Sophie Wörishöffer
Onnen Visser - Der Schmugglersohn von Norderney
Sophie Wörishöffer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14

In tiefer Totenstille lagen die Straßen. Leere Fenster zeigten, daß alle Häuser verlassen waren, daß Handel und Geschäft ruhten, daß man den Wert in jeder Gestalt beizeiten versteckt hatte. Wer Vermögen genug besaß, um in das Innere des weiten Reiches oder in ein fremdes Land zu entkommen, der hatte längst die Heimat verlassen; wer ein Geschäft führte, der schloß es, wer ein Amt verwaltete, der ging müßig, weil in der allgemeinen Verwirrung und Not auch die bürgerlichen Gesetze ihre Bedeutung mehr und mehr verloren.

Nur jene Armen, die durch den Mangel an Geld oder Freunden in der bedrohten Stadt zurückgehalten wurden, die ganz Hilflosen gingen mit bleichen Gesichtern umher. Zu verdienen gab es nichts mehr, fast alle Läden und Werkstätten waren geschlossen, kein Trödler kaufte die ärmlichen Einrichtungsstücke, keine milde Hand öffnete sich den Bedrängten. An den Straßenecken standen angsterfüllte Menschen in Gruppen beieinander; bleiche Lippen flüsterten und baten Gott um Trost, selbst der großstädtische Pöbel verhielt sich schweigend dem allgemeinen Unglück gegenüber. Mikosch hatte mit den seinen eine Herberge bezogen, Ruff lag im Stalle an der Kette, und sein Herr ging aus, um sich die Stadt anzusehen. Noch konnte ja jeder einzelne auf den Straßen frei umhergehen; die Gefahr erschien erst mit dem Einzüge des Feindes in die offene wehrlose Stadt.

Mikosch wußte offenbar in Moskau ebenso vollständig Bescheid, wie früher in Smolensk und auf den Dörfern. Er wandte sich zu einem der wenigen noch bewohnten Paläste an einer der Hauptstraßen und fragte nach dem Gebieter desselben, dem General Grafen Rostoptschin.

Anfänglich wurde ihm der Zutritt verweigert, dann aber, nachdem der Diener dem Grafen ein versiegeltes Blatt übergeben hatte, die nachgesuchte Audienz sofort bewilligt. Mikosch blieb über zwei Stunden lang bei dem Kommandanten von Moskau und der Erfolg dieser Unterredung schien für beide Teile ein sehr befriedigender. Der Zigeuner konnte noch am selbigen Abend bei dem Magazinverwalter der kaiserlichen Lebensmittelniederlage eine Karte vorzeigen, laut welcher ihm täglich geliefert werden mußte, was er für sich selbst und die Seinigen an Lebensmitteln notwendig brauchte.

Branntwein, Tee, Fleisch, Brot, Butter, alles wanderte in die Wohnung unserer Freunde, sehr zum Erstaunen der Deutschen, die nicht begriffen, für welche Dienstleistungen in der dem Hunger preisgegebenen Stadt solche Vorräte als Zahlung geliefert werden konnten. Nachdem ihnen aber der gutmütige Mikosch sogar auch einige blanke Rubel geschenkt hatte, da vermochte Onnen die Neugier nicht länger zu bezwingen.

»Was leistest du denn hier, Mikosch? Und wem? Wessen Brot ist es, das wir im Augenblick essen?«

Der Zigeuner hob zwei Finger empor. »Russisches Brot, Herr, ich schwöre es dir. Es ist bei der Sache von Spionage oder Überträgerei keine Rede.«

»Aber um welche Art von Dienstleistung handelt es sich denn?«

Der Alte lächelte. »In dieser Nacht wirst du etwas davon sehen, Herr – kannst auch selbst mit Hand anlegen, obwohl ich dich dazu gewiß nicht zwingen, ja nicht einmal ernstlich auffordern will. Geh jetzt und betrachte dir Moskau, amüsiere dich, solange es dazu noch Zeit ist.«

»Mehr willst du uns also nicht sagen, Mikosch?«

»Vorläufig nicht, Herr!«

Onnen schüttelte den Kopf. »Erratet ihr es ?« fragte er die andern.

»Wahrhaftig nicht. Aber Luiz sagte, daß der Vater an den General Rostoptschin empfohlen sei – er schien auf große Belohnungen zu hoffen.«

Feiko sah sehr ärgerlich aus. »Diese Nacht behalte ich die Augen offen«, nickte er. »Der Zigeuner ist ein guter Kerl, ich mag ihn gern, aber über die Ehre hat er so seine eigenen Ansichten. Wir müssen ihm auf die Finger sehen,«

Nach dieser Unterredung versorgten sich die drei mit großen Fleischbutterbroten und einer Anzahl Äpfel, dann begannen sie, den Proviant in den Taschen, ihre Wanderung nach dem Kreml, dem innersten, ältesten Teil der Stadt, dessen wundervolle Fürstenschlösser und Kirchen längst schon ihre Neugier erregt hatten. Einige wenige Wachtposten standen in den Straßen, öde und leer lagen die Paläste des Kreml, nur in den Kirchen herrschte ein reges Leben. Orgelklang tönte hervor, Prozessionen von Geistlichen bewegten sich durch die Gassen, tief verschleierte Frauen eilten in die Gotteshäuser.

So großartige Pracht, so verschwenderischen Luxus der Ausstattung hatten die drei nie gesehen. Fahnen und Symbole, Gemälde, wundervolle Bildhauer- und Goldschmiedearbeiten, alles blendete förmlich den Blick. Andächtig knieten die Beter, Weihrauch durchzog den heiligen Raum, leise erklang das Glockenspiel der Monstranz.

Weiter, immer weiter von einem Palast, einem Gotteshause zum ändern, bis die Sinne ermüdeten und nach Abwechslung verlangten. Da lag der Moskwafluß mit Kähnen und Fahrzeugen beladen; Wagen voll Waren oder Hausgerät wurden unaufhörlich an die Landungstreppen gebracht und in die Schiffe entleert – hier flüchtete man die Wiege mit dem Säugling, dort Zuckerhüte oder Weinfässer, an dritter Stelle Samt und Seide, Silber und Edelsteine in goldener Fassung. Müßige, frierende und hungernde Menschen standen dabei, aber es wurde nichts gestohlen, denn in ganz Moskau lebte kein Mensch, der sein Geld gebraucht hätte, um Waren zu kaufen.

Wer noch einige Rubel besaß, der nähte sie in seine Kleider, fest entschlossen, den Schatz mit dem Leben selbst zu verteidigen.

Unsere drei Freunde setzten sich auf die Stufen einer Kirchentreppe, um im spärlichen Sonnenschein erst einmal das mitgebrachte Vesperbrot zu verzehren. Sehr anständig war das allerdings nicht, aber man befand sich im fremden Lande und zudem knurrte der Magen. Nichts schärft das Verlangen nach Speise und Trank so sehr wie ein zielloses Umherwandern, bei dem der Geist fortwährend neue Nahrung in sich aufnimmt und alle Sinne zugleich beschäftigt. Die Fleischbutterbrote wurden in Angriff genommen, als sei diese Mahlzeit nach vierundzwanzigstündigem Fasten die erste.

»Sieh doch da drüben den Knaben«, flüsterte Onnen, »gewiß hungert ihn sehr. Er beobachtet uns unausgesetzt, auch in diesem Augenblick.«

An den Stufen eines Denkmals lehnte ein schlanker Knabe von etwa fünfzehn Jahren. Er war ärmlich, aber sauber gekleidet und schien sehr blaß, die großen blauen Augen lagen tief in den Höhlen, die ganze Gestalt schauerte unter den Stößen des kalten Ostwindes. Georg Wessel hob ein Stück Brot empor und zeigte es dem Unbekannten. »Komm her, Freund, du kannst mitessen!«

Der Knabe schrak auf. Er schien sich hastig abwenden und davonlaufen zu wollen, dann aber zögerte er, blieb stehen und kam endlich näher, offenbar unwiderstehlich angezogen von der Aussicht auf das ihm gebotene Stück Brot. Heiße Gluten überströmten sein blasses Gesicht, als er sich den Treppenstufen und damit den drei jungen Leuten näherte.

»Wie hübsch er ist!« flüsterte Onnen.

Der Fremde sah plötzlich auf. »O!« rief er, »Sie sind Deutsche?«

»Gewiß. Und du auch, armer Schelm?«

»Still!« flüsterte der Fremde, »still! Die Deutschen sind hier im Augenblick sehr schlecht angeschrieben, das wissen Sie doch?«

Feiko Hansen machte ihm neben sich Platz auf den Steinstufen. »Iß erst einmal, mein Junge«, sagte er gutmütig. »Da hast du Brot und Fleisch und zwei Äpfel. So, wenn jetzt jemand kommt, dem unsere liebe deutsche Sprache nicht behagt, dann geben wir ihm deutsche Ohrfeigen, nicht wahr, ihr andern?«

Sie lachten und Onnen wollte eben den Fremden mit sanftem Zwange auf die Steinstufen herabziehen, als dieser leise den Kopf schüttelte und die erhaltenen Lebensmittel unter neuem glühenden Erröten in die Tasche steckte. »Ich nehme das nicht für mich«, sagte er stammelnd, »gewiß nicht – aber da ist meine arme alte Mutter und das kleine Schwesterchen!«,

Er kämpfte sichtlich mit den hervorbrechenden Tränen. »Sie haben schon seit gestern nichts mehr gegessen«, setzte er kaum verständlich hinzu.

»Dann laufe! Laufe!«

Und alle drei beluden ihn sogleich mit ihren noch übrigen Vorräten. »Wohnst du weit von hier?« rief Onnen.

»Nur zehn Minuten, Herr!«

»Dann komm zu uns zurück. Willst du das?«

»Gewiß! Gewiß! – O, ich danke Ihnen tausendmal!«

Er stürmte fort, als trügen ihn Flügel. In wenigen Augenblicken hatten die Zurückgebliebenen seine schlanke Gestalt aus den Augen verloren.

»Wenn er dankbar und ehrlich ist, dann wird er wiederkommen, nicht wahr, Feiko?«

»Ja – wenn, Vetterchen. Aber man darf in dieser Beziehung nicht zuviel erwarten.«

»Ich glaube es – er hatte ein so gutes Auge.«

Sie tranken noch verstohlen, einer hinter dem Rücken des anderen, den Schluck Branntwein, welchen ihnen Mikosch aufgeschwatzt hatte, und gingen dann die Straße hinab, dem Fremden entgegen. Er kam schon vollen Laufes daher, sein Gesicht glänzte vor Vergnügen.

»Ach, wie sich die kleine Marie über die Äpfel freute!« rief er, »wie sie hineinbiß!«

»Wie alt ist dein Schwesterchen?« lächelte Onnen.

»Sechs Jahre, Herr! Ach, es ergeht der Mutter so traurig; sie ist Witwe und ernährt sich als Wäscherin; aber seit alle Deutschen verschickt wurden, fehlt es ihr an Arbeit. In Moskau sind nur wenige Damen zurückgeblieben und diese geben einer Deutschen nichts zu verdienen – auch das Kontor, wo ich arbeitete, ist geschlossen.«

»Wie heißt du denn?« fragte Onnen.

»Otto Müller. Vater war Steuermann; er ist auf hoher See gestorben und ließ uns ohne alle Mittel zurück.«

»Ich sage das«, fügte er bei, »um Ihnen zu beweisen, daß ich kein Bettler bin. Alles wollte ich arbeiten, alles übernehmen, wenn es mir nur möglich wäre, auf ehrliche Weise Geld zu verdienen!«

»Heute kannst du unser Führer werden«, lächelte Feiko. »Wir möchten Moskau ein wenig genauer kennenlernen und werden dir natürlich deine Mühe bezahlen.«

»O«, rief Otto, »das haben Sie ja schon getan! Ich zeige Ihnen alles, was Sie zu sehen wünschen.«

Und so wanderten denn die vier wieder von einem bemerkenswerten Punkte zum anderen, gegenseitig fragend und erzählend, so daß sie schon die besten Freunde geworden waren, als endlich gegen Abend die Ermüdung zum Umkehren zwang.

»Wo wohnst du?« fragte Onnen den Führer.

»In der Kreuzgasse.«

»Wir auch. Das trifft sich ja gut«

Als sie dann vor dem hohen alten Torweg der Herberge standen, da brauchte doch kein Abschied stattzufinden. In den unteren Räumen wohnten die Gäste des Wirtes, in einer bescheidenen Kammer, die auf den Hof hinausging, eine Treppe hoch die Witwe Müller mit ihren beiden Kindern. Nun entsann sich Otto auch des Bären, den er beim Einzuge gesehen hatte; Mikosch gab gutmütig den Schlüssel zum Stalle und Ruff mußte seine Kunstfertigkeit den neuen Freunden zeigen – selbst Mariechen, so sehr sie sich auch anfangs fürchtete, wurde doch zuletzt vertraulich und legte das rosige Händchen getrost in die furchtbare Tatze des braunen Riesen. Onnen hatte schon von dem Zigeuner das Versprechen erhalten, täglich einige Lebensmittel den armen Leuten hinaufbringen zu dürfen, er begrüßte auch die Witwe in ihrem eigenen Zimmer und verließ die liebenswürdige Familie erst dann, als der Abend in Nacht überging. Mikosch sprach ja heute früh von einer Arbeit, die vor dem anderen Tage beschafft werden sollte!

»Nimm mich mit!« bat Onnen. »Wohin gehst du?«

»In mehr als nur ein Haus, Herr. Aber schlafe vorläufig erst einige Stunden – ich wecke dich und deine Genossen zur rechten Zeit.«

Er selbst legte sich auf das Stroh und schloß die Augen; es blieb also nur übrig, seinem Beispiel zu folgen, obwohl doch der Schlaf nicht kommen wollte. Sobald nur einer der Männer etwas lauter als gewöhnlich atmete, sobald ein Mäuschen durch das Zimmer lief, fuhr Onnen auf und sah umher. Wann endlich würde er Näheres erfahren?

Die Uhr schlug drei, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Ein trübes Flämmchen erhellte notdürftig das Zimmer, die vier Zigeuner standen, zum Ausgehen gerüstet, am Tisch, auf dem einige Lebensmittel lagen, und jetzt weckte Mikosch auch die Deutschen.

»Kommt, Kinder, aber versprecht mir, über die ganze Angelegenheit gegen jedermann zu schweigen. Ich habe in dieser Beziehung meinen Eid geleistet!«

»Und es betrifft keine Spionage, Mikosch?«

»Nein. Auf mein Wort, nein.«

Sie folgten alle den vorausschreitenden Zigeunern, und nun wurde ihnen klar, um welche Arbeit es sich handelte. Mikosch besaß einen Hauptschlüssel, der schon in der nächsten Straße eine große braune Tür öffnete; zwei Feuerspritzen standen in dem inneren Räume, Schläuche hingen an den Wänden, Ledereimer, lange Seile und Leitern. Alles das packten schnelle Finger zusammen, vier Männer spannten sich vor die Räder und geräuschlos wie Diebe entführten sie die Rettungsgeräte auf die dunkle ungepflasterte Straße hinaus.

Feiko legte die Hand auf des Zigeuners Schulter. »Soll Moskau in Flammen aufgehen, Alter?«

Mikosch zuckte die Achseln. »Der Ingrimm aller guten russischen Vaterlandsfreunde gegen die Franzosen ist sehr groß, Herr. Kennst du übrigens das beliebteste hierzulande gebräuchliche Sprichwort? Es heißt: ›Wenn's uns nicht gehören kann, dann keinem!«

»In diesem Falle finde ich es begreiflich. Von Riga bis Moskau hinterläßt der Verächter alles Rechtes und alles menschlichen Fühlens eine einzige Flammen- und Blutspur, er, der schon in Deutschland brave Männer ermordete, nur weil sie einige Pfunde Kaffee eingeschmuggelt hatten!«

»Still! Still!« warnte der Zigeuner. »Man braucht vertraute Leute zur Ausführung solcher Aufträge, aber man liebt es nicht, daß sie viel flüstern. Dort der Mann in blauer Bluse ist ein hochgestellter Offizier, er überwacht die Sache.«

Das Spritzenhaus wurde sorgfältig wieder geschlossen; ohne Licht oder Pferde, vollkommen geräuschlos, fuhren unsere Freunde die Spritze mit den Rettungsgeräten hinaus in die Nacht. Schon sehr bald begegneten ihnen andere ähnliche Züge; in jeder Straße rollten die Räder, überall zogen schweigende Gestalten die Wagen mit den Löschvorrichtungen hinter sich her, während Invaliden von Witebsk und Smolensk als Bewaffnete die Arbeiter geleiteten und hie und da ein Blusenmann aus dem Dunkel auftauchte, um zu zählen und zu notieren.

Neunundachtzig Feuerspritzen wurden während dieser Nacht von vertrauten Leuten aus Moskau entführt.

Vor dem der Straße nach Smolensk entgegengesetzten Tore trafen alle Verschworenen zusammen. Hier wartete eine Anzahl Pferde; die bisher von Menschen vollbrachte Arbeit wurde von diesen übernommen und fort ging es, zur Stadt hinaus. Etwa eine Meile weiter fanden sämtliche Löschgerätschaften in einem Walde ein sicheres, den Franzosen vorläufig gut verborgenes Asyl.

Einer der Blusenmänner hielt eine kurze Anrede. »Ich danke euch, Kinder«, sagte er, »das Vaterland dankt euch! – Die Feuerspritzen sind entfernt worden, ohne durch diese Maßregel einen Auflauf zu erregen oder die Bürger unnötig zu erschrecken. Moskau soll lieber in Feuer aufgehen als den Feinden zur Zufluchtsstätte, zum Winterquartier dienen. Der Anfang dazu ist gemacht«

Mikosch drängte sich an Onnens Seite. »Das ist der General, Graf Rostoptschin!« raunte er.

»Und in seinem Auftrage soll –«

»Still! Man muß nie laut denken.«

Der Rückweg zur Stadt wurde angetreten. Schweigend, in tiefem Dunkel zog die ganze große Schar des Weges, Zigeuner, Invaliden, langbärtige Juden, Offiziere und sogar entlassene Verbrecher, denen im Angesichte des Feindes die Freiheit geschenkt worden war, die aber dafür dem Vaterlande gewisse Dienste leisten mußten und auch wirklich mit der größten Opferwilligkeit leisteten.

Am Tore harrte eine angstvoll blickende Menge. Hie und da hatten unberufene Blicke einiges erspäht, anderes erraten, hie und da war ein Flüstern entstanden. »Sie kommen!« ging es von Mund zu Mund, »sie kommen!«

Einige Weiber schluchzten, andere warfen sich den Offizieren zu Füßen. »Ist es denn wahr, was die Leute sagen, daß morgen der Feind einzieht? Und sollen wir alle elendig verbrennen?«

»Seid ruhig!« gebot mit starker Stimme der General. »Geht nach Hause, ihr guten Leute, schickt euch in die schwere Zeit und seid ganz sicher, daß alles nur Mögliche zu eurem Besten geschehen wird. Gott und der Zar wachen über euch!«

»Aber es heißt, daß Graf Rostoptschin abreisen wird! Dann ist die Stadt ohne Schutz.«

Niemand kannte den verkleideten General, aber die Macht seiner Rede beruhigte das Volk. »Geht nach Hause, Kinder«, gebot er, »geht und fragt nicht nach Dingen, die bis jetzt unentschieden sind. Wenn der General mit den letzten noch vorhandenen Truppen Moskau verläßt, so weicht er der Notwendigkeit – und gegen diese läßt sich nicht streiten.«

Die armen Leute verstummten, aber sie waren nicht getröstet; ein düsterer Groll, eine Art von Verzweiflung hatte die Herzen erfaßt. Viele, viele wurden in diesen Stunden äußerster Angst und Unruhe zu Selbstmördern, viele verfielen in Irrsinn.

Auch unsere Freunde waren tief erschüttert. Sie gedachten des Tages, wo die Franzosen auf Norderney ihren Einzug hielten, wo die Besitztümer der Einwohner verbrannt und geraubt, ihre Häuser durchspäht und sie selbst geknechtet wurden – des letzten schrecklichen Tages, wo man alle jungen Leute aus den Betten riß und sie gewaltsam entführte, dem Kriege, dem sicheren Tode entgegen. Sie schliefen nur wenig, ihre Seelen waren zu sehr erregt; am frühen Morgen begann dann eine neue Arbeit, die unter dem Schütze bewaffneter Soldaten ausgeführt wurde und durch ihre Gewaltsamkeit unter dem großen Haufen eine immer stärkere, wachsende Erbitterung hervorrief.

Lange Züge von Wagen aller Art brachten an das Ufer des Moskwaflusses die in der ganzen Stadt befindlichen Fässer mit Spiritus und Branntwein. Haufen um Haufen stapelte sich, ein berauschender Duft durchzog die Umgebung, flehend erhoben halb verhungerte, frierende Menschen ihre Hände.

»Soll das alles verschickt werden? Gebt uns ein paar Tropfen, nur wenig, ganz wenig, es ist so bitter kalt und wir haben nichts zu essen!«

Immer dichter wurde der Knäuel, immer ungestümer das Drängen. »Was wollt ihr denn mit dem Branntwein? Es liegen ja keine Schiffe hier.«

»Vielleicht soll die Gottesgabe in das Wasser gegossen werden!«

Ein Geheul der Wut erhob sich ringsumher. »Tausende erfrieren fast, und doch will man den Branntwein verschütten!«

»Da kommen wieder neue Wagenladungen voll! Eins, zwei, sechs – zehn große Stückfässer!«

»Nehmt sie! Nehmt sie!«

Aber die Soldaten versperrten den von Mangel und Furcht halb sinnlosen Leuten energisch den Weg. Die Fässer wurden abgeladen und jetzt begannen einige fünfzig Männer, darunter Mikosch mit den Seinen, die Arbeit. Graf Rostoptschin hatte für dieselbe die zuverlässigsten, nüchternsten Personen ausgesucht – alle geistigen Getränke, aller Spiritus sollte in das Wasser gestürzt werden.

Die drei Deutschen arbeiteten freiwillig mit. Als das erste Faß, des Bodens beraubt, fiel, übertönte ein Schrei der Wut das Geräusch, welches die Hammerschläge verursachten.

»Man bestiehlt uns! Man bestiehlt uns!«

»Es sind Deutsche dabei, ich selbst habe es gehört! Schlagt sie tot, die Hunde, unsere Erzfeinde, schlagt sie tot!«

»Nein, nein, laßt uns lieber Boote herbeischaffen, weiter flußabwärts liegen mehrere.«

»Hurra, das ist wahr! Das ist wahr!«

Der ganze Haufen stürmte fort, nur von einem Gedanken beseelt, den an den erwärmenden, sehnlich herbeigewünschten Branntwein. Einige wenige blieben zurück, außerstande, sich von dem Anblick der Fässer zu trennen, außerstande, den immer mehr um sich greifenden Duft des starken Getränkes wieder aufzugeben, sie scharten sich um den durch Soldaten abgesperrten Raum und bildeten so den Kern einer immer mehr anwachsenden unzufriedenen Menge, die über alles klagte und eiferte, ja sogar mit einer Volksbewaffnung drohte und denen Rache schwor, welche die Stadt an die Franzosen ausliefern wollten.

Ununterbrochen strömten Spiritus und Rum, alle möglichen feinen Liköre, Branntwein und Kognak in das Wasser hinab. Es rauschte und flutete, Wellen von Schaum schlugen gegen die Ufer – da erschienen unter dem Hurra der Menge mehrere Boote, deren Insassen mit Töpfen und Kannen, ja selbst mit ihren Hüten und Stiefeln das starke Getränk ausschaufelten und gierig verschlangen. Jedes Fahrzeug war bis auf den letzten Platz gefüllt, es lag fast ganz im Wasser und zeigte kaum zwei oder drei Zoll Bordhöhe; auf jedem schlugen sich die betörten Menschen um das erbeutete Naß, mochte dieses auch ein scheußliches Gemisch sein, bei dem das völlig schlammige Flußwasser allein hinreichen konnte, einem anständigen Menschen den Appetit gründlich zu verderben.

Bis zur Stelle, an der die Fässer ausgeleert wurden, rückten kecklich die Boote vor; man wollte achtgeben, um den Nektar unverfälscht aufzufangen.

»Spiritus!« rief ein robuster Kerl,; »das ist von Jermolow und Sohn, ich habe selbst die Fässer gebrannt – laßt laufen!«

Das Fahrzeug schaukelte in die Spritwellen; noch andere Massen folgten nach, dann kam ein starker Kognak an die Reihe.

»Aufgepaßt!« schrie der Speicherarbeiter. »Das ist etwas Feines!«

»Schaukelt doch nicht so! Alle Teufel, Peter Askewitsch, willst du wohl endlich stillsitzen!«

»Hast du mir Befehle zu geben?«

»Das will ich dir zeigen!«

Und vier Fäuste wirbelten um die Wette. Rechts und links schlug die Flut in das Boot hinein, jemand wollte Frieden stiften und nun kehrte sich wie gewöhnlich der beiderseitige Groll gegen ihn. Alle Hiebe und Stöße fielen auf seinen Kopf, seine Schultern – schon nach Minuten lag er unter den Füßen der übrigen.

In diesem Augenblick wurde das Faß mit Kognak ausgeschüttet; die braunen Wogen spritzten um: das Boot – alles trank, trank wie unsinnig, wie von seinem guten Geiste verlassen.

Noch ein Faß, zwei, drei, noch mehr Boote mit durstigen, verblendeten Menschen. Die entsetzliche Feier hatte ihren Höhepunkt erreicht; Kannen und Flaschen wurden den am Ufer Stehenden zugeworfen, ein Durcheinander von Stimmen erfüllte die Luft, man raufte und schrie, man begehrte mehr, .immer mehr –

Da nahten von der entgegengesetzten Seite her zwei Boote mit Soldaten. Kommandoworte erschallten; ein Offizier befahl mit lauter Stimme den Leuten, sich sogleich zurückzuziehen. »Fort, oder ich lasse Feuer geben!«

Die zur äußersten Leidenschaftlichkeit Aufgestachelten antworteten mit einem Hohngelächter. »Den Franzosen entgegenzutreten seid ihr nicht tapfer genug, ihr unnützen Brotfresser; von Witebsk nach Moskau habt ihr euch jagen lassen wie die Hasen, aber auf friedliche Bürger könnt ihr schießen, nicht wahr?«

»Bohrt die Wahnwitzigen in den Grund!« rief der Offizier. »Vertreibt sie!«

Die beiden großen Boote begannen die Jagd. Mit den Kolben wurden jene anderen Fahrzeuge vorwärtsgestoßen, mit Rudern und langen Stangen. Nach wenigen Augenblicken wäre der Platz gesäubert gewesen, das erkannten ebensowohl die in den Kähnen als die auf dem Lande Befindlichen; ein allgemeiner Wutschrei, betäubend und gellend, brach los.

Aus einer Wärterbude hart am Ufer näherte sich laufend ein altes Weib in Lumpen; das rote Gesicht und die triefenden Augen zeigten deutlich jene Verhängnisvolle Leidenschaft für den Branntwein, das eisgraue Haar flatterte im Wind, die dürren braunen Hände hielten einen Rost, auf dem flammende Späne lagen.

»Da!« rief die Megäre, »wollt ihr uns den Branntwein nicht geben, so soll auch kein anderer Mensch ihn haben!«

Während sie sprach, schleuderten ihre hexenartigen Krallen das brennende Holz in die Tiefe hinab. Die Flammen faßten den Spiritus, eine ungeheure Lohe schlug empor – der Fluß trieb glühende, knisternde Wellen.

Ein Schrei des Entsetzens scholl von den Booten. Die Soldaten retteten sich, obwohl versengt und mit blutenden Händen, in freies Fahrwasser, die Insassen der anderen Fahrzeuge dagegen schienen offenbar verloren. Durch die lodernden Flammen schoß Kahn nach Kahn – einer landete, die drei anderen, von Gluten umhüllt, selbst brennend in dem brennenden Flusse, schwanden den Blicken der Zurückgebliebenen. Nur ein Plätschern und Ringen, eine jähe heftige Bewegung der Wellen zeigte die Stelle, wo sie versanken.

Eine längere Pause folgte dem entsetzlichen Vorgange. Bis alles verglüht war, konnte kein Faß mehr entleert werden; stumm sahen alle die Teilnehmer der traurigen Katastrophe in das erlöschende Feuer hinab, stumm zerstreute sich der Pöbelhaufen am Ufer, als Soldaten anrückten und mit gefälltem Bajonett den Platz säuberten.

Die erbitterten Menschen wichen der Gewalt, aber sie ballten die Fäuste in den Taschen; eine dumpfe, drohende Stimmung beherrschte die ganze Stadt.

Mikosch und die Seinigen erhielten Verstärkung; Boote mit bewaffneter Mannschaft besetzten den Fluß, der Platz wurde im weiten Umkreise abgesperrt und vor Abend war der letzte Tropfen Spiritus oder Rum flußabwärts auf meilenweitem Wege dem Ozean entgegengeführt, vernichtet und zerstört.

Onnen saß wie gewöhnlich bei seinem neuen Freunde, mit dem er jede Mahlzeit teilte. Draußen fegte ein kalter Wind, der Staub schlug gegen die Scheiben; von der benachbarten Nikolosamskajaschen Kirche tönten die Glocken im harmonischen Zusammenspiel feierlich und ernst durch den dunklen Abend. Frau Müller rang heimlich weinend die Hände. »Gott sei uns gnädig«, seufzte sie, »in diesem Augenblick verläßt General Rostoptschin mit den letzten noch gebliebenen Soldaten die Stadt. Jetzt sind die Wachen unbesetzt – der Pöbel regiert.«

»Dann kommen also jedenfalls morgen die Franzosen!«

»Es heißt so. Ach, meine armen Kinder, was wird aus euch!«

Die unglückliche Mutter weinte heftig. Hinter der Mauer, welche den ganzen Hof begrenzte, lag die offene Landstraße und auf dieser sah man Fuhrwerk nach Fuhrwerk davoneilen. Arme Leute gingen zu Fuß, ganze Scharen zogen vorbei, alles, was nur irgend loskommen konnte, flüchtete aus der Stadt ohne Militär oder Behörden; in ganz Moskau gab es an diesem Abend vor dem Einzuge der Franzosen alles in allem keine zehntausend lebenden Seelen.

Immerfort erklang das Glockenspiel der Kirche. Es war, als riefen die Töne, als lockten sie; Onnen konnte nicht länger widerstehen. »Laß uns hingehen, Otto«, bat er.

Auch Feiko und Georg standen schon im Flur. Die ganze kleine Gesellschaft begab sich zur Nikolosamskajaschen Kirche, an deren Vorhalle die Truppen in langsamem Schritt vorüberdefilierten.

Das weite, von Säulen getragene Portal war hell erleuchtet und in der Mitte desselben ein Altar hergerichtet. Von Blumen, Fahnen und zwölf brennenden Wachskerzen umgeben, stand auf letzterem das Bild des heiligen Nikolai und ihm zur Seite eine Gruppe von Priestern im vollen, fürstlich reichen Ornate. Einer derselben hielt das Altarkreuz, der andere den Weihkessel, während zwischen beiden ein Greis von fast achtzig Lebensjahren, der Metropolit Platonow, den Truppen seinen Segen spendete.

Er besprengte die einzelnen Züge mit Weihwasser, er betete laut zum Himmel für die Errettung Rußlands aus Not und Gefahr. In den Augen ernster, kriegserprobter Männer blitzten Tränen, Offiziere und Soldaten beugten schluchzend ihre Stirnen unter die segnende Hand des Greises.

Ringsumher irrten verzweifelnde Menschen. Frauen warfen sich den Offizieren zu Füßen und flehten sie an, die Ihrigen mitzunehmen, sie vor dem drohenden Feinde zu beschützen, Mütter wollten mit Gewalt ihre kleinen Kinder den Soldaten in die Arme legen.

»Seht doch die Unschuldigen, ihr Männer, erbarmt euch ihrer! Seid ihr denn nicht selbst Väter? Seid ihr keine Menschen mehr? Schützt die armen Kleinen vor der Wut der Mörder!«

»Wohin sollen wir gehen?« jammerten andere. »Welche Straßen sind noch frei? – O mein Gott, mein Gott, ich rufe dich, aber du bleibst taub!«

»Mit den Soldaten!« schrie jemand, »mit den Soldaten! Sie sind Russen und müssen für ihre Landsleute kämpfen.«

»Ja, ja, mit den Soldaten!«

Und der Strom wälzte sich fort in der Richtung des abziehenden Militärs. Ohne Hut oder Mantel, den Einwirkungen des Schreckens blindlings folgend, liefen die Unglücklichen überlegungslos in die Nacht hinaus, gleichviel, wohin sie gelangen würden, gleichviel was ihrer harrte, nur beseelt von dem einen Wunsche, den grausamen, erbarmungslosen Feinden zu entrinnen.

Ganze Familien hatten auf die Nachricht von dem Abzuge des Militärs hin ihre Wohnungen verlassen, so daß sich nun die einzelnen Glieder getrennt sahen und einander in dem drängenden Treiben der Straßen nicht mehr wiederfinden konnten.

Kinder suchten ihre Eltern, hier eine Frau den Mann, dort ein Greis den Enkel, der ihn führen sollte; herzzerreißendes Jammern tönte überall, Ohnmächtige lagen auf den Treppenstufen der Häuser, Kranke und Sterbende beteten um Erlösung, Wahnsinnige schrien gellend und voll Todesangst in die Finsternis hinein.

Ein Weib mit aufgelöstem Haar irrte zitternd umher. Ihr Gesicht war totenblaß, ihre Augen blickten wild und drohend; sie folgte einem nur in ihrer gestörten Phantasie bestehenden Zuge, sie sah Dinge, die sich niemals zugetragen hatten.

»Da kommt der Napoleon, der Mörder, der Erzfeind! Heisa, jetzt erschlägst du keine unglücklichen Menschen mehr, Tyrann ohne Herz und Gewissen – aus dem Jäger wurde das Wild, das gehetzte!«

Sie lachte schauerlich. »Alle Furien sind ihm auf den Fersen, in ihren Händen ringeln sich Schlangen! – Ha, ha, ha, er läuft, sie setzen ihm nach bis an den Abgrund! Spring hinein, du Verfluchter! Spring hinein! – Meinen Mann und meine beiden Söhne hast du umgebracht – jetzt schlägt die Stunde der Vergeltung!«

Sie stürzte vorwärts und andere folgten ihr nach. Ein Getümmel und ein Gewoge bedeckte alle Straßen; solange die Soldaten zu sehen waren, umtobte eine schreiende, wild durcheinanderstürmende Masse jeden ihrer Schritte.

Dann aber folgte Totenstille. So ohne Schutz, ohne Licht oder die Nähe anderer fühlten die erschreckten Menschen draußen in der schneidenden Kälte ihre Verlassenheit noch stärker als am wärmenden Feuer des eigenen Herdes; sie flüchteten in die eben erst aufgegebenen Häuser zurück und begannen dieselben zu verrammeln, als könne eine Barrikade aus Möbeln und Geräten dem Feinde den Einzug verwehren. Als die Deutschen in das Quartier zurückkamen, sahen sie sämtliche Zigeuner ruhig schlafen, doch fiel es ihnen auf, daß sich keiner entkleidet hatte. »Was kann Mikosch beabsichtigen?« dachte Onnen. »Er will ohne Zweifel noch in dieser Nacht ausgehen!«

Die beiden anderen zuckten, als er sie fragte, die Achseln. »Laß ihn laufen, wohin er mag! Wir sind todmüde.«

Sie streckten sich auf das Lager und schliefen sofort ein; Onnen dagegen wachte und beobachtete heimlich; er konnte kein Auge schließen, so gern er auch wollte.

Gegen ein Uhr nachts regte sich Mikosch und tastete nach der Hand seines neben ihm schlummernden ältesten Sohnes.

»Jasko!«

»Ja, ja – ich komme schon.«

»Laß die Fremden nichts merken, mein Junge. Solch ein jugendliches Gewissen ist oft überzart – sie könnten uns hinderlich werden.«

»Das dachte ich selbst, Vater.«

Auch Luiz und Alexei wurden geweckt, dann stahlen sich alle geräuschlos davon, so leise, daß weder Feiko noch Georg erwachten.

Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sprang Onnen vom Lager auf; sein Herz klopfte schneller, sein Atem flog. Ob die Zigeuner auf- und davongingen, heimlich, um sich ihrer Gäste bei guter Gelegenheit zu entledigen?

Aber nein, es war undankbar, gegen den gutmütigen Mikosch einen solchen Verdacht in sich auf kommen zu lassen.

Und doch konnte Onnen nicht mehr schlafen; er versuchte umsonst, die beiden anderen zu erwecken, sie antworteten mit einigem Murmeln und schliefen sofort wieder ein.

Onnen lief ungeduldig die Treppe hinauf; er rüttelte ganz leise an der Tür der Witwe Müller. »Otto!«

Sein Freund antwortete ihm zwar nicht, aber er erschien persönlich. »Was gibt es, Onnen? – Die Zigeuner sind alle im Hofe beschäftigt.«

»Das hast du gehört, Otto?«

»Gehört und gesehen! Sie hantieren noch bei dem Bären herum.«

»Willst du mich begleiten?« raunte Onnen. »Ich möchte sehen, wohin sich Mikosch begibt.«

»Gleich!«

Nach kaum zwei Minuten erschien er auf dem Flur und beide schlichen hinunter in den Torweg, wo sie sich auf die Lauer legten. »Otto«, flüsterte Onnen, »kannst du dich ohne Licht in Moskau zurechtfinden?«

»Vollständig. Ich bin seit sechs Jahren hier.«

»Dann geh mit mir, ich bitte dich.«

»Das brauchst du nicht erst. An dem Tage, als deine Hand mir das Brot und die Äpfel gab, da – «

»Ach, sprich doch nicht davon!«

»Ich muß es, Onnen. Meine Mutter und das kleine Mariechen hungerten; du hast sie gerettet und dadurch bleibe ich, solange ich lebe, dein Schuldner.«

»Mein Freund willst du sagen, Otto! – Aber still, sie kommen!«

Die beiden drückten sich in das Dunkel des Treppenaufganges und kamen erst wieder zum Vorschein, als die Zigeuner vorübergegangen waren. »Was trugen die Leute?« raunte Otto. »Sie waren alle vier schwer beladen.«

»Gott weiß es. Aber Ruff war nicht dabei und den würde Mikosch um keinen Preis im Stiche lassen; sie kommen jedenfalls hierher zurück.«

»Laß uns ihnen einstweilen folgen«, riet Otto. »Komm, du kannst dich überzeugen, wohin sie gehen und was sie betreiben.«

Onnen nickte. »Immer zu«, sagte er. »Ja, ja, das ist das beste.«

Sie schlichen den Männern nach und sahen dieselben in eine Seitenstraße einbiegen. Man näherte sich dem reicheren, eleganteren Viertel; Kirchen und stolze Paläste lagen in erhabener Ruhe da, hohe Eisengitter trennten die Häuser von der Straße, Türen und Erker in morgenländischer Pracht ragten zum Himmel empor.

Die Zigeuner hielten inne, sie trennten sich und schlichen einzeln in die Türen der dunklen Gebäude, offenbar mit Hauptschlüsseln versehen, welche alle Pforten und Tore öffneten; ihr Aufenthalt dauerte immer nur kurze Zeit, dann kamen sie wieder zum Vorschein und eilten weiter. Mikosch ging in die offene Vorhalle einer Kirche, er machte sich im Hintergrunde derselben zu schaffen und trat dann hinaus auf die Straße, indem er das Gitter offen ließ. Wo die Männer gewesen waren, da blieben hinter ihnen alle Zugänge geöffnet.

»Laß uns nachsehen«, flüsterte Onnen. »Das begreife doch ein anderer!«

Sie schlugen mit Stahl und Stein einen Funken, den der bereitgehaltene Zunder auffing, und setzten dann eine kleine Blechlaterne in Brand. Das Gitter wurde geöffnet; uralte steinerne Heilige, Männer und Frauen, standen an den Wänden, eine Sammelbüchse aus Eisen befand sich in der Mitte, rechts und links führten hohe, dunkle Gänge in das Innere der Kirche.

»Sieh da!« flüsterte Otto, »ich dachte es mir!«

Hinter einem Heiligenbilde, bedeckt von Spänen und Lumpen lag ein Haufen leicht entzündbarer Stoffe; Schwefel, Teer und Pech, alles mit Spiritus getränkt. Weiterhin waren die Eichentäfelungen dick mit Teer überstrichen; es bedurfte nur eines Funkens, um das Ganze in Brand zu setzen.

Im Innern der Kirche lagen an mehreren Stellen dieselben Anhäufungen von Zündstoffen – Onnen sah bei dem schwachen Schein der Laterne die wundervolle Bilderpracht ringsumher, den Samt und das Gold der Stickereien; er schauderte.

»Soll das alles verbrennen, alles in Asche zerfallen? – Wie schrecklich!«

Otto schüttelte den Kopf, seine jungen Augen blitzten. »Mag ganz Moskau in Flammen aufgehen«, rief er, »wenn nur der Feind unter den Trümmern erschlagen wird!«

Onnen hob die Laterne. Kristall und Gold glänzten von der Wölbung herab, üppige, wundervolle Schönheit blendete das Auge, wohin es sah. Ein Kreuz aus Elfenbein mit dem dornengekrönten Heiland schmückte den Altar – wie anklagend, unsäglich traurig blickte das Auge des Gottessohnes zum Himmel empor. Ein Lichtstreifen fiel gerade auf das Bild und unten am Boden auf die Zündmassen, welche es vernichten sollten. –

»Komm fort«, sagte flüsternd unser Freund. »Das ist schrecklich.«

Draußen war jetzt von den Zigeunern nichts mehr zu entdecken; die beiden jungen Leute gingen noch in einige leerstehende Paläste, wo sie die gleichen Vorbereitungen zu einer allgemeinen Feuersbrunst wieder antrafen, dann wollte Onnen nach Hause zurückkehren, als Otto auf ein hohes altes Gebäude zeigte und leise flüsternd sagte: »Da wohnt mein Brotherr, ein unermeßlich reicher Kaufmann, in dessen Kontor ich arbeitete. Er will die Stadt nicht verlassen!«

Onnen schüttelte den Kopf. »Das Haus ist leer, ich wollte darauf wetten – und da kommt Luiz zum Vorschein, er hat Brandstoffe hineingetragen.«

Der Zigeuner verschwand und die beiden jungen Leute näherten sich der offenen, im Winde klappernden Tür. »Wenn ich wüßte, daß niemand zugegen ist, so würde ich hinaufgehen in den Gesellschaftssaal«, raunte Otto. »Dort steht eine große Spieluhr; ich habe sie einmal angehört!«

»Wir können es ja versuchen«, antwortete Onnen. »Begegnet uns jemand, so fragen wir nach dem Besitzer und helfen uns irgendwie durch. Aber das Haus ist leer, glaube mir's, sonst würden doch die Fenster verhüllt und die Tür geschlossen sein.«

Sie betraten das Parterre – auf allen Stufen der mit kostbaren Teppichen belegten Treppen fanden sich Teer und Hobelspäne. Im ersten Stock standen sämtliche Türen weit offen, verschiedene Gegenstände lagen am Boden, alles machte den Eindruck, als sei das Haus von den Bewohnern erst kürzlich und in fliegender Hast verlassen worden.

Onnens Laterne beleuchtete den Gesellschaftssaal mit seinen grau und violetten Samtmöbeln, seinen Kronleuchtern und Wandgemälden – auch hier hatten emsige Hände der Zerstörung vorgearbeitet. Unter den reichen Falten der Vorhänge und Portieren, unter Schränken und Tischen lagen die Späne, ja sogar im Gehäuse der Spieluhr.

Otto riß Werg und teergetränkte Lumpen mit schnellem Griff heraus. »O, das ist schändlich, du solltest nur die wundervollen Töne hören! Ob ich sie aufziehe, Onnen?«

»Weshalb nicht? Laß sie ihr Schwanenlied singen; vielleicht steht schon morgen um diese Zeit kein Stein mehr auf dem anderen.« Ottos Hand drehte den Mechanismus; erst leise, dann in gewaltigen Akkorden erklangen die verborgenen Stimmen des Kunstwerkes.

Es war ein geistliches Lied, dessen Melodien das stille, verlassene Haus durchrauschten, ein Gebet zu dem, dessen Auge alles sieht, dessen Wille die Schicksale der Völker und der einzelnen mit gleicher unbeirrbarer Treue lenkt. Als solle das Räderwerk, ehe es von der Vernichtung ereilt wurde, noch einmal trösten, noch einmal das zagende Herz an Gottes Thron führen, so verklangen im leisen, nur geahnten: »Herr, dein Wille geschehe!« die letzten beiden Töne. Onnen und Otto sahen einander an. Seltsames Gefühl, so in der dunklen windigen Herbstnacht ganz allein im fremden, dem Untergange geweihten Hause, ganz allein in der Stadt, wo es kein Gesetz und keine Behörden mehr gab, niemand, der Recht sprach oder Unrecht verhinderte, wo der Schritt der Zeit gleichsam zögerte und das hereinbrechende furchtbare Unglück seine Schatten voraussandte.

»Horch!« flüsterte Onnen, »eine Kirchenuhr! Vielleicht ist auch für sie diese Nacht die letzte.«

»Aber der Turm erschlägt im Fallen eine Schar unserer Feinde – nur einen, einen einzigen! Dafür mag er stürzen.«

Eine Tür öffnete sich, ein schlaues braunes Gesicht blickte in den Saal. »Mikosch!« rief Onnen, »du bist es!« Der alte Zigeunerhauptmann blinzelte und nickte. »Wolltest du dich überzeugen, wohin wir gegangen waren, Kleiner? Schon gut, schon gut, ich nehme dir's wahrhaftig nicht übel, hätte es selbst an deiner Stelle so und nicht anders gemacht.«

»Kümmert euch um das, was wir vornehmen, gar nicht«, setzte er freundlich hinzu. »Der Eigentümer dieses Hauses ist, als das Militär die Stadt verließ, in der Begleitung desselben fortgegangen, ohne von seinen Sachen irgendetwas mitnehmen zu können. Im Nebenzimmer steht ein gedeckter Tisch. – Speist, was euren Schnäbeln paßt, oder die Herren Franzosen verzehren es morgen.«

»Sie kommen also wirklich?«

Der Zigeuner hob den Kopf, sein Auge blitzte, seine geballte Faust schien zu drohen. »Sie kommen«, sagte er, »Oberst Jouffrin kommt!«

Und immer leise nickend, als bestätige er sich den einmal gefaßten Entschluß, ging Mikosch ohne ein weiteres Wort die Treppen hinab und zum Hause hinaus. Onnen und Otto sahen einander an; der letztere öffnete, auf den Zehen schleichend, die Tür zum Nebenzimmer.

Eine prächtige Tafel war gedeckt, große Braten prangten in der Mitte, von Weinflaschen, Brot und Früchten umgeben. Die Stühle standen an ihren Plätzen, Servietten in silbernen Bändern lagen auf den Tellern, im Ofen schimmerte noch der verglimmende Rest eines Kohlenfeuers, die ganze Luft war erfüllt von leisem angenehmem Wohlduft.

»Komm«, rief Onnen, »diese guten Dinge wollen wir deiner Mutter und dem kleinen Mariechen nach Hause bringen!«

»Meinst du, daß wir es dürfen?«

Die Augen des Knaben leuchteten vor Freude. »Wenn Mama etwas von diesem Wein trinken würde – ach Onnen, sie ist so krank, so vergrämt, sie weint oft die ganzen Nächte hindurch.«

Onnen packte mit raschem Griff die Weinflaschen und wickelte sie in eine Serviette. »So, Otto, jetzt nimm du den Braten und das Huhn da. Ich stecke indessen die Trauben zu mir.«

»Ach Gott – Trauben für Mariechen!«

»Und eine für Ruff. Er brummt vor Vergnügen, wenn man ihm eine süße Frucht bringt.«

Sie rafften zusammen, was in Taschen und Servietten hineinging, dann eilten sie schwer bepackt nach Hause. Frau Müller stand schon unruhig wartend an der Treppe, sie zitterte vor Furcht. »Wo seid ihr denn gewesen, ihr bösen Kinder? Ich mußte mich so sehr um euch ängstigen!«

»Sieh nur, Mütterchen, sieh!«

Er packte strahlend vor Freude die mitgebrachten Herrlichkeiten auf den Tisch der ärmlichen Kammer, wo solcher Luxus bisher nie geherrscht hatte. »Iß, Mama, iß und trinke, ohne lange zu fragen, woher die Sachen kommen. Gott hat sie uns – dir und dem kleinen Mariechen geschickt!«

Frau Müller wollte offenbar noch eine weitere Auskunft erlangen, aber ihr Sohn beruhigte sie mit der Erklärung, daß ihm Mikosch diese Dinge geschenkt habe. Es blieb auch keine Zeit zu langen Erörterungen, denn das kleine Mädchen erwachte und setzte sich im Bette aufrecht hin. »O Mama«, rief die unschuldige Stimme, »liebe Mama, ist der Weihnachtsmann gekommen?«

Onnen legte ihr eine große Traube auf die Decke. »Das hat er für dich gebracht, Mariechen! Freut es dich, Kleine?«

Und als sie laut aufjubelte, da ließ er mit freundlichem Gutenachtgruß die kleine Familie allein, um in seiner eigenen Kammer die Zigeuner aufzusuchen. Jasko und Luiz schliefen bereits, auch Mikosch kam sehr bald, unruhig erwartet von unserem jungen Freunde, der dem Alten beide Hände auf die Schultern legte und ihn fest ansah.

»Mikosch, du sagst, daß Oberst Jouffrin morgen nach Moskau kommt! Wohlan, wenn er mich selbst oder einen meiner Genossen erkennen sollte, was würdest du tun?«

Der Zigeuner lächelte. »Dich verteidigen, Herr, dich retten! Ich schwöre es dir!«

»Ganz gewiß, Mikosch?«

»Bei meinem Leben, ja!«

Onnen drückte ihm die Hand. »Gut, nun bin ich beruhigt. Ich danke dir, Mikosch!«

»Hat nichts zu sagen, Herr!«

Sie streckten sich beide auf das Lager und schliefen, indes draußen an den Straßenecken flüsternde Gruppen beieinander standen. Die einen mit geballten Fäusten, Tränen in den Augen und ersticktes Schluchzen im Herzen, die anderen heimlich frohlockend. Morgen kam der Feind, alle Bande der Zucht und Ordnung waren gelockert, alle Gesetze außer Kraft, da winkte die Plünderung, die wohlfeile Beute, bei der es nur Gewinn gab, nur Genuß ohne Arbeit, nur müßiges Schwelgen ohne Anstrengung.

Langsam durchdrang der junge goldige Morgen das Grau des Aufganges. Rußlands Schreckenstag, der vierzehnte September 1812, brach an.


 << zurück weiter >>