Sophie Wörishöffer
Onnen Visser - Der Schmugglersohn von Norderney
Sophie Wörishöffer

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20

Auf der Veddel lagen die teilweise halbfertigen und wieder zerschossenen Schanzen einsam und verlassen neben zertretenen Äckern und niedergebrannten Bauernhäusern. Keine lebende Seele begegnete den Wanderern, das ganze Dorf schien ausgestorben, die Felder waren nicht bearbeitet, das Vieh getötet – kaum gelang es unseren Freunden, am Ufer des zweiten, breiteren Elbarmes einen Fährmann zu finden, der sie hinüberruderte.

Hier lag die stattliche Reihe der englischen und dänischen Kanonenboote; fast unter ihrem Schatten glitt die flache Fähre über das Wasser, umglänzt vom hellen Sonnenschein – auf der Reise nach dem Glücke, wie Onnen sagte. Er freute sich so sehr, er war so voller seliger Hoffnung, daß er einmal über das andere Hurra rief.

Und »Hurra!« wiederholten die Matrosen. »Hip, Hip, Hurra!«

Die blauen Wellen fluteten so hell, die Sonne lachte vom Himmel herab. »Friede! Friede!« widerhallte es in den Herzen aller.

Nach etwa zehn oder fünfzehn Minuten war die Fahrt beendet und in einigen Stunden Harburg erreicht. Überall Trümmer und zerschossene Bastionen, überall beschädigte Dächer und zerstampfte Gärten. Aber trotz dieser vielen größeren und kleineren Schäden war doch auch hier die Freude eingekehrt; Mikosch spielte seit langer Zeit zum erstenmal mit dem Bären wieder Karten, er bekam Belohnungen und konnte einiges für den Ledergurt beiseitestecken.

Kurz nach Mittag wurde die Wanderung wieder aufgenommen. Am Abend des nächstfolgenden Tages war voraussichtlich die Stadt Bremen erreicht, dann kam nur noch eine einzige Nacht, ein paar Stunden, zehn oder zwölf, auf einer Fischerbark – und Emdens Türme traten aus dem fernen Blau des Himmels deutlicher und immer deutlicher hervor. Welch ein Jubel, welch inniges Glück! –

Vorerst freilich mußte eine der ödesten, ärmsten Gegenden Deutschlands, die Strecke zwischen Harburg und Bremen durchmessen werden. Eine Fahrgelegenheit hatte sich nirgends gefunden, weil eben die Pferde damals fast zur Seltenheit geworden waren; die besseren ließ Marschall Davoust, wohin er kam, für den Bedarf der Armee requirieren, die schlechteren einfach töten, so daß in diesem Unglücksjahre die Bauern wegen Mangels an Zugtieren ihre Felder unbestellt lassen mußten. Weithin nach allen Seiten dehnte sich die unwirtliche, nur hier und da mit Zwerggebüschen bedeckte Heide. Nach der Mittagshitze der letzten Stunden hatte sich die Sonne mit einem Wolkenschleier umhüllt, der Himmel schien mehr grau als blau, und kein Hauch bewegte die Luft. Es war schwer, so über den öden Weg dahinzugehen und vor und hinter sich nichts zu entdecken als etwas verkrüppeltes Dorngebüsch. Die Heide blühte im sanften Rot, weiße sternenartige Kamillen und blaue Glockenblumen zogen sich wie ein Muster auf einfarbigem Grunde hindurch, aber kein Baum gab Schatten; kein Haus und kein Fluß waren in der Nähe – nur zuweilen gab es sumpfige Vertiefungen, in denen sich Wasser angesammelt hatte, ein schlechtes lauwarmes Getränk, das Menschen und Tiere mit Widerwillen genossen.

»Wir werden wieder einmal die Nacht im Freien verbringen müssen«, sagte mit behaglichem Lächeln der Zigeuner. »Mir gerade recht!«

»Uns auch!« riefen einstimmig die übrigen. »Laßt uns nur gleich Rast machen, Alter. Mundvorrat ist genug in unseren Tornistern, Kleider und Stiefel sind heil, eine Pistole steckt im Gürtel – was wollen wir noch mehr? Hurra, die Freiheit soll leben!«

Mikosch schüttelte lächelnd den Kopf. »Nicht so laut«, warnte er. »Hinterm Berge wohnen auch Leute, Herr, das darfst du nicht vergessen.«

»Aber es ist ja kein Franzose mehr im Lande! Wer soll uns also angreifen? – Sieh, hier gibt es eine gute Stelle, um zu lagern.«

Aber Mikosch ging weiter. »Laß es nur erst völlig finster geworden sein, du Ungeduldiger. Vielleicht treffen wir ja auch ein Bauernhaus.«

Er spähte nach allen Seiten, aber ohne Erfolg. Tiefer und tiefer sank der Abend herab, man konnte zuletzt die Entfernung von zehn Schritten nicht mehr überblicken. »Mikosch«, warnte Feiko, »wenn wir in einen Tümpel hineingerieten!«

»Das ist nicht anzunehmen, Herr, aber dennoch – dies Gebüsch oder ein anderes. Laßt uns speisen und schlafen.«

Er warf den Tornister ab und sich selbst daneben. »Wie wundervoll sich's nach so langer Entbehrung im Freien ruhen läßt!« rief er voll Vergnügen. »Ach, alle Federbetten der Welt verschwinden gegen das grüne Gras oder die Heide. Sieh, da kommt ein großer schwarzer Käfer! Guten Abend, Geselle, ich tue dir nichts zuleide.«

Er wollte nur ein wenig Wein trinken und allenfalls ein Stück Fleisch essen, die jungen Leute dagegen fielen begierig über den aus Altona mitgebrachten Vorrat her und probierten an dem Braten und den Butterbroten der Baronin ihre bewährte Leistungsfähigkeit. Auch einige kleine Flaschen mit Wein und kaltem Punsch fanden sich vor, etwas Rauchtabak und als Nachtisch ganz versteckt in der fernsten Ecke ein paar Pfund Kirschen; es war also für das leibliche Wohlergehen bestens gesorgt und demgemäß Mut und Hoffnung im Schwellen begriffen.

Onnen entzündete eine kleine Blechlampe, die den nächsten Umkreis erhellte. »Einige von den verachteten Federbetten würde ich mir doch gefallen lassen, Mikosch. Allerlei Gesindel kriecht einem in die Ohren oder läuft über die Stirn.«

Der alte Zigeuner lachte. »Ach, mir ist das Herz so weit, so weit!« sagte er mit dem Tone des Glückes. »Von hier geht's nach Ostfriesland und dann durch Preußen nach Posen, nach Warschau – nach Hause, nach Hause!«

»Alles zu Fuß?« fragte Georg.

»Nein, sobald ich euch abgeliefert habe und wieder in Emden bin, kaufe ich Wagen und Pferd. Freust du dich, Alexei?«

Ein paar Takte auf der Geige antworteten ihm. »Sehr, Alter, sehr – ich möcht', ich könnte so mit einem einzigen Satze hinüberspringen in die Zelte unseres Stammes.«

»Probiere es!« lachte Onnen, während er lang und behaglich in der blühenden Heide lag. »Gerade wie auf der Steppe hinter Odessa kommt mir's hier vor«, setzte er dann hinzu, »deshalb packt euch beide wohl so ein wenig Heimweh. Spielt ein Lied, etwas Lustiges – wir sind ja nun aus aller Drangsal glücklich heraus.«

»Still, Herr, still, solche Worte muß man niemals sprechen!«

Dann holte er die Geige hervor und begann zu spielen, begleitet von seinem jüngeren Genossen; erst übersprudelnd neckische und heitere Weisen, bald aber anders, ganz anders, daß sich die Augen der Zuhörer senkten und die Pfeifen unmerklich erloschen. Von Leid und heimlicher Sehnsucht sangen die Saiten, von aufblitzender Hoffnung und endlichem Wiedersehn – mit einem lauten jubelvollen Akkord schloß der Vortrag.

»Schön!« sagte hinter der Gruppe eine Männerstimme. »Aber wenn du noch einen Ton geigst, Zigeuner, dann nehme ich das Instrument und zerschlage es auf deinem Schädel in Splitter. Du rührst allerlei Gedanken auf – Sapristi! Gedanken, die zur Nacht nicht kommen dürfen, oder das Herz wird so heiß, so heiß, daß das Feuer darin bis zum Gehirn hinaufbrennt!«

Noch während der Unbekannte sprach, waren unsere Freunde sämtlich aufgesprungen und hatten nach ihren Pistolen gegriffen. Hinter ihnen stand eine sonderbare Erscheinung, ein junger, wohlgebauter Mann mit dunklem Haar und blitzenden schwarzen Augen, ein Soldat, der die französische Dienstmütze und darunter einen Bauernkittel trug. Sein Gesicht zeigte die Spuren eines gedrückten Herzens, es war blaß und vor der Zeit gealtert; die Lippen zuckten unruhig.

»Laßt eure Spielzeuge da nur beiseite«, sagte er. »Der Krieg ist ja vorläufig beendet – ich bin zu friedlichem Besuche hier.«

Mikosch sah ihn an, prüfend und furchtlos zugleich. »Dann sei willkommen«, sagte er. »Wer bist du übrigens? Wir sind arme Zigeuner, die ruhig ihres Weges ziehen.«

»Und ich bin ein Deserteur!« rief der Franzose. »Für mich gibt es keinen Ludwig den Achtzehnten; mein Kaiser heißt Napoleon und zu ihm gehe ich, wo er auch sein möge, ihm stelle ich mein Leben zur Verfügung. Wir alle – es sind noch mehr als fünfzig entschlossene Männer in der Nähe – haben uns aus Hamburg entfernt, weil wir keinem anderen Feldherrn den Eid der Treue leisten mochten.«

Mikosch schien zu erschrecken. »Fünfzig Männer sind hier?« fragte er, das letzte Wort besonders betonend.

»Ja. Eine lustige Gesellschaft, ich verspreche es euch. Kommt mit mir, Kameraden; wir sahen euer Licht und wollten uns überzeugen, wer ihr seid!«

Mikosch winkte den übrigen. »Viel Ehre«, sagte er gelassen. »Die Zigeuner nehmen es dankbar an, obwohl ihr ja, wie du behauptest, unser Spiel nicht zu hören wünscht.«

Der Franzose nickte. »Schlachtenlieder«, sagte er, »Tänze, Märsche, das lasse ich mir gefallen, aber nicht diese leisen Klänge. Es ist dabei, als ob – na, laßt's gut sein. Maurice Planchard ist ein flotter Gesellschafter, das werdet ihr schon sehen.« Onnen hob plötzlich den Kopf. »Planchard!« sagte er leise, »ich dachte es.«

»Kennst du ihn?« flüsterte Feiko.

»Ja. Erinnere dich jenes Tages, an welchem in Rußland ein Mann von unsrer Kompanie einen alten Herrn mit der bloßen Faust erschlug, weil ihm dieser den Zutritt zu einem Magazin von Lebensmitteln verweigerte. Es war Planchard.«

Georg nickte. »Ich erkenne ihn jetzt auch«, sagte er. »Die Gesellschaft scheint mir sehr wenig wünschenswert.«

»Aber doch dürfen wir hier diese Strauchdiebe nicht erzürnen, glaube ich. Morgen führt uns der Weg nach einer und sie nach der anderen Seite.«

Während des kurzen, leise geflüsterten Meinungsaustausches waren die jungen Leute dem vorangegangenen Mikosch gefolgt und sahen nun am Rande eines Gebüsches vor sich eine größere Gruppe fragwürdiger Gestalten, die zahlreiche kleine Laternen auf der Heide stehen hatten und sämtlich aus kurzen Pfeifen rauchten. Einige abgenagte Knochen und Brotrinden gaben Zeugnis von der stattgehabten Abendmahlzeit, außerdem lagen aber auch im Grase eine Menge leerer Flaschen, deren Inhalt ohne Zweifel in den Köpfen der Versammelten spukte und ihre Heiterkeit bis zu den Grenzen des ausgelassenen Tobens steigerte.

Über dieser Gruppe hing schwarz und undurchdringlich der Himmel. Die Luft war schwül, es schien, als müsse ein starkes Gewitter im Anzüge sein, als verkünde die unnatürliche Ruhe der Schöpfung den nahen Ausbruch des Sturmes.

Ein dröhnendes: »Willkommen!« klang den Kommenden entgegen. »Russische Zigeuner seid ihr? Wir waren auch in Rußland – nehmt Platz und seid willkommen, wenn es leider auch bei uns keinen Tropfen Branntwein mehr gibt!«

»Schweig von allem, was Rußland heißt«, rief Planchard; »Es hat uns Unglück gebracht, hat unserem Kaiser Land und Thron gekostet!«

Und dann hielt er plötzlich eine Laterne hoch empor. »So wahr ich lebe, ihr seid es«, rief er, »wir sind miteinander von Riga bis beinahe nach Witebsk marschiert, Seite an Seite – kennst du mich nicht, Georg? Du warst mein Vordermann!«

»Ich weiß es, Planchard, du hast ein gutes Gedächtnis. Onnen erkannte dich übrigens gleich!«

Der Franzose reichte allen dreien die Hand, sein ursprünglich sehr geringer Rausch mochte wohl infolge der inneren Aufregung immer mehr Ausdehnung gewinnen. »Ihr seid desertiert«, sagte er, »und ich bin es auch. Gut; jeder nach seinen politischen Meinungen. Ihr wollt den Napoleon womöglich in den Staub treten, ich dagegen bin bereit, mich für Seine Majestät den Allergnädigsten Kaiser jeden Augenblick in Stücke zerhacken zu lassen. Aber darum können wir doch gute Freunde bleiben. Wie lebtet ihr denn bisher?«

»Als Bärenführer, Wolfsjäger, Schanzarbeiter; wir schlugen uns durch, so gut es eben ging. Nun erzähle du, was nach unserer Entfernung beim Regiment geschah. Hat es im Feuer gestanden?«

Planchard lachte. »Du, Leonard, ob es im Feuer gestanden hat? – Hoho, wir gehören zu denen, welche über die Beresina entkommen sind, wir Einunddreißiger!«

»Laßt uns doch von angenehmeren Dingen sprechen, Kameraden. Den Tag an der Beresina vergißt keiner, der ihn mitmachte.«

Planchard stützte den Kopf in die Hand. »Zigeuner«, sagte er, »könnt ihr Träume deuten?«

»Vielleicht«, antwortete Mikosch. »Was hast du gesehen, mein Freund?«

Der Franzose schauderte. »Das Eisfeld«, sagte er halblaut; »den breiten Strom. Die Brücke gebrochen, die Menschen eingeklemmt zwischen Holz und Eis, zerrissen, blutüberströmt, die Schollen treibend, hier eine, dort eine – alle voll von Soldaten, flüchtenden Frauen und Kindern, alles ringsumher bedeckt mit Trümmern. Sapristi, ich war dabei, ich schwamm mit im eiskalten Wasser und wollte mich auf einen Eisblock schwingen, aber –«

»Planchard, laß doch die alten Geschichten!«

»Störe mich nicht, Leonard! – Ich wollte die Eisscholle erklettern, aber ein Knabe neben mir versperrte jedesmal den Weg, ein blutjunges Bürschchen, vielleicht siebzehn Jahre alt, er drängte sich vor, er störte mich und als ich ihn beiseite schob, da biß er kräftig in meine Hand! –

»Um die Brücke her krachte und donnerte es. General Beauharnais hatte schon einen ganzen Artilleriepark in die Luft gesprengt, es summte nur so vor den Ohren und blitzte vor den Augen – da fiel meine Hand in das Wasser zurück, der Knabe schwang sich auf die Scholle, ich verlor im Moment alle Überlegung. ›Komm her, Knirps‹, sagte ich und packte ihn und schlug seinen Kopf gegen das Eis, ›was willst du, Mücke?‹

»Das Blut aus seinen Schläfen überströmte mich, er war tot und ich gerettet. Jeder andere hätte ebenso gehandelt – aus dem Wege, was nicht weichen will – auch mein Oberst dachte darin wie ich. Kanntet ihr den Herrn? Oberst Honore Jouffrin! Er ist verschollen, ermordet, wenn ich wüßte von wem, so würde ich den Elenden erdrosseln.«

Mikosch und Onnen sahen einander an; der Zigeuner blieb vollkommen gelassen, er hörte immer an, was der Franzose hervorsprudelte, ohne ihm zu antworten, ohne irgendein Zeichen von Teilnahme zu verraten. Planchard hatte seine Träume völlig vergessen, er schüttelte den Kopf und seufzte.

»Der Kaiser kann nicht besiegt sein! Ich war mit ihm in Spanien und Italien – ach, das schöne, wonnige Leben! Oberst Jouffrin liebte die Freiheit, ich auch – und das sollte nun alles zu Ende gehen? Pah, es ist unmöglich!«

»Musik!« rief er dann in befehlendem Tone. »Ein Schlachtenlied, Zigeuner! Kann dein Bär nicht tanzen?«

Er stand auf und ergriff die Vordertatzen des gewaltigen Tieres. Mikosch sprach einige seinem Liebling bekannte Kommandoworte, worauf sich Ruff schwerfällig in Bewegung setzte und mit dem Franzosen zu tanzen begann. Die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als später der Braune in Ermangelung des Blechtellers die Tatze ausstreckte und bei der Gesellschaft sammeln ging.

»Ein Haus weiter probiere dein Glück!« hieß es. »Arme Soldaten ohne Kaiser und Regiment haben nichts zu geben.«

Ruff brummte ärgerlich; das hatte er noch nie erlebt. Ganz erzürnt lief er zu seinem Herrn und zeigte ihm die leere Tatze, als wolle er sich beklagen.

Mikosch gab ihm die letzten Kirschen vom Abendbrot; alle diese buntscheckigen verkommenen Abenteurer, diese zusammengewürfelten Söhne jeder europäischen Nation lachten belustigt durcheinander, sie ließen den Bären seine sämtlichen Kunststücke vortragen und fragten die jungen Leute nach dem Woher und Wohin der Reise, bis endlich die Vernünftigeren meinten, daß es an der Zeit sei, sich schlafen zu legen.

Planchard wollte davon nichts hören. »Ich hasse den Schlaf«, sagte er. »Immer muß ich das Eisfeld sehen und den –«

»Spiele, Zigeuner, spiele!«

Die Geigen erklangen laut und lustig, Planchard schüttelte das Haar in den Nacken, warf die Pfeife fort und suchte sich eine Stelle, wo das Heidekraut ziemlich niedrig stand. »Aufgepaßt, meine Herrschaften, jetzt werden Sie ein Ballett sehen! – Hoho, ich habe meiner Zeit in den Theatern von Paris getanzt, als Engel – damals war ich ein kleiner unschuldiger Bube – es ist lange her, tausend Jahre, eine Ewigkeit!«

»En avant!« rief er dann plötzlich. »Zigeuner, einen Walzer!«

Die Hände erhoben, gestikulierend und mit großer Gewandtheit dem Takte folgend, flog er über den Boden dahin.

»Weshalb tanzest du nicht, Leonard? – Wir finden Frankreich und finden unseren Kaiser, wir schlagen ihn heraus und hielten die Feinde noch so gut Wache!«

Leonard schüttelte den Kopf. »Es ist zu Ende, Maurice. Ich hab' einmal eine Geschichte gelesen von einem, der zur Sonne fliegen wollte und hart auf den Boden fiel – so ist's mit dem Kaiser Napoleon. Das lustige Soldatenleben unter seinen Fahnen kommt nie wieder!«

Planchard tanzte schneller und immer schneller. »Es muß kommen, ich sage dir, es muß! Zum Bürgersmann bin ich verdorben, aber für meinen Kaiser schlage ich noch Hunderte, Tausende so zu Boden, wie damals den Alten in Rußland und den Knaben, der –«

»Da war es wieder!« rief plötzlich Alexei. »Ich glaubte schon vorhin, den Laut richtig zu beurteilen, aber jetzt weiß ich es gewiß. Da drüben bellt ein Hund.«

Die Musik schwieg plötzlich still, Planchard beendete seinen rasenden Wirbel – alles horchte. Der Wind ging etwas stärker über die Heide und am Himmel erschien ein mattes Wetterleuchten; die Schwüle war geradezu erdrückend.

Planchard trocknete den Schweiß von der Stirn. »Ich höre nichts«, flüsterte er.

Im nächsten Augenblick aber erkannten alle den Schall. Irgendwo in einiger Entfernung bellte lebhaft und anhaltend ein Hund.

»Es ist also irgendein Bauernhaus in der Nähe«, sagte Mikosch.

»Oder Kosaken!« rief Planchard.

»Pah, die führen keine Hunde mit sich!«

»Und überdies, mögen sie kommen! Der Krieg ist augenblicklich beendet!«

»Für mich nicht!« rief ungestüm der Franzose. »Wo ich den Feinden meines Kaisers begegne, da ist das Schlachtfeld – ich will keinen Frieden schließen, bis Napoleon selbst ihn diktiert.«

Der Hund bellte immer wütender, aber er blieb offenbar, ohne vorzurücken, an derselben Stelle. »Wahrscheinlich ein Schäferhund«, meinte Mikosch.

Diese Vermutung erregte eine allgemeine Freude; sämtliche Wegelagerer erhoben sich schleunigst, wie um die Beute zu erfassen, ehe sie etwa verloren gehen könnte. »Um so besser«, riefen sie, »dann werden wir die Herde schlachten.«

Es entstand ein Durcheinander, wie es jedem Aufbruch vorangeht. Die leeren Flaschen wurden eingesammelt, die Laternen an der Brust befestigt, dies oder jenes Besitzstück übergeworfen oder umgeschnallt, dann war die ganze Schar bereit, sich auf den Weg zu machen. »Ihr geht doch mit uns, Zigeuner?« fragten einige Stimmen.

Mikosch sah zum Himmel empor. Das Gewitter mußte sehr bald losbrechen, aber dennoch wäre er viel lieber zurückgeblieben, ja er war sogar dazu heimlich entschlossen, bis Planchard in seiner gebieterischen Manier die Frage entschied. »Gewiß begleiten uns die Zigeuner«, rief er. »Wenn der Kampf beginnt, soll Ruff ins Vordertreffen geschickt werden und Schafe und Menschen würgen.«

Die übrigen gaben ihren Beifall mit lauter Stimme zu erkennen. »Planchard ist doch ein geriebener Kerl, da hat er gleich den Vorteil entdeckt und festgehalten! Ein Bär als Avantgarde, besser kann man es nicht verlangen.«

Mikosch und seine Genossen sahen einander an. »Wir müssen einstweilen mitgehen«, flüsterte Feiko. »Dieser Franzose beherrscht die ganze Schar, wie es scheint.«

»Er spielte ja schon in Rußland den Anführer. Erinnert ihr euch an ihn nicht mehr mit der Frauenhaube und dem Teppich? In der Hand trug er einen großen Kochlöffel.«

»Und halbbetrunken war er zu jeder Zeit!«

Mikosch erhob keine Einwendungen mehr, er schüttelte nur heimlich den Kopf und lockerte in der Brusttasche die Pistole. »Wenn dieser Mensch glaubt, daß ich mein Tier für seine räuberischen Gelüste hergebe, dann –«

Und ein entschlossenes Nicken vervollständigte den Gedanken.

Der Wind fegte über die Heide, von fern begann der Donner ein immer mehr anschwellendes Rollen und Grollen; vorsichtig, aber so schnell wie möglich gingen alle diese Männer dem Orte des wütenden Hundegebells entgegen. Schon nach kaum zehn Minuten traten bei dem Schimmer eines Blitzes die Umrisse mehrerer niederer und langgestreckter Bauernhäuser deutlich aus dem Dunkel hervor. Das Vordergebäude diente als Wohnhaus, die übrigen mochten Stallungen sein, während hinter diesen die Schafhürden lagen, niedere hölzerne Einfriedigungen, zwischen denen eine nach vielen Hunderten von Köpfen zählende Herde ihr Nachtquartier gefunden hatte.

Mehrere Hunde bellten miteinander um die Wette; von Menschen war dagegen nichts zu entdecken.

»Aha«, murmelte Planchard, »da in dem Hause wollen wir schlafen und diese Tiere sollen uns ihr Fleisch als Braten liefern. Mille tonnerres, wie die Bestien toben – man muß ihnen, sobald man sie nur erst einmal sieht, eine Kugel vor den Kopf schießen.«

Er legte die letzten Schritte laufend zurück und trommelte mit beiden Fäusten gegen die vordere Tür. »Heda! Aufgemacht!«

Drinnen blieb alles still. Vielleicht übertönten der Donner und das Hundegebell die Stimmen der Menschen, vielleicht wollten es die Bauern darauf ankommen lassen und schwiegen einstweilen, jedenfalls drang bis zu den Wartenden kein Laut. Sie scharten sich alle um die Haustür, Planchard schlug nochmals mit geballten Fäusten gegen dieselbe. »Aufgemacht, oder wir brauchen Gewalt. Heda – aufgemacht!«

Mikosch und seine Genossen hielten sich im Hintergrunde; sie wären am liebsten ganz entfernt geblieben, aber die Plünderer besaßen Feuerwaffen, es ließ sich daher, sobald ihr Zorn gereizt wurde, wohl das Ärgste befürchten, und aus diesem Grunde mußte jeder Streit vermieden werden. Jetzt öffnete sich auch ein Fenster, im Rahmen desselben erschien der Kopf eines Bauern und dann fragte eine Stimme, was es gebe. »Wer seid ihr, Leute, was wollt ihr von uns?«

»Eine Nachtherberge«, klang es zurück. »Macht auf und bringt die Hunde zur Ruhe.«

»Dies ist hier kein Wirtshaus«, rief der Bauer. »Sucht ein anderes Unterkommen.«

Und das Fenster flog klirrend wieder zu.

Planchard lachte. »Vorwärts also! Nehmt Steine, Kameraden!«

Er begann die Tür zu zerschlagen, andere halfen ihm und binnen wenigen Minuten lag das widerstandslose Gefüge in Trümmern; der Eingang war frei.

Vor dem Backsteinherd standen fünf Männer, alle mit geladenen Kugelbüchsen; im Augenblick, wo die Plünderer das Haus betreten wollten, krachten fünf Schüsse, deren Donner indes das einzig Fürchterliche blieb – sämtliche Kugeln gingen hoch über die Köpfe der Eindringlinge hinweg.

»Hurra«, rief Planchard, »vortreffliche Schützen seid ihr! Her mit den Knallinstrumenten, das ist nichts für euch!«

Aber die Bauern setzten sich zur Wehr, sie schlugen mit den Kolben und einer sammelte aus der Asche auf dem Herd die eingescharrten Kohlen, welche er den Plünderern entgegenschleuderte. Es entspann sich ein kurzer Kampf, der mit einer vollständigen Niederlage der Bauern endete; sie wurden gebunden in den Winkel geworfen und dann durchstöberten die dreisten Gesellen das Haus vom Boden bis zum Keller. Planchard zog ein paar zitternde Frauen aus dem Versteck hervor, verbeugte sich einmal über das andere Mal und führte dann die Erschrockenen an den Herd. »Entzünden Sie das Feuer, meine Damen, und öffnen Sie Ihre Vorratskammern. Ist Branntwein im Hause?«

Die eine der Frauen brachte einen gefüllten Steinkrug herbei; Planchard hob mit beiden Armen das schwere Gefäß an die Lippen und tat einen tüchtigen Zug, dann gab er es weiter. »So, Frau, nun koche Sie Milch und Gemüse, den Braten werden wir uns selbst besorgen. Komm her, Simon, du bist ja von Hause aus ein Schlachter, nicht wahr?«

Einer der Deserteure antwortete mit lustigem Zuruf. »Verschaffe mir nur ein Messer, Maurice – und bringe die Hunde zum Stillschweigen.«

»Alle Wetter, die Hunde – das ist wahr!«

Und er ging hinaus in den Wirbelwind, der jetzt über die Heide fegte. Jede Hand hielt eine Pistole – er suchte die Hürde und die Stelle, wo im nächsten Augenblick die unbestechlichen Wächter ihre Treue mit dem Leben bezahlen sollten. Simon und Leonard begleiteten ihn, ebenso Moitty, der Spanier, welcher damals die Statue der heiligen Jungfrau beraubte. Diese Sippe war schon in manchem räuberischen Unternehmen zum Ziel gelangt; sie handelte eine Reihe von Jahren immer gemeinschaftlich.

Die drei großen Schäferhunde stürmten gegen das Holzgitter, um den Feind sogleich anzugreifen, aber mehrere Pistolenschüsse streckten sie zu Boden, das Gebell ging über in Winseln und verstummte dann gänzlich. Die Pforte flog auf, sämtliche Schafe liefen erschreckt und blökend durcheinander; Simon fing gleich das nächste auf und trug es davon. »Jetzt komm her, Wollträger, wir brauchen einen guten Braten!«

Auch die ändern suchten sich ihre Opfer und unter Simons Anleitung begann die abscheuliche Szene, bei welcher sechs oder acht arme Tiere mit den Taschenmessern der Plünderer umgebracht wurden. Das Geschrei der Schlachtopfer setzte die ganze Herde in Aufruhr; aus der offenen Pforte jagten mehr als fünfhundert der sogenannten Heidschnucken davon und liefen in die Finsternis hinaus, die einen hierhin, die anderen dorthin.

Mehrere der Plünderer hatten unterdessen Umschau gehalten und auf dem Hof ein Volk Hühner und eine Kuh entdeckt. Dem unglücklichen gefiederten Trupp wurden sofort die Hälse umgedreht und die Kuh von ungeschickten Händen gemolken; sie stieß darauf mit den Hörnern ihre Quäler von sich und trat mit den Füßen, bis endlich die übermütigen Gesellen Schaufeln und Heugabeln ergriffen und nach langer Hetzjagd das Tier im Stalle erschlugen.

So hatte man im feindlichen Lande immer gewirtschaftet, so war es die Gewohnheit langer Jahre – weshalb also hier eine Ausnahme machen?

Die Frauen standen händeringend am Herd und kochten und brieten unter bitteren Tränen, was ihnen in die Küche gebracht wurde. Überall im Hause wühlten in Kisten und Kasten, in jeder Ecke die fremden Eindringlinge – wenn sie auch noch das bare Geld fanden, dann war alles dahin, dann hatte dieser Tag die beiden unter dem niederen Dache lebenden Familien für immer zu Bettlern gemacht.

Eine Anzahl der Marodeurs schlief bereits. Draußen im Stall lag ja duftiges Heu, der Wind fegte um das alte Strohdach und sang an den Ecken leise heimliche Lieder – da schlummerte sich's süß, da träumte das Herz von neuer Beute, von einem Krieg, der allen Ländern und allem Besitz erklärt war, bei dem man umherzog und nahm, was gerade den Appetit reizte, bei dem man schonungslos niederstieß, was im Wege stand.

Mikosch und die Seinen lagerten verborgen in einem Winkel des Holzschuppens. Draußen schlugen in Zwischenräumen die heftigsten Gewitterregen gegen das alte Gemäuer, der Donner krachte und Blitz auf Blitz zuckte herab, aber dennoch war das Unwetter nicht vollständig zum Ausbruch gekommen; schwarze Wolken bedeckten den Himmel, nur spärlich und halbverhüllt dämmerte der junge Morgen durch all das Bleigrau und Schwarz des Horizontes.

»Es ist doch gut, daß wir ein Dach über uns haben!« meinte Onnen.

»Vielleicht gelingt es ja morgen, sich unter der Hand aus dem Staube zu machen! – Ach, aber man kann keinen Augenblick schlafen.«

»Horch, da singt Planchard!«

Es war ein Soldatenlied, das der kecke Franzose vortrug, dann schlug er mit dem Messer gegen seinen Teller. »Ist das Geld der Bauern gefunden, Simon?«

»Nein!« rief ein Chor von Stimmen, »diese geizigen Kerle müssen es vergraben haben!«

»Bringt einmal den Rädelsführer her, den Dicken mit dem Gesicht wie ein Vollmond – ich habe ihm ein Wörtlein zu sagen.«

Die Halbberauschten eilten fort und holten einen der fünf geknebelten Bauern herbei. Das Haar des alten Mannes stand buchstäblich zu Berge, sein Gesicht war fahl, die Augen starrten wie die eines Fisches, den man aus dem Wasser gezogen hat. »Herr«, stammelte er, »Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist.«

Planchard nickte. »Daran tust du wohl, Schafzüchter. Du stehst jetzt, wie dir bekannt sein dürfte, vor Gericht! Ich bin der, welcher über dein Schicksal entscheiden wird, Leonard und Simon sind die Ankläger – sie behaupten, kein Geld gefunden zu haben, wo steckt es also?«

»Ich besitze nichts«, stammelte der Bauer.

»Diese Behauptung ist ein erschwerender Umstand«, sagte mit gerunzelter Stirn Planchard. »Gestehe offen, Dicker, und dir soll kein Leides geschehen.«

Der Bauer öffnete den Mund, aber er sprach nicht, seine Augen traten fast aus den Höhlen hervor. Nur ein Ächzen kam über seine Lippen.

»Gestehe! Gestehe!« donnerte Planchard.

»Ich habe nichts.«

Der Franzose stand auf, seine Augen hatten einen teuflischen Glanz. »Ich weiß, was du denkst, Kerl«, rief er voll Wut. »Du willst das Geld deinen Kindern retten und lieber selbst sterben, als es herausgeben! – Holt doch einmal den jungen Burschen her, ich brauche ihn als Daumenschraube für den Alten!«

Ein halberwachsener Jüngling von vielleicht fünfzehn Jahren wurde aus dem Versteck hervorgezogen und zum Tische geschleift. Planchard legte die nervige braune Faust an den Hals seines Opfers. »Gestehst du, Bauer?«

»Jesus! Jesus! – Das Geld ist nicht im Haus!«

»Wo dann aber?«

»Im Kuhstall – ich will es holen. Lassen Sie mein Kind los!«

»Nicht eher, bis die Summe hier auf dem Tisch liegt Simon und Leonard, ihr geht mit dem alten Sünder!«

Der Bauer, seiner Fesseln entledigt, wollte eben, gefolgt von den beiden Franzosen, das Zimmer verlassen, als draußen ein gellender Pfiff erklang. Eine Hand zerschlug die einzige Fensterscheibe und eine Stimme rief: »Flieht! Flieht! Der Feind ist da!«

Planchard schlug auf den Tisch, daß Teller und Gläser klirrten. »Eine List!« schrie er. »Eine plumpe List! Marsch, hinaus!«

In diesem Augenblick wieherte draußen ein Pferd und der Franzose taumelte vor Schreck, seine Hand ließ die Kehle des jungen Menschen fahren. »Sapristi!« rief er. »Wenn es die Kosaken wären!«

Mehrere der Plünderer stürzten von der großen Diele her durch die Seitentür in das Haus. »Russen!« riefen sie, »Russen! Flieht um Gotteswillen!«

Aber es war schon zu spät. Die Kosaken hatten, auf dem Marsche nach Bremen des Weges ziehend, die verschiedenen Schüsse gehört und waren nähergekommen, um dem Grunde dieser Vorgänge nachzuforschen. Man wußte, daß französische Deserteure überall, wo es ihnen gelang, marodierten, und wollte diesem Treiben möglichst schnell ein Ende bereiten; die kleinen flinken Pferde flogen wie der Wind über die Heide, das Toben des Wetters verschlang den Schall ihrer Hufe und so hatten die Kosaken, bis an die Zähne bewaffnet, das Haus von allen Seiten umzingelt, ehe sich's die Franzosen träumen ließen, daß jetzt ihre Stunde schlagen würde. Eine Tür war nicht mehr vorhanden, das Herdfeuer leuchtete in den dämmernden Morgen hinaus und ganz nahe vor dem zerschlagenen Eingang blitzten die Lanzenspitzen der Kosaken. Mit einem lauten Jubelschrei stürzten ihnen die Frauen entgegen – wie jemand, der seines Verstandes beraubt ist, starrte Planchard.

»Hölle und Teufel«, rief er, »was ist das?«

Ein Kommando in russischer Sprache antwortete ihm. Er kannte es, er hatte es gehört auf jener wilden Flucht seines Volkes aus Rußlands verwüsteten Gauen – Grimm und rasende Wut trieben den Menschen ohne Gewissen zum Äußersten; er packte urplötzlich mit dreistem Griff die Kehle des jungen Burschen und hielt sie fest umklammert. Ein Sprung aus dem zerschlagenen, von befreundeter Hand ganz geöffneten Fenster, und er stand, sein Opfer nach sich ziehend, draußen.

»Jetzt schießt, wenn ihr wollt!« rief er. »Im selben Augenblick stirbt dieser Junge!«

»Erbarmen!« schrien die Frauen, »Erbarmen! Laßt die Leute unbehelligt abziehen! – Ach großer Gott, der Johannes stirbt, er ist schon ganz blau im Gesicht!«

Einige Augenblicke stutzten die Kosaken – Planchard lachte laut »Krümme dich, Wurm!« rief er, den Knaben schüttelnd. »Deine Leiche bezahlt mir niemand.«

Aber diese Lästerung sollte die letzte sein. Schon seit einer Viertelstunde hatte das Gewitter an Stärke bedeutend zugenommen; jetzt trafen Blitz und Donner zusammen, der ganze Himmel schien in gelbe und blaue Flammen gehüllt – gespalten bis auf den Erdboden schwankte ächzend eine alte Pappel, an deren Stamm der Franzose sich gelehnt hatte. Er selbst, der Verächter aller göttlichen und menschlichen Gesetze, er selbst fiel schwer wie ein Stein auf das durchnäßte Gras, seine Hand ließ die Kehle des Knaben fahren, seine Lippen hatten keinen Laut hervorgebracht – er war tot, das Gesicht schwarz und entstellt.

Auch der Sohn des Bauern lag betäubt. Fluten von Regen stürzten herab, Blitz folgte auf Blitz – erst nach minutenlanger Betäubung kam in die Anwesenden soviel Ruhe zurück, daß sie hinauseilten, um den jungen Menschen in das Haus zu tragen.

Der alte Schäfer, einer der vorhin geknebelten Männer, wurde herbeigeholt, um seine ärztlichen Erfahrungen zur Geltung zu bringen; die Kosaken durchforschten das ganze Haus, und als sie innerhalb desselben keinen der Plünderer fanden, stellten sie an allen vier Ecken Doppelposten aus – dann kamen die Nebengebäude an die Reihe.

Auch diese waren leer. Die Räuber hatten es nach dem Tode ihres Anführers vorgezogen, schleunigst das Weite zu suchen. Im strömenden Regen, unter Blitz und Donner waren sie entflohen, hinaus auf die öde Heide, dem Verderben entgegen.

Auch in den Stall kamen die Kosaken und unsere Freunde wurden hervorgeholt. Es gelang ihnen natürlich leicht, ihre völlige Schuldlosigkeit zu beweisen; der Bauer erlaubte ihnen in der Freude seines Herzens sogar, den Bären in das warme Nest der erschlagenen Kuh zu bringen und für sich selbst im Hause Quartier zu nehmen. Noch hatten des Schäfers Bemühungen keinen Erfolg gehabt; erst als Mikosch hinzukam, erholte sich der Knabe und konnte flüsternd seiner überglücklichen Mutter einige Silben antworten.

Wie ein Wirbelwind waren die Deserteure über das kleine Heimwesen hergefallen und ebenso schnell wieder verschwunden; welch einen Schaden aber ihr kurzer Aufenthalt verursacht hatte, das zeigte sich erst ganz, als die Sonne hoch am Himmel stand. Draußen auf dem Hofe lag die erschlagene Kuh, in den Hürden die getöteten Hunde und ringsumher die abgerissenen Köpfe der Hühner und Gänse. Das Heu war zertreten, die Gartenfrüchte vernichtet und – als das ärgste – alle Schafe verjagt. Aus der geöffneten Pforte hervorstürzend, hatten sie das Weite gesucht und waren vielleicht während des heftigen Gewitters in den Wassertümpeln der Heide ertrunken oder fremden Händen zur Beute gefallen. Der Schäfer machte sich sogleich auf, um seine verlorenen Lieblinge wieder einzufangen. Im blauen Leinenkittel, den Knotenstock in der Rechten und den Zwerchsack mit Brot und Speck auf der Schulter, so wanderte er aus, Tränen in den ehrlichen alten Augen.

»Meine armen Hunde!« sagte er traurig. »Ich habe sie alle drei großgezogen! – Bauer, du mußt sie vergraben; sie dürfen so nicht liegenbleiben!«

»Ja, ja, Schäfer«, antwortete der Alte. »Soll geschehen! Hat mir doch mein Hannes keinen Schaden gelitten, deshalb will ich zu allem anderen schweigen.«

Der Schäfer nickte immer traurig vor sich hin. »Der liebe Gott mag mir's nicht als Sünde anrechnen«, sagte er, »aber ich habe meine Tiere ebenso lieb wie du deine Kinder, Bauer. Sieh, da liegen die Köpfe von den Schafen, die sie totgemacht haben! Mutterschafe, ist das nicht himmelschreiend? Das da hat zwei kleine Lämmer!«

Er hob den Kopf eines der getöteten Tiere empor und betrachtete ihn voll Trauer. »Ich kenne jedes wieder«, sagte er, »das da war die graue Mike!«

Und dann machte er sich auf, ganz allein, um die Verlorenen zu suchen. Der Bauer und sein zweiter Sohn gruben unterdessen hinterm Stall ein Loch für die toten Tiere, während Mikosch und die übrigen Fenster und Türen wiederherstellten und den Frauen halfen, das verwüstete Haus einigermaßen in Ordnung zu bringen.

Gegen Mittag, nachdem jede Gefahr einer Wiederkehr der Räuber ausgeschlossen schien, nahmen die Kosaken ihren Weg wieder auf, wogegen unsere Freunde noch bis zum folgenden Morgen blieben, um dann, nachdem sie ausgeschlafen hatten, die Reise nach Bremen weiter fortzusetzen.

Ein öder mühevoller Weg ohne Schatten oder irgendeine Erquickung für Leib und Seele. Es ging immer durch die baumlose Wüste, immer vorbei an unsäglich armen, vereinzelten Bauernhäusern, bis endlich die Umgebung der Stadt erreicht war. Hier zeigten sich die Spuren der Franzosenherrschaft in vielen verbrannten Gehöften und in dem Mangel aller Arbeitspferde, aber dennoch ungleich geringer als in dem zu Grunde gerichteten Hamburg. Einzelne große Kontributionen waren ausgeschrieben worden und einzelne Regimenter hatten auf eigene Faust geplündert, aber im allgemeinen war Bremen doch von dem Schicksal des Besiegten nur leicht getroffen worden.

Die Sonne schien hell, als unsere Freunde einzogen. Nun nur noch ganz kurze Zeit und das Ziel war erreicht.

Mikosch und Onnen machten sich, nachdem in einem Wirtshause nahe an der Weser Quartier genommen worden war, sogleich auf, um unter den Schiffern draußen im Hafen nach einer Fahrgelegenheit zu spähen. Größere Schiffe konnten schon damals nur bis zur Mündung des seichten Stromes, dem heutigen Bremerhaven, gelangen; aber vielleicht fand sich eine Fischerschaluppe, die nach einer der Inseln in See ging, vielleicht gar ein Freund aus früheren Tagen – Onnens Herz schlug schneller, so oft er unter einen Südwester sah.

Am Ufer lagen Kähne und Schaluppen, weiße Segel flatterten im Abendschein. Onnen hätte die Arme ausbreiten und alles, was er sah, an seine Brust ziehen mögen.

Vor den Türen saßen rauchend in gemütlicher Ruhe Matrosen und Schifferknechte. Ostfriesisches Plattdeutsch mischte sich mit holländischen und englischen Wendungen, es wurde geschwatzt und gelacht; derbe, wetterbraune Seeleute gaben ihre Erzählungen zum besten, andere, echte Philisterseelen, hörten andächtig mit geheimem Gruseln die Berichte dieser unerhörten, schrecklichen Gefahren, während kleine Kinder im Ufersand spielten, hie und da eine Katze die Glieder behäbig streckte, blinzelnd und nach den vorübersummenden Fliegen schnappend in träger Ruhe.

Onnen las die Namen der schaukelnden Schaluppen und sein Herz zog sich zusammen in bitterem Weh. Keine einzige aus Norderney!

Die Franzosen mußten alles geraubt und entführt haben, was in ihre Hände geriet. Wie Hamburg unter den deutschen Festlandsorten, so war Norderney unter den Inseln während der letzten bösen Zeit das auserwählte Schmerzenskind des Schicksals.

»Mikosch«, bat Onnen, »laß mich allein gehen. Du bist ermüdet – ich möchte mich nur so gern überzeugen, ob kein Norderneyer Fahrzeug hier liegt.«

»Das sollst du auch«, nickte der Alte. »Wir müssen uns bei diesen Leuten erkundigen, glaube ich. Einer kennt den anderen.«

»Ja, ja, laß uns in diese Schenke gehen! Ach Mikosch, was wird aus uns, wenn sich keine Schiffsgelegenheit findet?«

»Dann gehen wir zu Fuß bis Hilgenriedersiel oder Norddeich, Herr! Willst du jetzt, nun wir gleichsam im Hafen sind, ungeduldig werden?«

»Ja!« gestand Onnen. »Ja! – Ach, wenn ich ein bekanntes Gesicht sähe, nur eins!«

»Komm jetzt, da ist eine Bank frei; wir wollen Erkundigungen einziehen.«

Sie setzten sich und der Wirt wurde herbeigerufen. Nachdem ein Abendessen bestellt worden war, knüpfte Onnen ein Gespräch an; wie zufällig erkundigte er sich, ob keine Norderneyer Schaluppe gegenwärtig sei.

Der Wirt schüttelte den Kopf. »Die Norderneyer zimmern mit Eifer neue Schaluppen«, sagte er, »alle vorhandenen haben ihnen die Franzosen genommen.«

Onnen sprang auf. »Alle?« rief er, »auch die ›Taube‹?«

»Wem gehörte sie? Ach, ich weiß schon, dem erschossenen Kapitän Visser! – Ja, die und Heye Wessels ›Sturmvogel‹ sind nach Frankreich gebracht worden, denn es meldete sich bei der Versteigerung kein Käufer, niemand mochte an sich bringen, was den ermordeten Leuten geraubt worden war. So ging es auch mit den Häusern; da die Franzosen diese nicht davonschleppen konnten wie die Schiffe, so blieben sie leer stehen – jetzt haben die Erben natürlich längst alles zurückerhalten.«

»Auch meine – auch die Witwe Visser, Herr Wirt?«

»Jawohl, auch diese. Kennen Sie die Leute genauer?«

»Ja! – Ja!«

»Nun, dann will ich einmal einen Mann herbeirufen, der Ihnen vielleicht noch mehr erzählen kann als ich.«

Er wandte sich zum Hause und pfiff laut »Du, Holtmann, komm doch einmal heraus!«

Ein Gähnen antwortete ihm, dann erhob sich jemand recht schwerfällig von der Bank und kam auf die Straße gestolpert. »Na – was gibt's denn, he?«

Ein Freudenschrei von Onnens Lippen antwortete ihm. »Tietze Holtmann!«

Es war wirklich der riesige Baltrumer mit dem guten Gesicht und den Händen wie mäßige Teller. Jetzt stand er neben unserem Freunde und nahm vor Erstaunen die Pfeife aus dem Munde. »Mit Verlaub, Herr – ich kenne Sie nicht!«

»Aber Holtmann! Sehe ich denn meinem armen Vater gar nicht ein wenig ähnlich? Erinnert dich mein Gesicht –«

»Allstunds!« rief plötzlich der Baltrumer. »Allstunds! – Du bist Onnen Visser, der als Knabe vor zwei Jahren von hier fortging, und jetzt als Mann zurückkommt!«

»Endlich, Holtmann, endlich, nun die Franzosen zum Tempel hinausgefegt sind!«

Sie schüttelten sich die Hände und auch der Wirt kam hinzu, um den Sohn eines alten Freundes zu begrüßen. »Ich hätte es eigentlich gleich sehen müssen«, sagte er. »Der junge Herr ist ja dem Vater selig wie aus den Augen geschnitten. Armer Visser, nun wir das Elend überwunden haben, wird der Gedanke an ihn doppelt traurig. Es scheint umsonst, daß er fallen mußte!«

Der Baltrumer schüttelte den Kopf. »Nein!« rief er mit kräftiger Stimme, »nein, es war nicht umsonst. Die ungeheuren, furchtbaren Opfer, welche wir bringen mußten, das Andenken unserer Toten hat uns endlich vermocht, die Sklavenketten abzuschütteln. Gerade sie, die Ermordeten sind es, aus deren Gräbern hervor der stärkste Mahnruf erklang!«

Onnen wandte sich ab. Im Augenblick überwältigte ihn das alte Leid vollständig.

Tietze Holtmann ließ eine Flasche Wein bringen, auch Mikosch wurde hinzugezogen und nun ging es an ein Erzählen, bei dem die Stunden vorüberflogen wie Minuten. Denen in Bremen war jedenfalls die Zeit lang geworden, denn aus der Dunkelheit hervor tönte plötzlich Feikos Stimme mit einem lustigen »Ahoi! Also hier liegt die Gesellschaft vor Anker?«

Mehr Stühle wurden herbeigeschafft, auch Georg und der Steuermann begrüßten den alten Bekannten und zechten tapfer mit, so daß an eine Rückkehr zur Stadt, der späten Stunde wegen, gar nicht mehr gedacht werden konnte. Endlich erkundigte sich Onnen, ob der Baltrumer mit seiner Schaluppe hier sei und wann er segeln wolle.

Die Antwort klang etwas herabstimmend. »Unter drei Tagen ist's nicht möglich. Bis dahin muß ich Fracht einnehmen.«

»Nach Baltrum?« rief Feiko.

»Nein, nach Emden.«

»Und es ist niemand hier, der schon morgen die Anker lichtet?«

»Keiner; das weiß ich gewiß.«

»So laßt uns zu Fuß gehen«, riet Mikosch. »Von Bremen nach Emden ist eine nur sehr wenig weitere Reise, als die von Hamburg nach Bremen.«

»Schrecklichen Andenkens!« setzte Feiko hinzu. »Es ist doch besser, wir warten, denke ich. Von Emden nach Hilgenriedersiel ist's dann immer noch ein recht hübscher Spaziergang.«

»Und morgen«, meinte der Wirt, »morgen können ja die jungen Herren den berühmten Bleikeller ansehen; auch das ist etwas sehr Interessantes.«

Bei diesem Beschlusse blieb es; der Wirt gab den anspruchslosen Gästen für die Nacht ein Quartier, und am nächsten Morgen wurde das Wirtshaus in der Stadt wieder aufgesucht. Alexei hatte treulich als Ruffs Hüter ausgehalten, jetzt aber übernahmen Feiko und Georg, da sie den Bleikeller schon kannten, statt seiner die Wache, während die drei anderen fortgingen, um das Wunder von Bremen, den Keller der alten Domkirche, anzusehen.

Draußen glühte das Straßenpflaster unter den sengenden Strahlen der Junisonne; hier drinnen im Heiligtum empfing eine beinahe bis zur Kälte gesteigerte wundervolle Kühle die Wanderer wie ein wahrer Segen. Durch einen sehr bescheidenen Seiteneingang, vorüber an der unter dem Dache des Domes mitenthaltenen Küsterwohnung, gelangten die drei zuerst in das ziemlich einfache Schiff der Kirche und dann links ab, über zwei Stufen in den berühmten Raum, der eigentlich kein Keller ist, sondern mit der Straße auf gleicher oder doch nur sehr wenig verschiedener Höhe liegt. Eine sonderbar trockene, die Lungen beklemmende Luft wehte ihnen entgegen.

Mikosch sah die Reihe der offenen, uralten Särge mit ihrem Schnitzwerk und den überaus hohen Deckeln, dann in denselben die Leichen, deren Formen, vollständig erhalten, eine Art von Holzfarbe zeigten; etwas unruhig wandte er sich zu seinem Begleiter.

»Herr, das sind Puppen, nicht wahr?«

Onnen winkte ihm verstohlen. »Nein, Alter, es sind Menschen wie du und ich, nur durch die besondere Zusammensetzung der Luft in diesem Räume vor der Zerstörung bewahrt. Sieh, das hier ist eine schwedische Gräfin, das ein Student, der im Duell fiel und dort –«

Mikosch hob die Hand. »Laß nur, Herr! Bitte, laß nur – ich sehe schon.«

Seine und Alexeis Blicke trafen sich. Die beiden Söhne des wandernden Stammes brachten ganz heimlich jeder die rechte Hand in die Falten ihrer Gewänder und zwar genau dahin, wo unter der braunen Haut das Herz schlug. Ohne Zweifel hing dort irgendein heidnisches Amulett, das sie berührten, um dem Einflüsse zauberhafter Gewalten gegenüber vollständig gerüstet zu bleiben. Daß Tote, die vor Jahrhunderten gestorben waren, heute noch wohlerhalten, wenn auch beinahe schwarz daliegen sollten – nun, das konnte ja nur durch Hexerei bewerkstelligt werden.

»Rühre nichts an«, raunte Mikosch. »Der Zauberer könnte hier wohnen.«

Alexei deutete verstohlen auf eine Katze, welche mit gekrümmtem Buckel auf einem Brett stand. »Dort!« flüsterte er.

Mikosch begann zu murmeln. Was er sprach, war ohne Zweifel ein Zaubersegen.

Der Führer nahm die Katze herab und zeigte sie seinen Gästen. »Das Tier steht etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre hier im Bleikeller«, sagte er, »diese Vögel ebenso lange, der Hund da erst seit drei Jahren.«

Ein großer, schöner Pudel von schwarzer Farbe lag auf dem Steinfußboden, genau als habe er eben den Kopf zwischen die Vorderpfoten gesteckt, in so natürlicher Stellung, daß selbst Onnen von Erstaunen ergriffen wurde. »Sieh doch nur, Mikosch«, rief er. Der Zigeuner wäre um keinen Preis der Welt an dem gespenstigen Wesen vorübergegangen. »Ich sehe, Herr«, sagte er. »Gewiß, ich sehe.«

Und dann betete er wieder emsig weiter.

Onnen nahm alles in Augenschein, den englischen Offizier und den Zimmermann, welcher schon beim Bau der Kirche vom Gerüst fiel und seitdem dort im offenen Sarge liegt. Die Leichen waren hart wie Stein und selbst die Fingernägel wohl erhalten. Bekleidet hatte man sie nur mit einem leinenen Gürtel, dem bei der schwedischen Gräfin außerdem noch eine Haube hinzukam.

»In den übrigen Räumen des Gebäudes ist die gleiche Erscheinung niemals beobachtet worden?« fragte Onnen den Führer.

»Niemals. In diesem mäßig großen Zimmer erhält sich jeder Körper so, wie er im Leben war – zwei Schritte darüber hinaus ist die Luft ebenso zusammengesetzt wie draußen auf der Straße.«

»Aber die Leichen werden hart und mit der Zeit dunkel?«

»Ja – der Zimmermann ist vollständig versteinert; er liegt seit mehreren Jahrhunderten hier.«

Onnen schüttelte sich. Gerade diese Leiche hatte ihm, des weit offenen Mundes wegen, den unangenehmsten Eindruck verursacht. »Es ist sehr interessant, den Bleikeller zu sehen«, dachte er, »aber es erfordert starke Nerven.«

Dann erhielt der Führer ein Trinkgeld und die drei Männer standen wieder draußen auf der Straße – Mikosch und Alexei wie von einem Bann erlöst. »Herr«, sagte tiefatmend der Alte, »Herr, ich will dir zu Wasser und zu Lande durch die ganze Welt folgen, durch jede Gefahr von Menschen oder Tieren, aber da hinein gehe ich nicht wieder.«

Alexei nickte. »Ich auch nicht«, gestand er.

Onnen lachte sie aus. »Und warum denn nicht?« fragte er belustigt.

Die Zigeuner schwiegen. Der Pudel oder die Katze, eins von beiden besaß den Zauber, sie wußten es sehr wohl, hüteten sich aber, ihre Ansicht auszusprechen; Onnen würde ja doch nicht geglaubt haben, was sie als ganz sicher annahmen, daß nämlich die Toten alles sahen und hörten, ohne sich regen zu können, bezaubert von dem Unhold, welcher selbst neben ihren Särgen Wache hielt.

»Du willst doch nicht wieder hineingehen, Herr?« fragte nach einer Pause der Alte. »Jetzt nicht, du törichter Mikosch. Dachtest du vielleicht an den Upyr?«

»Es ist immer besser, die bösen Geister in Ruhe zu lassen, Herr! Sieh, da liegt das Rathaus – du wolltest es ja besehen, nicht wahr?«

»Wenn ihr mitgeht, sonst nicht.«

Sie traten in die geöffnete Halle und stiegen die Wendeltreppe hinauf bis zum großen Ratssaale, in dem eine Kompanie bequem exerzieren könnte. Kleine bunte Scheiben führten an einer Seite hinaus zum Marktplatz mit dem steinernen Brunnen und dem gewaltigen, aus alter Zeit stammenden Roland; die andere, innere Seite war geschmückt mit vielen Sprüchen und den Bildern von Schiffen. Onnen wurde lebhaft an das Emdener Rathaus erinnert, seine Augen glänzten vor Vergnügen. »Das ist noch schöner«, dachte er, »hier fehlt der hohe gewölbte Bogen, welcher die Straße hindurchgehen läßt – o ja, das Emdener Rathaus ist schöner.«

»Wollen wir einmal hinausgehen«, sagte er, »und nachsehen, was Tietze Holtmann treibt?«

Der Vorschlag wurde angenommen. Feiko und Georg schlossen sich an, Ruff war diesmal mit von der Partie und bald hatte die kleine Gesellschaft, wie gewöhnlich, Scharen von Zuschauern hinter sich.

Wo heute Alt- und Neustadt auseinandergehen, am Ufer des Weserstromes, schaukelte der »Seestern«, des Baltrumers Schaluppe, deren innerer Raum mit Stückgütern angefüllt wurde. Die Stauer arbeiteten emsig und der Patron hantierte am Segelwerk herum, er schob den Hut in den Nacken und grüßte lustig. »Übermorgen früh kann's losgehen, Kinder! Hurra für Ostfriesland, für Norderney und Baltrum!«

Die drei jungen Leute kletterten zu ihm an Bord und halfen, wo es irgend möglich war, indes die Zigeuner ihren Bären tanzen ließen und beständig der Mittelpunkt einer dichtgedrängten jubelnden Menge blieben. Ähnlich verging auch der zweite Tag, dann kam jener goldene Morgen, an dem es heimging, hinaus auf den Strom und das offene Meer. Onnen hätte vor Freude am liebsten getanzt.

»Armer Mikosch«, sagte er, den Alten mit beiden Armen umfassend, »armer Mikosch, nun bist du auf dem Wasser, trotz deiner grimmigen Abneigung gegen dasselbe – und alles nur für mich!«

Der Zigeuner lächelte. »Man schießt ja hier nicht mit glühenden Kugeln«, sagte er. »Es war etwas anderes, als du damals von Hamburg nach der Wilhelmsburg hinüberrudertest, Herr! – Ich möchte jene Stunden nicht nochmals durchleben.«

Onnen drückte ihm gerührt die Hand. »Wie wird es uns beiden sein, wenn wir auseinandergehen müssen, Alter? Ich mag nicht daran denken.«

Der Zigeuner nickte. »Mir will's vorkommen, als sei das ganz unmöglich, Herr! Eure jungen Gesichter nicht mehr sehen, deine Stimme nicht mehr hören – das wird sehr traurig sein. Ich muß mich nur gleich aufmachen und mit dem Stamm nach Spanien oder Italien gehen; so eine fremde Umgebung bringt andere Gedanken, hilft die Sehnsucht überwinden.«

Onnen fühlte, daß er errötete. »Mikosch«, sagte er mit gepreßtem Tone, »hast du deinen Vorsatz in betreff einer Branntweinschenke jetzt aufgegeben?«

»Vorläufig, ja. Aber ich komme doch zum Ziel, Herr, da sei du nur ohne Sorgen.«

Onnen ergriff seine beiden Hände. »Mikosch, fehlt dir eine so große Summe?« fragte er traurig. »Ehe wir scheiden, muß das alles zu Papier gebracht und ganz genau berechnet werden; wir alle drei, Georg, Feiko und ich, wollen dir jeden Pfennig abtragen! Sage mir, wieviel hast du verloren?«

»Ach was, du solltest doch von anderen Dingen sprechen, Herr!«

»Nein, nein, ich will es jetzt wissen.«

Der Zigeuner lächelte freundlich. »Nun denn, so vergiß die Sache, Herr. Das Geld ist fast alles dahin – die Unglückszeit in Hamburg kostete zu viel.«

»Mikosch!«

»Was denn weiter? Wir mußten doch leben. Es sind nun bald zwei Jahre, seit wir miteinander durch die Welt ziehen; damals warst du ein bleicher, langaufgeschossener Knabe, jetzt bist du ein junger Mann, dessen Bart zu keimen beginnt. Vergiß das Geld, sage ich dir!«

»Nie!« versicherte Onnen, »nie, so wahr ich lebe. Und wenn mir das Blut unter den Nägeln hervorspritzen sollte, so will ich diese heilige Schuld abtragen.«

Ganz ähnlich sprachen auch die beiden anderen. Georg wollte das Haus des verstorbenen Vaters zu verkaufen suchen und mit seiner Hälfte des Erlöses die Steuermannskunst erlernen, Feiko hatte schon in Bremen mehreren Personen den Auftrag gegeben, ihm eine Stellung an Bord eines Kauffahrers zu besorgen, und so blieb nur Onnen, der einstweilen als Leichtmatrose fahren mußte, aber auch dieser war guten Mutes. »Du hast doch den Rubel des Einsiedlers noch?« fragte er den Alten.

»Der sitzt an seiner gewohnten Stelle.«

»Nun, dann sammelt er auch wieder allerlei Genossen um sich. Sieh nur das Wasser, Alter, jetzt kommen wir bald in die Nordsee hinaus! Ist's nicht prächtig?«

Über diesen Punkt war Mikosch durchaus anderer Meinung, er freute sich allemal, wenn das nächste Gewässer einige Meilen entfernt lag, und sprang auch jetzt nach glücklicher Fahrt in Emden mit innerlicher Genugtuung ans Land. So bald wollte er den festen Boden nicht wieder verlassen.

Tietze Holtmann mußte an Bord bleiben, um die Arbeiten auf seinem Schiff zu überwachen, alle übrigen nahmen für die Nacht in Düke Mommsens Gasthof Quartier. Onnen war so erregt, daß er kaum zu sprechen vermochte.

Wie oft hatte er in verschiedenen Verkleidungen die Lederpuppen voll Tee oder Kaffee hierher gebracht, wie oft mit dem schlauen Wirt die französischen Zollwächter hinter das Licht geführt. Poppinga und Sohn! – in welcher Ecke mochten sie neben anderem Gerümpel wohl jetzt ihr Dasein beschließen?

Duke Mommsen kannte ihn gleich. »Herrjemine, das ist Onnen! Willkommen zu Hause, alter Junge! Jetzt brauchst du dich nicht mehr zu verstecken.«

»Gott sei gepriesen, nein! Monsieur Renard hat das Feld räumen müssen, nicht wahr?«

Der Wirt verzog die Lippen. »Wie du es nehmen willst, mein Junge! Eines Tages verfolgte er mehrere Schmuggler auf das Watt hinaus und geriet dabei in eine Rille, wo er ertrank. Diese Leute fischten sämtlich im Trüben, sie wollten zuviel verdienen und stürzten sich daher blindlings in Abenteuer, die sie später nicht ausführen konnten. Monsieur Renard liegt hier in Emden begraben – den anderen, den Polizeidirektor Lemosy, hat das Volk mit Steinwürfen hinausgejagt. Welch ein Jubel hier herrschte, wie die Königsberger Landwehr empfangen wurde, das zu beschreiben wäre unmöglich. Den ganzen Tag läuteten die Glocken, auf den Straßen umarmten sich Leute, die einander nie vorher gesehen hatten; neben dem Pferde des Obersten drängte sich fortwährend die Menge, um seine Hände, seinen Degen zu küssen, um ihm eine Blume zu überreichen oder auch nur schluchzend Gott und dem tapferen Manne für die Erlösung vom Übel zu danken.«

Onnen nickte. »Ich habe es in Hamburg gesehen«, sagte er. »Die Leute lagen zu Tausenden auf ihren Knien und doch standen die Franzosen noch hinter ihnen. Gottlob, daß wir befreit sind.«

Auch Georg mischte sich in das Gespräch. »Lebt die Schwester meines verstorbenen Vaters, Jungfrau Hedde Wessel, noch hier in Emden?« fragte er.

Der Wirt nickte. »Ja, sie lebt, aber lange macht sie es nicht mehr, die Alte. Jungfer Amke ist übrigens bei ihr.«

»Meine Schwester? – Dann will ich zuerst die beiden Frauen besuchen. Adieu, ihr anderen, morgen oder übermorgen folge ich euch.«

Er ging trotz der späten Stunde fort, um die letzte Verwandte, welche er wirklich liebte, nach langer Trennung wieder zu sehen – auch die anderen zerstreuten sich in der wohlbekannten Stadt, fast berauscht von dem seligen Gefühl, endlich wieder zu Hause angelangt zu sein. Weder Onnen noch Feiko vermochten zu schlafen, sie hörten während der ganzen Nacht jeden Stundenschlag und waren schon um sechs Uhr morgens am Hafen, um sich zu erkundigen, ob keine Fahrgelegenheit nach Norderney vorhanden sei. »Heute nicht!« hieß es. »Morgen vormittag segelt eine Schaluppe zur Insel hinüber.«

Das war zu spät. Nein, nein, da ging es zu Fuß doch schneller. Von Emden bis Wirdum konnten sie ohnehin mit einem Bauernwagen fahren. Leere Säcke und Kisten wurden als Sitze benutzt, man rückte ein wenig zusammen, Ruff diente als Fußschemel, und fort ging es, nachdem Düke Mommsen noch mehrere Flaschen und Pakete mit unter das Stroh geschoben hatte. Der Bauer nahm die Trinkgelder, welche ihm dadurch als Nebenverdienst zufielen, aber vor dem harmlosen Ruff empfand er einen gewaltigen Respekt. »Beißt er?« fragte er, von weitem mit dem Peitschenstiel auf den braunen Riesen deutend.

Onnen suchte ihn zu beruhigen. »Der Bär ist das gutmütigste Tier von der Welt, lieber Mann, Sie können ihn ohne weiteres streicheln.«

»Ich werd' mich schön hüten! Er schnuppert immer hier herüber, was will er denn eigentlich? – Sieh, sieh, jetzt schon wieder!«

»Ruff, leg dich! Still, mein Tier.«

Aber anstatt diesem Befehl zu gehorchen, erhob sich der Bär auf die Hinterfüße und steckte gegen den Kutschersitz die rechte Pranke aus. Wie der Blitz sprang das Bäuerlein vom Wagen und lief in wahrer Todesangst querfeldein, fest entschlossen, lieber seinen Karren samt Pferd und Ladung preiszugeben, als von dem grimmen Untier gewürgt zu werden.

Ein lautes, lustiges Lachen schallte ihm nach. Ruff hatte bedächtig einen Korb mit Kirschen unter der Bank hervorgezogen und ließ sich den Raub wohlschmecken – mehrere Pfunde waren verschwunden, ehe sich die jungen Leute von ihrer plötzlich erweckten Lachlust einigermaßen erholten. Der flüchtende Bauer sah gar zu komisch aus; seine langen Rockschöße hatte er unter die Arme genommen, den Hut in die Hand, und so stürmte er davon über Stock und Stein.

Mikosch hielt den Wagen an. Alle vier Insassen desselben riefen mit vereinten Kräften dem Bauern zu, daß er sich wieder einfinden möge, aber ganz umsonst, er hörte nichts, sondern rannte mit doppelter Schnelligkeit weiter.

Feiko und Onnen lachten um die Wette. »Ebenso gut könnte man einen Hasen mit der Hand fangen«, rief letzterer.

»Warte, ich weiß ein Mittel, ihn zum Stehen zu bringen.«

Und Feiko lud die Pistole, welche er abschoß. Das half augenblicklich – der Bauer stutzte, hielt an und sah über seine Schulter hinweg, scheu und zaghaft, als wolle er sagen: »Das Ungeheuer sitzt mir doch nicht schon im Nacken?«

Aller Hände winkten ihm. Jetzt stand er wenigstens, aber zur Rückkehr war er vorläufig nicht zu bewegen. »Nein, nein«, seine Hände telegraphierten fortwährend den abschlägigen Bescheid.

Onnen machte sich auf, um ihn wieder herbeizuschaffen. »Kommen Sie doch«, rief er ihm halben Weges entgegen. »Der Bär tut Ihnen kein Leides!«

Aber das Bäuerlein legte seine beiden Hände wie ein Sprachrohr an die Lippen und trompetete mit erhobener Stimme: »Er hat nach mir geschnuppert!«

Onnen mußte also den Weg über das unebene Land, vor Lachen stolpernd, fortsetzen und erst durch langes Parlamentieren den biederen Blaurock zu seiner Pflicht zurückbringen. Er nahte sich nicht eher, bis er aus dem nächsten Zaun einen armesdicken Prügel geschnitten und denselben in die rechte Hand genommen hatte. Nun mochte nach seiner Meinung der Bär kommen.

Als er indessen sah, wie ruhig Meister Ruff die leckere Mahlzeit verdaute, da wuchs ihm der Mut. »Die Kirschen müßt ihr aber bezahlen!« sagte er.

Das wurde ihm feierlichst versprochen, und nun konnte die Weiterfahrt vor sich gehen. Um Mittag war Wirdum erreicht, die kleine Karawane zog nach gehaltener Mahlzeit des Weges weiter und ließ Dorf nach Dorf hinter sich, das Land immer nach der Küstenseite durchmessend, bis endlich der späte Abend herabsank und Mikosch anfing, von einem Nachtquartier zu sprechen. »Ich denke, wir bleiben hier«, sagte er, auf ein Bauernhaus zeigend, das in geringer Entfernung seine roten Mauern erhob. »Es ist spät geworden, Kinder.«

Aber davon wollten die beiden jungen Leute nichts wissen. »Nur noch wenige Stunden, Alter, dann sind wir in Hilgenriedersiel – bitte, gib nach. Wir haben doch wahrhaftig so viel bedeutendere Märsche hinter uns!«

»Oder auch, ihr beide sucht euch ein Nachtquartier und geht morgen früh in aller Ruhe weiter, während Feiko und ich vorauseilen. Wir kennen ja hier herum jeden Schritt des Weges so genau wie unsere eigenen Taschen.«

Aber Mikosch weigerte sich. »Nein, ich selbst will dich nach Norderney bringen, Herr – hab' nun einmal meinen Kopf darauf gesetzt. Also vorwärts, die paar Stunden werden uns ja nicht schaden.«

Über den Bäumen der Landstraße erschien das Antlitz des Mondes, ein frischer Wind rauschte in den Zweigen und Sommervögel huschten hier und da durch das Grün. Ruff trabte, jetzt aller seiner Fesseln entledigt, wie ein Hund nebenher; mit jedem einzelnen Schritt wuchs die Erwartung, die Hoffnung der jungen Leute. »Siehst du da den Baum, Onnen?« rief Feiko. »Er steht allein mitten auf der Wiese und ist am ganzen Stamm belaubt; man hat ihn im Hause meiner Eltern gerade vor sich! – Hurra! Hurra! Jetzt nur noch ein kleines halbes Stündchen!«

»Aber wir brechen wie die Räuber tief in der Nacht bei euch ein, Feiko!«

»Das schadet nicht! Heißa – wie glücklich bin ich!«

Und dann vollführte er plötzlich einen Freudensprung. »Da ist das Haus!«

»Nero bellt!« rief Onnen. »Sollte er deine Stimme erkannt haben?«

Beide Vettern standen still. »Nero!« rief der Steuermann, »Nero!«

Das Gebell wurde immer stärker; das Tier riß an seiner Kette, es winselte bald und bellte dann wieder mit verdoppelter Stärke. Ein Fensterladen wurde geöffnet, eine Männerstimme rief dem Hund zu und suchte ihn zu beschwichtigen. »Ruhig, Nero, ruhig, mein Tier!«

Feiko hemmte plötzlich den Schritt. »Das ist mein Vater!« sagte er halblaut

Und dann, wie von schnellem Entschluß erfaßt, stürmte er vorwärts. »Vater! Vater! – Hier bin ich ja – grüß dich Gott, Vater!« Die anderen hörten einen halberstickten Ausruf, der Hund bellte wie toll, Frauenstimmen mischten sich hinein – durch das Haus ging ein Jubeln, das weit hinausklang in die nächtlich stille Umgebung. Er war ja zurückgekehrt, der langvermißte älteste Sohn, sie hatten ihn wieder und hielten ihn in ihren Armen, sie lachten und weinten vor Glück.

Dann kam Onkel Hansen heraus, um mit offenen Armen auch den Neffen zu begrüßen, auch die treuen Freunde der beiden, welche ihnen Brot und Obdach gewährt hatten, als sie im fremden Lande von aller menschlichen Hilfe verlassen schienen. »Willkommen! Willkommen!« rief er. »Seht, Kinder, da ist ein Tanzbär!«

Der junge Nachwuchs war aus den Betten geklettert und umringte nun in mehr oder weniger paradiesischem Kostüme den Braunen, der sich die Zärtlichkeit des ausgelassenen Völkchens schnell genug erwarb. Mikosch und Alexei hielten sich bescheiden zurück, während Onnen durch die bekannten grünen Heckenwege ging und wieder zum Fenster hineinsah, wie in jener Nacht, als es galt, in Mädchenkleidern die Lederpuppen voll Tee nach Emden zu schmuggeln. Heute zeigte das Gesicht seiner Tante ein anderes Aussehen; sie hielt ihren Erstgeborenen mit beiden Armen umfaßt, ein Himmel voll Glück und frommer Dankbarkeit leuchtete aus den Augen, die so viele, viele brennende Tränen vergossen hatten.

Dann sah sie in der Tür den Neffen, den einzigen Sohn des gemordeten Bruders und schluchzend eilte sie ihm entgegen. »Onnen! Mein Junge, mein lieber Junge!«

»Laßt's gut sein!« sagte der Onkel, »laßt's gut sein, Kinder – die beiden Krieger sind ja nun glücklich wieder angelangt!«

Aber auch seine Stimme bebte; er wandte sich ab und sah auf den Deich hinaus. Eine tiefempfundene Freude braucht Tränen, ebenso wie das Leid – aber diese brennen wie Feuer, während jene das Glück verdoppeln.

Erst der zehnjährige kleine Bruder löste den Bann, welcher die Herzen aller gefangenhielt. Ohne Strümpfe oder Schuhe, nur mit seinen Höschen bekleidet, stemmte er die Arme in die Seiten und schüttelte bedenklich den Kopf: »Mutter«, sagte er, »wie unser Feiko weg war, da hast du so toll geweint; und nun er wiedergekommen ist, weinst du auch! Was willst du denn eigentlich?«

Sie lachten alle; Feiko ließ das Brüderchen auf seinen Schultern reiten, die Mutter und Jurtke brachten schnell eine Mahlzeit auf den Tisch, Nero wurde von der Kette gelöst und durfte seinen geliebten Herrn umschmeicheln, Mikosch erhielt den Ehrenplatz auf dem ledernen Sofa und der Bär ein Heulager im Stall, aus dem die Ziege schleunigst entfloh.

Onnen war auf den Deich geklettert. Da unten in blauer Ferne lag seine Heimat, das Haus, in dem er geboren worden war. Wie zärtliches Grüßen rauschte es zu ihm herauf aus den murmelnden Wellen der Nordsee; kaum überwand er das Verlangen, hineinzuspringen und schwimmend den geliebten Strand zu erreichen. Einen Augenblick glaubte er, es zu können – erst als ihm Onkel Martin nachkam, gab er der Stimme der Überlegung Gehör.

»Du mußt noch lange warten, mein Junge«, sagte freundlich tröstend der Alte. »Erst in zwanzig Minuten ist die Ebbe vollständig eingetreten und dann weißt du ja, wie viele Stunden vergehen, bevor mein Segelboot flott werden kann.«

Onnen sah auf das Meer hinaus. »In einer Stunde ist es Tag!« rief er, »dann gehen wir zu Fuß über das Watt, Mikosch und ich.«

Onkel Martin schüttelte den Kopf. »Das brauchst du ja doch nicht, Junge. Ich fahre dich im Boote hinüber und –«

»Nein, Onkel, nein, so lange zu warten halte ich nicht aus. Uve Mensinga, der brave Mann, hat mich ja völlig zum Wattführer hier für diese Strecke vorgebildet; ich kenne jede Rille und jede Untiefe – hurra, in zwei Stunden bin ich drüben!«

» Erst komm nur und iß, Junge, gönne dir und dem Alten ein wenig Ruhe. Ihr seid doch schon genügend lange unterwegs, sollte ich meinen.«

Onnen sah auf das Meer hinab – noch war alles vom Wasser bedeckt; er mußte wenigstens ausharren, bis die Flut vollständig zurücktrat.

Als er in das Zimmer kam, schlief Mikosch auf der Ofenbank mit dem Kopfe an der Wand. Genaugenommen war der alte Mann noch in der Genesung begriffen, mindestens von dem achtwöchentlichen schweren Krankenlager noch nicht zum Vollbesitz seiner Kräfte zurückgekehrt; man ließ ihn daher sogleich allein, verhüllte die Fenster und trieb die kleine Schar hinaus, um seinen Schlummer nicht zu stören.

Es war ein Uhr morgens, Onnen konnte gut ein paar Stunden warten.

Als die Sonne am Himmel erschien, stand er auf dem Kamme des Deiches. Jetzt trat die Insel wie ein schmaler dunkler Streif aus dem Meere hervor, spitz auslaufend, kahl und grau, aber doch seine geliebte Heimat, sein eigenes Norderney. Er sah es, da lag es vor ihm und alle anderen Gedanken erstickten in dem einen: »Ich will hinüber!« Mikosch war schon erwacht, neugestärkt und munter, er sah im Stall nach dem schlafenden Alexei und dem Bären, dann versprach Onkel Martin, nach Eintritt der Flut mit diesen beiden und seinem Sohne im Segelboot hinüberzukommen, und nun konnte die Wanderung durch das Watt vor sich gehen.

Höher und höher stieg die Sonne, mehr und mehr belebte sich die unübersehbare graue Schlickfläche. Scharen von Vögeln flogen aus den Dünen, aus dem Röhricht und vom offenen Meer herbei, Fische sprangen verzweiflungsvoll aus den flachen Rillen empor, um wieder in das tückisch entflohene nasse Element zu gelangen; auf dem kaum ganz getrockneten Boden krabbelte es und lief und glitt – tausend und abertausend Geschöpfe bevölkerten Luft und Wasser.

Mikosch hatte dies eigentümliche Schauspiel nie gesehen. »Ich bin früher zu Schiff nach Norderney gekommen«, sagte er etwas unruhig. »Wo ist das Meer geblieben?«

»Verzaubert!«lachte Onnen. » Sieh, da liegt vor uns die Landspitze – wir können sie aber umgehen, der Strand bis zum Dorfe ist noch lang.«

Der Zigeuner knöpfte die Jacke auf. »Welch eine Luft!« sagte er. »Man glaubt zum erstenmal zu atmen!«

»Nicht wahr? – Sieh nur die Dünen! Alles grün, alles mit Blumen bedeckt. Wenn wir da oben ständen, könnten wir das Dach meines Vaterhauses schon erkennen!«

Weiter und weiter wandten sie sich nach links. Da war der Punkt, wo die »Taube« auf ihrer Fahrt von Baltrum nach Norderney zu ankern pflegte, dort das verborgene Nest in den Dünen, die Kaffee- und Teeniederlage, endlich da unten, die Stelle, wo jene beiden französischen Zollwächter so jählings überrumpelt wurden.

»Mikosch«, sagte Onnen, »es ist mir, als sei alles Dazwischenliegende nur ein Traum, als müsse mir mein armer Vater entgegentreten, Heye Wessel – all die Getreuen früherer Tage! – Hier, gerade hier war es, wo wir gegen die Franzosen kämpften! Und da draußen, Mikosch, da draußen, wo du das Meer siehst, an jener Stelle haben wir die drei Kanonenboote erobert!«

Er lief fast; die Aufregung wuchs von Minute zu Minute. »Da kommen ein paar Schlickläufer«, sagte er, »da noch einer! – Und weiterhin sammelt eine Frau auf dem Watt! Ob es die alte Aheltje ist?«

»Aber nein, nein, sie war immer lahm und diese geht kräftig einher. Es ist mir, als müsse ich sie kennen – gewiß, gewiß, ich täusche mich nicht!« »Spring voraus!« sagte gutmütig der Zigeuner. »Ich komme schon nach.«

Onnen hörte ihn kaum. Die Frau da drüben hatte das Gesicht unter einem großen Strohhut versteckt, sie sah von ihrer Arbeit keinen Augenblick auf, aber dennoch wußte Onnen, daß er sie kennen müsse. Eine Art von unerklärlicher Unruhe hatte sich seiner bemächtigt, er ging der emsig sammelnden Frau mit schnellen Schritten gerade entgegen.

Und dann erhob die Alte zufällig den Kopf, sie schien zu erschrecken, ihr Korb mit den kaum gesammelten Schätzen fiel auf den Schlick, sie streckte beide Arme aus. »Onnen! – Onnen!«

Es durchzuckte den jungen Menschen wie ein elektrischer Schlag. Er sah, aber er mißtraute seinen Sinnen – er wollte nicht glauben, was Auge und Ohr bezeugten.

»Mutter! – Mutter!«

Das war halb gejubelt, halb geschluchzt. Unter Gottes freiem Himmel, allein auf dem weiten, grauen, sonnenüberglänzten Watt lagen die beiden einander in den Armen. Sie sprachen nicht, sie sahen sich nur an, und der Sohn legte voll kindlicher Verehrung leise das Gesicht in die Hand seiner alten Mutter.

Vergessen war das Leid der Trennung, vergessen jeder andere Gedanke. Kosend über ihre Stirnen glitt der Morgenwind, hoch im Blau sang die Lerche ein Dankgebet. –

Und doch zog es nach den ersten seligen Minuten wie ein Schmerz durch Onnens Seele. »Hier finde ich dich, Mutter?« fragte er gepreßten Tones. »Hier? – Was enthielt dein Korb?«

Die Antwort gaben ihm seine eigenen Augen. Langbeinige Taschenkrebse arbeiteten wie verzweifelt, um dem verhängnisvollen Korbe zu entrinnen, Seeigel zogen sich zusammen und fielen wieder auseinander, die unglücklichen Seesterne zappelten auf dem Trocknen wie Verschmachtende.

»Mutter, Mutter«, fragte Onnen, »du gehst auf das Watt, um zu sammeln?«

Sie lächelte zärtlich. »Gewiß, mein Junge. Es sind in diesem Jahre viele Badegäste hier, ich verkaufe ihnen die Ware, welche mir der liebe Gott schenkt, und kann leben, ohne einem Menschen Geld zu schulden.«

Es schmerzte ihn grenzenlos. »Du?« sagte er. »Mutter, du? Und Uve Mensinga?«

»Der hat mir treulich geholfen, solange ich's brauchte, mein Sohn; er hat der Witwe seines Freundes mit Rat und Tat beigestanden, eben deshalb will ich auch die Sorge, welche er bisher freiwillig trug, je eher desto lieber selbst übernehmen.«

»Aber sprechen wir nicht von mir«, setzte sie dann schnell hinzu. »Komm nach Hause, mein Liebling – die Nachbarn haben alles in guten Stand gesetzt, ich wohne wieder in unserem lieben alten Heim – komm, Onnen, komm!«

Jetzt erst fiel ihm der Zigeuner ein. »Mikosch«, rief er, »wo bist du?«

Der Alte saß auf einer Düne und sah mit vergnügtem Lächeln zu den beiden glücklichen Menschen hinüber; jetzt näherte er sich der alten Frau, die ihm voll froher Dankbarkeit beide Hände entgegenstreckte. »Sie sind gewiß der gute Mann, welcher meinen Sohn mit Wohltaten überhäufte, nicht wahr? Gott vergelte es Ihnen in Ihren Kindern!«

Das ostfriesische Plattdeutsch verstand er nicht, aber Onnen übersetzte ihm alles; später erfuhr sie auch, daß er selbst es gewesen, der vor vielen Jahren hier auf Norderney den Tanzbären zeigte. Alle drei gingen an der Schanze vorüber in das Dorf, und dieser Weg gestaltete sich zu einem wahren Triumphzuge. Aus allen Türen sahen die Leute hervor, überall brachten Herzen und Hände ein fröhliches Willkommen.

Uve Mensinga kam mit ausgebreiteten Armen dem jungen Manne entgegen. »Da bist du, liebster Junge – und wie groß geworden! Wahrhaftig, Mutter Visser, ein ganzer Mann!«

Er drückte unseren Freund fest an die Brust und küßte ihn wie ein kleines Kind. Daß es die Leute sahen, schadete ja nicht; sie liefen ohnehin alle zusammen, manche mit fröhlichen, manche mit traurigen Gesichtern; unter den letzteren der alte Amtsvogt. »Hast du von meinen beiden Söhnen nichts gehört, Onnen, gar nichts?«

»Sind denn von ihnen keinerlei Nachrichten angelangt, Alter?«

Der Vogt schüttelte den Kopf. »Keine! Aber es ist dieser oder jener aus unserer Gegend nach Beendigung des russischen Feldzuges hierhergekommen und hat mir erzählt, daß meine beiden armen Jungen bis zur zweiten Schlacht von Smolensk gesund und wohlerhalten waren – später sind sie nicht mehr gesehen worden.«

Der alte Mann trocknete sich die Augen. »An der Beresina sind sie gefallen«, sagte er traurig. »Es kann nicht anders sein!«

Onnen suchte ihn zu trösten, so gut es ging. Andere Bekannte näherten sich ihm, andere Traurige baten um eine Nachricht, aber auch viele von denen, welche in jener Nacht des plötzlichen Überfalles zugleich mit ihm gepreßt wurden, viele Kameraden aus Rußland traten ihm hier in der Fischerjacke wieder entgegen.

Es dauerte Stunden, ehe die kleine Gesellschaft nach Hause kam. Von den Möbeln früherer Tage, den alten geliebten Einrichtungsstücken aus seiner Kindheit fand Onnen nichts wieder vor; die Franzosen hatten geraubt, was sie brauchen konnten und das Überflüssige vernichtet. Aber dennoch waren die Zimmer nicht leer; treue Hände brachten, als Klaus Vissers Witwe ihr Eigentum wieder bezog, nach und nach alles herbei, dessen die verlassene Frau bedurfte. Der Prediger schickte ihr die Ausstattung für das bescheidene Wohnzimmer, andre Freunde brachten Küchengerät und Frau Trientje Mensinga lieferte die Betten. Zwei zugleich – das eine für Onnen, wie sie sagte. Wiederkommen mußte er ja doch.

Und nun war er wirklich da. Frau Douwe konnte ihn nicht lassen, sie sah immer in sein hübsches, sonnenbraunes Gesicht, sie hielt seine Hand, als müsse er ihr im nächsten Augenblick wieder verlorengehen.

Uve Mensinga klopfte ihr leise auf die Schulter. »Ganz wie unser lieber alter Klaus, nicht wahr, Nachbarin?«

Und die Frau im schwarzen Kleide, mit der Witwenhaube auf dem weißgewordenen Haare nickte leise. Sie wandte sich ab – ihr Knabe sollte heute keine Tränen sehen.

Draußen auf der Straße ging schon wieder eine alte Bekannte vorüber; sie bemerkte am Fenster den heimgekehrten jungen Mann und kam eiligst ins Haus gelaufen. »Onnen, Onnen, gelobt sei Gott, daß du wieder angelangt bist! Aber darf ich auch noch ›du‹ sagen? Der junge Herr ist so grausam gewachsen!«

Ein lustiges Lachen folgte dieser wohlgemeinten Anrede. Folke Eils trug einen gefüllten Korb mit Putzartikeln am Arm, sie trieb seit dem Abzug der Franzosen wieder ihren früheren Handel und fuhr jetzt, bei Onnens unverhofftem Anblick, mit dem Zipfel der sauberen weißen Schürze über die Augen. »Weißt du's noch, Onnen, wie dein Vater selig mir die zwanzig Taler schenkte? Er war es, der mich vom Verderben errettete.« Tiefe Stille war unter den Anwesenden; Onnen brach sie zuerst. »Und Wiebke Raß?« sagte er, absichtlich die Antwort umgehend, »wie steht es mit ihr?«

Seine Mutter sah ihn an. »Gut, mein Junge! Sie schläft seit langem an der Seite ihres Kindes, sie ist heimgegangen, ohne eigentlich krank gewesen zu sein. Nur immer bleicher und zarter wurde das sanfte Gesicht, immer weniger konnte die Arme anderen Leuten helfen, bis sie endlich einschlief, um nicht wieder zu erwachen.«

»Wohl ihr!« setzte Uve Mensinga hinzu. »Sie hatte vom Leben nichts mehr zu hoffen. Nun aber, mein Junge, erzähle uns auch deine Abenteuer, laß uns hören, wie es dir zu Wasser und zu Lande erging – außer dem einen Brief, welchen du schriebst, bekamen wir ja während der ganzen Zeit von dir keinerlei Nachricht!«

»Und ich keine von euch; es war eben unmöglich. Komm, Mikosch, laß uns anstoßen, wenn auch nur Bier im Glase schäumt! Auf dein Wohl, mein Freund und Helfer!«

Er zog den treuen Freund mit hinein in das Gespräch und Stunden vergingen, ehe auch nur die Hälfte des Erlebten berichtet war. Später am Tage kam Onkel Martin mit den beiden jungen Leuten und dem Bären – das Vissersche Haus wurde der Sammelplatz aller Inselbewohner, Ruff mußte rauchen, singen, Karten spielen und tanzen bis in die Nacht hinein.

Am anderen Morgen ging Onnen allein zum Grabe seines Vaters. Ein Rosenbaum streute die Fülle der weißen duftigen Blütenblätter darüber her, hochaufgeschossen grünten Busch und Strauch. Ein hübsches Eisengitter umgab den Platz, der am saubersten gehalten schien von allen auf dem friedlichen kleinen Gottesacker im Schatten der Kirche.

Auch dem Prediger erstattete Onnen pflichtschuldigst seinen Besuch, und als er dann nach Hause kam, empfing ihn eine Einladung, die er von allen am wenigsten erwartet hatte – Aheltje, die »Hexe«, ließ durch einen Boten sagen, er möge sobald wie möglich zu ihr kommen.

»Was kann sie nur wollen ?« rief Frau Douwe. »Zehnmal ist sie früher schon bei mir gewesen und hat nach dir gefragt.«

Onnen wußte es nicht. »Ob sie krank ist?« fragte er seine Mutter.

»Ja, schon seit längerer Zeit, mein Junge. Ich denke, du mußt hingehen.«

»Natürlich – aber wo wohnt sie denn jetzt?«

»An der alten Stelle. Die Gemeinde hat ihr damals eine neue Hütte erbauen lassen; du weißt wohl, dein armer Vater und Heye Wessel bewilligten das noch auf ihrem Todesgange.«

Onnen küßte die zuckenden Lippen der alten Frau. »Wohl ihm, daß sein Andenken so hoch in Ehren steht, Mutter! Wer sich seiner erinnert, der hat ihn von Herzen lieb gehabt.«

Frau Douwe nickte. »Geh du nur«, sagte sie, »Aheltje ist eine dankbare Seele, sie kann nichts Böses beabsichtigen.«

»Und doch auch wohl auf keinen Fall etwas gegen mich ausrichten, Mutter. Du bist hoffentlich nicht abergläubisch?«

»Nein, nein – nur weil die Leute sie immer eine Hexe nennen!«

»Unsinn!« lachte er und ging dann fort, um die Hütte der einsamen, verrufenen alten Frau zwischen den Dünen aufzusuchen. Wie leicht und sicher glitt sein Fuß über das schlüpfrige Gras! Die Stille der entlegenen Öde umgab ihn, die Erinnerung glücklicher Kindertage stimmte ihn weich und freundlich. So oft, so oft hatte er als Knabe mit gleichaltrigen Genossen diese grünen Hügel durchstreift und Jäger und Hund, Krieg und Gott weiß was sonst noch gespielt.

Viele, viele von ihnen lagen in Rußlands eisiger Erde, viele waren verschollen, man hatte von ihnen nie eine Kunde erlangt, nie ein Lebenszeichen.

Aber heute wie damals sangen die Lerchen und wehten im Sommerwind die langen Halme; heute wie damals rauschte das Meer, das geliebte, und kein Feind durfte es wagen, am deutschen Strande seine verhaßte Flagge zu entfalten.

Die Hütte der Alten war bald gefunden. Onnen klopfte an die Tür, und als er das Herein der Bewohnerin hörte, überschritt er gebückt die Schwelle. Welch ein Bild der schrecklichsten, trostlosesten Armut bot sich seinen Blicken! Der niedere Bau barg nur einen in den Erdboden gefügten Tisch, einen hölzernen Stuhl und eine Lagerstätte, aus der Stroh und Lumpen hervorquollen. Auf diesem elenden Bette lag die abgezehrte, einem Skelett ähnliche Gestalt der alten Frau; müde, traurige Augen sahen dem jungen Manne entgegen, die magere Hand erhob sich, um ihm den einzigen Stuhl der öden Behausung zu bieten.

»Guten Tag, Aheltje«, sagte er freundlich. »Es tut mir leid, Euch krank zu finden, Frau! – Steht es denn mit Eurem Leiden jetzt so schlimm?«

Sie lächelte eigentümlich. »Ihr seid doch der Onnen Visser, Herr? Tretet ins Licht, ich möchte mich überzeugen.«

Onnen willfahrte ihrem Wunsche. »Ist es denn so wichtig, was Ihr mir zu sagen habt, Aheltje?«

Sie sah ihn an und nickte vor sich hin. »Ja, er ist es; er ist es wirklich. Klaus Vissers Sohn! – Setzt Euch, Herr; was ich zu sagen habe, ist sehr wichtig, ist beinahe mehr wert als das Leben selbst. Aber vorher muß ich Euch eine Frage stellen. Wißt Ihr, wo sich Geerd Kluin, der Bruder Eurer Mutter, befindet?«

Onnen war einigermaßen überrascht. »Ja«, antwortete er, »ich weiß es, Aheltje, Geerd Kluin ist tot, er starb in Altona und ich selbst habe ihn zu Grabe geleitet.«

»Das ist ganz, ganz sicher?«

»So gewiß und wahrhaftig, wie ich in diesem Augenblick vor Euch stehe.«

Die Alte erhob sich mühsam vom Bette, ihre Glieder zitterten, ihr Kopf sank vor Schwäche auf die Brust herab. »Mit mir ist's aus, junger Herr, der Tod droht schon seit Wochen mit erhobenem Arm, aber ich sagte ihm immer, daß er warten müsse, bis Ihr hier gewesen seid. Kommt nun, kommt rasch, Ihr sollt mich begleiten und unterwegs will ich Euch eine Geschichte erzählen.«

»Ja«, setzte sie dann plötzlich hinzu, »wollt Ihr aber auch in meiner Gesellschaft gesehen werden, Herr?«

Onnen lächelte freundlich. »Gewiß, Frau. Aber ich denke, Ihr könntet mir ebensowohl hier in Eurer Hütte erzählen, was ich wissen soll; Ihr braucht dann meinetwegen nicht aufzustehen.«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, nein, das geht nicht. Kommt nur, junger Herr – der Erfolg wird Euch die Mühe belohnen.«

Sie humpelte schwerfällig voraus und bat ihn, ihr zu folgen. Onnen gehorchte freundlich, obwohl er im stillen glaubte, daß der Verstand der Alten erschüttert sei. So kamen die beiden sonderbaren Genossen in das Gebiet der mittleren Dünenkette, immer über die schlüpfrigen Höhen und durch die tiefen Täler langsam vorwärts, bis an jene schmale Schlucht, in der das Buschwerk grünte und wo Scharen von wilden Kaninchen ihre Höhlengänge bauten; hier sank die Alte, wie vollständig erschöpft, atemlos in sich zusammen.

Ihre mageren Finger deuteten auf das Gebüsch. »Schlagt die Zweige auseinander, Herr, habt Ihr kein Messer bei Euch? – Grabt, grabt, da drinnen wohnt das Glück, das goldene – ich will Euch unterdessen eine Geschichte erzählen.«

Er zauderte, obwohl die Worte der Alten einen sonderbaren Eindruck auf ihn übten. »Aheltje«, sagte er, »was sollte denn im Dünensand verborgen liegen?«

»Grabt nur! Grabt nur! – Seht, es war vor länger als zwei Jahren, noch ehe die Franzosen nach Norderney kamen, da saß ich einmal hier und legte Schlingen für die wilden Kaninchen; es dämmerte bereits, tiefe Stille herrschte ringsumher, ich dachte gerade darüber nach, wie ganz einsam und von aller Welt verlassen einmal mein Totenbett sein werde – da raschelte es drüben in den Halmen und ein Mann sprang mit großen Sätzen in die Schlucht herab. Es war Geerd Kluin, der Bruder Eurer Mutter.«

Alles Blut drang plötzlich in Onnens hübsches Gesicht. »Ah!« rief er, »und –«

»Grabt nur weiter, Herr! – Aha, da ist der Deckel des eisernen Topfes! Nehmt ihn ab, wühlt im Golde mit beiden Händen, es ist Euer, alles Euer; Geerd Kluin brachte die letzten Taschen voll an jenem Abend hierher, er mußte schon früher hier gewesen sein, denn das Gefäß war voll bis zum Rande. Und nun ist er tot, Ihr seid sein einziger Erbe!«

Onnen hatte in diesem Augenblick Ohren, aber er hörte nicht, es war ihm, als träumte er. Selbst seine jungen Kräfte konnten das Eisengefäß nicht von der Stelle bringen, er tauchte den Arm in die goldene Flut und suchte umsonst den Boden – es mußten Tausende, viele Tausende hier aufgespeichert liegen.

Und Geerd Kluin, der Eigentümer dieser ganzen Summe, der reiche Mann war in Hamburg des langsamen Hungertodes gestorben!

»Fülle deine Taschen«, mahnte die Alte. »Du mußt zehnmal gehen, bevor der goldene Segen ganz gehoben ist!«

Die Stimme der Frau brachte ihn zur Besinnung; er streckte ihr beide Hände entgegen. »Aheltje, alte Aheltje, du hast während dieser zwei Jahre Hunger und Frost gelitten, du warst krank und hilflos, aber dieses Geld berührtest du nicht; nahmst davon keinen Pfennig, obwohl außer dir niemand das Geheimnis kannte?«

Die Alte lächelte. »Ist das etwas so Großes, Herr? Und überdies, ich war dem armen Kapitän Visser so vielen Dank schuldig, daß mich's freute, einiges davon seinem Sohne abtragen zu können. Der Gedanke an das Geld hat mich nie verlockt.«

»Desto mehr und reichlicher wird Euch davon jetzt zuteil werden«, rief der junge Mann. »Kommt, Aheltje, ich bringe Euch vorläufig in Eure Hütte, aber noch an diesem Tage sollt Ihr ein Quartier bei zuverlässigen Leuten erhalten – alle Eure Not hat jetzt ein Ende, Frau, Ihr könnt noch wieder genesen und Eure Tage in Ruhe beschließen.«

Sie lächelte matt. »Ich danke Euch, Herr – für solch eine Unglückliche, wie ich bin, sind Eure freundlichen Worte Balsam, aber zur Ausführung wird's nicht kommen; ich sagte Euch ja, der mit der Sense wartet ungeduldig.«

»Und soll auch noch länger warten, Aheltje!«

Sie schüttelte ruhig den Kopf. »In Euren Jahren will man von ihm nichts wissen, junger Herr«, sagte sie, »in den meinigen ist er Freund und Erlöser. Wenn Ihr aber«, setzte sie hinzu, »einer armen alten Frau so recht etwas Liebes, Gutes erweisen wollt, dann helft mir über ein paar hohe Wände zu kommen, da drüben hinter den Gebüschen. Ich möcht' gern einmal hinunter sehen in den tieferen Grund!«

Onnen hatte schon seine Taschen gefüllt und den Sand wieder über den Deckel gescharrt, jetzt trug er die Alte sorgfältig und dankbar bis an den Kamm, von welchem sie gesprochen hatte. »Nun, Aheltje, was gibt es denn da unten?« sagte er.

Sie stützte sich fest auf ihn, um lange und unverwandt hinabsehen zu können. »Da im Sande liegt meine Katze begraben«, sagte sie mit leiser Stimme, »gerade unter dem einzelnen Busch – ich hab' mit meinen eigenen Händen das arme Tier eingescharrt und ihm die Erle auf seine Ruhestätte gepflanzt. Es war wohl nur eine Katze, Herr, aber für mich doch das letzte, was ich lieb hatte. Ich danke Euch, daß Ihr mich herbrachtet!«

Onnen schwieg gerührt; er brachte die Alte bis auf den ebenen Strand hinaus und führte sie dann noch in ihre Hütte. Aheltje lächelte mit glücklichem Gesicht. »Nun ist der letzte Wunsch erfüllt«, murmelte sie, »die letzte irdische Pflicht getan – der Sensenmann kann kommen.«

Unser Freund stand unschlüssig, er wußte nicht, ob er es wagen dürfte, die Unglückliche zu verlassen – ihr Gesicht erschien ihm so seltsam verändert, er glaubte, daß sie in jedem Augenblick sterben könne.

Aber Aheltje selbst schickte ihn fort. »Denkt nicht an mich, Herr, bringt nichts hierher, weder Menschen noch Sachen – sorgt nur, daß das Geld in Sicherheit komme.«

Er dankte ihr nochmals mit beredten Worten, versprach, am nächsten Tage wieder vorzusehen und eilte nach Hause, trunken vor Freude.

Daß ihr Bruder gestorben sei, wußte Frau Douwe bereits seit gestern, heute erfuhr sie die letzte unerwartete Nachricht und willfahrte sogleich dem Wunsche ihres Sohnes, sich selbst in die Hütte der Alten zu begeben. Onnen seinerseits ging mit dem Zigeuner sogleich wieder hinaus in die Dünen und beide holten nun heim, was der eiserne Topf barg.

Zwanzigtausend Taler in lauter Goldstücken. »Freue dich, Mikosch, freue dich, nun ist deine Schenke bezahlt! Fange an zu nähen, vergiß den dänischen Staatsbankrott und die Tage der Not in Hamburg – Hurra! Hurra! jetzt ist alles gut!«

Mikosch wollte nicht annehmen, was ihm Onnen in der Fülle seiner Herzensfreude darbot »Das wäre zuviel, Herr, viel zuviel – es müßten ja an tausend Taler sein!«

Onnen lachte ihn aus. »Das Doppelte, Alter, das Doppelte. Nähe, nähe, daß der Ledergürtel rund wird wie ein Vollmond!«

Er war vor Freude fast außer sich; auch Alexei erhielt ein stattliches Geschenk und nicht minder Onkel Martin, dem die Franzosenwirtschaft schwere Schäden zugefügt hatte. Jetzt brauchte Frau Douwe nicht mehr hinauszugehen auf das Watt, alle Sorgen waren verscheucht, alle Wünsche erfüllt.

Gegen Abend, als seine Mutter aus der Hütte der Alten zurückkehrte, sah Onnen auf den ersten Blick, was sie ihm sagen wollte. Aheltje war tot!

»Hast du sie denn noch lebend gefunden, Mutter?«

Frau Douwe nickte. »Sie erkannte mich gleich, ich konnte ihr in deinem Namen danken, mein Junge, auch ein paar Tropfen Wein hat sie getrunken und mir dann zugeflüstert: ›Es ist doch gut, daß ich nicht so ganz verlassen sterben muß!‹ Einige Minuten später war sie hinüber.«

Onnen erzählte seiner Mutter von dem Grab der Katz und wie die arme Aheltje das Tier geliebt. Frau Douwe hatte Tränen in den Augen. »Gottlob, daß endlich der Tod kam«, sagte sie und fügte dann, auf die Straße hinausdeutend, bei: »Auch da geht einer, dem es besser wäre, wenn ihn die Erde in ihren Schoß aufnähme – kennst du ihn, Onnen ?«

Ihr Sohn sah auf. »Peter Witt«, rief er. »Wie verändert ist der Mann!«

Draußen ging der Verräter über die Straße, oder stolperte vielmehr, mit starren Blicken vor sich hinsehend, weiter. Er sprach immer halblaut, das Haar hing verworren um seinen Kopf herum, der Anzug war unordentlich und das ganze Wesen gestört. Sobald ihm irgendein Mensch begegnete, wich er aus, als drohe ihm eine plötzliche Gefahr.

»Witt ist vollständig blödsinnig«, berichtete Frau Douwe. »Wieviel unsägliches Elend aller Art haben doch die Franzosen über unser Land gebracht!«

»Dafür hat sie nun auch die gerechte Strafe ereilt, Mutter – denke nicht mehr an die Vergangenheit. Komm, komm, du mußt nicht weinen, wir sind ja nun reiche Leute, dein Sohn kann die Steuermannskunst erlernen und wird es mit der Zeit und Gottes Hilfe sicher wieder zu einem eigenen Schiff bringen!«

Und so geschah es auch wirklich, obwohl erst in späteren Jahren. Der Abschied von Mikosch und Alexei schlug dem Herzen unseres Freundes tiefe Wunden, er stand mit den beiden am Strand und konnte sich von ihnen nicht trennen, so oft auch das Lebewohl schon gesprochen worden war. »Grüße deine Söhne, Alter, deine Frau, den ganzen Stamm! Wir haben doch so viele frohe Stunden miteinander verlebt! Ich bin dir so unendlich vielen Dank schuldig!«

Der Zigeuner schüttelte den Kopf. »Leb wohl, Herr, leb wohl! Du schreibst mir hin und wieder einmal, denke ich! – meinen Aufenthalt erfährst du, sobald ich einen festen Wohnsitz gefunden habe!«

»Gewiß, Mikosch, Gott sei mit dir, du lieber alter Freund!«

Noch ein Händedruck und das Boot stieß ab. Onnen sah ihm nach, bis die Ferne den Blick trübte. Mikosch und Alexei winkten ihm mit Hüten und Händen, Ruff sandte noch einmal über das Wasser einen langgezogenen Ton seiner gewaltigen Stimme, dann war alles vorbei.

Aber nicht für immer. Jeder der drei jungen Leute suchte und fand schon sehr bald Dienste in der Handelsmarine, Feiko und Onnen sogar auf einem und demselben Schiff. Die Nachricht, daß Napoleon von Elba entflohen sei und daß die Feindseligkeiten aufs neue beginnen würden, rief alle drei als Freiwillige zu den Waffen. Die Hanseatische Legion war allerdings aufgelöst, aber doch kämpften auch Hamburgs Söhne gegen den Erbfeind, und mit ihnen, an der Seite so manches alten Bekannten, unsere drei Freunde.

Hier, auf Frankreichs Boden, war es, wo Onnen ganz unerwartet den alten Zigeunerhauptmann wiedersah – abermals als Kundschafter.

Mikosch rauchte noch die kurze Stummelpfeife und blinzelte so schlau wie damals, als er im Dienste des Grafen Rostoptschin allerlei Verkleidungen trug und allerlei verborgene Geheimnisse aufspürte. Seinen jüngsten Sohn hatte er bei sich, Jasko verwaltete unterdessen die Schenke und verdiente hübsches Geld.

»Ich weiß«, sagte mit schlauem Blick der Zigeuner, »er hat jetzt selbst schon einen Ledergurt, er fängt an zurückzulegen, den Glücksrubel habe ich ihm geschenkt.«

Onnen schüttelte den Kopf, »Wenn doch deine Verhältnisse gesichert sind, Alter, weshalb bist du denn wieder in das fremde Land gezogen und erträgst jetzt alle Beschwerden des Krieges?«

Mikosch sah ihn an, er blinzelte listig. »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, Herr. Es ist der Ehre wegen – meinen Namen kennen Fürsten und Generäle!«

Onnen lachte unbändig, aber ohne den Zigeuner in seinen fragwürdigen Anschauungen zu stören. Das Wiedersehen zwischen den beiden war nur kurz; die Deutschen beendeten rasch den Krieg und Onnen erlebte es, die Erfüllung seines Traumes im Norderneyer Amtsgefängnis zu sehen.

Der unheilvolle Friedensstörer wurde auf das ferne Felseneiland gebracht, dessen enges Rund er nicht mehr verlassen sollte; für Deutschland war der Friede gesichert

Feiko und Onnen kehrten beide unversehrt aus dem Krieg zurück, während Georg auf Frankreichs Boden den Tod des Helden gestorben war. Unser Freund studierte die Steuermannskunst und führte auch mit der Zeit ein eigenes Schiff, lange vorher aber schrieb er nach Moskau und schickte der Frau Witwe Müller Geld, um mit ihren Kindern in die Heimat zurückzukommen. Was sie an jenem verhängnisvollen Abend für ihn getan hatten, das vergalt er mit Zinsen; Otto blieb in alle Zukunft sein treuester Freund und später auch der Genosse so mancher langen und abenteuerlichen Fahrt. Es ist beiden vergönnt gewesen, ein hohes und zufriedenes Alter zu erreichen; ihre Enkel haben in den Kriegsjahren von 1870-71 tapfer mitgefochten und sich der Väter würdig gezeigt. Onnens Name aber wird noch heute auf seiner Heimatinsel mit Ehren genannt.

Nachwort

»Wie eine Oase in der Wüste erschien ihm das Andenken der stillen deutschen Heimatinsel. Langgezogen fluteten dort die Wellen der Nordsee an den weißen Strand, ein ruhiger, ungestörter Friede lag auf der Umgebung. Da wurde nichts gestohlen, da betrog kein Nachbar den anderen; zwischen den niederen Fischerhütten hatte das Verbrechen keine Stätte.

Liebes altes Norderney! Ob er es jemals wiedersehen würde?«


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