habe ich nicht großes Vertrauen zu Ihnen gezeigt, Francis … sehr großes Vertrauen?«
»Ja und nein.«
»Überlegen Sie sich alles, was ich sagte, Francis!«
»Es gibt nichts zu überlegen.«
In das Schweigen bricht immer wieder der Lärm der Studenten ein. Der Doktor spürt am Schmerz, den er Francis bereitet hat, daß er an den Punkt gelangte, daß er die Koordinate berührte. Es ist schon so – nur unter Schmerzen wird das Neue geboren. Und gebären helfen bereitet auch dem Geburtshelfer Pein.
»Du mußt wissen, Francis«, der Doktor geht in das vertrauliche Du der Kinderzeit über, »daß auch Adda gefährdet ist, daß jeder anständige Mensch hier gefährdet ist, jeder, der sich gegen den Krieg wendet, und daß es kaum ein Zufall ist, wenn Donalds Ende mit dem Verschwinden von Beß zusammenfällt.«
»Was sagen Sie da?!«
»Angenommen, Donald und Beß wären in jener Nacht miteinander gesehen worden …«
»Wer hat sie gesehen?«
»Willst du uns helfen, Francis, helfen, die Wahrheit zu finden?«
»Ich?«
»Ja, du. Du könntest uns helfen, Francis, ich spüre es – es geht da nicht um jene Wahrheit von Beß, es geht um mehr, Francis; wir sprachen eben davon. Wenn man aber die Wahrheit erst an einem Zipfel hat, kann man sie ganz hervorziehen, in gemeinsamer Anstrengung. Und dann, wenn man sie kennt, die Wahrheit, kann man sie auch tun. Frage jetzt nicht, Francis; du wirst es noch verstehen. Doch zuerst muß man den äußersten Zipfel der Wahrheit haben; dazu kannst du helfen, Francis. Die Sache ist nur die, daß etwas Mut dazu gehört, nein, sehr viel Mut, der allergrößte Mut, und daß man es wollen muß mit ganzem Herzen und Verstand, um jeden Preis, Francis, um jeden Preis …«