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Sechstes Kapitel

 

9. Ohm Ernest erzählt eine Geschichte. Jimmy und das Land ohne Himmel.

Mom Rose, Ohm Ernests Frau, hat ihrer Meisterschaft die Zügel schießen lassen; sie hat zur Feier des Tages ihre Hausmarke: mit Jam gefüllte, apfelgroße Eiermehlküchelchen in nicht begrenzter Zahl hergestellt, »pies from the sky«, Himmelsbrot, wie Ille, ihr elfjähriges Enkelkind, dies Wunderwerk nennt.

Mom Rose ist mit ihrem Zweizentnergewicht, ihren rosigen Wangen und ihrer These: »Kinder, immer eins nach dem andern!« der feste Pol in dieser etwas ruhlosen Zeit. Ihr Dasein kreist innerhalb des Geheges ihres Cottage am äußersten Rande der Millionenstadt. Sie stammt von einer Farm des Mittelwestens; so pflegt sie – obschon man das Grünzeug bequemer und nicht teuer in den Markthallen erlangt – hinter dem Häuschen ihren kleinen Gemüsegarten. In die »äußeren« Angelegenheiten ihres Mannes hat Mom Rose sich bisher nicht eingemischt, es sei denn, daß die Nachricht über ihren in Korea vermißten Sohn Mac ihr doch einen fühlbaren Stoß versetzte und daß ihre Schwiegertochter Ann, Macs Frau, mit deren Töchterchen Ille jetzt bei ihr wohnt. Ferner versorgt sie noch die fünfunddreißigjährige Witwe Betty Jones mit ihrem zwölfjährigen Sohn Jimmy, die wegen Jimmys Bombenneurose erst kürzlich aus England zu einem hiesigen Verwandten übersiedelten.

Mom Rose steht grade am Küchenherd im Öldampf der serienweise produzierten kleinen Kuchenpasteten; wie eine Urmutter bei Weltbeginn steht sie da, oder besser wie eine in brodelnde Zauberdämpfe gehüllte Pythia. Ab und zu wendet sie ihre volle Breitseite der Schwiegertochter Ann und der kleinen Ille zu, die jedesmal eine frische Ladung des Himmelsbrotes ins Wohnzimmer befördern.

Dort ist bereits die Geburtstagsrunde voll am Werk: die Schnitten einer mächtigen Fleischplatte mit Hilfe von dunklem Starkbier und Whisky herunterzuspülen und anschließend Mom Roses süße Pasteten mit heißem Kaffee sich einzuverleiben. Beides ist bei der Hitze eine beachtliche Leistung.

Das kleine Zimmer scheint jetzt gepackt voll von Menschen. Da hat sich von nebenan der siebzigjährige Ray Mackinac eingefunden, ein Invalide, dem eine ungesicherte Transmission vor drei Jahrzehnten den rechten Arm wegriß und der jetzt seine entfernte Verwandte, jene junge Witwe Betty Jones, mit dem kleinen Jimmy bei sich aufgenommen hat. Der alte Ray betrachtet das Leben nur als eine kurze Henkersfrist, die man nach seiner Auslegung des Heidenapostels Paulus mit freudigem Essen und Trinken nützen soll; nach seiner Spezialphilosophie besteht das Leben in guten Werken – vor allem auch gegen sich selbst. Und wenn der Kardinal Spellman im Hinblick auf die Atombombe der Menschheit den schönen Trost spendet, sie müsse sich jetzt auf den Tod vorbereiten, so spottet Old Ray dagegen auf seine Art: Der Messias wird kommen, wenn man ihn nicht mehr braucht; er wird nicht am letzten Tage kommen, sondern am allerletzten Tag, und das heißt: genießt hier unten noch das Leben nach Kräften, und laßt euch nicht bange machen!

Da hat sich ferner der Arzt Dr. Boyle, unser alter Bekannter, mit Adda und Gene, die vor einer Viertelstunde ankamen, am unteren Tischende plaziert. Und es scheint so, als ob dieses Trio mit Pat Dutt, dem Werkstudenten, und Ohm Ernests Schwiegertochter Ann, einer kräftigen, hochgewachsenen jungen Frau, die in einer Keksfabrik bei der Materialkontrolle arbeitet, einen eigenen Gesprächskreis bildet. Denn Robby Cass, der Autoschlosser – er ist doch gekommen –, hat bereits die kleine Beß mit Beschlag belegt; er nennt sie seit ihren kindlichen Spielen »Bunny«, das Häschen. Robby, der etwas klobige, primitive Bursche, den seine Schulkameraden als »Tarzans Sohn« respektierten, Robby empfand schon von je eine ungelenke Zuneigung zu der stets etwas hilflosen Beß.

Er hat Beß zum Radio gelotst; er möchte ihr einen imposanten Plan entwickeln: ob sie – Beß – nicht hier in der Nähe sich ein Zimmer mieten kann, da sie doch genug verdient, und wo sie beide sich dann näher sind und den Fluß und das Meer haben. Schließlich sind sie zwei erwachsene, selbständige Menschen »und die Jugend ist nur einmal und kehrt nicht wieder«, wie es in hundert Liedern so und so heißt. Aber während er nach noch überzeugenderen Worten sucht, erinnert er sich plötzlich: Jesus Christ, da ist doch der Einberufungsbefehl zum Militär! Mann, daß du so was vergessen kannst!

»An was denkst du?« fragt Beß.

»Nichts.«

»Doch.« Sie legt ihre kindlich runde Hand auf seine braune Tatze, die noch vorn an den Fingergelenken mit schwarzen Haarbüscheln bewachsen ist. »Was ist, Robby?«

»Blas mir die Trompeten, der Teufel hol's! Könnte ja alles so angenehm sein, Bunny«, knurrt er, »natürlich, du könntest hier am Fluß was mieten, und wir würden nach der Arbeit ein bißchen rudern und am Strand liegen, fein, was? Doch da kleben diese Menschenfreunde dir so 'n Schreiben an: am Ersten mußt du dich melden zum Training für die Armee, fein, was, so 'ne Einberufung …?«

»Aber wohin?«

»Zum Dinner beim General Ridgway.«

»Zur Armee?«

»Zu 'nem Spaziergang nach Korea …«

»Mein Gott, Robby, wo steht das?«

»Ja, wo steht das?« Er hat das Radio angestellt. Nach kurzem Geknatter kommt eine Art Samba von einer kehligen Frauenstimme gesungen:

Kennen Sie nicht Kitty Vayne? –
No, Sir.
Dann haben Sie den Atombusen Nr. 1 nicht gesehn.
Yes, Sir.
Vor dem muß selbst Tarzan in die Knie gehn,
Ohe, immer munter runter,
Radikal,
So was gibt's nur einmal
Wie Atombusenkitty
In Cansas City –
Hands up!

Während die Melodie auf den zweiten Vers hinläuft, schaltet er aus.

»Glaubst du, daß es so schnell geht, Robby?«

»Du, Bunny – wollen wir über die Grenze?«

»Mein Gott!«

»Nach Kanada, Bunny; Autoschlosser werden überall …«

»Still!« Sie hält ihm die Hand auf den Mund.

Er rückt noch näher zu ihr und preßt ihre Knie zwischen die seinen. Sie wehrt sich; schließlich gelingt es ihr aufzustehn. »Puh, das Öl; ich halt's hier nicht aus!«

*

Draußen erhebt sich der Himmel mit großer Leichtigkeit über den niederen Vororthäuschen und den flachen Werkstätten. Da ist im Nordwest noch ein Durchbruch zum Fluß, wo die Luft vom durchsichtigen Hellgrün am Horizont bis zum tiefen Schwarzblau im Zenit sich verdunkelt. Die tausendfachen Geräusche überm Wasser und im Land sind wie Bienensummen.

Und Robby hält hier in Moni Roses kleinem Garten Beß an sich gepreßt, als könne er sich an diesem Leben retten, an diesen kindlichen Armen und an diesen gar nicht kindlichen Brüsten.

Wo ist da ein Halt? Ein Weg? Eine Antwort?

Es gibt keine Antwort.

Beß streckt sich und zieht des Hilflosen Kopf zu sich hinab. Eine Sekunde blickt er erstaunt in ihr verändertes, weißes, frauliches Gesicht. Und während alle bisher durcheinanderflatternden Gedanken in ihm in einen drängen, erwidert er ihren Kuß. Eine Ranke heller Bohnenblüten, in die Bewegtheit der beiden mit hineingezogen, löst sich wieder von ihnen, schnellt nach oben und erscheint wie eine zarte japanische Tuschzeichnung auf dem lichtgrünen Abendhimmel über dem Fluß.

Jetzt hocken die beiden im Schatten des mit hohen Stangen versperrten Bohnenfeldes. Robby hat sein Gesicht zwischen Hals und Schulter von Beß gelegt; er atmet ruhig und tief. Schläft er?

Beß rührt sich nicht.

*

Old Ray sitzt jetzt mit Ohm Ernest, dessen Schwiegertochter Ann, mit Betty Jones und den Kindern Ille und Jimmy am obern Tischende nahe dem Fenster. Für ihn bedeutet die Preissteigerung des schwarzen Seemannsknasters und des dunklen Porters ein unzweideutiges Anzeichen dafür, daß es »hart aufs Ende geht«, daß etwas heraufziehe ähnlich der Apokalypse des Johannes. Er weiß dabei seine Ahnungen in wuchtige, farbenprächtige Bilder des Alten und Neuen Testamentes zu kleiden. Vor kurzem mußte er noch einen Monat absitzen, jedoch nicht wegen der eigentlichen, später fallengelassenen Anklage, weil er die jungen Rekruten mit Christi Wort: Wer das Schwert nimmt, der wird durch das Schwert umkommen! zum Ungehorsam aufgereizt habe, sondern weil er beim Verlassen des Gerichtssaals dem Vorsitzenden noch über die Schulter weg zugerufen hatte: »Matthäus Kapitel 23, Vers 27-33!«

Der Richter, der sogleich eine Bibel sich holen ließ, hatte beim Aufschlagen des Matthäuskapitels dort die Worte gefunden: »Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Heuchler, die ihr gleichet übertünchten Gräbern auswendig hübsch, aber inwendig voll Unrats …« und weiter: »Ihr Schlangen, ihr Otterngezücht, glaubt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen zu können?« Der Richter sah hierin eine ernste Verunglimpfung des Gerichtes – wenn auch in biblischer Form – und sandte Old Ray, unter Berücksichtigung seines hohen Alters, für einen Monat hinter Schloß und Riegel.

Die kleine Ille aber liebt die wilden Geschichten, die der alte Invalide aus seinem Bibelschatz erzählt. Und wie er jetzt wieder beginnt mit dem furchtbaren siebenköpfigen Drachen, der aus dem Meere steigt, und dem zweihörnigen Tier aus der Erde, so daß auch der zwölfjährige Jimmy mit offenem Mund lauscht, da reißt Betty Jones ihren Jungen an sich und entrüstet sich: »Ausgerechnet den Kindern, die in London von den Bombenraketen von 1945 noch heute träumen, solchen Unsinn zu erzählen!« Sie will Jimmy nebenan zu Bett bringen.

Jimmy indessen sträubt sich gewaltig, da auch die elfjährige Ille noch bleiben dürfe. Ille glaubt nun die Lage zu retten, indem sie Old Ray bittet, ihnen von dem Mann zu berichten, der im feurigen Wagen gen Himmel fuhr. Doch jetzt wird Betty Jones rabiat: wenn man die Kinder dauernd mit solchen Wundergeschichten füttere, dann würden sie auch später an diesen Spuk wie »Wunderwaffen« und Fliegende Untertassen glauben; zudem gehe das alles die Kinder überhaupt nichts an! Und sie sei nicht deshalb von London mit Jimmy hierhergezogen, daß man auch hier den Kindern solchen feurigen Blödsinn in die Ohren blase!

Sie hat Jimmys Kopf an sich gepreßt und hält seine Ohren mit ihren Händen zu. Tränen stehen in ihren Augen.

Old Ray zieht verlegen an seinem Pfeifenkloben.

»Sie haben recht, Betty«, greift jetzt Ohm Ernest in die stürmische Unterhaltung ein, »unbedingt recht, daß man mit diesen ganzen alten Wunderkisten die Kinder heut nur verwirrt, zumal das längst keine Wunder mehr sind. Aber weshalb sollen die Kinder nicht wissen, was wirklich ist?«

»Etwa die V 2 mit Phosphorbränden und brennendem Asphalt? Vielleicht sollen die Kinder da noch Feuerwehr spielen?«

»Gar nicht so schlecht«, meint Ohm Ernest und kneift sein linkes Auge pfiffig zu, »gar nicht so schlecht, Betty; dazu kann ich Ihnen sogar eine Geschichte erzählen.«

»Eine Geschichte, Grandpa, eine Geschichte!« jubelt die kleine sommersprossige Ille mit ihrem fuchsigen Temperament. »Erzählen, Grandpa!«

Ihre Mutter, die an einem Pullover arbeitende Ann, legt ihr Strickzeug zusammen und sagt: »Jetzt aber ins Bett, Ille!«

»Höchste Zeit!« sekundiert Betty Jones und greift sich ihren Jimmy. Doch Jimmy in einer Art Schreikrampf macht sich steif und trompetet: »Die Geschichte! Ich schlafe nicht ohne die Geschichte!« Vom untern Tischende stehn die andern auf. Mom Rose kommt rot wie ein Krebs vom öldampfenden Herd aus der Küche: »Was stellt ihr bloß wieder mit Jimmy an?«

*

So müssen sich die beiden jungen Mütter fügen.

Ohm Ernest, auf dem einen Knie die elfjährige Ille, auf dem andern den zwölfjährigen Jimmy, beginnt nun

 

Die Geschichte, wie die Kinder
Feuerwehr spielten

»Das war vor fünfundvierzig Jahren, als ich selbst noch so 'ne Rotznase war wie der Jimmy hier. Natürlich war unsre kleine Rasselbande immer gleich zur Stelle, wo es etwas Besonderes gab. Riß der Fluß im Frühjahr die Landungsbrücken weg und fuhren die Dampfbarkassen los, um die Balken zu retten, so paddelten wir auf kleinen Bretterflößen hinterher, um zu helfen. Beerdigte man einen Militärinvaliden mit Musik, so machten wir es ebenso mit einer toten Katze. Einmal brannte es in der Stadt. Natürlich waren wir Jungens gleich mit kleinen Eimern zur Stelle, um löschen zu helfen. Aber die Feuerwehr sperrte die Brandstätte ab und jagte uns weg.«

»Gemein so was!« platzt Ille los.

»Nun aber genug!« sagt Betty Jones.

»Weiter, weiter!« schreit Jimmy und hält sich an Ohm Ernest fest.

»Nun«, fährt der Ohm fort, »was sollten wir Jungens tun? Unsre Löscheimerchen hatten wir bereit, wir wollten doch helfen, unbedingt; wir mußten einen Brand löschen! So zogen wir in meines Großvaters Garten. Dort stand ein alter Holzschuppen. Ich stieg hinauf, mein Freund Charly schraubte den Gartenschlauch an den Wasserhahn, mein Freund Walt hatte inzwischen im Schuppen das trockene Reisig angezündet; schon schlugen seitlich die Flammen hoch.

›Spritzenkommando – alles fertig?‹ rief ich von oben.

›Erster Hydrant bereit!‹ antwortete Charly.«

»Jesus Christ!« stöhnt Betty Jones und greift nach Jimmy.

»Erster Hydrant bereit!« wiederholt begeistert Ille.

»Auf mein: ›Los!‹ kam ein dünner Wasserstrahl. ›Eimerkette nach vorn!‹ kommandierte ich. Doch jetzt versagte der Schlauch, der durchgeschmort war. Dafür schlugen überall die hellen Flammen zum Dach des Schuppens, auf dem ich stand. ›Löschkommando abrücken!‹ war mein letzter Befehl, während mich bereits dicke Rauchwolken umgaben und ich nach rückwärts in den Nachbargarten sprang, wo plötzlich unter mir zerbrochenes Glas schepperte …«

»Wozu erzählst du das Kindern?« fragt Mom Rose.

Und Betty Jones: »Mein Gott, was soll das alles?«

»Abwarten! Das zerbrochene Glas waren die zum Trocknen aufgestellten Photoplatten des Photographen Burnes, in gewissem Sinne einmalige Platten, weil – wie sich später herausstellte – darauf eine große Hochzeitsgesellschaft von fünfzig Personen aufgenommen war. Mir schien das selbst nicht angenehm, zumal ich jetzt das Klingeln der heranfahrenden Feuerwehr ganz nahe hörte. So lief ich durch die Gärten zu unserm Haus, rannte aber meinem Vater in die Hände, der mich zuerst einmal furchtbar vertrimmte und dann in den Keller einschloß, um noch beim Löschen des Schuppenbrandes zu helfen. Mir selbst aber wurde es im halbdunklen Keller zu langweilig; ich drehte die Ablaufhähne der Wasserleitung auf, und als das Wasser stieg, gondelte ich in einer Waschbütte mit dem Waschprügel umher; erst als ich mit dem Kopf an die niedre Kellerdecke stieß, ward es mir unheimlich.«

Schwiegertochter Ann meint hier interessiert: »Schade, Vater, von solchen Heldentaten hast du uns früher nie erzählt.«

»Brauchte euch da erst keine Ratschläge zu geben«, erklärt der Alte schmunzelnd.

»Schöne Ratschläge!« erbost sich Betty Jones.

»Abwarten, ihr Lieben, abwarten! Jedenfalls hatte ich noch Glück, daß ein Kellerloch da war, wodurch das Wasser auf die Straße floß und die Leute Alarm schlugen. Bald knirschte der Schlüssel in der Tür und mein Vater stand wütend auf der Treppe. Beim ersten Schritt nach unten aber tapste er bis zum Knie ins Wasser. ›Komm sofort her!‹ schrie er mich an. Ich jedoch ruderte in meiner Bütte möglichst weit weg. ›Hierher!‹ befahl er. – ›Wirst du deinen Sohn auch nicht schlagen?‹ fragte ich ihn. ›Wenn du sofort hierherkommst, nein!‹ zischte er. Ich erwiderte, so wie ich es im ›Lederstrumpf‹ gelesen hatte: ›Schwöre dies beim Haupte deines Kindes!‹ Wie er mich jetzt mit einer inzwischen ergriffenen Stange plötzlich entern wollte, stürzte er völlig ins Wasser und ruinierte sich seinen Anzug, was wieder eine Kette Strafen nach sich zog …«

»Und was hätte Ihr unglücklicher Vater gegen solche Streiche wohl tun sollen?« fragt Betty Jones.

Und Mom Rose: »Wenn man dir die Hosen mal richtig ausgeklopft hätte …«

»Daran hat's wahrhaftig nicht gefehlt«, erklärt Ohm Ernest. »Hätte mein Vater nicht schon als Straßenpflasterer zentimeterdicke Schwielen an den Händen gehabt, so hätte er sie vom Bearbeiten meines Hinterteils bekommen. Nichts genützt hat es.«

»Und was hätte genützt?« fragt Dr. Boyle.

»Man hätte uns Jungens ruhig helfen lassen sollen, das Feuer zu löschen, auch mit unsern Eimerchen … warum nicht?« meint Ohm Ernest. »Dann wären wir gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, selbst Feuer zu machen. Ich denke, man soll Kinder nicht daran hindern, wenn sie helfen wollen.«

Und Betty Jones: »Auch 'ne Anschauung! Wünsch gute Nacht, Jimmy!«

»Weiter, wie geht's weiter, Onkel?« bettelt der Junge.

Ohm Ernest streicht ihm über den Kopf: »Heute ist's genug, Jimmy! Gute Nacht!«

*

Wie Jimmy von Betty Jones unter Assistenz der kleinen Ille ins Nachbarhaus gebracht ist, wo Ille dem nervösen Jungen immer noch eine Geschichte vor dem Schlafengehn erzählen muß, setzt Dr. Boyle mit Ann, dem Werkstudenten Pat, mit Gene und Adda sein Gespräch fort, in das nun auch Ohm Ernest wieder einbezogen wird. Der Doktor findet grade in dem Fall des kleinen Jimmy eine Stütze für seine These, daß ein Fernhalten von der Wirklichkeit die Menschen keineswegs befreie von den Schrecken der Wirklichkeit, daß diese Schrecken sich dann vielmehr in einer phantastischen Angst selbständig machen, daß diese Angstpsychose wie das grelle Licht eines Scheinwerfers die Menschen blende und sie in den Gegenstand ihrer Angst – wie den drohenden Krieg – direkt hineinrennen lasse.

»Was soll das heißen?« fragt Mom Rose, der Ohm Ernests Feuerwehrgeschichte gar nicht gefallen hat. »Wollen Sie damit sagen, daß die Kinder an allem teilnehmen sollen? Soll man die Kinder denn wie Erwachsene nehmen?«

»Das Leben macht da keinen großen Unterschied, Mutter«, erklärt Ohm Ernest. »Und wenn man uns Buben damals beim ersten großen Feuer ernst genommen hätte, wäre das zweite Feuerchen bestimmt nicht entstanden.«

»Darum haben Sie uns die Geschichte erzählt?« fragt Pat den Alten.

»Auch darum.«

Mom Rose, die besorgt mit der Gabel in den nur noch halbwarmen Küchlein gestochert hat, bollert nun los: »Was denkt ihr euch eigentlich dabei, daß ich mich an den Herd stelle und selbst dabei zerschmore, wenn ihr statt meiner heißen Pies kalte Steine essen wollt?«

Während man wieder zugreift, fragt Adda: »Wo ist Beß?«

Old Ray, der während Ohm Ernests Erzählung sich schweigend einige Sherrys genehmigt hat, psalmodiert jetzt: Die Sonne scheine über Gerechten und Ungerechten; aber der Mond vergebe allen hinfälligen Sündern. Die Kleine wandle wohl draußen mit Robby den heiligen Pfad des Mondes; man lasse sie, solange noch Frieden sei!

Adda steht auf und will hinaus. Auch Gene erhebt sich, er möchte bei ihr sein. Vielleicht kann man draußen diese verfluchte Kapsel mit den Zetteln der Stafette in den Fluß werfen? Man darf dies Zeug nicht länger mit sich herumschleppen, zumal Adda schon vorhin dem Doktor gegenüber Andeutungen machte. Er kennt Addas harten Willen, wenn sie von einer Sache gepackt ist.

Auf jeden Fall muß er sein Verhältnis zu ihr nun in Ordnung bringen. Soll er sich von ihr trennen? Wenn nicht, so müßte er sie deutlich auf die Gefahr aufmerksam machen – daß die Lage sich täglich zuspitzt, daß man auf dem Flugplatz in immer kürzeren Abständen den Chiffriercode wechselt, daß die Nachrichten über die Fliegenden Untertassen zahlreicher und verworrener werden, daß es heute heißt: die Russen schießen von mächtigen U-Booten ferngelenkte Raketen ab und daß morgen wieder alles dementiert wird unter Hinweis auf strengste Geheimhaltung. Sieht das nach Frieden aus?

Und wenn man ihn, Gene, hier in dieser Gesellschaft trifft?

»Wohin?« fragt Pat und faßt Adda und Gene um die Schulter. »Wir haben noch nicht auf Ohm Ernest getrunken. Also: auf das Geburtstagskind und seinen Fünfundfünfzigsten!«

»Auf unser aller Leben, Kinder, und das im Frieden!« erwidert der Ohm. »Sollst leben, Mutter!« Er stößt mit Mom Rose an, umarmt sie und flüstert ihr wie vor dreißig Jahren ins Ohr: »Mein Schimmelchen!«

Gerade ist Betty Jones wieder eingetreten. »Unsere Kinder und Enkelkinder!« hebt Old Ray sein Glas. »Sie sind wie die Tautropfen des Himmels!«

Betty meint, indem sie ein Glas Whisky nicht verschmäht: »Ja, die Kinder, das ist wahr …«, und zu Ann gewendet: »Wenn deine kleine Ille nicht wäre … du glaubst gar nicht, wie Jimmy auf sie hört und wie sie ihn beruhigen kann, so ein kleines Ding!«

Und Mom Rose: »Sie versteht mir schon ein bißchen zuviel.«

»Sollen sie nicht verstehen, was sie erleben?« fragt die Schwiegertochter, die sich bisher zurückhielt. Übrigens hält diese sehnige Vorarbeiterin, die in der Materialkontrolle ihres Betriebes angestellt ist, mit ihrem Urteil über den Tod ihres Mannes in Korea selbst keineswegs zurück. »Sollen wir unsre Kinder für dumm verkaufen?«

»Eins ist sicher«, gibt Betty Jones zu, »Ille hilft meinem Jimmy besser als hundert Flaschen Arzenei und die ganzen Londoner Ärzte.«

*

Hier muß nun ein besonderes Wort über den kleinen Jimmy gesagt sein, aus dem die Londoner Ärzte einen »Fall« gemacht haben.

Es gibt nämlich auch in England Menschen, die infolge ihres eigenen Interesses oder ihres schlechten Gewissens das Land in eine künstliche Atompanik versetzen. Diese furchtbare Angst vor neuen Bombennächten ergriff vor allem auch jene Kinder, die im letzten Krieg die höllischen Angriffe der V 2 auf London oder das »Ausradieren« der Stadt Coventry miterlebt hatten. Vielleicht wäre es für die meisten der inzwischen heranwachsenden Knaben und Mädchen möglich gewesen, jene von niederkrachenden Riesengeschossen und brennenden Balken und Menschen erhellten Nächte zu vergessen, hätte man ihre Phantasie nicht mit den billigen Sensationsbroschüren »Atomfackel London«, »Es regnet Feuer«, »Der neue Macbeth« immer wieder aufgepeitscht. Auch nicht gerade beruhigend wirkten die aus USA importierten »Comic Strips« und »Comic Books« mit ihrem Sammelsurium von Mord- und Gewaltszenen, von Folterungen und perversen Grausamkeiten ihres Helden »Superman« – des blonden athletischen Übermenschen, der die »asiatischen Horden« scharenweise killt. Da gab es ferner »Accardo, König der Gangster«, »Der Mörder mit dem Babygesicht« und »Die Villa des Vampirs«.

Selbstverständlich kannte auch Jimmy die meisten dieser Broschüren.

Besonders erregt aber hatte ihn der Film »Seven days to noon«. Dort ging es um Dinge, die während der ganzen letzten sieben Jahre in seinem kleinen Hirn unablässig wie in einer Wunde bohrten, Dinge, deren grausigen Anfang er selbst erlebt hatte und deren Ende er – sich quälend – suchte. In diesem Film verschlug es nicht bloß einem einzigen Menschen den Atem, vielmehr »eine ganze Stadt hielt den Atem an«. Dort suchten die Geheimdetektive von Scotland Yard fieberhaft den Atomwissenschaftler Professor Willingdon, während dieser (er hat der Regierung in einem befristeten Ultimatum gedroht, die Millionenstadt durch seine Handkofferatombombe in die Luft zu sprengen) mit seinem furchtbaren Köfferchen durch die Stadt geistert, zugleich mit zehntausend ändern solcher Koffergespenster.

Natürlich sahen die Kinder in jedem älteren Mann mit einem Handköfferchen jetzt dieses mörderische Gespenst. Und in vielen Kinderhirnen entstanden Haßwünsche: es möge keine alten Männer mehr geben! In Dutzenden Koffergeschäften wurden die Scheiben eingeworfen und den Reisenden auf den Bahnhöfen von Banden erregter Buben – keineswegs bloß in räuberischer Absicht – die Handkoffer entrissen. Es kam zu einer förmlichen Antikofferpsychose.

Bei Jimmy aber, der seinen Vater vor sechs Jahren am Ende des Krieges durch ein V-2-Riesengeschoß verloren hatte, und bei einigen seiner Mitschüler mit ähnlichem Erlebnis äußerte sich die Angst so, daß sie plötzlich die Gangsterbroschüren wegwarfen, in die Kirchen gingen und beteten: Es möge ein Land ohne Himmel geben! Denn wenn es keinen Himmel mehr gebe, so könne auch keine Bombe auf sie niederkrachen.

Zuerst hielt man diese Vorstellung Jimmys von »Land ohne Himmel« für eine kindliche Marotte. Doch bald konnte Jimmy abends ohne Brompulver nicht mehr einschlafen und nachts fuhr er mit Hilfeschreien aus dem Schlaf. Er magerte ab, schlich auf der Straße an den Häuserwänden entlang und begann beim Aufruf in der Schule zu zittern. Die Ärzte betrachteten den Zustand als ein psychisches Trauma, als eine »Spätneurose« nach den längst vergangenen Bombennächten; sie stellten mit Jimmy Testversuche an, ließen ihn Klecksbilder und »Kritzelzeichnungen« herstellen und seine Träume aufschreiben, um mit ihrem analytischen Senkblei zur letzten Tiefe des kindlichen Komplexes zu gelangen. Einige der Psychologen sahen in der Angst vor dem roten Feuer und den birnenartig gekritzelten Bomben ein Sexualsymbol der Gebärmutter, des Blutes und des Mutterkomplexes. Diese Medizinmänner nahmen den Jungen seelisch wie ein Uhrwerk auseinander, ohne daß es ihnen dann gelang, das Räderwerk wieder in Gang zu bringen oder wenigstens in den früheren Zustand zurückzuversetzen.

Im Gegenteil, Jimmys Zustand verschlimmerte sich. Er wurde jetzt mißtrauisch, verschlossen, mied seine Schulkameraden und wollte nichts mehr essen; setzte die Mutter ihm zu, so reagierte er mit Schreikrämpfen. Ruhig wurde er erst, wenn man auch bei Tage die schweren Gardinen vor die Fenster zog und draußen die Läden schloß. Dann hockte er, zusammengekauert lauschend, bei abgedunkelter Lampe auf der Couch. Schließlich machte der Hausarzt, als man hunderte ähnlicher »Bombenkinder« in die fernen ruhigeren Länder des Empires schickte, Mrs. Jones den Vorschlag, den Jungen über Kanada zu seinem Großonkel nach USA zu bringen.

*

So kam Jimmy zu Old Ray Mackinac.

Die neue Umgebung und die Vorstellung, daß hier ein ganz »anderer Himmel« sei, besserten anfangs seinen Zustand. Er konnte wieder die Schule besuchen. Doch eines Tages hörte er von den Fliegenden Untertassen und den feurigen Monden. Sofort begann er zu zittern; abends wagte er nicht einzuschlafen. Stundenlang mußte die Mutter an seinem Bett sitzen und seine Hand halten. Da jedoch auch noch der Haushalt zu versorgen war, versuchte die kleine Ille, sie abzulösen.

Die Kinder gewöhnten sich bald aneinander. Jimmy konnte ohne Ille nicht mehr sein. Schon mittags wartete er auf sie. Er wurde sofort ruhig, wenn sie an seinem Bett saß und ihm von der Schule, ihren Aufgaben und ihren Streichen berichtete, oder wenn sie ihm ausmalte, wie sie später am Fluß miteinander flößen und angeln würden. Jimmy verlor mehr und mehr seine Anfälle. Mutter Betty Jones führte dies auf Illes Geduld zurück, Jimmy immer wieder Geschichten zu erzählen.


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