Sophie Wörishöffer
Onnen Visser - Der Schmugglersohn von Norderney
Sophie Wörishöffer

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9

Gerade heute kehrten unwillkürlich die Gedanken der Norderneyer zurück zu jenen Schreckenstagen der Massenhinrichtung. Was Schweres und Trauriges die Insel seitdem betroffen hatte, in letzter Linie das Ereignis dieser Nacht – es ging alles hervor aus Peter Witts ehrlosem Verrate, es war die Folge des begangenen argen Verbrechens gegen Gott und Menschen.

Niemand beachtete den Geächteten, und dennoch wünschte er nur eins – zu sprechen, eine Antwort zu hören.

Die alte Haushälterin hatte ihn längst verlassen, er war mit dem Knaben allein geblieben, aber so wenig ihn dieser auch liebte und ehrte, besaß er doch in ihm ein lebendes menschliches Wesen, das mit ihm im selben Raume aß und schlief, das mit ihm sprach und seine Verbannung in dem Holzschuppen teilte. Nun war Adam fort – ein herzbeklemmender Gedanke, eine Vorstellung, die seine Zähne aufeinanderschlagen ließ in namenloser Furcht.

»Wie schrecklich!« sagte er beinahe ohne klares Bewußtsein, »wie schrecklich, Amtsvogt! Auch Eure beiden Jungen sind dahin!«

Der Alte kehrte sich ab – stumm, ohne ein Zeichen, einen Laut. »Wenn sie schelten würden«, dachte der Elende, »drohen, schmähen – nur nicht dies Stillschweigen!«

Er folgte dem Strome, obwohl ihn derselbe wieder und wieder ausstieß, er sprach und flüsterte, er wandte sich zu den Kindern, den alten Frauen, um irgendein Wesen an sich zu ziehen, um doch in der allgemeinen Trauer nicht so ganz verlassen dazustehen. Vergebens! Selbst die Kleinsten flüchteten aus seiner Nähe, die Ärmsten verschmähten den Groschen, welchen er ihnen mit zitternden Händen bot.

Hie und da schluchzte ein Weib in bitterstem Schmerz, hie und da ballten Männer die Fäuste, aber überall tröstete eins das andere, überall trockneten Freundeshände die brennenden Tränen und linderte gütlicher Zuspruch den herzzerfressenden Groll zu stillerem Ergeben – nur er war allein, so einsam, als liege die Insel am nie erreichten Pol der Erde und als sei er auf ihrem weiten Rund das einzige lebende, atmende Wesen.

Die Kirchtüren öffneten sich, Orgelklang flutete den Trostbedürftigen entgegen. Mitten in der Nacht betete der Geistliche mit den Gliedern seiner kleinen Gemeinde für die gnädige Erhaltung derer, welche so jählings herausgerissen waren aus dem Kreise der ihrigen, einem Ungewissen gefahrvollen Schicksal entgegen.

Ohne Feierkleider, in ihren Alltagsgewändern, oft sogar nur mit dem Nötigsten versehen, lagen die Leute im Gotteshause auf den Knien, weinend und betend, engverbunden im gemeinsamen Weh, tief traurig, aber doch erfüllt von der Zuversicht auf den, der heute noch allen Mühseligen und Beladenen zuruft: »Kommt her zu mir, ich will euch erquicken!«

Peter Witt stand in der offenen Tür, er wagte sich nicht hinein. So ruhig und feierlich brannten die Kirchenlichter, so trostvoll sprach der greise Priester! Ob das Gebet auch seinem, des Verräters Sohne galt?

Er dachte an den öden halbdunklen Holzschuppen, an die leergewordene Stätte, ihm graute. Die Lichter vor dem Altare schienen zu wachsen, immer höher, höher, sie schienen ihm zu winken, ihn erfassen zu wollen, er wandte sich schaudernd ab, dem nächsten mittleren Wege zu. Jetzt hatte bereits die Morgendämmerung begonnen, bleiche Lichter fielen auf Kreuze und Steine ringsumher, auf alle die stummen Zeugen des Todes, der Vergänglichkeit.

Ein hoher weißer Marmorblock hob sich hervor aus der Umgebung, eingeschlossen von einem niederen Eisengitter, am Fuße überdeckt von Blumen und Kränzen. »Zum Gedächtnis unserer teuren Freunde« stand darauf – und dann folgten die Namen der sieben erschossenen Männer.

Peter Witt taumelte, seine Augen traten weit hervor, er zitterte. Auch noch ein kleines Kreuz lehnte sich an den Stein und nur zwei Worte standen darauf, zwei kurze Worte, aber voll eines trostlosen Inhaltes.

»Arme Moiken.«

Das war die junge Frau des hingerichteten Wattführers – der Gram hatte sie getötet. Unter Fremden, schon verwaist in der Wiege, wuchs das schutzlose Kind heran, um eines Tages auf das bitterste den schlechten Mann zu hassen, der Vater und Mutter in den Tod trieb.

Es war ihm, als greife eine kalte Hand nach seinem Herzen, als müßten sich rings die stillen Schläfer erheben, um ihn zu verjagen von der heiligen Stätte, die seine Gegenwart entweihte.

Schaudernd, halberstickt floh er ins Dunkel.

»Feiko, du bist es!«

»Onnen, mein armer Junge – auch dich haben also die Menschenräuber gepackt!«

Der junge Mann in französischer Infanterieuniform, der helläugige Friese mit dem hübschen gutmütigen Gesicht streckte die Arme aus und zog den Knaben zu sich. »Du willst doch nicht weinen, Onnen? – Na, laß es gut sein, mit uns leiden ja alle deutschen Landsleute, soweit unsere liebe Muttersprache klingt – das macht die Sache leichter!«

»Ach Feiko, wie ähnlich bist du meinem armen Vater! So muß er einst als junger Mann ausgesehen haben!«

»Onkel Klaus!« sagte gerührt der andere, »meiner alten Mutter einziger Bruder. Ja, du bist hart geprüft, Onnen, wahrhaftig hart, aber doch nicht über deine Kräfte, das läßt der liebe Gott niemals zu. Nun sieh mich an und suche ruhig zu werden, Junge; die französische Fremdherrschaft, ihre Willkür sind grausamer und tyrannischer Natur, aber mit den Leuten selbst lebt sich's ganz erträglich. Alles lustige, oberflächliche, vergnügte Kerlchen, schon zufrieden, wenn man sie nur in ›gloire‹ schwimmen und plätschern läßt, soviel sie mögen, dabei mäßig und sauber – man kann's mit ihnen aushalten.«

»Du scheinst sie nicht zu hassen, Feiko?«

»Die Leute nicht, nur die Regierung. Auf russischem Boden wollen wir beide so bald wie möglich desertieren, nicht wahr, Onnen?«

»Wenn – wenn etwas dergleichen möglich ist, Feiko!«

»Das wird es werden, mein Junge. Ich erfuhr in Hamburg, daß mein Vater gefangen sei, und stellte mich sogleich, das war eine heilige Pflicht, aber außerhalb Deutschlands, in Verhältnissen, die nicht genau übersehen werden können, denke ich ebenso schnell wieder zu verschwinden – und du mit mir.«

Onnen lächelte zum erstenmal. »Wie zuversichtlich du sprichst, Feiko! Man fühlt in deiner Nähe allen Mut zurückkehren. Wenn ich bedenke, daß ich vor zwei Stunden noch so ahnungslos schlief – und dann weckten mich fremde Stimmen, alles schrie und weinte, die Mutter war wie außer sich, Soldaten standen im Zimmer und einer derselben zerrte mich am Arm aus dem Bette. Ob wohl schon jemals eine Rekrutenaushebung in dieser Weise vor sich ging?«

Feiko Hansen lachte. »Das war ein kleines Strafgericht für euren Langbootsieg, mein Lieber; auf den anderen Inseln hat man die Sache etwas langsamer angefangen, aber zum Militärdienst gepreßt ist die ganze junge Mannschaft zwischen sechzehn und dreißig Jahren.«

»Alles für die russischen Totenfelder!«

»Oho – wir wollen uns schon durchschlagen. Irgendwo gelangt man an das Meer und auf ein Schiff, dann geht es in fremde Weltteile.«

Die Unterhaltung der beiden Vettern wurde hier gestört. Onnen erhielt seine Hängematte, das anfängliche Durcheinander auf dem Verdeck wich der früheren Ruhe und unter vollen Segeln glitt die Fregatte »Napoleon« auf das Meer hinaus, um wenigstens zweihundert junge Leute der Heimat zu entführen – viele, viele auf Nimmerwiederkehr.

Am folgenden Morgen wurden die Rekruten eingekleidet und mit Nummern versehen, dann begann sogleich das Exerzieren. Unsere Freunde mußten sechs Stunden täglich das Gewehr handhaben, es wurde ihnen auch der übliche Sold der Linientruppen wenigstens versprochen und eine ganz erträgliche Kost verabreicht. Die letzten ostfriesischen Inseln schwanden den Blicken, das Schiff näherte sich dem von den Engländern behaupteten Helgoland, und obwohl es den gefährlichen Punkt in weitem Bogen umfuhr, so verdoppelte doch der Kapitän alle Wachen an Bord, um bei der etwaigen Entdeckung eines feindlichen Seglers sogleich gerüstet zu sein.

»Wenn der ›FaIke‹ geflogen käme«, dachte Onnen, »welches Glück!«

Aber es blieb alles ruhig und schon am vierten Tage war das von den Dänen behauptete Gebiet der Nordsee glücklich erreicht. Man steuerte gerade auf das Kattegatt los, um in der Ostsee den nächsten russischen Hafen anzulaufen.

Hier herum kreuzten vielfach die großen dänischen Kriegsschiffe, man konnte sich vollständiger Sicherheit überlassen und das französische Naturell kam je länger, desto mehr zum Durchbruch. Allerlei Musikinstrumente tauchten auf; in ihren freien Stunden tanzten die Soldaten wie bei Gelegenheit eines Balles oder verfertigten bunte Stickereien, die jeder Dame Ehre gemacht haben würden. Sie sangen, malten und selbst eine Art von Liebhabertheater war errichtet worden, wobei die Deutschen als Zuschauer ihre Bemerkungen austauschten, selbst aber nicht mitwirkten – bis auf einen unter ihnen.

Adam Witt hatte schon am ersten Tage Gelegenheit gefunden, sich bei den Unteroffizieren, dem Bootsmanne und dem Proviantmeister einzuschmeicheln, er hatte ihnen die Söhne und Gesinnungsgenossen der auf Norderney Hingerichteten bezeichnet und seines Vaters Stellung als die eines Vertrauten des Obersten Jouffrin mit den vorteilhaftesten Farben ausgemalt. Die Folge war, daß er ferner nicht zu exerzieren brauchte, sondern nur scheinbar dem Koch oder dem Quartiermeister ein wenig half, in der Tat aber den Zuträger spielte und alles hinterbrachte, was etwa die Deutschen miteinander sprachen.

»Ich werde ihn nächstens gehörig durchprügeln«, erklärte Onnen, »schuldig bin ich ihm die Hiebe längst.«

Die Gelegenheit zur Ausführung dieses Vorhabens kam früher, als irgend jemand an Bord geglaubt haben mochte.

Der »Napoleon« befand sich im Kattegatt, einem der gefährlichsten europäischen Fahrwasser; das Wetter war sehr stürmisch, tiefer Nebel wechselte mit klarer Luft, heftiger Regen mit einzelnen sonnigen Stunden, der Dienst an Bord wurde beständig schwerer.

»Weißt du, was ich glaube«, flüsterte eines Tages Feiko Hansen. »Der Kapitän und die Steuerleute sind hier noch nie gewesen, sie kennen das Fahrwasser so wenig wie den Mann im Mond, das höre ich an ihren Befehlen.«

»Aber du kennst es, Feiko?«

»Ich habe als Steuermannsmaat die Fahrt nach Riga schon dreimal gemacht! Wahrhaftig, hier sind ostfriesische Teerjacken genug an Bord, um die Fregatte glücklich hindurchzubringen, was aber die Franzosen erreichen werden, das steht noch dahin.«

»Unserer sind mehr als zweihundert auf dem ›Napoleon‹«, meinte Georg Wessel. »Nehmt das Kommando, Steuermann Hansen, wir folgen Euch!«

»Und werden von den Franzosen als Meuterer erschossen. Das will doch überlegt sein, mein Bester.«

Die allgemeine Stimmung an Bord war ziemlich gedrückt. An irgendwelches Exerzieren oder gar an Schießübungen konnte nicht mehr gedacht werden; das Schiff stampfte und schlingerte, die See ging häufig genug über Deck und stärker und stärker heulte von allen Seiten zugleich der Sturm.

Die Matrosen hatten fortwährend im Takelwerk zu tun, Soldaten und Unteroffiziere blieben müßig, ebenso die Deutschen, denen es aufgegeben wurde, französische Vokabeln zu erlernen, die aber anstatt dessen beieinandersaßen und heimlich dem seemännischen Wissen und Können der Franzosen das Urteil sprachen.

»Sie sind keinen Schuß Pulver wert«, entschied einer. »Perücken machen und allerlei Wohlriechendes zusammenschmieren, das ist ihr Handwerk, aber als Seeleute taugen sie nichts.«

»Da sieh hin, wie der Kerl drüben das Segel befestigt! Ich will doch wetten, daß es binnen einer Minute über Bord fliegt!«

»So!« setzte er dann hinzu, »so, nun hole es wieder, wenn du kannst, Franzmann!«

Die Leinwand war mit lautem Knall zu Fetzen zerrissen und dann auf das Meer hinausgeschleudert worden. Verblüfft sahen ihr die Franzosen, heimlich lachend die Deutschen nach – wie in einem Hexenkessel brodelte und kochte es rings in der gefahrvollen Tiefe um den Bug des »Napoleon«.

Nur Feiko Hansen blickte sehr ernst. Er sah in der Richtung des brausenden Sturmes hinaus und dann empor in die Masten, wo eine Anzahl französischer Seeleute mit dem Einziehen der Segel beschäftigt war.

»Es geht zu langsam«, dachte er. »Gott im Himmel, vom Kapitän bis herab zum Kajütsjungen weiß keiner dieser Leute, in welcher Gefahr wir schweben.«

»Steuermann Hansen«, rief einer der Söhne des alten Amtsvogtes von Norderney, »Steuermann Hansen, ich will all mein Lebtage keine Erbsensuppe mehr essen, wenn nicht dieser Ton da – hört ihr es wohl?«

»Eine Brandung!« fielen zwanzig Stimmen zugleich ein. »Das ist eine Brandung!«

Und blasse Gesichter sahen einander an. Im Augenblick schwieg alles.

Der Steuermann nickte. »Es ist so«, bestätigte er.

Das Schiff knarrte und ächzte in allen Fugen, durch das Takelwerk ging ein unheimliches Heulen und Rasseln – die Fregatte stampfte mit aller Macht.

Das Sprachrohr des Kapitäns gab Befehl auf Befehl; sämtliche Segel waren jetzt gerefft und alle beweglichen Gegenstände unter Deck gebracht. Dichte Nebel ballten sich wie bleifarbene Wolken auf allen Seiten zugleich, fernher durch die empörte Flut klang es brüllend und donnernd, hoch auf spritzte weißer Schaum gegen den Bug.

Der Kapitän und seine Offiziere standen in einer Gruppe beisammen; Feiko Hansen verstand jedes ihrer Worte. »Es ist nichts, meine Herren«, sagte der Führer des Schiffes. »Der ›Napoleon‹ hat schon Schwereres überstanden.«

Niemand antwortete ihm, aber in den Mienen der Offiziere zeigten sich Unruhe und Zweifel; sie beobachteten ängstlich das tobende Meer.

»Steuermann Hansen«, rief Georg, »ich bitte Euch, wir treiben ab! Nehmt das Kommando, oder wir sind verloren.«

»Wahrhaftig – wir sind verloren!«

Feiko richtete sich straffer auf, sein Auge blitzte, seine Brust hob sich in schnellen kurzen Atemzügen.

»Wollt ihr mir gehorchen, Landsleute?«

»Ja! Ja!« riefen alle Stimmen.

Eine schlanke Gestalt erhob sich lautlos und schlüpfte zu den Offizieren der Soldaten. »Es ist Verrat im Werke!« flüsterte Adam Witt.

»Den Teufel auch – ich glaubte längst, es zu sehen!«

Und dann kommandierte er: »Antreten!«

Die Soldaten flogen durcheinander, Signale erschallten, Gewehre stampften das Verdeck, Unruhe und ungeheure Verwirrung beherrschten das ganze Schiff, Seeleute und Militärs machten einander den Platz streitig.

Dazu tobte in immer stärkeren, immer wilderen Stößen der Sturm. Die Brandung heulte, die Wellen schlugen ganze Wolken von Schaum über Deck – das laute Spottlachen der Deutschen klang hindurch.

»Ihr Esel! – Ihr dreifachen Esel!«

»Aufgepaßt!« rief Feiko Hansen. »Jetzt ist der Augenblick da. Entert auf, meine Jungen – klar zum Wenden!«

Mit lautem »Hurra« flogen die Ostfriesen an den Masten der Fregatte empor, ehe noch irgendein Mensch sich ihnen widersetzen konnte. Getrieben von der ganzen Schwere des entscheidenden Augenblickes vollführten sie mühsam atmend, die Gesichter abgewandt, den erhaltenen Befehl. Wie eine Schar von Kobolden, verhüllt durch Nebel und spritzenden Schaum, mit unheimlicher Eile bewegten sich die seegewohnten Leute im Takelwerk, während unten an Deck die Offiziere starr vor Erstaunen das Unerwartete ansahen. Einer der Herren riß blitzschnell die Pistole aus der Brusttasche und kehrte den Lauf gegen Feiko Hansens unbeschützte Brust, aber ebenso rasch kam ihm der Kapitän zuvor. Sein Gesicht war farblos, seine Lippen bebten, er erkannte als Seemann die ungeheure Gefahr des Schiffes, ohne ihr begegnen zu können. »Lassen Sie die Leute, mein Herr – ich – war im Begriff, dasselbe Segelmanöver anzuordnen. Es sind tüchtige Matrosen, diese Halbbarbaren!«

Und zu den Soldaten sprach er in ähnlicher Weise. »Zurück! Zurück! – Es ist gut so!«

Niemand wagte eine Widerrede; aller Augen hingen wie gebannt an den Bewegungen der deutschen Matrosen, die jetzt ihre Arbeiten beendet hatten.

Das Steuer war leewärts gerichtet, die schweren Raaen hatten sich gedreht und der »Napoleon« schoß durch die Wellen gleich einem Vogel. Feiko Hansen beobachtete die der schwedischen Küste zugekehrte Seite des Wassers, dann sah er plötzlich zu seinen Kameraden hinüber.

»An die Puttingen auf der Luvseite! – Du, Georg Wessel und ihr beiden da!«

Die Genannten flogen – untätig sahen alle Franzosen, daß die Deutschen im Augenblick das Schiff beherrschten.

»An die Brassen!« kommandierte der Steuermann. »Werft das Lot!«

Auch dieser Befehl wurde schleunigst vollzogen. Niemand sprach; die Leute erkannten sämtlich den Ernst ihrer Lage, sie schwiegen voll banger, die Entscheidung begleitender Unruhe.

»Sieben Faden!« berichtete mit heller Stimme Georg Wessel.

»Gut. Werft nochmals das Lot!«

»Fünf und ein viertel!«

Dann, nach kurzer Pause: »Vier Faden!«

Onnens Stimme unterbrach mit einem lauten Schreckensschrei die beklemmende Stille. »Riffe! – Riffe vor uns!«

»Riffe in Lee!« rief im gleichen Augenblick einer der übrigen. »Mon dieu!« schrie der französische Kapitän. »Das ist ein Hexenkessel!« – und dann befahl er: »Werft den Buganker!«

Die Franzosen schickten sich an, das Manöver auszuführen, aber Feikos gewaltige Stimme schallte dröhnend über Deck und hinderte sie, ihrem Vorgesetzten zu gehorchen. »Nichts da!« rief er. »Laßt gehen! Laßt gehen!«

Achtzig bis hundert Hände streckten sich aus, um die französischen Seeleute zu packen. Ein kurzes Ringen endete mit dem Siege der Ostfriesen und wieder wollten die Soldaten vordringen, um sich mit blanker Waffe einzumischen – wieder hinderte sie der Kapitän.

»Warten wir noch! – Der junge Mann kennt das verfluchte Fahrwasser aus eigener böser Erfahrung, wie mir scheint!«

Feiko hatte während dieses Tumultes mit der Vertrauen einflößenden Ruhe des wirklichen Mutes seine Befehle gegeben und dieselben waren pünktlich ausgeführt worden. Das Steuer wurde angehalten, die Toppraaen in den Wind gebracht und das Schiff solchergestalt auf der Hieling gedreht – es lief rückwärts.

Die einzige Möglichkeit, es zu retten, alle erkannten es.

»Hurra für Ostfriesland! Für Feiko Hansen von Hilgenriedersiel!«

»Still, meine Jungen, still, es ist noch nicht an der Zeit zu triumphieren. Braßt die Vordersegel! Steuer über!« Dem Kommando folgte augenblicklich die Tat, das Schiff richtete sich auf, es stellte der Wucht des Sturmes jetzt einen erfolgreicheren Widerstand entgegen, es kämpfte unter Feikos Führung tapfer gegen die Gefahr, welche ihm von allen Seiten drohte. Klippen und Untiefen, Sandbänke und Nebel, dazu die gewaltige Macht des Orkanes, alles vereinigte sich, um den Weg durch das Kattegatt zu einem sehr gefährlichen zu machen. Stundenlang behielt der junge Steuermann unangefochten das Kommando, stundenlang arbeiteten unverdrossen die Deutschen, bis dann Feiko Hansen vor sie hin trat und mit verschränkten Armen seine Freunde ansah. Aller Blicke hingen an den Lippen des unerschrockenen Mannes, jedes Ohr lauschte schon, bevor er sprach.

»Landsleute«, begann Feiko, »ihr habt bis jetzt tapfer gearbeitet, ihr seid es, denen diese Windbeutel von Franzosen die Erhaltung ihres Lebens verdanken, aber dennoch muß ich euch sagen: Das Schlimmste steht erst bevor! – Wollt und könnt ihr nochmals alle eure Kräfte einsetzen, um das Schiff glücklich hindurchzubringen?«

»Gewiß, Steuermann! Allstunds!«

Und: »Allstunds!« lief es kräftig von Mund zu Mund.

»Gut, dann gebt acht und verliert, wenn ich spreche, keine Sekunde.«

Die französischen Offiziere hatten einiges verstanden, anderes ließen sie sich übersetzen. Welch eine abscheuliche Gegend – es sollte nun noch Ärgeres bevorstehen, als man schon durchlitten hatte!

»Die Menschen passen für ihr Land«, meinte der Kapitän. »Alles rauh, unschön, bärenhaft – détestable!«

»Entert auf!« befahl unterdessen Feiko Hansen. »Klüver- und Hauptsegel heraus!«

Über hundert kräftige Männer brachten das ungeheure Leinen an seinen Platz, entrollten die Falten und befestigten sie. Der Sturm fiel hinein, das ganze Schiff bog sich wie ein schwankendes Rohr. »Es kommt es kommt!« rief Feiko, »Der ›Napoleon‹ gewinnt die Luv! – Wenn nun nur die Segel aushalten!«

Er sprach noch, als ein Donnern und Krachen die Luft erfüllte. Etwas Weißes schoß wie eine Riesenmöwe in die Brandung hinaus – der Klüver. Er hatte nachgegeben.

»Das große Segel hält Stand«, rief der Kapitän. »Ich weiß es gewiß!«

»Still! – Jetzt naht die Entscheidung. Haltet Luv!«

Der Befehl wurde vollzogen; in atemloser Spannung beobachtete jedes Auge die rollende, kochende See, deren Wogen, anstatt regelmäßig zu verlaufen, vielmehr hüpften und sprangen, vom Sturm im tollen Wirbel an die Klippen geworfen, weiß und schäumend, ein Chaos, in dem der Blick keinerlei bleibenden Anhaltspunkt zu, erfassen vermochte.

Feiko selbst stand am Steuer und griff bald hier, bald dort in die Speichen, dabei aber beobachtete er auch jeden anderen Vorgang rings umher, und als das Schiff an einer bestimmten Stelle plötzlich vom Wind abfiel, rief er mit lauter Stimme: »Braßt die Raaen! Segel eingezogen!«

Nur die Nächststehenden hatten den Befehl vernommen, aber er ging von Mund zu Mund, und in weniger als fünf Minuten lief die Fregatte, von den Klippen befreit, in das offene Meer hinaus, ohne einen wirklichen Schaden erlitten zu haben.

Feiko begrüßte mit einer leichten Handbewegung den Kapitän.

»Der ›Napoleon‹ ist gerettet«, sagte er.

Der Franzose drückte ihm mit Wärme die Rechte. »Sie sind ein Braver, mein junger Freund«, rief er. »Sie sind wahrhaftig wert, ein Franzose zu sein. Die kaiserliche Marine wird sich glücklich schätzen, Sie den Ihrigen zu nennen.«

Der Steuermann zuckte die Achseln, ohne eine Silbe zu antworten, als plötzlich ein ganz unerwarteter Laut die Begegnung der beiden Männer unterbrach. Ein Kanonenschuß donnerte aus nächster Nähe über die See und durch das Takelwerk fuhr eine Kugel, welche Splitter und Fetzen vor sich hertrieb, wie der Wirbelwind die Schneeflocken.

»Alle Teufel, was ist das?«

»Großer Gott, wenn es ein Engländer wäre!«

Feiko sah in das Toben des Sturmes hinaus. »Ein Schwede!« entschied er. »Das Bündnis von gestern hat sich ja über Nacht schon wieder in den Kriegszustand verwandelt!«

»Eine Nußschale!« setzte Onnen halb seufzend hinzu. »Das kleine Ding wird dem Franzosen nichts anhaben können!«

»Ich glaube es auch nicht. Sieh, wie die braunen Gesellen in Feuer kommen!«

»Willst du selbst dich an der Sache nicht beteiligen, Feiko?«

»Gott verhüte es! – wenn ich an Bord des Schweden gelangen könnte, so würde ich keinen Augenblick zögern.«

»Aber«, setzte er hinzu, »nur mit dir, Onnen!«

Eine zweite Kugel hatte unterdessen den Rumpf der Fregatte gestreift und war seitab in das Meer gefallen. Auf dem »Napoleon« herrschte eine heillose Verwirrung; man öffnete die Behälter von Waffen und Munition, das Lazarett wurde in Stand gesetzt und die Geschütze hervorgezogen. Alles sprach, lärmte, sprang und rasselte mit notwendigen oder überflüssigen Geräten, dann öffneten sich die Stückpforten und ein schwerer Hagel von Eisen fiel auf den kecken Schweden, der es gewagt hatte, einen viel größeren Gegner anzugreifen, statt ihm klüglich beizeiten aus dem Wege zu gehen.

»Das hat getroffen!« rief der Kapitän. »Aha – es ist um den Besan geschehen!«

»Die armen Kerle!« flüsterte Feiko Hansen. »Glaubst du, daß sie verloren sind?«

»Ohne allen Zweifel!«

Von der Breitseite des schwedischen Schiffes kam eine glatte Lage und traf diesmal gut. Sechs Franzosen stürzten zu Boden, das Deck schwamm in Blut, Stengen und Raaen wurden über Bord gerissen. Eine Salve folgte der anderen, endlich erscholl ein Jubelgeschrei der französischen Soldaten – die schwedische Brigg war unter dem Wasserspiegel getroffen und begann zu sinken.

Man sah an Bord derselben eine fieberhafte Tätigkeit. Die Pumpen spien das eindringende Wasser in Strömen wieder aus, die Zimmerleute arbeiteten und die Geschütze dröhnten. Noch schienen jene den Gedanken an Rettung nicht aufgegeben zu haben.

An Bord des »Napoleon« wurden Segel gesetzt und die angerichteten Schäden sogleich ausgebessert. Beide Schiffe lagen im offenen Fahrwasser; sie konnten manövrieren, wie sie wollten, ohne von den Wellen gehindert zu werden.

»Die Franzosen wollen den Schweden übersegeln!« flüsterte Georg Wessel.

»Natürlich. Das kommt von ihrem Eigensinn! Die Leute mußten sich sagen, daß der Kampf ein ungleicher sei! Der ›Napoleon‹ hält grade auf die Brigg zu!«

»Feiko«, raunte Onnen, »Feiko, wenn wir uns auf die Seite des Schweden stellen würden! – bedenke, wir sind unserer zweihundert!«

Der Steuermann schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, mein Junge. Ich bin wahrlich einem tollen Stücklein nicht abgeneigt, aber etwas Aussicht auf Erfolg muß doch dabei sein! Der Schwede sinkt – aha, da treffen ihn wieder die französischen Kugeln!«

Es wurde herüber und hinüber geschossen, der helle Tag schwand zum Dämmerlicht, die Sterne erschienen am Himmel, weißer Mondglanz flutete über das ruhiger gewordene Meer – immer noch wehrten sich die Schweden wie Verzweifelte, immer noch durchkreuzten sie mit Erfolg jedes Segelmanöver des Franzosen und fügten einem Schaden den andern zu. Auf beiden Seiten stieg die Erbitterung, man kämpfte mit Hintenansetzung aller Schonung für die Fahrzeuge, bis endlich die tapferen Nordländer unterlagen – sie konnten eine Wendung vor dem Bug des »Napoleon« nicht mehr rechtzeitig ausführen, und nun geschah das Schreckliche. Über den niederen Bordrand des halbversunkenen Schiffes ragte der Rumpf der Fregatte, hoch auf spritzte zu beiden Seiten das Meer, dann noch ein Knirschen und Krachen, ein Etwas wie der Schrei verzweifelnder sterbender Menschen – und die Stelle, wo das schwedische Fahrzeug mit der Vernichtung gerungen, war leer.

Rings bedeckten Trümmer aller Art die empörten Fluten. Ein weißer Silberglanz lag auf der Umgebung, auf treibenden Holzstücken und Segeln, auf Streifen roten Blutes und den Gestalten schwimmender, mit den Wellen kämpfender Männer, die wegen des hohen Seegangs und der eigenen Beschädigungen der Fregatte ihrem Schicksale überlassen werden mußten.

Mehr als zwanzig Franzosen lagen im Lazarett, ihrer fünf auf dem schwarzen Brett in der Totenkammer. Die Matrosen wuschen das Deck, banden neue Segel ein, hämmerten und sägten, der Arzt mit seinem Gehilfen verband während der ganzen Nacht die Wunden jammernder, fiebernder Soldaten, der Bottelier gab Extrarationen von Grog und Rotwein, an denen auch die Deutschen teilnehmen durften, und der Koch stand am Herd, um verschiedene Tee- und sonstige Tränke zu bereiten.

Von den zwei- bis dreihundert Leuten an Bord des Schweden, von dem stattlichen Schiffe, auf dem sie gelebt, war nichts mehr zu sehen.

»C'est la guerre!« brummte achselzuckend der Kapitän. »Heute mir und morgen dir.«

 

Mit dem ersten Schein des jungen Tages, als alle Unordnung beseitigt war und als sich die deutschen Rekruten allein im Schlafraum befanden, mit der wiederkehrenden Ruhe an Bord gab es noch eine kleine Privatexekution, an der nur einer tätig und einer leidend teilnahm.

Onnen packte Adam Witt vor den Augen aller übrigen am Kragen und zog ihn zu sich.

»Was flüstertest du mit dem Kapitän, mein Lieber? He, und wer war es, der die Franzosen von all den alten Norderneyer Geschichten in Kenntnis setzte?«

Der Bursche sah unruhig umher. »Ich kann sprechen, mit wem ich will«, antwortete er verstockt. »Gelogen war nichts!«

»Und gelogen ist es auch nicht, wenn ich dir sage, daß du ein wahres Ungeziefer bist, ein Kerl ohne Ehre und Gewissen! Über meine Angelegenheiten verliere künftig kein Wort, oder es geht dir schlecht.«

Er gab ihm vor den Augen aller Deutschen ein paar schallende Ohrfeigen, die Adam Witt laut heulend empfing. »Ich sage es dem Kapitän!« schrie er schluchzend.

»Du«, meinte Georg Wessel, »willst du nicht lieber Mama! rufen?« Ein dröhnendes Gelächter folgte diesen Worten. Der Sohn des Verräters zog sich, so schnell er konnte, in einen sicheren Winkel zurück, aber ungesehen ballte er die Faust. »Ich streiche es dir an«, dachte er, »warte nur, meine Stunde kommt auch.«

Niemand beachtete ihn. Als der Tag anbrach, zeigten sich zwei große französische Schiffe, welche den Kanonendonner gehört hatten und, dem Schalle folgend, jetzt zu der Fregatte stießen; auch sie brachten Rekruten nach Riga, junge Leute aus Emden, Leer und Bremen, die sämtlich gepreßt waren wie unsere Freunde auf Norderney.

Der letzte Teil der Reise verlief ohne weitere Abenteuer, die Mündung der Düna wurde erreicht, und nun mußte ein Spion gefunden werden, um auszukundschaften, wie in Riga die Verhältnisse standen.

Alle Einwohner waren erfüllt von Liebe für die russische Regierung und demgemäß bereit, die Franzosen als Feinde zu empfangen, soviel wußte man, aber wieweit die eigentlichen Scharmützel schon begonnen hatten, das ließ sich nicht anders als durch einen ausgeschickten Spion in Erfahrung bringen.

Der Kapitän lud den jungen Steuermann zu einer Privatunterredung in seine Kajüte. Onnen war schon da, außer den beiden Ostfriesen standen um den Tisch in der Mitte noch mehrere Schiffsoffiziere und ein Dolmetscher. Der Führer des »Napoleon« hatte eine Flasche Wein bestellt; er zeigte sein verbindlichstes Lächeln.

»Monsieur«, sagte er nach der ersten Begrüßung, »mon cher ami, ich fand während unserer Reise in Ihnen und Ihrem jungen Verwandten zwei tüchtige und entschlossene Leute, die sehr wohl imstande sind, sich im gegebenen Augenblick als Männer zu bewähren. Sie sehen beide dem Tode ins Auge, wie man auf einen gleichgültigen Gegenstand sieht – eiskalt. N'est-ce pas?«

»Ich glaube es, Herr Kapitän«, antwortete Feiko Hansen in durchaus bescheidenem Tone. »Wir nordischen Seeleute sind an Furchtlosigkeit gewöhnt.«

»Eh bien!« nickte der Kapitän. »Sehr schön, sehr schön. Sagen Sie mir, Monsieur Hansen, Sie und dieser junge Knabe, Ihr cousin – Sie würden sehr gern nach Deutschland zurückkehren und von der Militärpflicht ein für allemal befreit werden, nicht wahr?«

»Sehr gern!« antwortete Feiko.

»C'est bien, très bien, mes amis! Sie brauchen Seiner Majestät dem Kaiser, dem ja das Departement des Ostens oder Ostfriesland als Eigentum gehört, wie Sie wissen, heute nur einen geringen Dienst zu leisten und ich schicke Sie beide mit gefüllten Taschen sogleich nach Deutschland. Was sagen Sie dazu?«

Feiko wurde rot wie ein Mädchen, seine Augen blitzten auf. »Der Herr Kapitän mögen mir den Dienst, wovon Sie sprechen, näher bezeichnen«, sagte er ruhig.

»Erst geben Sie ein bindendes Zugeständnis, Monsieur Hansen! oder nein doch, zu allererst trinken Sie ein Glas Wein!«

Feiko hob die Hand, er trat unwillkürlich etwas zurück »Ich bitte, Herr Kapitän – welches ist der Auftrag, mit dem Sie uns beehren wollten?«

»Der Ihnen Geld und vor allen Dingen Freiheit bringen wird, mein Braver!«

Feiko schwieg.

Der Kapitän wurde ungeduldig. »Die Sache ist die, Freund Hansen. Wir müssen jemand an Land schicken – in irgendeiner Verkleidung natürlich, wir müssen erfahren, wie es in Riga aussieht. Dazu kann, wie Sie begreifen, kein Franzose gewählt werden, ein Deutscher aber kommt und geht, ohne Verdacht zu erregen! – Sie haben die Fregatte gerettet, als unser Leben keinen Sou wert schien, tun Sie jetzt das gleiche, mein Freund!«

Feiko sah ihn an, bescheiden, aber mit ruhigem Stolze. »Indem ich für Sie den Spion mache, Herr Kapitän?«

»Für Ihren Kaiser, mein Lieber – ja!«

Feiko schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Kapitän. Ich habe den ›Napoleon‹ durch das Kattegatt gebracht, weil das Schiff einen ortskundigen Führer brauchte, wenn wir nicht sämtlich an den Klippen unser Leben einbüßen sollten – keineswegs aus Neigung für die Franzosen.«

»Während Sie selbst ein französischer Untertan sind, mein Herr!«

»Lassen wir das!« wandte der Steuermann ein.

»Aber bedenken Sie doch, Herr – de l'argent et la liberté! – kann man noch mehr bieten? Bestimmen Sie die Summe.«

»Es gibt keine, für die ich einen so ehrlosen Auftrag übernehmen würde, Herr Kapitän. Wir Deutschen können nie die wahren Freunde Ihres Kaisers sein, das mag ich Ihnen in diesem Augenblick nicht verhehlen.«

»Ah – das ist deutlich, mein Herr! Vielleicht fügen Sie in Ihrer Aufrichtigkeit auch noch hinzu, daß es Ihr eifrigstes Bestreben sein wird, baldmöglichst zu desertieren?«

Feiko verbeugte sich. »Ja, Herr Kapitän. Baldmöglichst.« »Sehr gut, sehr gut, man wird seine Maßregeln zu treffen wissen. Sie können jetzt gehen.«

Der Steuermann wandte sich zu seinem jungen Vetter. »Onnen«, sagte er, »du bist natürlich an meine Entscheidung nicht gebunden. Gib dem Herrn Kapitän deine Antwort ohne Rücksicht auf mich.«

Onnen lächelte. »Das ist nicht erst notwendig«, versetzte er. »Ich wäre gern, unsäglich gern bei meiner armen alten Mutter, aber um solchen Preis würde auch sie mich nicht zu gewinnen wünschen. Die Franzosen haben meinen Vater erschossen, das kann ich niemals vergessen.«

Der Kapitän war rot vor Ärger. »Eine hübsche Gesinnung«, sagte er spöttisch. »Das ist also die berühmte deutsche Treue! – sie verleugnet ihren Souverän!«

Er deutete zur Tür und die beiden Ostfriesen verließen ohne ein weiteres Wort die Kajüte.

Draußen sahen sie einander an. »O Feiko, Feiko – wir hätten die Freiheit erlangen, hätten nach Norderney zurückkehren können.«

Der Steuermann atmete tiefer. »Es hat mich nicht so kalt gelassen, wie du vielleicht annimmst, Onnen! aber – für den Preis einer ehrlosen Handlungsweise wäre mir das höchste Gut zu teuer erkauft. Die Bündnisse deutscher Fürsten mit dem Kaiser Napoleon sind erzwungen durch unsere Notlage – wer es aber von Herzen mit den Franzosen hält, den nenne ich seines Vaterlandes unwert, einen Verräter und Schurken.«

»Ich auch!« rief Onnen. »Gewiß ich auch. Und doch wird der Kapitän einen Boten finden.«

»Du denkst an Adam Witt! – Vielleicht setzt er das ehrenvolle Handwerk seines Vaters hier auf eigene Faust fort.«

Es schien wirklich so. In der Abenddämmerung verließ ein Boot, gerudert von einem einzigen Manne, das Schiff, und während der ganzen Nacht blieb Adam Witts Hängematte leer, dann gegen Morgen kam der Bursche zurück, um sofort vom Kapitän in dessen Kajüte empfangen zu werden. Eine allgemeine Siegesfreude beseelte die Franzosen. In der Ostsee befand sich, den russischen Küsten nahe, seit mehreren Tagen eine englische Flotte, die stündlich vor Riga erwartet wurde, aber noch war der Hafen unbeschützt; zu beiden Seiten des Dünaflusses standen die Preußen unter General Gravert und belagerten die Stadt – diesen konnten die deutschen Rekruten überliefert werden.

Unter dem Schutze der preußischen Kanonen erreichten die französischen Schiffe den Hafen, schickten die junge Mannschaft an Land und verschwanden dann so rasch wie nur möglich, um den in der Ostsee kreuzenden Engländern zu entrinnen. Adam Witt war unter den übrigen Ostfriesen geblieben, er hatte also nicht nach Hause gehen wollen, sondern dachte wahrscheinlich, im Verlauf der Dinge ebenso hübsche Summen zu gewinnen wie eben jetzt, wenigstens klingelte er mit französischem Golde in den Taschen und sah sehr zufrieden aus.

Die Leiden des Krieges sollten indessen für ihn ebenso schnell beginnen wie für alle übrigen Glieder der großen Armee, welche in welterobernder Absicht auszog und zerschmettert und zerschlagen, ein Trümmerhaufen, aus Rußland zurückkehrte. Für Riga war der Kriegszustand erklärt. Von den Wällen wehte die rote Fahne, der russische General Essen hielt Stadt und Vorstädte besetzt, während die Preußen ringsumher in Zelten lagen und vergeblich den Eingang zu erzwingen suchten. Kleinere Scharmützel hatten vielfach stattgefunden, für den morgigen Tag, den 11. Juli 1812, aber sollte ein Handstreich bestimmt sein; die Preußen beabsichtigten, bei Jungfernhof über die Düna zu setzen und die Vorstädte mit blanker Waffe zu erobern. Dann mußte, von allen Seiten eingeschlossen, die Stadt selbst fallen. Eine unerträgliche Hitze lag in der Luft, das Trinkwasser war schlecht, die Rationen mehr als sparsam. Das Lieferungswesen war in voller Unordnung, den Preußen wurde von der Armeeverwaltung nichts geliefert, sie mußten alles mit dem Säbel in der Faust auf den umliegenden Dörfern und Landgütern requirieren; Betten gab es für sie gar nicht, Geld ebensowenig und selbst die Kleidung war zerfetzt und unzulänglich.

Feiko Hansen, Onnen und zehn oder zwölf andere Rekruten hatten ein gemeinsames Zelt erhalten, einige Brote, rohes Fleisch, einen Ledereimer voll Wasser und einen Haufen Stroh; das war alles. Für den Augenblick verlangte man von ihnen noch keinerlei Dienst, am anderen Morgen aber wurde der Weitermarsch angetreten, um zur Armee nach Witebsk zu gelangen. Adam Witt hatte einen Platz auf dem Gepäckwagen gefunden, die übrigen Ostfriesen gingen zu Fuß, geführt von einigen französischen Kompanien, die mit den Preußen den Hafen von Riga besetzt gehalten hatten. Unaufhörlich ergänzten derartige Zuzüge, zur See und durch Preußen anlangend, von allen Gauen Deutschlands gepreßt und geworben, das große Heer des Kaisers, dem auf russischem Boden jenes: »Bis hierher und nicht weiter!« des ewig gerechten Schicksals entgegentönen sollte. Es regnete trotz heißer schwüler Luft, die Mücken stachen und die Zungen klebten am Gaumen. Unsere Freunde glaubten sich in eine völlig fremde Welt versetzt; sie sahen nur Trümmer, wohin das Auge blickte.

In verlassenen Dörfern hauste schlimmes Gesindel, Diebe, Spione, Wegelagerer und Zigeuner, während sämtliche Bauern geflüchtet waren und ihr Vieh mitgenommen hatten. Die Brunnen steckten bis an den Rand voll von Gerümpel und Holzblöcken, die Wege waren aufgerissen, die Räder an den Ackerwagen zerbrochen und die Hausdächer größtenteils abgedeckt.

Aus den scheibenlosen Fenstern sahen Galgengesichter hervor; ein Heer von Spionen bot überall seine Dienste, freilich nur für Geld, und die Franzosen besaßen nichts, die Armee war schon damals, im Beginn der Feindseligkeiten, ohne Ordnung und geregelte Verwaltung.

Sobald am Wege ein Dorf erschien, wurde Halt gemacht, um womöglich etwas Proviant zu erlangen. Ihrer zehn oder zwanzig durchsuchten die Deutschen jedes Haus, jede Scheune, klopften an alle Mauern, an alle Türen, gingen sogar durch die Kirchen – aber nirgends fand sich Brot oder Fleisch. Die Wohnungen waren ausgeräumt, die Heiligenbilder von den Wänden genommen – überall gähnte öde Leere.

Der französische Oberst Jouffrin stampfte mit dem Fuße. »Zum Teufel«, rief er zornig, »wir müssen doch essen! Wo stecken denn die Esel von Bauern?«

Ein junger Bursche, zerlumpt und mit listigem Blick, die Pfeife zwischen den Zähnen, näherte sich den Offizieren.

»Ich weiß es, Herr!« sagte er.

Der Oberst musterte das hübsche, aber verschmitzte Gesicht. »Sind schon vor uns Franzosen hier durchgekommen?« fragte er.

»Viele, Väterchen, mehr als Mücken in der Luft spielen. Und daran fehlt es nicht, sollte ich denken.«

»Gut. Waren damals diese Dörfer noch bewohnt?«

»Ja, ja. Das ist's eben – die Bauern sind klug geworden. Sie wollen ihr Fleisch und ihre Feldfrüchte selbst essen.«

»Wo stecken sie denn, du Schlingel?«

Der junge Taugenichts wiegte den Kopf. »Die Sonne scheint auf ihre Zelte, Herr; der Regen trifft ihre Stirnen – weißt du es nun?«

»Soll ich dir fünfundzwanzig Hiebe aufzählen lassen, Bursche?« Der Russe kicherte. »Das wirst du nicht tun, Väterchen, du willst ja vor Nacht noch Fleisch essen und Bier trinken, glaube ich. Iwan Troikoff kann dir das alles verschaffen.« »Für wieviel Geld?« fragte, gerade auf das Ziel losgehend, der Oberst.

Die Augen des jungen Menschen blitzten plötzlich in aufloderndem Zorne. »Ganz umsonst«, rief er, »ganz umsonst, aber du mußt Iwan Troikoff beschützen gegen seine Feinde, du mußt ihm einen Platz neben deinem eigenen Zelte, deinen Wachen geben.«

»Aha, ich merke schon«, lächelte der Offizier. »Es ist Rachsucht, die dich treibt, nicht wahr, man hat dich irgendwie beleidigt?«

Der Russe nickte. »Peter Semenoff schlug mich«, knirschte er, »sein Weib nannte mich einen unnützen Esser, einen Tagedieb – dafür will ich sie strafen!«

»Aha – mir sehr erwünscht, mein Bester. Sind denn alle Dorfbewohner miteinander im Walde versteckt?«

»Ja – und auch alles Vieh. Kein Franzose kann sie finden.« »Vorwärts, vorwärts!« befahl ungeduldig der Oberst »Nicht aus den Pfützen trinken, Leute! In dem faulen Wasser steckt das Fieber.«

Er ritt wieder voran, ihm zur Seite marschierte Iwan Troikoff und müde und zerschlagen folgten ihm die Soldaten. Seit dem Morgen waren sie bei trockenem Brote, ohne Wasser oder Fleisch, durchnäßt bis auf die Haut, über holperige Wege gegangen und erschöpft zum Umsinken. Keiner pfiff oder sang, keiner scherzte, selbst die Pferde der Offiziere ließen ihre Köpfe hängen.

Vor dem Zuge dehnte sich unübersehbar ein schwarzer Sumpf und der Bursche ging geradewegs den Rändern desselben entgegen. »Mir nach«, rief er, »immer zwei und zwei Mann – ich führe euch hindurch.«

Der Oberst legte die Hand an seine Pistolen. »Und ich bleibe immer hart auf deinen Fersen, Iwan Troikoff, das merke dir! Bei dem ersten Anzeichen des Verrates hast du meine Kugel im Nacken!«

Der Russe lachte hell auf. »Wenn ich heute abend schon sterben wollte, brauchte ich nicht erst stundenlang durch den Sumpf zu wandern, Herr! – Sieh dorthin, die dunkle Wand – das ist der Wald.«

»Und in ihm finden wir Lebensmittel? Weißt du es gewiß, Iwan?«,

Der Junge fing an zu tanzen, er schnippte fortwährend mit den Fingern. »Peter Semenoff hat fette Ochsen und eine Geldkatze so dick wie der Mond! Ha, ha, ha, du sollst fett werden, Herr!«

Und nun verfiel er in einen Gesang, den zwar die Ostfriesen nicht verstanden, der aber das Schelmenlied deutlich erkennen ließ. Dabei behielt er die kleinste Krümmung des Weges im Auge, warnte vor solchen Stellen, an denen die Binsen lang hervorschossen, und führte Unterhaltungen mit den vielen großen Vögeln, die im Röhricht nisten mochten und angstvoll aufflogen, sobald der Zug nahte.

»Heisa, da gehen sie hin, die dicken grauen Gänse! Grüßt den Peter Semenoff, hört ihr wohl – er soll die Geldkatze fester schnallen! – Ha, ha, ha, wie wird er pusten und schnaufen, der Geizhals!«

Und dann tanzte er wieder. Der Gedanke an seine Rache schien ihn förmlich zu berauschen.

Fester und fester trat aus dem Dämmergrau des Regentages die schwarze Wand hinter dem Sumpfe hervor, aber trotz dieser in größere Nähe gerückten Oase erschien doch die Wüste, durch welche das Regiment dahinzog, im höchsten Maße schauerlich und öde. Oft genug stand Iwan Troikoff plötzlich still, hob den Finger und deutete auf eine schwarze, feuchte Stelle unmittelbar neben den Hufen des Pferdes. »Aufgepaßt, Herr! Wer da hineinfällt, den fassen kalte nasse Arme und ziehen ihn hinab, immer tiefer, tiefer, und Blasen steigen auf, eine nach der anderen – das sind seine letzten Seufzer.«

Er ließ einen kleinen Stein auf die trügerische Erde fallen. Wie zäher Teig ging die Masse auseinander und schloß sich wieder, Iwan Troikoff lachte. »Da unten wohnen böse Geister, Väterchen, sie lauern und lauern, daß ihnen fröhliche Menschenkinder in die Arme sinken mögen – ach, wie oft habe ich sie geneckt! Jeden Schritt über den Sumpf kenne ich, hundertmal hüpfte ich an den bösesten Stellen dahin und sie dachten immer, ich werde fallen! Ha, ha, ha, dann dehnte sich Iwan Troikoff behaglich auf sicherem Boden und lachte! – Zuweilen in Mondnächten habe ich die Dämonen auch gesehen; sie tragen lange braune Gewänder und Kronen auf den Köpfen. Oftmals –«

»Vorwärts, Schlingel, was für Dummheiten schwatzest du da! – Hütet euch, Leute; links hinüber! links!«

Die gefährliche Stelle war passiert. Iwan Troikoff machte dem Obersten eine Faust. »Laß nur die argen Worte, Herr, hier bin ich König und du bist Knecht! Fliegt mir's durch den Kopf, so führe ich euch alle auf eine Strecke, wo ihr versinken müßt wie die Ratten. Hoho, je mehr ihr lauft, desto eher; je mehr ihr euch sträubt, desto gewisser! Willst du jetzt hören, was ich oftmals gesehen habe? – In Herbstnächten, wenn der Wind pfeift und Eissplitter durch die Luft wirbeln?«

Der Oberst blieb die Antwort schuldig. Iwan Troikoff tanzte rückwärts vor den Pferdeköpfen, mit beiden Händen fortwährend hierhin und dahin deutend.

»Dann schleichen die Seelen der Versunkenen auf dem Sumpfe herum«, sagte er in geheimnisvollem Tone. »Sie sehen aus wie kleine Flämmchen, blaß und kümmerlich – sie suchen die verlorenen gestorbenen Körper und finden sie nie. Man kann solch einer armen Seele nicht nahe kommen, sie verkriecht sich gleich, und wenn der Morgen hinter dem Walde die Luft rötet, dann fließen alle Nebel auseinander.«

Oberst Jouffrin nickte. »Nun bist du zu Ende, nicht wahr, Schelm? Gott sei Dank, ich glaube, die größere Hälfte des Weges ist jetzt überstanden.«

»Aber die bessere, Väterchen! Hier kann nur ein Mann reiten oder gehen! Gib her die Zügel.«

Der Offizier überließ sie widerstrebend dem lachenden Burschen. »Du hast die Pistole immer hart am Kopfe, Iwan«, sagte er mit warnendem Tone.

»Ha, ha, ha, meinst du wirklich, Fremder? Wenn ich ein ganzes Regiment Franzosen in den Tod schicken würde, dann schenkte mir doch der Zar einen Orden so groß wie eine Tischplatte – aber lieber will ich den dicken Peter Semenoff ärgern!«

Er übersah den Zug. »Bunt wie eine Jahrmarktsgesellschaft! – J'ai faim! Das ist französisch, nicht wahr?«

Und pfeifend führte er das Pferd des Obersten, dem alles Lebende, Tiere und Menschen, ängstlich in gerader Spur nachging. Kein Auge sah den Unterschied des festen und des trügerischen Bodens, dennoch aber erkannte ihn der Sohn dieser wilden Gegend mit solcher Sicherheit, daß er völlig unbekümmert schien. Eine bange herzbeklemmende Viertelstunde verstrich, dann war diese Gefahr vorüber, es wuchs Gras und Strauchwerk, endlich kamen Bäume und Blumen, ein grünes Laubdach, das erste, unter dem Onnen jemals ging.

»Wie schön!« flüsterte er. »Man vergißt alle Müdigkeit!«

»Ich nicht«, erklärte Georg. »Ach, wenn es eine Quelle gäbe!«

»Freund Iwan«, rief Feiko Hansen, »weißt du nicht hier herum irgendeinen Bach oder etwas dergleichen?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Peter Semenoff hat auch Kühe«, versetzte er. »Heisa, ihr sollt essen!«

»Aber jetzt«, fügte er hinzu, »seid ruhig. Ich möchte den Dicken überraschen!«

»Ist denn das Lager schon so nahe?«

»Da! Seht ihr nicht den Rauch? Die alte watschelige Manja kocht Grütze. Werden die Leutchen aber Augen machen!«

»Du reitest voran, Herr«, raunte er, behende zwischen die Pferde und die Soldaten schlüpfend. »Ich habe dein Versprechen!«

Seine Torheiten schienen plötzlich vergessen, er spähte durch das Laub und horchte nach allen Seiten. Weiches Moos quoll unter den Füßen, Vögel sangen und Blumen blühten – ein heller Ton, weich und süß, aber leise, durchdrang die Luft.

»Geigenspiel!« flüsterte Oberst Jouffrin. »Sind die russischen Bauern so verwöhnt, daß sie selbst in den Wäldern Konzerte haben müssen?«

Der Junge nickte lächelnd. »Zigeuner!« gab er zurück »Jasko und Mikosch und der kleine Luiz. Sie spielen und der Bär sammelt.«

»Also Bärenführer? Eine wandernde Bande?«

»Ja. Der alte Mikosch hat Europa schon zweimal vom Norden bis zum fernsten Süden durchzogen – die beiden anderen sind seine Söhne.«

Der weiche Moosboden dämpfte den Schall, sonst hätten die Spielenden längst hören müssen, daß sich ein Zug von fast tausend Menschen näherte. Immer reiner drangen die Töne zwischen den Blättern der Bäume hervor, endlich auch ein Brummen, das lustige Lachen von Kindern und einzelne Stimmen.

»Da, alter Ruff, da, bring deinem Herrn!«

»So, schön, nun mußt du auch danken!«

»Ruff, magst du Zucker?«

Ein Brummen schien den Kindern als »Ja« bekannt zu sein; sie jubelten laut. »Ruff, nun mußt du auch tanzen«, hieß es.

Der Oberst hatte sein Pferd dem Diener überlassen und schlich näher hinzu; rechts und links von ihm die Soldaten, so viele ihrer Platz fanden. Iwan Troikoff hielt sich ganz in der Mitte der Deutschen; er war völlig verstummt.

Unter den Bäumen auf einer Lichtung bot sich ein friedliches, heiteres Bild. Dicht gedrängt standen im Hintergrunde große Leinwandzelte, während vor denselben Frauen und Mädchen mit ländlichen Arbeiten beschäftigt waren; es wurde Butter bereitet, gesponnen, gewebt und gekocht. Zwei Männer hatten soeben einen Ochsen geschlachtet und schnitten jetzt das Fleisch in kleine Stücke, um es den einzelnen Haushaltungen zu überliefern. Im Vordergrunde lagerte eine Schar von Zigeunern, deren Zelte den bunten Putz und leider auch die geringe Reinlichkeitsliebe des wandernden Stammes zur Schau trugen. Mehrere Frauen kochten an einem offen brennenden Feuer eine Suppe, deren Duft die Herzen der Soldaten mit stiller Sehnsucht erfüllte.

Was endlich den Bären betraf, so fraß er Zucker, den seine Zähne hörbar zermalmten und den ihm die Kleinen von allen Seiten herbeibrachten.

Ruff war so zahm, daß keine Mutter Bedenken trug, ihre Lieblinge unbekümmert in seinem braunen Pelz wühlen zu lassen. Die Schnauze steckte in einem Maulkorb aus Eisendraht und zwischen den Vordertatzen trug er eine dicke Stange von gleichem Metall; so ausgerüstet war das gewaltige braune Tier der beliebte Spielkamerad aller Kinder.

Die Zigeuner lagen im Moos und geigten mehr, wie es schien, zu ihrer eigenen als zur Unterhaltung der Bauern, die entweder rauchten oder irgendeine Handarbeit betrieben, bis plötzlich die allgemeine Ruhe durch den Schrei eines Knaben gestört wurde. »Soldaten!« hatte der Kleine gerufen, »Soldaten! O, einer hat eine Trommel!«

Und dann ging es von Mund zu Mund, von einer entsetzten Gruppe zur ändern: »Die Franzosen sind da! – Die Franzosen sind da!«

Sämtliche Männer sprangen auf, die Frauen kreischten, die Kinder flüchteten zu ihren Müttern, die Hunde bellten, die Zigeuner ergriffen schleunigst den Bären und sogar die wilden Vögel in den Baumzweigen begannen ängstlich zu flattern. Es war eine Szene voll Schreck und Verwirrung, keine Stimme konnte sich geltend machen, kein einzelner gehört werden, bis endlich der Oberst dem Tambour winkte und nun ein scharfer Trommelwirbel alles andere übertönte.

Das half. Es entstand ringsumher die Stille banger Erwartung.

Iwan Troikoff drängte sich an den Obersten heran. »Der Dicke da ist Peter Semenoff«, raunte er. »Laß ihn nicht entschlüpfen, Herr, er hat schöne blanke Rubel! – Mich mußt du beschützen; die Leute danken mir's nicht, daß ich euch hergebracht habe!«

»Schweig, Hasenfuß, oder ich rufe den Profoß!«

Dann wandte er sich zu den Bauern. »Ich komme nicht in feindlicher Absicht, Kinder! Frankreich führt mit friedlichen Bürgern keinen Krieg, dagegen aber bedürfen meine Leute dringend der Ruhe und ebensowohl werdet ihr Lebensmittel in genügender Menge herbeischaffen. Tummelt euch, Freunde, schlachtet Ochsen, bringt Brot und Butter, Stroh und Leinwand zu Zeltdecken! Ich hoffe, daß ihr mich nicht erst im Tone des Herrn sprechen laßt!« Einer der Bauern trat mit der Mütze zwischen den gerungenen Händen schüchtern heran. »Herr Offizier«, sagte er demütig, »mit Verlaub, aber wie lange gedenken die Soldaten in dieser Niederlassung zu bleiben? Wir sind arme Flüchtlinge, die –«

»Ihre Häuser abgedeckt und ihre Wagen zerbrochen haben, um dem Heere des Kaisers von Frankreich den Durchmarsch zu erschweren, ich weiß es. Die Ochsen aber nahmt ihr mit, die Feldfrüchte und das bare Geld – jetzt schafft ein Abendessen für tausend Männer, aber rasch. Wir bleiben nur bis Sonnenaufgang.«

Diese letztere tröstliche Verheißung schien den Mut der Leute neu zu beleben; es entwickelte sich ein buntes Treiben, dem man wahrscheinlich nicht ansah, daß bei demselben die Truppen im feindlichen Lande lagerten und daß jeder Bissen, den sie genossen, den heimlich zähneknirschenden Bauern mit keinem anderen als dem Rechte des Siegers entzogen wurde.

Hinter den Zelten floß ein klarer Bach, in dessen Wasser Menschen und Pferde ihren Durst löschten; die Feldflaschen wurden gefüllt, die Oberkleider zum Trocknen an das Feuer gehängt und die müden Glieder ausgestreckt. Halbe Ochsen brieten am Spieß und verbreiteten weithin ihren angenehmen Duft, Flaschen und Krüge spendeten das schäumende Bier, Brot und Butter stapelten sich zu ganzen Bergen.

Die Soldaten aßen wie ausgehungerte Menschen; sie gedachten weise des kommenden Tages und stopften in die Tornister, was irgend Platz finden wollte, dann kamen die leeren Pfeifen zum Vorschein und nun mußten die erbitterten Bauern auch ihren Tabaksvorrat herausgeben. Schließlich legten einige ganz verwegene Unteroffiziere einen Haufen von Brettern auf dem Moosboden sorgfältig auseinander, die Zigeuner spielten einen flotten Walzer und mit echt französischem Leichtsinn verbeugten sich die jungen Leute vor den russischen Frauen und Mädchen, um mit ihnen zu tanzen.

Die Alten ärgerten sich sehr, es fehlte nicht an Blicken und Winken, aber trotzdem trug doch das Vergnügen den Sieg davon. Man walzte, daß die Bretter wie ein Pelotonfeuer klapperten und daß die Herzen höher schlugen in harmloser Freude.

»Sechsundzwanzig Ochsen!« grämelte Peter Semenoff, der reichste Mann des Dorfes. »Sechsundzwanzig Ochsen und gegen zweihundert Pfund Butter, von Brot und Käse gar nicht zu reden! O du heilige Mutter Gottes, welch ein Schade!«

»Und das Bier und der Tabak«, sagte ein anderer.

»Und was sonst noch nachfolgt!« »Wie meinst du das, Loris Zdenko?«

Der andere wiegte bedächtig den Kopf. »Ja, ja, Väterchen, wer so eine Kriegszeit schon einmal durchlebte, der weiß, was Kontributionen sind, hm, hm – in Barem nämlich.«

»Ach Gott! –«

Und Peter Semenoff vollführte jene Bewegung, welche gewöhnlich auf vorhandene Magenschmerzen hindeutet; seine kleinen Augen funkelten vor Zorn. »Das ist der Taugenichts, der Iwan Troikoff«, sagte er, »diese unnütze Kreatur hat uns die Buntröcke herbeigezogen, natürlich weil wir den Müßiggänger nicht durchfüttern wollten und weil ich ihm diese unsere Meinung mit dem Peitschenstiel beibrachte. Vielleicht treibt er sich nun in Zukunft auf der Landstraße umher und führt alle vorüberziehenden Rotten in unser Versteck – bloß um sich zu rächen.«

»Daran dachte ich eben auch, Peter!«

Der Dicke beugte sich weiter vor. »Zdenko«, flüsterte er, »wir könnten ja geschunden werden bis auf die Knochen. Wollen wir uns das gefallen lassen?«

»Pst, der Oberst kommt! Nachher sprechen wir weiter.«

Der Offizier machte sich in den Zelten zu schaffen, sah alles, untersuchte alles und fand schließlich, daß Peter Semenoffs Wohnung für ihn gerade passend sein werde; die fünf oder sechs benachbarten Zelte dagegen für seine Offiziere.

Der »Schinder« sprach in diesem Augenblick sehr leutselig; der allgemeine Wohlstand, dem seine Blicke begegneten, tat ihm äußerst wohl, er gab gewissen Plänen, die den Braven beschäftigten, eine solide, beruhigende Basis.

Das Zelt wurde in Beschlag genommen; Frau Manja mit ihren Sprößlingen mußte sehen, wo sie ein Unterkommen fand, und auf dem sauberen Leinen ihrer Betten lagen unbekümmert die schlammüberzogenen Reiterstiefel des Obersten.

Draußen tanzten die jungen Leute und lachten und scherzten, während die alten wetterten und fluchten. Unsere Norderneyer Freunde nahmen an dem allgemeinen Vergnügen keinen Anteil, sondern lagen ausgestreckt im Moos und genossen die Ruhe des Augenblickes, so gut es eben ging. Onnen und der alte Zigeuner hatten sich in ein lebhaftes Gespräch vertieft, während Ruff, der Bär, wie ein Hund neben den Menschen am Feuer lag.

Mikosch war auf seinen Kreuz- und Querzügen auch zweimal nach Ostfriesland und darunter einmal sogar nach Norderney gekommen; Ruff war es gewesen, dessen Andenken im Herzen aller Norderneyer Kinder unvergänglich fortlebte, er, der einzige Bär, den sie je gesehen. Auch Onnen erinnerte sich jenes großen Tages und anderseits wußte der Zigeuner noch genau, wie reichlich Frau Douwe seine Kleinen beschenkt hatte, wie gut ihm die Mahlzeiten des gastfreien Hauses damals schmeckten.

Die Geige verfiel in eine leise wehmütige Melodie; ungesehen rollte Träne um Träne aus Onnens Augen in das Moos. Unter den rauschenden Wipfeln des Buchenwaldes erschien ihm das Bild der einsamen Sandinsel, des frischen Grabes, in dessen Ruhe sein Vater schlief; er fühlte das Herz mächtig klopfen im Gedenken an die geliebte, teure Heimat.

Feiko Hansen drückte ihm leise die Hand. »Nur Geduld, Vetter, der liebe Gott verläßt keinen Deutschen. Wir kommen glücklich davon, eine innere Stimme sagt es mir.«

»Aber du siehst doch, daß wir offenbar bewacht werden! Unser Zelt liegt in der innersten Mitte derer, welche von den Franzosen besetzt sind.«

»Weil ich dem Kapitän des ›Napoleon‹ rund heraus erklärte, daß wir zu desertieren beabsichtigen. Oberst Jouffrin weiß es ohne Zweifel, aber trotz aller Sorgfalt entwischen wir ihm doch, wenn auch erst später.«

Allmählich erloschen die Wachtfeuer; eine Kette von Posten, natürlich aus lauter Franzosen bestehend, umgab rings das Lager, und Tiere und Menschen schliefen fest, selbst der Bär lag an seiner Kette wie ein harmloser Hund, und wenn irgendwo ein Geräusch ertönte, dann erhob er den Kopf, um zu knurren.

Einmal, kurz nach Mitternacht, wurde sein Brummen stärker. Mikosch erwachte und spitzte die Ohren – klang es nicht aus dem dichteren Walde herüber wie ein klagender Ton, ein Ächzen?

Dürre Äste krachten; mehrere Männer schienen sich eiligst davonzuschleichen. Der Zigeuner sah, daß seine beiden Söhne ruhig schliefen, er kümmerte sich also um den Vorgang nicht weiter und erst später am Morgen fiel ihm das Ereignis der Nacht wieder ein.

Man fragte und suchte – Iwan Troikoff war wie in den Boden hinein verschwunden.

Oberst Jouffrin schien mit dieser Entdeckung nicht unzufrieden, er trieb zur Eile und befahl, sich um den vermißten Burschen nicht weiter zu bekümmern, dann hatte er mit Peter Semenoff, seinem unfreiwilligen Gastgeber, eine Unterredung ohne Zeugen, in deren Verlauf eine Geldkatze geöffnet und, ziemlich schlank geworden, wieder verschlossen wurde. Die Gesichter der beiden Männer wichen in ihrem Ausdrucke bedeutend voneinander ab; das des Obersten glänzte in vollkommenem Behagen, während das des Bauern mehr einem durchschnittenen Käse glich. Es war fahl vor Gram.

Die Trommeln rasselten; eine Schar Ochsen und Kühe stand marschfertig, hie und da wurde noch von den Franzosen irgendein Gegenstand, den sie gerade gut brauchen konnten, wie zufällig mitgenommen, und dann kam der Abschied.

»Lebt wohl, ihr Zigeuner! und wenn ihr je nach Norderney kommt, grüßt mein Heimatland!«

»Wir werden Euch selbst begrüßen, junger Herr!«

Onnen lächelte. »Wie Gott will, Alter!«

Der Zug setzte sich in Bewegung. Bauernburschen in langen Blusen und plumpen Schuhen trieben die Ochsen und Kühe nebenher, während ein anderer vorausging, um in einem dichten Walde als Führer zu dienen.

Iwan Troikoff war und blieb verschwunden.

Während das Regiment durch den taufrischen Wald marschierte und Hirsche und Rehe vor sich aufjagte, stand unter den Zelten des Dorfes ein armer Sünder mit weißem Gesicht und schlotternden Knien zwischen einer Gruppe von ernstblickenden Männern. Etwas seitab befestigte jemand an einem starken Baumstamme eine Hanfschnur, fortwährend beobachtet von dem jungen Menschen und auch von einem Popen, dessen Hände ein Kreuz aus Ebenholz hielten.

»Ihr solltet doch einen anderen, weniger grausamen Ausweg suchen, meine Kinder«, sagte in ermahnendem Tone der Geistliche.

Niemand hörte ihn. Peter Semenoff stand mit geballter Faust vor dem aschbleichen Sünder. »Iwan Troikoff«, sagte er, »gestehst du, die Franzosen hierhergeführt zu haben?«

»Sie zwangen mich«, stammelte der Bursche.

»Das lügst du, denn es ist unter ihnen niemand, der unser Versteck kannte. Du bist ein Verräter an deiner Dorfgemeinschaft, du hast aus Rachsucht gehandelt!«

»Ein Bubenstreich sondergleichen!« rief Zdenko.

»Der uns Tausende von Rubeln kostet und dessen Wiederholung wir vermeiden wollen. Bereite dich zum Tode.«

Der junge Mensch kreischte laut auf. »Ich verlange nach Gesetz und Recht behandelt zu werden«, schrie er.

»Die gibt es im Kriege, wenn feindliche Horden das Land besetzt halten, nur insofern, als sich die Bürger ihrer eigenen Haut nach Möglichkeit wehren. Du mußt sterben.« Sie führten ihn ungeachtet seines heftigen Sträubens bis zu dem Baume, dessen untere Äste die Schlinge trugen. Während ihm der Pope laut betend das Kreuz an die Lippen hielt, warfen entschlossene Hände das Seil um seinen Hals und die Hinrichtung war vollstreckt.

Iwan Troikoff zuckte nicht mehr. Die Todesangst mochte schon vor dem letzten schauerlichen Akte sein verwirktes Leben geendet haben.

Peter Semenoff strich über die Geldkatze. »Noch einmal und sie wäre leer gewesen«, murmelte er. »Das ging so nicht, nein, das ging unmöglich.«


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