Sophie Wörishöffer
Onnen Visser - Der Schmugglersohn von Norderney
Sophie Wörishöffer

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19

»Feuer! Feuer!«

Ein blutroter Flammenkranz umgab die Stadt. Vor dem Dammtor, auf allen Wällen, auf dem Hamburger Berge loderten die Feuersäulen gen Himmel, in den Straßen liefen die Bewohner wie außer sich umher; jeder einzelne fragte, weinte, rang die Hände, niemand konnte Auskunft geben.

Zuerst glaubten die Leute an ein Unglück, dann wurden sie verwirrt und schließlich von Verzweiflung ergriffen. Am Abend vorher war Marschall Davoust durch Hamburg geritten und hatte seinem Adjutanten die zum Verbrennen ausersehenen Häuser oberflächlich bezeichnet – heute morgen erschienen Soldaten, trieben mit blanker Waffe die Bewohner hinaus und legten Feuer in die Zimmer, die Betten und Schränke.

Vor der Kirche auf dem Hamburger Berge stand eine Rotte verwilderter Pariser, umgeben von einer doppelten Anzahl Zivilisten; es waren keine Offiziere zugegen, die Soldaten scheuten sich daher auch nicht, mit den Kolben die Türen einzuschlagen und um den Inhalt der Armenbüchse jetzt schon zu streiten.

Das eisenbeschlagene Tor gab nach, es stürzte und die ganze Schar wälzte sich in den innern Raum der Kirche. Eine brennende Teerbütte wurde mitgeschleppt, Altar und Kanzel angezündet und dann die Bänke, die Bilder an den Wänden zerstört. Der Armenblock lag in tausend Trümmern; den Inhalt hatten die Soldaten unter Schimpfen und Prügeln an sich gerissen.

Von hier ging es weiter bis zu den nächstliegenden Häusern. Die Bewohner, belehrt durch das Geschehene, trugen in fliegender Hast auf die Straße hinaus, was sie zu retten wünschten; ganze Berge von Betten und Möbeln stapelten sich in den zum Teil engen Gassen, Tiere brüllten, quiekten und gackerten durcheinander, der Budenbesitzer brachte seine Marionetten, Polichinell seine Schellenkappe in Sicherheit.

Aber auch Wiegen mit ganz kleinen Kindern standen auf den überfüllten Straßen, Todkranke, Fiebernde lagen in ihren Betten, dem Regen und der Sonnenglut schutzlos ausgesetzt – Leichen in Särgen, die von den Franzosen scheu gemieden und von dem gereizten Pöbel als Gegenstand roher Scherze mißbraucht wurden.

Jetzt ging es an ein Krankenhaus. Der Hausverwalter wollte an der Schwelle desselben den eindringenden Soldaten Widerstand leisten und wurde sogleich zu Boden geschlagen. Über seinen verstümmelten Körper ging es hinein in die Stätten des Elends.

Eine Anzahl bespannter Lastwagen hielt vor den Türen; durcheinander schwatzend in roher Eilfertigkeit packten die Soldaten alle Arten von Kranken, halbverhüllt wie sie waren, auf das Stroh und trieben zu gleicher Zeit die, welche noch gehen konnten, mit flacher Klinge hinaus.

Sterbende, Bewußtlose wurden den Betten entrissen – nun erhob sich der Sturm, welcher in den Seelen der Zuschauer so lange schon gefesselt lag; sie drangen auf die Franzosen ein. Jammernde Frauen warfen sich auf die Kranken, Mütter hielten ihre Kinder, der Freund den Freund umfaßt, laute Weherufe drangen zum Himmel empor.

Kräftige Fäuste fielen den Pferden in die Zügel, rissen die Soldaten vom Kutschersitz. »Wohin wolltet ihr die Kranken bringen?« hieß es.

»Fort! Fort! Je ne sais pas!«

»Also nur hinaus, gleichviel wohin?«

»Oui! Oui! Fort!«

Ein herkulischer Hamburger, ein sogenannter Heuerbaas trat den Soldaten entgegen, beide Fäuste geballt, das Gesicht weiß vor maßloser Wut. Er deutete mit der Rechten auf ein nahestehendes, vom Keller bis zum Dachstuhl brennendes Haus, dann auf die leblose Gestalt eines jungen Menschen, der im Stroh eines der Wagen lag und mit seinem von der Krankheit verzerrten Antlitz völlig einer Leiche glich.

»Gestern abend noch sagte mir der Arzt, daß mein Kind gerettet werden könne!« schrie er, »nur vollständige Ruhe brauche der arme Schelm, Schlaf und Stille – jetzt mordet ihr ihn, nachdem ihr mein Haus in Brand gesteckt habt, ihr Schurken! Ich bin ein Bettler, mir ist alles geraubt – seid verflucht dafür, verflucht bis in den letzten Abgrund der Hölle!«

Er schlug mit den bloßen Fäusten auf die Franzosen ein, andre folgten seinem Beispiel, es entspann sich ein allgemeiner Kampf, bei dem natürlich die Soldaten Sieger blieben. Ströme von Blut bedeckten das Straßenpflaster; zwischen den brennenden Häusern lagen Tote und Verwundete am Boden, immer weiter griffen die Flammen, hierhin und dorthin ohne Widerstand, immer mehr einzelne Trauerzüge bewegten sich nach allen Richtungen. Wer sein Kind, seinen Freund oder Bruder unter den vertriebenen Kranken wußte, der eilte herbei, um das teure Leben zu retten. Weiterhin gegen Altona öffneten sich die vom Brande verschonten Häuser und nahmen die unglücklichen Opfer auf, während solche Verlassene, denen hier am Orte kein Freund, kein Angehöriger lebte, unter Gottes freiem Himmel, halb nackt auf faulendem Stroh ihr Dasein aushauchten. Mit zerschlagenen Gliedern lagen die Verteidiger am Boden – im Geschwindschritt rückte eine Kompanie Franzosen heran. Der Pöbel flüchtete – sechs Gefangene wurden, an Händen und Füßen gefesselt, den Truppen überliefert.

Darunter der Heuerbaas. »Rettet meinen Sohn!« schrie er wie außer sich. »Da liegt er immer noch auf dem offenen Wagen – o Gott im Himmel, rettet ihn doch!«

Niemand hörte den armen Vater; er wurde fortgeschleppt, während sein Sohn den letzten Kampf des Lebens kämpfte. »Ich besitze ja noch einen Anteil an einem Schiff!« schrie er, »Geld! Geld! Ihr sollt alles haben, aber rettet meinen armen Jungen!«

Vergebens! Kanonen wurden aufgepflanzt, um unter ihrem Schutze das Werk der Zerstörung fortzusetzen; die sechs Gefangenen warf man in irgendeine lichtlose Höhle, die Wagen mit den Sterbenden wurden auf das Heiligengeistfeld hinausgeschoben und dort ihrem Schicksal überlassen.

Am andern Morgen begann dann an derselben Stätte, dem großen freien Platze vor dem Millerntor, ein schauerlicher Akt. Wo jetzt die eleganten Paläste der Eimsbütteler Straße stehen, da drängte sich Kopf an Kopf eine bange, zitternde Menge. Was war es, das die Soldaten zimmerten?

Ein großer Galgen – eine Richtstätte.

Da gab es keinen Prozeß, kein Recht und kein menschliches Verfahren. Marschall Davoust unterzeichnete für sechs unbescholtene Hamburger Bürger, für Männer, welche ihre kranken Angehörigen verteidigt hatten, das Todesurteil, dem die Vollstreckung auf dem Fuße folgte. Ohne Begleitung eines Geistlichen, ohne daß man ihnen gestattet hätte, das Blut von Gesicht und Händen zu waschen, wurden die sechs braven Patrioten hinausgeführt.

»Sie kommen!« murmelte die Menge. »Sie kommen!«

Frauen fielen in Ohnmacht, Männer wurden blaß wie Sterbende; aller Augen sahen hinüber zum Millerntor, von dem der Zug ausging.

Der Vorderste war der Heuerbaas. Ohne Mütze, mit zerrissenen Kleidern und verworrenem Haar, das Gesicht von Blut bedeckt, so ging er schwankenden Schrittes in der Mitte der Soldaten; sein linker Arm hing schwer wie Blei, regungslos am Körper herab.

Als der Zug unter dem Galgen hielt, sah der unglückliche Mann, mühsam den Kopf bewegend, hinüber zu seinen schluchzenden Mitbürgern. »Leute«, sagte er, »liegt mein armer Knabe noch dort auf dem Wagen?«

Ein Schifferknecht in der Menge schüttelte traurig den Kopf, »Nein, Wilm von Spreckelsen, ich hab' ihn in mein Haus getragen.«

»Und er lebt noch, Hein?«

Der Schiffer sah zu Boden, er winkte mit der Rechten. »Gott wollte es anders, Baas – meine Frau und ich taten was wir konnten!«

Der Gefangene nickte. »Es ist gut so, Hein. Was sollte der arme Johannes auch leben? Er wäre zugrunde gegangen ohne mich. Aber ich danke dir, Mann, auch deinem Weibe – Gott segne euch beide!«

Die Frau des Schiffers fiel auf ihre Knie, sie hob die gefalteten Hände empor. »Geht ein zum Frieden, Baas«, rief sie, »Gott schenke Euch eine selige Urständ! Ihr habt uns in manchem harten Winter geholfen, habt uns beigestanden in aller Not, das soll Euch die Erde leicht machen!«

»Ja, ja«, rief eine alte, halblahme Frau, »der liebe Heiland vergelte Euch, was Ihr Gutes getan habt – an mir und an andern!«

»Es ist keiner, der Euch nicht hochachtet, nicht bedauert, Wilm von Spreckelsen!«

»Geht heim in Frieden und Gott wird Euch gnädig sein!«

Der Heuerbaas nickte. »Ich danke euch, Landsleute! Hab meine Grabrede noch bei Lebzeiten mit angehört, das freut mich! Gott sieht auf das Herz – na und darin wird er ja keine argen Gedanken finden.«

Auch den übrigen fünf Verurteilten hatten einzelne aus der Menge Abschiedsworte zugerufen, während die Franzosen ihren Opfern die Röcke auszogen und ihnen die Schlingen überwarfen.

Ein kurzes Durcheinander, ein schnelles Hantieren und die Versammelten bargen schaudernd ihre Gesichter. Am Galgen hingen sechs Gerichtete – Bürger, die es gewagt hatten, die Hände gegen französische Soldaten zu erheben.

Sogleich nach vollzogener Exekution marschierte das Militär mit gefälltem Bajonett den dichtgedrängten Massen entgegen und trieb die Tausende vor sich her. Die Leichen blieben am Galgen hängen, wohl zur Warnung für die Lebenden – erst nach längerer Zeit wurden die mit Lumpen bedeckten Skelette herabgenommen.

In der Gegend des Grindels, vor dem Dammtor und auf den Kirchhöfen ging unterdessen die Zerstörung ebenso emsig fort wie auf dem Hamburgerberge, wo in zwei Tagen und Nächten 881 Wohnhäuser, 103 Fabriken und 454 Buden nebst der doppelten Anzahl von Ställen, Schuppen und Hintergebäuden den Flammen zum Opfer gefallen waren.

Vor dem Dammtore standen die Häuser der Reichen; auch hier wüteten Feuer und Zerstörung mit gleicher entsetzlicher Macht, wenn auch ohne jenen Lärm, jene laute Klage, in die das niedere Volk bei seinen Leiden ausbricht. Die Bewohner dieser Paläste waren längst geflüchtet, ihr Eigentum geraubt oder konfisziert – nur die Baulichkeiten standen noch und fielen jetzt knisternd und knatternd dem gefräßigen Elemente zum Opfer.

Ebenso die Grabdenkmäler rings um das Dammtor her. Davousts Mordbrenner hatten die Steine und Kreuze zerschlagen, die Gebüsche herausgerissen, die Blumen zertreten und die Einfriedigungen niedergeworfen.

In diesen Tagen erschien auch wieder eine neue französische Proklamation. »Alles vorhandene Holz, alle Korbweiden, Eisenbeschläge, aller Hanf und Teer sind für den Dienst der Stadt konfisziert. Niemand darf von den genannten Gegenständen etwas für sich zurückbehalten, niemand etwas verkaufen oder verstecken, bei Strafe augenblicklichen Todes oder doch mindestens der Landesverweisung.«

Ganz Hamburg rauchte wie ein einziger ungeheurer Schlot. In der Hafengegend wurden mächtige Bollwerke errichtet, aller Handel zur See oder zu Lande war abgeschnitten, halb St. Pauli in einen Schutthaufen verwandelt und die Kirchhöfe verwüstet. Jetzt zog das Unwetter gegen die gefüllten Speicher und Holzlager heran; Scharen von Soldaten schleppten die Früchte langjährigen Fleißes davon, unbekümmert um die Verzweiflung derer, welche sich des letzten beraubt sahen.

Eines Tages wurde ein großes Holzlager in der Gegend des Mastberges ausgeplündert, als Mikosch und Onnen des Weges kamen. Der kommandierende Offizier trat sofort an sie heran. »Hierher, Vagabunden, zugegriffen, marsch! Bringt das Holz auf die Wagen!«

Eine Weigerung hätte den Kopf kosten können. Onnen begab sich daher sogleich an die Arbeit, während Mikosch, klug genug, den gestrengen Herrn bat, ihm die Kunststücke seines Bären zeigen zu dürfen. Die Soldaten lachten, es gab Trinkgelder und der schlaue Zigeuner fand Gelegenheit zu entschlüpfen.

Im Bretterschuppen stand mit verschränkten Armen ein junger Mann – Onnen erkannte ihn auf den ersten Blick; es war der, welcher ihn damals in der geheimen Versammlung angeredet hatte; jetzt sah er starr vor sich hin, wie jemand, dessen Blicke auf ein offenes Grab gerichtet sind.

Onnen berührte leise seinen Arm. »Herr Pehmöller!«

Der Kaufmann schrak auf. »Ach – Sie sind es! Jetzt kann ich mein Firmenschild herunternehmen und betteln gehn. Vielleicht auch mit einem Bären!«

Die Tränen des Zornes blitzten in seinen Augen. »Sie schleppen auf Kommando auch mit, nicht wahr? Nur immer zu; wer mein Eigentum davonträgt, ist schließlich gleichviel.«

Onnen fühlte sich äußerst peinlich berührt »Wird man Ihnen denn nicht wenigstens einen mäßigen Ansatz vergüten, Herr Pehmöller?« fragte er leise.

Der Geplünderte lachte laut auf. »Vergüten? – Aber wartet, ihr Schufte, wartet, jetzt bindet mich nichts mehr an Hamburg, auch die meisten andern nicht – sie sind alle ruiniert wie ich. Es bleibt nur noch übrig, seinen unstillbaren Haß, sein Leben gegen die Unterdrücker in die Schale zu werfen.«

Er zwang sich gewaltsam zur Ruhe. »Heute abend ist außerordentliche Versammlung an der bekannten Stelle«, sagte er. »Es sind Briefe von den bei Tettenborns Korps stehenden Kameraden gekommen – wir müssen eine neue Kompanie bilden. Oho, es geht alles trotz der Franzosen! Major von Pfuel verlangt Ersatz und der soll ihm werden.«

»Sie gehen also fort zum Kriegsschauplatz, Herr Pehmöller?«

»Hunderte gehen, Hunderte aus Hamburgs besten Familien. Einzeln gelangen wir nach Altona und von dort über die Elbe. Haben sie nicht erst kürzlich gelesen, was alles zur Strafe für die Abwesenden angedroht wird? Ihre Güter sind dem Sieger verfallen, sie zahlen ungeheure Strafsummen, sie sind des Landes verwiesen, ehrlos, Hochverräter und Gott weiß was alles! – Adieu übrigens – ich mag's nicht länger mit ansehen!« Er ging fort, Verzweiflung im Herzen. Rechts und links schleppten die Soldaten davon, was die Arbeit seiner Vorfahren, seine eigne unermüdliche Tätigkeit in einer langen Reihe mühevoller Jahre zusammengetragen hatte. Stapel nach Stapel verschwand, Haufen nach Haufen, ein Balken, ein Baum nach dem andern. Leer und verödet gähnten die Schuppen.

Draußen auf der Straße vor dem hochgiebeligen alten Kaufmannshause hatte unterdessen eine Szene noch trostloserer Art ihren Anfang genommen. Während vom Hofe das Besitztum des Holzhändlers einfach weggeschleppt wurde, brachen Soldaten in das geschlossene Wohnhaus und trugen Typhuskranke hinein, indem sie befahlen, denselben sogleich Betten zu verschaffen und sie auf das sorgfältigste zu verpflegen.

Die junge Frau des Kaufmanns schrie laut auf, so heftig und plötzlich war ihr Erschrecken. »Meine Kinder!« rief sie voll Todesangst, »meine Kinder! – Nein, nein, ich kann keine Kranken aufnehmen – hinaus, hinaus, ehe die Luft mit Ansteckungsstoffen erfüllt wird!«

Der Offizier, welcher das Kommando führte, verbeugte sich artig, aber er bedauerte, an dem einmal gegebenen Erlaß durchaus nichts ändern zu können. »Der Herr Marschall, Prinz von Eckmühl befiehlt!« weiter antwortete er keine Silbe.

»Aber weshalb denn gerade dies Haus?« rief händeringend die junge Frau. »Kann man nicht ein öffentliches Gebäude nehmen?«

»Es stehen schon vierhundert Häuser, öffentliche und private, im Dienste der Regierung, Madame. Unsre kranken Soldaten bedürfen der hohen, gutgelüfteten Säle – wir nehmen dieselben natürlich, wo sie zu finden sind. Ein Zimmer für Ihren besonderen Gebrauch wird Ihnen indessen unter jeder Bedingung gelassen werden.«

Frau Pehmöller zog ihre beiden Kinder zu sich, sie war vor Furcht fast von Sinnen. »Wo ist mein Mann?« rief sie. »Karl! Karl! – Hat niemand ihn gesehen?«

Die beiden Dienstmädchen weinten. Zu zwei und zwei trugen französische Soldaten ihre todkranken Kameraden in das Haus, in jedes Zimmer, jeden Raum, wo irgendein Mensch Quartier finden konnte; sie plünderten die Betten, die Leinenschränke, sie holten aus dem Stall Heu und Stroh herbei und schütteten es rücksichtslos auf Möbel und Teppiche, deren Wert nach Tausenden zählte.

Frau Pehmöller mußte endlich erfahren, was sich auf dem Holzplatz zugetragen, sie begann neben allem übrigen jetzt auch für ihren Mann zu fürchten, nahm kurzentschlossen das jüngste Kind auf den Arm, das ältere an die Hand und verließ ihr Haus, in welchem sie bis vor einer halben Stunde glücklich und zufrieden gelebt, im Besitz eines gesicherten Wohlstandes und einer schönen geräumigen Heimat – jetzt eine Bettlerin, der nichts mehr geblieben, als nur die beiden weinenden Kinder und der Glaube an Gottes ewige Gerechtigkeit.

Weinend und händeringend folgten ihr die Mägde. »Wohin mit uns, Frau? Um Gott, wir können jetzt in dem Hause nicht mehr bleiben.«

Die Unglückliche schüttelte leise den Kopf. »Ich weiß es nicht, Hanne und Dore – ich hab' ja selbst keine Heimstätte mehr! Ach, wäre mein Mann hier!«

Sie eilte auf die Straße hinaus, ihre Kinder an sich drückend, verwirrt, vor Furcht und Schreck beinahe bewußtlos. Französische Soldaten füllten den Platz, Wagen mit Kranken und Sterbenden hielten überall, aus den benachbarten Häusern flüchteten die Einwohner, ohne zu wissen, wohin. Alte Leute, Kinder, Krüppel und Säuglinge, alles wurde hinausgeschoben und niemand fragte, wer die Vertriebenen aufnehmen solle.

Onnen näherte sich voll tiefen Mitleids der jungen Frau; er dachte an den Tag, wo auf Norderney die englischen Handelsartikel so freventlich verbrannt wurden, und an die arme alte Folke Eils, die sein verstorbener Vater mit sich nahm, um ihr barmherzig und freundlich in seinem Hause eine Zuflucht zu gewähren – heute stand Frau Pehmöller mit ihren Kindern so verzweifelt auf der Straße, hilflos und ohne Heimat; er wollte sich der Unglücklichen annehmen, so gut es ging.

»Madame«, sagte er, höflich den Hut ziehend, »lassen Sie mich das Kind tragen. Ihr Herr Gemahl sprach noch vorhin mit mir!«

Ein Freudenschimmer überflog das blasse Gesicht der Dame. »Schickt Herr Pehmöller Sie zu mir, mein Lieber?« fragte sie hastig.

»Das allerdings nicht, Madame, aber ich finde Gelegenheit, ihn heute abend zu sehen. Einstweilen darf ich Ihnen gewiß meine Dienste anbieten – Sie haben Freunde, zu denen Sie gehen werden?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Erst möchte ich doch mit meinem Manne sprechen! – O Gott, was ist aus Hamburg geworden!«

Sie weinte bitterlich. »Wohin mit den kleinen Kindern? Alle, die wir kannten, mit denen wir befreundet waren, sind längst auf und davon.«

»Sie wissen also nicht, wohin Sie sich jetzt wenden sollen, Madame?«

Frau Pehmöller seufzte. »Ich muß in ein Wirtshaus gehen – in irgendein Hotel. Ob wohl die Franzosen unsere Schränke respektieren werden? Es liegt noch eine größere Summe im Kasten, alles Geld, was wir besaßen.«

Onnen antwortete ausweichend; er wußte ja nur allzu wohl, daß sich die Soldaten nichts entgehen lassen würden, aber das erfuhr die arme Frau immer noch früh genug, und so geleitete er sie in ein Hotel, fest entschlossen, das Mitleid der Baronin Liliencron für die Unglückliche zu gewinnen. Ihr war alles verloren, da ja ihr Mann zur Hanseatischen Legion ging und vielleicht im Augenblick gar nichts für sie zu tun vermochte.

Zunächst trug er das kleinste Kind in ein Hotel und eilte dann nach Hause, um seinen Anzug zu säubern und sich nach Altona zu begeben.

Am Millerntor mußte er seinen Erlaubnisschein vorzeigen und stand dann draußen auf dem Aschenfelde, das vorhin eine kleine Stadt für sich gewesen und wo jetzt Handel und Verkehr für lange Zeit schwer geschädigt daniederlagen. Vom Heiligengeistfelde herüber nickten im Wind die Körper der Gehängten, Schutt und Trümmer lagen auf den Straßen, obdachlose Menschen wohnten in Zelten und in Holzbaracken, alle Geschütze der Bastionen rings um Hamburg kehrten ihre toddrohenden Mündungen gegen die Stadt selbst.

Als unser Freund das Nobistor passiert und Altona erreicht hatte, glaubte er sich für den Augenblick in eine andre Welt versetzt. Hier war alles ruhig und friedlich, jeder Bürger arbeitete, Kinder spielten auf den Straßen, Händler riefen ihre Waren aus. Kaum eine Viertelstunde von der eigentlichen Stadt Hamburg entfernt und unmittelbar an das dazwischenliegende Sankt Pauli grenzend, schien Altona von den Wirren und Kämpfen, welche das Nachbargebiet durchtobten, vorläufig in keiner Weise berührt.

Am Quäkertor lag das stattliche Haus, in welchem jetzt der Baron wohnte. Ein großer Garten und mehrere Hintergebäude umgaben den Besitz; hier grünte und blühte der Hochsommer in vollentfalteter Pracht, alte Kastanien ragten über die Mauern und Fruchtbäume bogen sich unter dem Segen an ihren Zweigen.

Onnen wurde sogleich vorgelassen; er fand die Familie im Garten versammelt und sah sich von den Kindern auf das lebhafteste bewillkommnet, obgleich alle vier sehr enttäuscht fragten, ob er denn den Bären diesmal zu Hause gelassen habe. Es gab einen großen Korb voll Fallobst, das Ruff verzehren sollte; die Knaben zogen ihn hervor und Onnen mußte feierlich versprechen, den vierbeinigen Freund bei seinem nächsten Besuche jedenfalls mitzubringen.

Ihm klopfte das Herz, als er dem Obersten entgegenging. »Noch kein Brief aus Norderney!« er las es schon in dem Gesichte des gütigen Mannes, aber dieser tröstete ihn sogleich, daß der betreffende Freund aus Emden erst in den nächsten Tagen zurückerwartet werde und daß er sich daher nur noch kurze Zeit gedulden müsse – dann fand Onnen Gelegenheit, bei der Baronin für die arme Frau Pehmöller eine Bitte auszusprechen.

»Den Leuten ist alles genommen«, sagte er, »geradezu alles.«

»Wie so vielen andern auch«, nickte der Baron. »Ich habe von dieser grausamen Maßregel schon gehört. Der Wohlstand unzähliger Familien ist mit einem einzigen Feldzuge des Gewaltherrschers vernichtet.«

Die Baronin sah zu ihrem Manne hinüber. »Was denkst du, Papa?« fragte sie.

»Ja – als ob du es nicht wüßtest, Mama!«

»Freilich!« sagte sie mit glücklichem Lächeln. »Ich weiß es! Wer wird die arme junge Frau hierherbringen, du oder ich?«

Der Baron stellte schleunigst die Pfeife in eine Ecke. »Ich selbst, Mama – du sollst mir denn doch lieber nicht nach Hamburg kommen.«

Er fuhr mit der Rechten durch Onnens Haar und lachte, als ein wenig Schwärze an seinen Fingern zurückblieb. »Laß dich einstweilen gehörig sättigen, du unechter Zigeuner, ich denke, daß in Hamburg Schmalhans den Küchenmeister spielt, nicht wahr? – Es muß hier noch rote Grütze stecken und eine tüchtige Fleischportion, das nimm nur alles zu dir, Bursche!«

Dann ging er davon und Onnen blieb vorläufig mit den Kindern im Garten allein. Die Baronin, selbst beschäftigt, für ihren neuen Gast ein Zimmer herzurichten, ließ ihm einen reichlichen Imbiß auftragen und die Kinder brachten ihm mehr Früchte als sogar sein äußerst leistungsfähiger Magen zu fassen vermochte.

»Das ist so recht etwas für Papa«, sagte der älteste Knabe. »Wo er armen Leuten oder sonst Bedrängten helfen kann, da läßt er sich nicht lange bitten. Einmal wurden ihm auf unserm Gute bei Wandsbeck immer Rüben vom Acker gestohlen und eines Nachts legte er sich persönlich auf die Lauer, um den Dieb zu erwischen. Als alles still und dunkel geworden war, erschien eine Frau, die schnell ihre Schürze mit Rüben füllte und davonlief – Papa eilte ihr nach. Da sah er durch das Fenster der Kate, wie sie ihren kleinen Kindern die rohen Früchte zu essen gab und bitterlich dabei weinte. Der Diebstahl war aus Armut geschehen – und was tat Papa? Er brachte die ganze Familie zu uns aufs Gut, er hat sie wieder zu ehrlichen, zufriedenen Menschen gemacht!«

»Und einmal fuhr er uns mitten in der Nacht eine abgebrannte Kätnerfamilie ins Haus«, rief der zweite Knabe. »Jedes von uns mußte einen kleinen Bauernjungen zu sich ins Bett nehmen – das gab viel Spaß.«

»Mir kannst du übrigens gerade gut bei meinen Schularbeiten helfen«, fuhr er fort. »Ich soll heute alle Flüsse in Ostfriesland herzählen und die Wattflächen aufsuchen.«

Er brachte eine Landkarte herbei und nun vertiefte sich Onnen mit ganzer Seele in die Erinnerung an seine geliebte Heimat. »Hier liegt das Watt zwischen Hilgenriedersiel und Norderney, hier das zwischen Neßmersiel und Baltrum – da, wo mein armer Vater in die Hände der Franzosen geriet!«

Beide Knaben trösteten ihren jungen Freund, die kleinen Mädchen brachten ihre Bilderbücher herbei und so vergingen ein paar angenehme Stunden, bis plötzlich ein dänischer Soldat erschien und von seinem Herrn einen Brief an den Obersten abgab. Die Baronin nahm ihn mit einem schnellen Blick auf Onnen aus den Händen des Dienstmädchens. »Von Leutnant Knutsen«, sagte sie rasch, »es ist der Herr, welcher in Emden war – dieser Brief kann nur für Sie sein, mein lieber Onnen!«

Unser Freund wurde bald rot, bald blaß, er erhob sich unwillkürlich wie jemand, der ein schwerwiegendes Urteil empfangen soll; über seine Lippen kam vor lauter Aufregung kein Wort.

Die Baronin zerriß das Kuvert. »Herrn Onnen Visser«, las sie, »ich dachte es wohl. Möchte Gutes darin stehen, mein Freund! Hier, ich will es vor dem Obersten vertreten, daß sein Brief erbrochen wurde.«

Sie reichte gütig dem jungen Manne den lang ersehnten Schatz und nickte dann ihren Kindern. »Nun laßt unsern Besuch in Ruhe, ihr Kleinen; er will lesen, was ihm seine Mama schreibt, da dürft ihr ihn nicht stören.«

Die Kinder schlichen auf den Zehenspitzen davon. Onnen blieb allein in der Laube aus großblättrigem dunklen Efeu, allein mit den tausend flüsternden, nickenden Ranken und den Empfindungen, die mächtig flutend sein Herz bewegten.

Das war die steife ungeübte Handschrift der teuren alten Frau – sie lebte wenigstens, sie war wohl genug, um ihm schreiben zu können.

Er riß den Brief auf, bis oben in die Kehle hinein fühlte er den Schlag seines Herzens. »Mein Junge«, stand da, »mein lieber, einziger Onnen!« – Er schluchzte, er preßte beide Hände vor das Gesicht; erst nach Minuten war es ihm möglich, zu lesen.

Ja, gottlob, es ging der alten Frau gut, sie lebte immer noch im Hause des befreundeten Wattführers, und Uve Mensinga und seine Frau schickten ihm ihre herzlichsten Grüße. »Wie lang ist mir das Unglücksjahr geworden«, schrieb Frau Douwe, »wie sorgenvoll und schwer! Kam jemals eine Botschaft von den mörderischen Schlachten in Rußland zu uns nach Norderney, so zitterte mir immer das Herz in der Brust. Ich dachte aber doch, daß Du dem Leben erhalten sein müssest, ich hätte ihn hier gefühlt, den Streich, der Dein geliebtes Haupt traf, ich wäre mit Dir gestorben, Onnen, mein Liebling, mein letztes, teures Gut.

»Sage es allen denen, die Dich beschützt und Dir geholfen haben, daß Deine alte Mutter für sie betet, mein Junge, sage dem Zigeuner (es wird doch kein ungetaufter Heide sein?), daß ich ihn empfangen will wie einen Boten Gottes, wenn es mir vergönnt ist, Euch beide hier auf Norderney gesund und wohl vor mir zu sehen. Vertraue ihm nur ganz, mein geliebter Sohn, ehre und schätze ihn, als stände Dein armer lieber Vater selbst vor Dir; das hat er redlich um Dich verdient!«

Es folgten dann eine Menge Nachrichten von Freunden und Bekannten. »Die Hansens in Hilgenriedersiel leben auch so traurig und gedrückt dahin«, hieß es, »sie wissen von dem Schicksal ihres Sohnes nichts, natürlich, weil alle Postverbindungen abgebrochen sind; ebenso hat auch Amke Wessel von ihrem Bruder keine Nachricht. Jetzt will ich mich aber gleich aufmachen und den armen Seelen die gute Nachricht bringen – ach, wie wird sich Deine Tante freuen, wie wird sie weinen! Und höre, mein Herzensjunge, danke auch von mir dem Herrn Baron, daß er Deinen Brief in meine Hände brachte – Gott wird es ihm lohnen in seinen Kindern. Ich weiß ja gar nicht, wieviel Segen ich den guten Menschen wünschen soll, allen denen, die Dir geholfen haben, vornehmlich dem Zigeuner! Jemine, o Jemine, welch reichliche Zinsen hat es mir getragen, daß ich damals, als Du noch ein kleiner Knabe warst, den armen wandernden Leuten von unserem Überfluß ein wenig abgab – und es war doch nur Christenpflicht! Wenn das Dein Vater wüßte! Aber was sage ich! Er weiß alles, sieht alles, Gott kann mich und ihn nicht für immer getrennt haben, das sagt mir eine innere Stimme.

»Alle Leute hier auf Norderney fragen nach Dir, mein Junge, alle lassen Dich grüßen, besonders die alte Aheltje, Du weißt, die Hexe vom Wattstrand. Dann kommt sie an ihren Krücken in das Dorf gehumpelt und sieht mit dem verkümmerten Gesicht durchs Fenster. ›Heda, Frau, habt Ihr eine Nachricht von Eurem Sohne?‹ – Und so oft ich ihr mit Tränen antworten mußte, ›Ach nein, Nachbarin!‹ dann schüttelt sie den Kopf und geht fort. Einmal fragte ich sie: ›Was wollt Ihr denn von dem Onnen, Frau?‹ – aber sie verriet nichts. ›Das muß ich ihm selbst sagen, nur ihm selbst. Adjes, Adjes; wenn er kommt, laßt mich's wissen.‹

»Kannst Du Dir denken, was es nur ist, mein Junge? Aber einerlei, Wichtigkeit wird's ja in keinem Falle haben. Höre, Onnen, Du bist nun in Hamburg und siehst die Leute, welche dort leben; auch mein einziger Bruder ist darunter, wie Du Dich wohl noch erinnerst, vielleicht begegnet er Dir einmal, so daß Du ihn grüßen kannst und ihn bitten, mir doch gelegentlich zu schreiben. Es ist Sonntagmorgen, mein Junge, ich will zur Kirche und Gott für seine Gnade danken. Bitte recht freundlich den Herrn Baron, daß er Dir später, wenn es ihm möglich ist, noch einen Brief besorgt. Du läßt Dir ja nicht träumen, wie sehr mich Deine lieben kindlichen Worte erfreut haben. Lebe wohl, mein Onnen, und Gott segne und behüte Dich tausendfältig!

Mit den innigsten Grüßen Deine treue Mutter Douwe Visser.«

Unser Freund faltete langsam den Brief zusammen. Auf seine Freude fiel ein unangenehmer Schatten, sobald er an den Bruder seiner Mutter erinnert wurde, an den Mann, der vielleicht binnen wenigen Stunden den Teilnehmern der geheimen Versammlung nachspüren und an ihnen zum Verräter werden würde. Er erhob sich rasch – das durfte nicht geschehen.

Um ihn her lag auf der sauberen kleinen Besitzung ein so tiefer Friede, daß er unwillkürlich zögerte, wieder auf die Straße und in den Kampf und Hader der Verhältnisse hinauszutreten. Aber es mußte sein, und er entschloß sich daher kurz.

Die Baronin verwahrte ihm auf seine Bitte hin den Brief, welchen er nicht in der Tasche zu tragen wagte, dann nahm er Abschied und ging schleunigst nach Eichholz, wo Geerd Kluin offenbar schon wartete.

Der kränkliche alte Mann schien sehr aufgeregt, er rieb die Hände und blinzelte. »Heute ist wieder einmal in Hamburg der Teufel los«, sagte er. »Du solltest nur den Lärm auf den Holzplätzen und in den Eisenlagern sehen – stellenweise sind die ausgeplünderten Leute den Franzosen mit Beilen und Knitteln zu Leibe gegangen.«

»Und rechts und links werden Schanzarbeiter gepreßt«, setzte Mikosch hinzu. »Man kann nicht mehr mit Sicherheit auf der Straße erscheinen.«

Geerd Kluin winkte seinem Neffen. »Komm her, Onnen, ich will dir etwas sagen. Der Zigeuner braucht es nicht zu wissen!«

Unser Freund setzte sich zu ihm. Auf dem mageren Gesicht des Alten wechselte die Farbe; seine Hände zitterten nervös. »Du, Onnen«, flüsterte er, »ich habe einen Plan!«

»So!«

»Weshalb bist du so einsilbig? Es gibt einen Fang, sage ich dir!«

»Welcher Art, Onkel?«

»Höre mich an! – Heute abend wird, wie ich bestimmt glaube, wieder in dem Speicher an den Vorsetzen eine Versammlung stattfinden; die Leute sind erbittert, außer sich, sie beraten irgendeine politische, gegen die Franzosenherrschaft gekehrte Maßregel, sie sprechen Dinge, deren Kenntnis Marschall Davoust teuer bezahlen würde.«

Onnen nickte. »Und was kümmert das uns, Onkel?«

»Nun«, rief eifrig der Alte, »wir könnten ja dem Herrn Marschall diese Kenntnis für guten Preis verkaufen!«

»Indem wir die Leute belauern und einen französischen Wachtposten herbeiholen?«

»Ja – aber das müssen wir beide miteinander ausführen. Einer allein kann es nicht unternehmen.«

Onnen fühlte, daß er errötete. »Onkel«, flüsterte er, »so gib doch derartige Pläne auf. Es wäre Blutgeld, das du erhieltest.«

»Ich will gar kein Geld haben«, rief der Alte. »Nichts als meinen ehrlichen Namen, meine Heimat soll mir der Marschall wiedergeben und höchstens ein paar Taler, um mit irgendeiner Fischerbark nach Emden zu kommen. Ich will Geerd Kluin heißen, nicht Martin Kracht, ich will nach Hause nach Norderney und dort den Franzosen meinetwegen alle möglichen Steuern bezahlen – nur von hier fort um jeden Preis.«

Onnen schüttelte den Kopf. »Um diesen nicht, Onkel. Vergißt du denn so ganz und gar deine deutsche Abstammung? Magst du den Feinden des Landes als Spion dienen?«

Der Alte zuckte die Achseln. »Ich würde mich am liebsten um gar nichts bekümmern«, gestand er, »ach Gott, am allerliebsten. Aber das elende Leben, das ich führe! – Soll ich denn am Ende gar als Martin Kracht hier sterben und begraben werden? Es sticht in meiner Brust, es hämmert im Kopf – nein, nein, die Geschichte muß aufhören. Ich will dem Marschall die Versammlung anzeigen, aber mir vorher Gnade erbitten. Weshalb sollte ich denn nicht wieder Geerd Kluin heißen dürfen? Ich habe den Franzosen nichts zuleide getan!«

Onnen suchte ihn abzulenken. »Das von den Versammlungen will mir gar nicht einleuchten«, sagte er. »Du träumst, Onkel!«

»O Gott bewahre, ich weiß, was ich sage. Die Verschwörer sitzen in dem Gange hinter den Vorsetzen – ich muß nur noch herausbringen, in welchem Hause.«

»Also das weiß er nicht«, dachte Onnen. »Gottlob!«

Und laut fügte er hinzu: »Warum sollten die Leute denn gerade heute abend eine Versammlung abhalten?«

Der Alte kicherte. »Ich beobachte sie schon seit Wochen«, sagte er. »Ein Makler ist ihr Bote, er kann ja, ohne Verdacht zu erregen, in jedes Haus gehen, er bringt die Nachrichten von einem zum andern. Heute vormittag war er unterwegs.«

Onnen lächelte scheinbar ungläubig. »Torheit, Onkel!« flüsterte er.

»Durchaus nicht, mein Junge. Jener Speicher gehört dem Kornhändler Rosenberg, er hat Türen nach verschiedenen Höfen und Gängen hinaus, er stößt an die Gebäude mehrerer andrer Kaufleute, die gleichfalls Verschworene sind. Da ist es beinahe unmöglich, die Leute abzufangen – sie haben Auswege nach allen Seiten hin. Du mußt mit mir gehen, Onnen; willst du?« »Nein, Onkel. Da du mich so rund heraus fragst, bin ich dir eine offene Antwort schuldig. Bei einer Verräterei will ich nicht beteiligt sein.«

Der Alte schwieg verdrießlich, dann stand er auf und ergriff seine Mütze. »Adieu, Onnen; da du mich im Stiche läßt, so muß ich mir einen ändern Verbündeten suchen.« »Adieu, Onkel!«

Noch in der Tür kehrte sich Geerd Kluin wieder um. »Besinne dich, Onnen!«

Ein Kopfschütteln antwortete ihm, dann ging er fort. Unser Freund sah ihm unruhig nach. Was würde vielleicht die nächste Zukunft bringen?

Es war jetzt fast Abend; in zwei Stunden hatten sich die Verschworenen zusammengefunden und konnten möglicherweise an den blutgierigen Marschall verraten werden; dann brach über eine große Anzahl geachteter Familien ein neues schreckliches Unglück herein. Die Mitglieder der Hanseatischen Legion gehörten zu denen, welche von der Amnestie für immer ausgeschlossen waren, ihre Güter hatte man eingezogen, ihre Namen als die von Hochverrätern gebrandmarkt – was würde also denen geschehen, die in Hamburg selbst, unter den Augen der Franzosen neue Anhänger warben und mit den im Felde Stehenden einen heimlichen Briefwechsel unterhielten?

Onnen fühlte, daß das Blut heiß durch alle seine Adern rann. Um neun Uhr abends hatte er damals die Verschworenen gesehen, es blieb ihm also zu einer Warnung nur wenig Zeit mehr übrig–aber wo sollte er sie anbringen?

»Mikosch«, sagte er hastig, »wenn ich in dieser Nacht ein wenig spät nach Hause komme, so nimm davon keine Notiz. Ich will ein Verbrechen verhindern.«

»Soll dich denn nicht lieber einer von uns begleiten, mein Junge? Alexei oder ich selbst gehen mit dir.« »Gewiß!« rief der jüngere Zigeuner. »Ich bleibe bei dir!« Onnen drückte seine Hand. »Heute nicht, Alexei. Wäre es meine eigene Angelegenheit, um die sich's handelt, so würde ich dich bitten, mit mir zu gehen, aber es betrifft die Verhältnisse dritter Personen. Mir selbst droht übrigens keine Gefahr!« » Sollen wir uns irgendwo in den Hinterhalt legen?« fragte unruhig der Alte. »Alexei und ich, wir könnten dir doch Beistand leisten.« Onnen dachte nach. »Mikosch«, sagte er, »ich habe ein bestimmtes Versprechen der Geheimhaltung keinem Menschen gegeben, daher darf ich euch beide wohl, soweit es dringend erforderlich ist, ins Vertrauen ziehen. Kennt ihr die Stelle, wo an den zweiten Vorsetzen die Holzkräne stehen?« »Gewiß!«

»Gut Dem fünften Krane gegenüber liegt ein schmaler Gang; vor dem Hause Nummer 6 desselben öffnet sich ein Hof mit einem dunklen, engen Zugang – wollt ihr dort heute abend um halb zehn Posto fassen?«

»Ja«, antwortete einfach der alte Häuptling. »Ja, Herr!« »Gut–dann lebt einstweilen wohl. Und noch eins! Kommt irgendjemand, den ihr kennt, es sei, wer es wolle, so haltet euch versteckt.«

»Das soll geschehen, Herr. Gib uns übrigens ein Losungswort; das dürfte doch für alle Fälle notwendig sein.« Onnen lachte. »Freiheit!« sagte er dann. »Wißt ihr etwas Besseres?«

»Laßt uns nur bei ›Freiheit‹ bleiben. Ich denke, es paßt zur Sache.«

»Gut also. Um halb zehn – und wenn –« »Martin Kracht des Weges kommt, so wird er erfahrene Spione wie uns nicht sehen, Herr, verlasse dich darauf.« Onnen fühlte, daß er errötete. »Lebt wohl!« rief er rasch. »Gott befohlen, Herr!«

Die beiden Zigeuner blieben rauchend auf dem Strohlager sitzen und unser Freund eilte fort, um auf dem Meßberg nach dem Holzhändler Pehmöller zu fragen. Vor der Tür stand ein Wachtposten; man gewährte ihm keinen Einlaß und konnte nur versichern, daß außer den Franzosen niemand im Hause sei; an drei anderen Stellen gab auf sein Klopfen keine Seele Bescheid – es war nicht mehr möglich, die Verschworenen zu warnen.

Er begab sich schnellen Schrittes in das Michaeliskirchspiel zurück, überall spähend und suchend, aber ohne eins der ihm bekannten Mitglieder jener Versammlung entdecken zu können. Nun war es vollständig dunkel, ein warmer, windstiller Abend, an dem der Himmel, mit schwarzen Gewitterwolken bedeckt, tief auf die Erde herabzuhängen schien. Kein Lüftchen regte sich, vom Dammtor herüber leuchtete die Glut mehrerer neuerdings verbrannter Häuser, alle Straßen waren leer, alle Fenster verhüllt. Wo im Freien vier Menschen beisammen standen, da wurde ja diese vielleicht zufällige Begegnung als politisches Komplott betrachtet und die Teilnehmer aus der Stadt verwiesen, ihr Hab und Gut konfisziert; man hütete sich also, auch nur einen Augenblick unnötig auf der Straße zu bleiben oder gar einen Bekannten zu grüßen – das eigene und das fremde Schicksal wurden dadurch gleich sehr bedroht.

Onnen hatte den Bleichergang erreicht; vorsichtig glitt er durch die engen Hinterhöfe desselben und dann durch einen anderen größeren Gang – vor ihm glänzte in einiger Entfernung die Laterne an der Ecke der Vorsetzen.

Etwas weiter hin lagen zur Rechten die beiden aneinanderstoßenden Speicher, dunkel und öde wie damals; der Gang war vollständig menschenleer.

Ob Mikosch und Alexei Wache hielten?

Aber er war ja davon ganz überzeugt. Schnell entschlossen bog er rechts ab in einen Nebengang, der hinter der Häuserreihe des Hauptweges dahinzuführen schien. Wenn die Speicher Ausgänge oder Parterrefenster nach den Höfen zu wirklich besaßen, so stand an denselben auch eine Wache und er konnte Einlaß gewinnen.

Alles dunkel ringsumher. Die Arbeiter, welche hier wohnten, gingen früh zu Bette – nur hinter den wenigsten Fenstern glänzte noch ein Lichtschimmer.

Onnen schlich weiter. Jetzt mußte er sich hinter dem Speicher Nummer 6 befinden; er sah empor – auch hier war kein Licht zu entdecken.

Da glänzte plötzlich vor ihm durch das Dunkel eine französische Uniform, eine Blendlaterne wurde rasch geöffnet und eine Männerfaust packte ihn am Kragen.

Stumm sah ihm ein Unteroffizier entgegen, wortlos, hastig spähend, dann sank die Hand von seiner Schulter. »Was wollen maken ici?« fragte der Soldat.

Onnen zog, schnell gefaßt, seinen Paß aus der Tasche. »Ich wohne hier!« versetzte er, dem Franzosen das Papier hinhaltend.

Dieser wehrte mit der Hand. »Gehen fort – au moment!« befahl er.

Onnen ließ sich's nicht zweimal sagen. Mit einem schnellen: merci, Monsieur! ging er auf das Geratewohl vorwärts und um die Ecke des Weges. Vor ihm öffnete sich ein Hof ohne Ausgang, eine Sackgasse, wie es deren in den Gängen von Hamburg so viele gibt – nun war guter Rat teuer.

Der Schweiß stand in großen Tropfen auf Onnens Stirn; nicht aus Furcht für die eigene Sicherheit, sondern weil er sich sagen konnte, daß der französische Unteroffizier ohne allen Zweifel Wache hielt, um den Verbündeten aufzulauern, und daß in den vielen dunklen Ecken und Winkeln der alten Mauern vielleicht zehn oder zwanzig Bewaffnete standen, die im gegebenen Augenblick vordringen und ihre Opfer überfallen würden.

Was nun? Er selbst war gefangen.

Starr und dunkel, ohne Zugang lag die Häuserreihe des vorderen Ganges. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als eines der niederen Gebäude zu betreten und – ja, was sollte er den Leuten sagen?

Nichts regte sich, die Luft war schwer und dumpf, ein leises Grollen und Murmeln am westlichen Horizont verkündete das Herannahen des Gewitters.

In einer Ecke der schiefen Häuserreihe glänzte Licht; auf gut Glück ging Onnen diesem Punkte entgegen und klopfte an die Tür. Mehrere gedämpfte Stimmen sprachen hinter derselben, eine Frau schien zu weinen; dann öffnete eine Hand die Tür.

Onnen hatte ein Gefühl, als werde ihm die Kehle zusammengeschnürt Was sollte er den Leuten sagen?

»Wer ist da?« fragte eine Stimme.

»Darf ich einen Augenblick eintreten? Bitte, nur einen Augenblick, ich möchte Sie etwas fragen, guter Freund.«

Eine breitschultrige Männergestalt erschien im Rahmen der Tür. »Kommen Sie nur näher, wer Sie auch sein mögen – ein Deutscher jedenfalls. Aber halt, wir haben die schlimme Krankheit im Hause – fürchten Sie sich auch nicht?«

»Keineswegs. Ich – ja, aber sagen Sie mir, wer weint denn da drinnen so bitterlich?«

Der Arbeiter seufzte. »Meine arme Frau«, sagte er. »Unser Junge liegt todkrank, meine Arbeit hat aufgehört, wir sind mit aller Freude, allen Hoffnungen zu Ende, nur um dieser verfluchten Franzosen willen. Der Teufel soll sie lotweise holen.«

Das war mit einem solchen Ingrimm hervorgestoßen, daß Onnen auf diesen Seelenzustand des erbitterten Mannes seinen Plan baute. In dem engen halbdunklen Flur stehend legte er die Hand auf des Arbeiters Schulter. »Sie hassen wirklich die Franzosen, guter Freund?«

»Wie den Erzfeind selber. Ich wollte, sie hätten alle miteinander nur eine Kehle und ich hätte diese zwischen meinen Fäusten.«

Onnen begann aufzuatmen. »Würden Sie dann wohl einem Manne, den die Franzosen wie ein gehetztes Wild vor sich herjagen, Ihre helfende Hand leihen? Etwas weiter hin steht ein Unteroffizier – ich kann dort nicht wieder vorüber.«

Der Mann richtete sich straffer auf. »Ein Franzose?« flüsterte er. »Nur einer? – Kommen Sie mit, Fremder, ich bin an diesem Unglückstage gerade in der Stimmung, einem von den Schuften den Schädel einzuschlagen.«

»Vater, Vater«, bat leise die weinende Frau, »hüte dich doch! Wenn sie dich fassen, was soll ich armes Wurm anfangen?«

Der Mann warf einen Rock über. »Sei doch still, Kind, ich brauche ja nur einmal zu rufen, und zehn, zwanzig – nein, hundert Mann sind auf einmal bei mir! Die Hunde, die Schufte haben ja keinen Freund!«

Onnen ergriff die Hand des ehrlichen Mannes und drückte sie hastig. »Bester Freund, ich will ja an dem Franzosen gar nicht wieder vorübergehen. Ich muß nach den Vorsetzen – wie komme ich dahin?«

»Von hier aus? – Das ist unmöglich!«

»Über August Behrens seine Planke«, sagte leise die Frau. »Da hinten liegt die Bleiche und dann kommt noch ein kleiner Gang, du weißt doch, Vater?«

»Ja, ja«, rief der Mann, »hast recht, mein Kind. August Behrens lacht sich halb tot, wenn er die Franzosen an der Nase herumführen kann.«

»Laß mich erst nochmal den Jungen sehen«, setzte er hinzu und trat mit dem Licht an ein Bett, das in dem niederen Zimmer stand. »Du lieber Gott, wie blaß er ist, wie sieht er aus, der kleine Bursch!«

Und der arme Vater beugte sich über die fiebernde Stirn seines Lieblings, er streichelte leise die verworrenen braunen Locken. »Mein süßer, lieber, kleiner Heinz!« sagte er zärtlich, »wenn der liebe Gott dich doch besser werden lassen wollte!«

Die Frau schluchzte bitterlich; eine blinde alte Großmutter in der Ecke faltete ihre zitternden Hände und begann mit halblauter Stimme das Vaterunser zu beten. »Erlöse uns vom Übel, denn dein ist das Reich und die Macht und die Kraft und die Herrlichkeit. Amen.«

Der Mann setzte das Licht so, daß die Strahlen den kranken Knaben nicht belästigen konnten. »Nun ist uns auch der Arzt genommen«, sagte er. »O, die Franzosen sind Teufel, sie brauchen für ihre Soldaten alle Ärzte von ganz Hamburg – und so mögen denn die Einwohner sterben wie Hunde!«

»Das ist doch wohl nicht möglich!« rief voll Empörung unser Freund.

»Das ist eine ausgemachte Sache. Unser Arzt kann nicht mehr herkommen, aber der menschenfreundliche Mann schickt zu den verlassenen Kranken seine Frau, die dann alles notiert und ihm sagt. Nachts schreibt er nach diesen Berichten die Rezepte und sonstigen Verordnungen; Gott lohne es den beiden guten Menschen!«

»Aber nun kommen Sie!« setzte er hinzu. »Wir sind so unglücklich, der Haß gegen die Franzosen ist so gewaltig, daß man sich zuweilen nicht beherrschen kann. Sehen Sie, alle, die in diesem Hofe wohnen, sind Arbeiter aus den Rosenbergschen Speichern –«

»Rosenberg?« unterbrach Onnen.

»Ja. Kennen Sie den Herrn? Er gehört als Kornhändler mit zu den Ausgeplünderten, die Franzosen haben ihm alles genommen. Vorgestern und gestern sind die Speicher leer gemacht – wir mußten sämtlich die Arbeit niederlegen.«

Onnens Herz schlug schneller. »Lieben Sie Ihren Arbeitgeber, lieber Freund?« fragte er in bedeutsamem Tone.

Der riesige Kornträger schlug sich auf die Brust. »Tedje Bruhns geht für ihn durch Wasser und Feuer!« sagte er mit tiefer Empfindung. »Ja, Herr, ich liebe ihn und alle meine Kollegen auch.«

»Gehört August Behrens mit dazu?«

»Das versteht sich.«

»Nun, dann lassen Sie uns eilen, ich sage Ihnen draußen mehr.«

Er sprach der gebeugten Frau, so gut es ihm möglich war, Trost ins Herz und folgte darauf dem Manne, der durch die Küche gegangen war und nun in einen anderen Hof einbog.

Wie ein Labyrinth, scheinbar pfadlos, schief und krumm zog sich die endlose Masse der Gebäude dahin; vor einer niederen Tür machte der Arbeiter Halt.

»Hören Sie, Freund Bruhns«, flüsterte Onnen, »wissen Sie, wo sich Herr Rosenberg in diesem Augenblick befindet?«

Der Arbeiter zuckte die Achseln. »Gerade jetzt? – Vielleicht!«

Onnen streckte plötzlich die Hand aus. »Dort im Speicher?« fragte er, vor Aufregung kaum atmend.

Der Kornträger pfiff leise vor sich hin, er blinzelte schlau. »Sie sind kein Zigeuner, was?« flüsterte er in vertraulichem Tone.

»Nein, Bruhns, ein Deutscher wie Sie!«

»Das hab' ich mir gleich gedacht! Ja, ja, Herr Rosenberg ist da im Speicher, die andern auch; alle, alle. Sie wollen noch in dieser Nacht auf und davon nach Mölln. Über den Stadtgraben – hui! Weg wie ein Vogel!«

Onnen sah fest in des ehrlichen Mannes Gesicht. »Wenn's nämlich gelingt, Bruhns! Mich will der Unteroffizier da vorn nicht verhaften, sondern die Verschworenen. Es stehen hier herum vielleicht hundert Franzosen auf Wache.« Der Kornträger schien förmlich erstarrt »Franzosen?« wiederholte er.

»Ja. Die Sache ist verraten; wenn also die Herren auseinandergehen, so werden sie geräuschlos abgefangen – der Speicher ist umstellt.«

Tedje Bruhns ächzte, er bearbeitete mit den Knöcheln der rechten Hand seine Stirn, wie um gewaltsam einen Gedanken herauszupressen. »An einem Punkte kann ich ja nur stehen«, murmelte er, »dann mach' ich das Teufelszeug tot, als wenn's junge Katzen wären! – O Gott, was fangen wir aber mit den anderen Stellen an?«

Onnen lächelte trotz der Aufregung, welche ihn beherrschte. »Ihre Frau hat es Ihnen ja bereits gesagt, mein guter Bruhns! Die Verschworenen müssen durch den nebenstehenden Speicher hierhergelangen und dann über die Planke dieses Hofes klettern. August Behrens wird ja den Weg durch sein Haus ohne Zweifel gestatten.«

»Natürlich! Natürlich! – Na, nun geht mir endlich auch ein Licht auf! Sie wollen hin und die Leute warnen?«

»Gewiß – also lassen Sie mich schleunigst aus diesem Gefängnis heraus.«

Es wurde an die Tür geklopft, der Bewohner des Hauses in aller Eile verständigt und dann über einen mit Gerümpel angefüllten Hof der Weg zur Planke gesucht. Onnen und der Arbeiter stiegen hinüber, Behrens folgte nach, und alle drei gingen durch das kümmerliche gelbe Gras der Bleiche, um dann jenseits dieser Strecke wieder einen Lattenzaun zu überklettern. Sie standen nun in einem offenen Gange, der zu den Vorsetzen führte.

Onnen atmete auf. »Gott sei Dank«, sagte er aus Herzensgrund. »Bruhns, es ist doch kein Irrtum, wenn ich annehme, daß die Fenster des zweiten Speichers auf Ihren Hof hinausgehen?«

»Das ist richtig; Sie irren nicht und Sie können sich auch darauf verlassen, daß Herr Rosenberg und mehrere andere die Wege durch diese Höfe und Gänge genau kennen.«

»Dann ist alles gut. Lassen Sie mich jetzt allein, damit wir kein Aufsehen erregen – es ist besser so.«

»Wir kommen auf einem Umweg in den Gang«, flüsterte Bruhns. »Bei Heinz Schulz, weißt du?« fügte er gegen seinen Kameraden hinzu.

»Natürlich weiß ich das!«

Die beiden gingen strammen Schrittes weiter und Onnen eilte zu dem bewußten Eingang vor dem holländischen Kran. An der scharfen Ecke desselben saß eine alte Frau und hielt auf dem Schoß einen Korb mit Grünzeug. Ihren Kopf umhüllte ein schwarzes Tuch, die Hände lagen in den Falten der Kleider.

»Rettich!« sagte sie mit klagender Stimme. »Schwarzer Rettich! Birnen! Kauft der Herr nichts?«

»Nein, ich danke, Frau! – ich danke!«

Er ging hastig weiter. Überall Kellereingänge, Saaltreppen und Höfe, überall dichte, undurchdringliche Finsternis. Ob sich die Zigeuner in der Nähe befanden?

Er wagte keine Nachforschung; hinter jedem Winkel konnte ja möglicherweise auch Geerd Kluin ein Versteck gesucht haben.

Alles blieb still, Onnen fand den Eingang des leerstehenden Speichers, kam bis zur Brücke und schlich hinüber, dann klopfte er an die ihm bekannte Tür und diesmal war es Karl Pehmöller, der Holzhändler, welcher ihm öffnete.

»Sie sind es«, rief er, Onnens Hand mit Wärme drückend, »ich bin Ihnen nie zu tilgenden Dank schuldig, mein junger Freund. Hoffentlich kommt der Tag, an dem ich vergelten kann, an dem –«

»Herr Pehmöller, lassen Sie uns –«

»Nein, nein, ich will mich erst in Ihren Augen rechtfertigen. Wenn ich gewußt hätte, was inzwischen über meine arme Frau hereinbrechen sollte, so würde ich natürlich das Haus niemals verlassen haben! Aber wer denkt an solche Schandtaten? Als ich später wieder hinkam, wollten mir die Franzosen sogar den Einlaß verwehren. Dies ist ein Lazarett! hieß es. Hinaus! Dann, nachdem ich mich gehörig legitimiert hatte, suchte ich unser Wohnzimmer auf und sah im Schrank nach dem dort verwahrten Geld. Alles fort, auch kein Schilling war zurückgeblieben – natürlich im Interesse des Staates und der Pflege erkrankter Krieger! O, man könnte wahnsinnig werden! – Ich habe, dem Himmel sei Dank, in Altona an sicherer Stelle noch eine größere Summe liegen, so daß meine Frau und die Kinder nicht mittellos zurückbleiben, aber dennoch danke ich Ihnen tausendmal. Der Baron hat die Meinigen zu sich genommen und mir versprochen, sie in jeder Weise zu beschützen.«

Er war so aufgeregt, so ruhelos, daß ihm Onnens Ungeduld vollständig entging. »Dies ist vorläufig in Hamburg der letzte Abend«, sagte er, »wir begeben uns noch in dieser Nacht –«

»Herr Pehmöller, wollen Sie mich nicht einen Augenblick anhören?«

»Nun – und? Sie machen ein so feierliches Gesicht, mein junger Freund!«

»Die Sache ist auch sehr ernst, Herr Pehmöller. Es sind Franzosen in der Nähe!« »Hier? – Spione?«

»Ja. Mich selbst hat ein Unteroffizier angehalten.«

»Alle Teufel, dann kann's ja bald genug zum Handgemenge kommen. Sehen Sie diese Pistole! Der Augenblick, wo ich sie dem ersten besten Franzosen auf die Stirn setze, dieser kostbare Augenblick soll mich für vieles entschädigen!«

Onnen berührte leicht seine Hand. »Daran kann gar nicht gedacht werden«, sagte er in eindringlichem Tone. »Zweifeln Sie, daß auch ein Tambour in der Nähe versteckt ist, daß man für die Möglichkeit, ein Signal zu geben, hinlänglich gesorgt hat? – Wir müssen uns in aller Stille davonschleichen, Herr Pehmöller; glauben Sie mir, ich kenne solche Stunden einer schmerzvollen Selbstüberwindung zur Genüge. Als mein armer Vater von den Franzosen heimtückisch im Winkel erschossen worden war, da dachte ich auch nur an eins, wollte nur eins, die augenblickliche, ausgiebige Rache – aber dennoch, mit blutendem Herzen haben fünfhundert entschlossene Männer es über sich vermocht, den Zorn zu ersticken und die Stunde der Wiedervergeltung ruhig zu erwarten. Das ist heute auch unser Los; wir müssen die Parterrefenster dieses Hauses von den davorliegenden Brettern befreien und unseren Rückzug durch die Gänge nehmen. Ist übrigens Herr Rosenberg hier?«

Statt weiterer Antwort öffnete der Holzhändler die Tür. Jedes Gespräch verstummte, aller Augen hingen an dem verstörten Gesicht des Eintretenden. »Böse Botschaft«, sagte dieser in seiner aufgeregten Weise, indem erden Hahn der Pistole knacken ließ. »Der Feind ist da!«

Oberst Mettlercamp beugte sich vor. »Sprechen Sie vernünftig, Pehmöller! Was gibt es?«

»Franzosen, ich sagte es ja schon. Wir brauchen nicht erst nach Mölln zu gehen, um einige von den Schuften niederzumachen.«

Mehrere Herren waren aufgestanden, unter ihnen der Kornhändler Rosenberg. Onnen erzählte diesen Leuten alles, was er wußte, und sogleich wurden die Vorbereitungen zu schleunigster Flucht getroffen. Jemand glitt leisen Fußes die Treppen des benachbarten Speichers hinab und schloß ebenso geräuschlos unten den Eingang, dann machte man sich daran, die Verkleidungen der Fenster abzubrechen.

Alle Versammelten waren entschlossen, noch in dieser Nacht Hamburg zu verlassen, indem sie in der Gegend des heutigen Holstentores den Stadtgraben durchschwammen und dann über das Heiligengeistfeld hinweg die naheliegende altonaische Grenze erreichten. Hier warteten sichere Leute, welche die Flüchtlinge zu Pferde und zu Wagen nach Mölln schaffen würden. Die Hanseatische Legion stand unter dem Oberbefehl des russischen Generals Tettenborn – dahin mußte also der Nachschub gesandt werden.

Man hatte die nötigen Verabredungen getroffen, einigen zurückbleibenden Freunden dies und das aufgetragen, nun ging es an den Abschied. »Auf Wiedersehen draußen!«

Onnen und einige andere räumten die Bretter weg; dann sah der Kornhändler vorsichtig zum Fenster hinaus. Ihm gehörte das Haus, es konnte also keinen Verdacht erregen, wenn er auch wirklich bemerkt wurde.

Draußen lag noch auf den engen Mauern dieselbe undurchdringliche Finsternis; einzelne Regentropfen fielen mit klingendem Geräusch auf das Pflaster, hie und da flohen Ratten – sonst war alles still und öde.

Rosenberg schwang sich hinaus. »Mir nach!« sagte er leise. »Behalten Sie mich im Auge, meine Herren, oder es ist Ihnen unmöglich, den Weg durch die Gänge allein zu finden.«

Einer folgte dem anderen. Wie Schatten schlüpften die Männer über den engen Hof, nur noch zwei waren im Hause, da tönte plötzlich ein unterdrückter Schrei aus nächster Nähe herüber: »Verrat! Verrat!«

»Nach vorn!« rief Onnen. »Nach vorn!«

Im Hofe erhob sich ein Tumult, französische Umformen wurden sichtbar, französische Worte schallten durch die Nacht. Ein Trommler setzte die Schlägel in Bewegung, aber nur sekundenlang, dann geschah ein schwerer Fall, ein Mensch röchelte angstvoll und (blieb regungslos liegen. Weiterhin wurde gekämpft, Mann gegen Mann, wie es schien, Türen öffneten sich, immer mehr Leute kamen hinzu – hie und da klang verstohlen, halb unterdrückt ein Schmerzensschrei.

Den Horchenden drinnen lief es kalt über den Rücken herab. Welch ein grauenvoller Kampf da in den düsteren Gängen, ohne Licht und Zeugen, ohne ehrliches Spiel, nur mit dem furchtbaren Hasse des einen Volkes gegen das andere Brust an Brust geführt! Welch ein Ringen, bei dem das Blut in Strömen floß und ausschließlich Messer und Faust zur Anwendung kam! Leben um Leben, das war die Losung.

Allmählich wurde es still. Blutgeruch drang in die offenen Fenster, nur noch vereinzelte Laute bezeichneten die Stätte eines mörderischen Kampfes.

»Jetzt ist es Zeit!« flüsterte Onnen. »Vorn hinaus!« Die Fenster blieben offen, es hätte zuviel Zeit gekostet, sie wieder zu verrammeln; leise gingen die beiden letzten Männer aus der Versammlung mit unserem Freunde zur vorderen Eingangstür, die möglichst geräuschlos wieder geöffnet wurde.

Der Gang schien völlig leer.

Alle drei traten heraus – gottlob, der Handstreich war gelungen.

Aber die Freude dauerte kurz. Wie aus dem Boden auftauchend, näherten sich von beiden Seiten zugleich wenigstens zehn Franzosen, die augenscheinlich von ihren Waffen keinen Gebrauch machen wollten, sondern die plötzlich Umzingelten zu packen und fortzuschleppen gedachten – wenn ihnen nicht ebenso wirksam als unerwartet der Weg verlegt worden wäre.

Es öffnete sich eine Tür; drei von den riesigen Gestalten, welche man in Hamburg auf den Kornspeichern sieht, stürzten heraus und warfen sich auf die Franzosen, gewandt wie eine Gazelle sprang von einer Saaltreppe ein schlanker junger Mann herab und fiel den Feinden in den Rücken. Binnen Sekunden lagen fünf Franzosen geknebelt auf dem Pflaster.

Aber trotz dieses tapferen Beistandes war dennoch Gefahr im Verzuge. Eine Metallpfeife stieß einen gellenden Ton hervor – zwei Soldaten hatten Onnen zu Boden geworfen und suchten ihn mit ihren Fäusten zu erdrosseln.

Da erschien im Laufschritt auf dem Kampfplatze eine völlig unerwartete Person – die alte Händlerin von der Ecke der Vorsetzen. Sie hatte ihren Korb beiseitegeschleudert und riß jetzt mit einem einzigen energischen Ruck den ersten Franzosen von Onnens Brust, dann folgte der zweite, den Tedje Bruhns sofort in Empfang nahm. »Hest fullen, Muschä? Da, legg die daal un swiig still!«

Er nahm den zappelnden Soldaten und trug ihn in den leeren Keller des Speichers, während seine beiden Genossen, Heinz Schulz und August Behrens, gleicherweise unter den übrigen aufräumten. Einem war der Schädel zerschmettert, zwei lagen bewußtlos, mit dem vierten kämpfte Onnen, der die Flucht der beiden Verschworenen durch seinen Körper gedeckt hatte. Hageldicht fielen von einer und der anderen Seite die Hiebe – wieder kam die Händlerin unserem Freunde plötzlich zu Hilfe.

»Freiheit!« flüsterte sie ihm lächelnd ins Ohr.

»Mein Himmel!« rief Onnen.

»Ganz still! Namen tun nichts zur Sache.«

Jetzt war die Schlacht geschlagen, sieben Franzosen gefangen, einer tot und zwei verwundet. Die beiden Flüchtlinge hatten Zeit zum Enteilen gefunden und alle übrigen verschwanden hinter Heinz Schulzes schützender Haustür.

»Mikosch«, rief Onnen, »welch ein Schelm bist du!«

»Kauft der Herr Rettich?« sagte die bettelnde Stimme von vorhin. »Schöner schwarzer Rettich! Süße Birnen!«

Tedje Bruhns schob bedächtig das Tuch von der Stirn der Alten. »Mit Verlaub, Mutter«, sagte er nach eingehender Prüfung, »du bist ein richtiger Zigeuner!«

Sie lachten sämtlich, aber doch nur einen Augenblick. »Onnen«, sagte Alexei, »dein Onkel war während der ganzen Zeit hier, ich habe ihn in einem Versteck neben dem meinigen unausgesetzt beobachtet.«

Onnen errötete. »Ich bemerkte ihn nicht«, stammelte er.

Draußen wurde an die Tür geklopft; es waren französische Soldaten, welche so ungestüm Einlaß begehrten. »Maken auf la porte!« riefen sie. »Vite! Vite!«

Geräuschlos flüchteten die beiden Kornträger, die Zigeuner und Onnen über den Hof des Wirtes und in einen Schlupfweg zum Eichholz hinein; August Schulz dagegen warf Rock und Stiefel ab, wartete bis er die Freunde in Sicherheit wußte und erschien dann mit schlaftrunkenem Wesen vor der Haustür.

Die Franzosen fluchten lästerlich, sie holten die Gefangenen aus dem Keller hervor und trugen auch die Verwundeten fort – nur der Tote blieb, nachdem ihm seine Kameraden Uhr und Kette abgenommen, unbeachtet liegen.

Vielleicht hatte er die Kleinodien in Rußland geraubt, vielleicht ihrer Erlangung wegen einen Menschen getötet – jetzt lag er in der Gasse und die Ratten berührten mit ihren spitzen kalten Schnauzen seine Stirn.

An der stillen Gestalt vorüber schlich gebückt und scheu ein blasser ältlicher Mann. »Wieder umsonst«, murmelte er, »wieder umsonst!«

Und als die Wellen der Elbe vor seinen Blicken an das Ufer fluteten, da schluchzte er plötzlich laut auf, da breitete er beide Arme aus. »Ich will nach Hause, nach Hause – o großer Gott, laß mir's doch endlich gelingen!«

 

Onnen eilte zum Wall, wo sich heute die großartigen Parkanlagen des Holstenplatzes ausdehnen. Damals war Hamburg von seinem, gegenwärtig nur noch in einigen letzten Überresten bestehenden Stadtgraben rings umgeben; hohe Bäume und dichtes Gesträuch schmückten die Wälle, während an der anderen Seite das öde, dem Schlachteramt gehörige Heiligengeistfeld sich dahinzog, unbebaut wie jetzt noch, in seiner nördlichsten Ecke an den neuen Pferdemarkt und über diesen hinweg an die altonaische Große Gärtnerstraße stoßend. Hier war der Punkt, an welchem die Verschworenen, ohne sich vorher zu sammeln, über den Stadtgraben schwimmen und die Grenze erreichen wollten.

Ein Wachtposten ging auf und ab, hie und da huschten dunkle Gestalten an ihm vorüber. Onnen spähte umher, er suchte den Kornhändler, dem er bei einem gefährlichen Unternehmen seine Hilfe zugesagt hatte.

Da berührte eine Hand seine Schulter. »Hier, mein Junge; ich kenne die Stelle ganz genau – als lediger Mann hab' ich mein bares Kapital rechtzeitig in Sicherheit gebracht.«

Eine hohe alte Buche breitete ihre Äste über die Umgebung, rote und gelbe Georginen blühten auf einem Beet am Stamm des dichtbelaubten Baumes, während ein Gebüsch aus jetzt längst entblätterten Schneebällen und Syringen die Fernsicht zum höher gelegenen Wall begrenzte. An diesem Punkte setzte der Kornhändler ein mitgebrachtes starkes Messer in die Erde und grub emsig, während Onnen den Wachtposten beobachtete. So oft dieser letztere vorüberkam, duckten sich die Schatzgräber und hielten den Atem an, um nicht bemerkt zu werden; war er vorbeigegangen, dann nahmen sie ihre mühsame Arbeit wieder auf.

Onnens Messer stieß zuerst auf einen harten Körper, es bog sich und konnte nicht tiefer eindringen. »Ich glaube, wir sind am Ziel!« flüsterte er.

Rosenberg bohrte sein Messer in der entgegengesetzten Ecke tief auf den Grund. »Wir haben den Kasten, mein Lieber! – Wo ist der Soldat?«

»Nicht so laut, er kommt gleich hierher!«

Der Franzose ging vorüber, oder schien zu gehen, tatsächlich hemmte er um irgendeines Zufalles willen seine Schritte, als gerade der Kornhändler den Kasten mit Onnens Hilfe aus dem feuchten Erdboden hervorhob. Es rasselte ein wenig – nur ein ganz klein wenig.

Wie auf Katzenpfoten näherte sich der Franzose, er sah über die nächsten Gebüsche hinweg, spähend auf den Kasten und die beiden Männer, welche eben das Schloß geöffnet hatten, um die hinter demselben verborgenen Schätze heraufzuholen.

»De l'argent!« bebte es unwillkürlich von den Lippen des Soldaten; sein Auge glühte wie das der Wildkatze, wenn sie Beute wittert, seine Hand streckte sich aus, wie um den heißbegehrten Schatz zu packen. Im nächsten Augenblick sprang Rosenberg empor, außer sich vor Wut, unfähig, den rasenden Groll gegen Hamburgs Peiniger länger zu bemeistern. Das Messer, noch mit feuchter Erde bedeckt, drang dem Soldaten in die Brust, so daß nur das Heft hervorsah, ein Blutstrahl sprang im Bogen empor, der tödlich Getroffene stürzte rückwärts taumelnd auf den Weg und blieb liegen wie ein gefällter Baum.

Rosenberg packte kalt das Geld in einen ledernen Gürtel, welchen er unter seinen Kleidern trug; Dann reichte er unserem Freunde die Hand. »Leben Sie wohl, Visser, ich hoffe Sie später in den Reihen der Unsrigen zu sehen.«

»Gewiß, gewiß. Bitte, sagen Sie, Herr Rosenberg, sind Ihre Freunde sämtlich gut davongekommen? Ich hörte, daß gekämpft wurde.«

Der Kornhändler schüttelte den Kopf. »Es bellte in einem nebenstehenden Hause plötzlich ein Hund«, sagte er seufzend, »das muß den Franzosen aufgefallen sein, denn sie drangen aus dem benachbarten Hofe hervor und auf uns zu, einer wollte sogar ein Trommelsignal abgeben.«

»Aber ich denke, er wurde verhindert?«

»Ja. Pehmöller hat ihm mit einem Handbeil den Schädel eingeschlagen. Es sind von uns drei Leute gefallen – ich weiß nicht, ob tot oder nur verwundet; meine Speicherarbeiter haben sie aufgehoben und in ihre Häuser getragen. Ohne diese treuen Seelen wären wir überhaupt schlecht fortgekommen; es schien, als sei der ganze Hof plötzlich lebendig geworden – wohl hundert derbe Fäuste schützten unseren Rückzug. Wenn ich jemals nach Hamburg zurückkomme und wenn jemals meine Firma im alten Glanze wieder ersteht, dann will ich es diesen braven Leuten vergelten. Nun aber nochmals, leben Sie wohl, Visser! Gott sei mit Ihnen!«

»Auf Wiedersehen, Herr Rosenberg, leben Sie wohl. Und bitte, wenn Sie drüben glücklich angelangt sind, so geben Sie mir ein Zeichen.«

»Gewiß, gewiß!«

Er kletterte vorsichtig die Uferwand hinab und tauchte in die kalte Flut; mit wenigen langen Stößen hatte er, den Rock zwischen den Zähnen haltend, den nicht besonders breiten Wasserarm überschwommen. Er schüttelte die Tropfen möglichst von sich ab, zog den Rock wieder an und warf dann einen Stein in den Graben. Onnen erkannte das Signal und antwortete in gleicher Weise. So war also der letzte noch Anwesende glücklich entkommen. Er beugte sich schaudernd zu dem regungslosen Soldaten. Tot! Rosenbergs Messer hatte das Herz durchbohrt.

Onnen zog die Leiche weiter hervor, damit sie möglichst schnell bemerkt werden möge, dann eilte er so rasch wie möglich nach Hause. Diese Nacht hatte der Aufregungen so viele gebracht, daß er fast taumelte.

Mikosch wachte noch. »Du Verschwörer!« sagte er lächelnd.

»Du alte Rettichfrau! Wie kamst du eigentlich auf den Gedanken, dich zu verkleiden?«

»Nun, weil doch jemand achtgeben mußte, was sich zutrug. So konnte ich bequem den Gang der Dinge überblicken und auch für Alexeis Sicherheit wachen. Hörtest du nicht eine kläglich miauende Katze? Das hieß: ›Komm hervor, wir können die Franzosen überwältigen.‹«

»Du bist ein richtiger Zigeuner!« wiederholte Onnen das Wort des biederen Speicherarbeiters; dann schliefen sie beide, der alte Häuptling und er.

Draußen graute indessen der junge Morgen. In dem Labyrinth verzweigter Gänge und Höfe hinter den Speichern begann sich's zu regen; flinke Hände trugen die Toten hinaus an einen weit entfernten Punkt, die Eiskuhle, wo leere Karren und Straßenwagen ihren Platz haben; die Verwundeten auf eine offene Straße und die zurückgebliebenen, auch verwundeten Hanseaten auf die Böden der Häuser, wo kein Auge sie suchen würde. Das Blut wuschen erschrockene Frauen von den Wänden und Pflastersteinen, umherliegende Knöpfe und Fetzen wurden eingesammelt und mit bebenden Herzen der Anbruch des eigentlichen Tages erwartet.

Durch alle Gänge und Schlupfwege liefen Blutspuren; mehr als nur ein Franzose mußte entkommen sein, es war also anzunehmen, daß eine strenge Untersuchung und vielleicht grausame Strafen auf dem Fuße folgen würden.

Eine bange Furcht hielt die Herzen umklammert. Wer jemals über einem Abgrund auf schwankendem Brette zwischen Tod und Leben schwebte, der kann ermessen, was die gequälten Leute an diesem Morgen empfanden.

Drei Hanseaten hatten zurückbleiben müssen; der eine konnte schon vor Tagesanbruch, nachdem er verbunden und zum Bewußtsein gebracht worden war, allein nach Hause gehen, der zweite starb unter den Händen seiner freundlichen Pfleger – alle Sorge, alle bangen Befürchtungen galten daher nur dem dritten, einem jungen Hutmacher, der stark am Fuße verletzt war und aus diesem Grunde das Bett nicht verlassen durfte. Fanden ihn die Franzosen, so mußte man das Ärgste erwarten. Tedje Bruhns, der Riese, hatte ihn auf seine Arme genommen und nach dem Boden getragen. Dort bereitete Frau Johanna im verstecktesten Winkel ein weiches Lager und dann schichtete ihr Mann den kleinen Holzvorrat des Hauses so auf, daß bei oberflächlicher Untersuchung von dem Bett und dem Kranken nichts zu entdecken war.

»So, Herr Nelles«, sagte er, »nun mag der liebe Gott weiter helfen; einen Doktor kann ich Ihnen nicht verschaffen, aber zu rechter Zeit komme ich herauf und lege Ihnen kaltes Wasser auf den Fuß, verlassen Sie sich darauf.«

Der Verwundete nickte mit geschlossenen Augen; er war so schwach, daß er kein Wort hervorbringen konnte.

Stunden der Angst vergingen, dann rasselte um sieben Uhr früh die Trommel und eine Abteilung Franzosen umstellte in weitem Kreise das ganze Viertel; einzelne Züge drangen in die engen Gänge und nun begann eine furchtbare Szene.

Keiner der an dem Kampfe des letzten Abends beteiligt Gewesenen hatte die Örtlichkeit jemals bei hellem Tageslicht gesehen, es konnte daher auch keiner mit Bestimmtheit angeben, wo er sich befunden habe – Grund genug, um die schärfsten Maßregeln zur Geltung zu bringen.

Alle Türen wurden geöffnet, alle Zimmer rücksichtslos durchsucht, die Kranken aus den Betten gezerrt und die, welche etwa den erhaltenen Befehlen nicht schnell genug Folge leisteten, mit Kolbenstößen vorwärtsgetrieben. Der ärmliche Hausrat ging dabei in Trümmer, Tiere und Menschen erlitten Mißhandlungen, der Unmut der Franzosen steigerte sich von Minute zu Minute, weil eben ihre eigenen Berichterstatter je länger, desto weniger in den engen Gängen bestimmte Merkmale anzugeben wußten.

Da entdeckte zufällig ein Offizier die frischen Fußspuren auf der Bleiche, über welche die Hanseaten geflüchtet waren. »Es ist doch hier gewesen!« rief er. »Es muß hier gewesen sein! Sucht, Leute, sucht, ich verspreche euch doppelte Rationen Branntwein.«

Mittlerweile war auch der Speicher im vorderen Gange erbrochen worden. Das Zimmer der Verschworenen zeigte deutlich die Anwesenheit einer größeren Zahl von Männern; es standen Stühle an den Tischen, Tabaksasche bedeckte den Fußboden und hier und da war in der Eile des Aufbruches ein Taschentuch oder ein Handschuh verloren gegangen; jetzt zerschlugen die Franzosen mehrere auf die Höfe hinausführende Fenster und fügten zu den schon vorhandenen Beweisen noch diese neu entdeckten. Unter den Soldaten erhob sich ein förmlicher Tumult, sie stießen jeden nieder, der ihnen irgendwo im Wege stand, gleichviel ob der Sturz auf das harte Pflaster Beulen und Wunden brachte oder nicht.

Vor seiner Haustür stand Bruhns. »Ich möchte die Herren bitten«, sagte er mit gepreßtem Tone, »mein einzig Kind liegt schwer krank.«

Niemand beachtete ihn. Eine Abteilung Soldaten drang in das Zimmer und vollführte einen so rücksichtslosen Lärm, daß sich die arme Frau des Kornträgers mit gerungenen Händen vom Sitz erhob und den Unmenschen entgegenging. »Mein kleiner Sohn hat das Fieber«, bat sie, »ach, übt doch Erbarmen, ihr Herren, er schreckt so auf, er phantasiert!«

»Peste!« rief der Offizier. »Wohin man kommen mag, da liegt die Brut in diesen Höhlen fieberkrank herum. Aus dem Wege, ich will hinter den Schrank sehen!«

Eine schnelle Bewegung entfernte das Bett; der Knabe schrie laut auf. »Mutter, Mutter – sie tun mir was! – Sie gießen mir heißes Wasser über den Kopf!«

Ein Wimmern des Schmerzes folgte diesen ruckweise und undeutlich hervorgestoßenen Worten. Die großen blauen Augen des Kindes sahen ohne Ausdruck ins Leere, es tastete wild, wie um sich vor einem eingebildeten Sturze zu bewahren, ins Leere, unbeachtet von den Soldaten, die jeden Gegenstand schüttelten, von der Stelle warfen und in dem ärmlichen, aber sauberen kleinen Räume wie die Unsinnigen herumtobten.

Frau Bruhns hielt ihr krankes Kind mit beiden Armen umfaßt, während der Mann geflissentlich draußen in der Tür stehen blieb. Er wußte, daß es ihm unmöglich gewesen sein würde, so gelassen den Übermut der Machthaber mit anzusehen, ohne ihnen in die Arme zu fallen und vielleicht zwei oder drei zwischen den nervigen Fäusten zu zerknicken – nur um sich selbst und die Seinigen ins Unglück zu stürzen.

Das Zimmer und die Küche verbargen nichts; der Offizier zerbiß vor Wut seinen Schnurrbart. »Sucht weiter, meine Jungen, steigt auf den Boden! Irgendwo müssen sich die Spuren der Meuterei doch finden!«

Bruhns fühlte, wie er erbleichte. Nun war alles verloren!

Die Franzosen erkletterten die Leiter, welche zum Dachboden führte – das kranke Kind krümmte sich in den Armen seiner Mutter vor Schreck. »Sie fassen mich an, Mutter! Ach, Mutter, jage sie doch weg!«

Die Frau faltete krampfhaft ihre Hände auf dem Rücken des Knaben. »Aus tiefer Not schrei ich zu dir!« schluchzte sie, »o Herr, erhör mein Flehen!«

Der Mann horchte, er fühlte, wie seine Zähne unaufhaltsam gegeneinanderschlugen. Jetzt! – Sie hatten den Versteckten gefunden! –

»Aha – endlich! Ein Verwundeter!«

»Ruhig!« gebot der Offizier. »Ruhig! Holt den Mann hierher!«

Zwei Soldaten nahmen den Arbeiter in ihre Mitte; er wurde vor das versteckte Bett des Hutmachers geführt und dann begann ein Verhör.

»Wie heißt dieser Mann? Wer ist er? Wie kommt er hierher?«

»Ich habe ihn heute morgen vor meiner Haustür gefunden und aufgenommen! Das ist Christenpflicht und nichts Unrechtes.«

»Keine Bemerkungen!« herrschte der Offizier. »Fanden in dieser Nacht besondere Unruhen statt? Haben Sie einen Kampf zwischen den Soldaten des Kaisers und anderen Personen mit angesehen?«

Der Kornträger schüttelte den Kopf. »Angesehen?« wiederholte er. »Nein! Aber ich habe das Durcheinander gehört!«

Der Offizier verstand nicht, was ihm da in plattdeutscher Sprache gesagt wurde, auch der Verwundete konnte nicht sprechen, und so machte denn der Scherge des Gewaltherrschers kurzen Prozeß. Mehrere Soldaten brachten eine Bahre herbei und legten den unglücklichen Nelles, in Kissen gehüllt, darauf, dann trugen sie ihn mit Mühe zum Hofe hinunter. »Vorsichtig!« mahnte der Offizier, indem ein böses Lächeln sein Gesicht überflog, »vorsichtig! – Der Rebell darf jetzt nicht sterben.«

Bruhns schauderte, er antwortete keine Silbe, als man ihn aufforderte, dem Zuge zu folgen – nur seinem Weibe reichte er die Hand und küßte das blasse Gesicht des Knaben. »Adjes auch, mein kleiner Heinz, adjes Hanne, ich muß ja mit, das weißt du!«

Sie klammerte sich an ihn, die Unglückliche, sie schrie laut, aber ohne bei den Franzosen das geringste Mitleid zu erwecken. Noch einmal sah ihr Mann zu ihr zurück – überzeugt, von den Soldaten nicht verstanden zu werden, sprach er ihr Trost in das zerrissene Herz.

»Mutter, ich konnte meinen Herrn nicht im Stich lassen, das weißt du doch! Weine nicht so herzbrechend, Alte, nach Regen kommt Sonnenschein! – Adjes! Adjes!«

Er wurde hinausgeführt und sogleich in das Gefängnis geworfen. Auch die Leiche des am Wall erschlagenen Soldaten war gefunden worden und so ziemlich ganz Hamburg in Bewegung geraten; man brachte auch die Toten aus der Eiskuhle herbei, Haussuchungen folgten auf Haussuchungen, es wurde eine Liste der Abwesenden aufgestellt, es erschienen nacheinander mehrere Proklamationen, deren eine die Bewohner noch mehr erbitterte als die vorhergehende.

Das Betreten der heimatlichen Stadtwälle war jetzt für die unglücklichen Hamburger zum Verbrechen geworden; eine Regierung, die sich zu den zivilisierten zählte, bedrohte jeden, der etwa unter den grünen Bäumen Luft zu schöpfen wünschte, im ersten Übertretungsfalle mit fünfzig Stockschlägen, im zweiten mit Ausweisung. Die Folgen der Abwesenheit waren noch empfindlicher, sie bestanden in der Konfiskation aller Güter und in dem Verbot der Rückkehr bei Strafe des Todes oder der lebenslänglichen Zwangsarbeit.

Die Führer der Bewegung, von Heß, Gries, Mettlercamp, Perthes und viele andere wurden in die Acht erklärt; das schon vor Jahr und Tag in Norderney proklamierte Verbot, am Abend auf der Straße stehenzubleiben, wiederholte sich jetzt auch für Hamburg – den Männern wurden Stockstreiche angedroht, den Frauen Rutenhiebe.

Auf den Straßen ergriffen die französischen Soldaten ohne weiteres jeden größeren Knaben oder erwachsenen Mann und stellten alle an die Schanzarbeit, wobei wieder ein infames, die Menschheit schändendes Erpressungssystem eingeführt wurde. Man gab den Gezwungenen einen bestimmten Tagelohn, ließ ihnen denselben aber sogleich durch besonders Angestellte wieder abfordern und zwar bald unter diesem, bald unter jenem Vorwand. Es war z.B. die Lieferung von Wolldecken für Kasernen und Lazarette ausgeschrieben und dabei bemerkt, daß solche Personen, welche die ihnen diktierte Anzahl nicht liefern könnten, dafür jede Decke bar mit zwanzig Mark bezahlen müßten. Ein anderes Mal brauchten die Kranken Wein, Zucker, Sago, Reis – wer nichts besaß, um es zu geben, der sollte auch hier wieder in die Tasche greifen.

Den armen Schanzarbeitern wurde also das ihrige genommen und ihnen nebenbei eine Schuldenlast aufgebürdet, die sich je länger, desto weniger übersehen ließ.

»Könnten wir nur fort!« seufzte Mikosch. »Hier ist kein Pfennig mehr zu verdienen, selbst die Soldaten besitzen nichts.«

Onnen horchte auf. »Laß uns die Sache versuchen, Alter!«

»Um Gotteswillen nicht! Die Tore sind gesperrt, jeder, der hinauszugelangen sucht, wird erschossen. Und wohin sollten wir auch flüchten? Ringsumher tobt der Krieg, die Kanonen donnern ja oft bis hier herüber.« Die drei gingen nicht mehr aus, Mikosch verzehrte heimlich seufzend das früher Erworbene und auch Geerd Kluin hockte ohne irgendeine Beschäftigung, meistens halblaut vor sich hinmurmelnd, in der Herberge. Er hatte die Beteiligung seines Neffen an jenem nächtlichen Kampfe niemals erfahren; wie ein Schatten schwand der alte Mann zusehends dahin.

Dann kam ein Tag, an dem französische Soldaten in jedes Haus drangen und mit Gewalt die fehlenden Schanzarbeiter zusammenbrachten; auch unsere drei Freunde mußten dem Ruf folgen, und so sah denn der nächste Morgen die braunen Fremdlinge mit dem Spaten in der Hand.

Die Befestigungsarbeiten an den Wällen wurden eifrig gefördert, die Brücke nach Harburg vollendet und überall Schanzen aufgeworfen; arme und reiche Bürger, Fremde und Einheimische mußten Erde fahren, Holz tragen und graben, immer bewacht von französischen Soldaten, bei kargem Lohne und denkbar grober Behandlung.

»Vier Schilling für Mann und Tag«, seufzte Mikosch, »das ist für den Bescheidensten zu wenig. Aber ich denke, daß wir doch endlich den Sieg behalten werden; die Franzosen plündern in einer nie dagewesenen, vollkommen wahnwitzigen Art – sie fühlen sich also nicht mehr sicher. Man muß eben Augen haben und sehen können.«

»Heute ist Auktion über die Güter der Abwesenden«, erzählte jemand von den Schanzarbeitern. »Oberst Mettlercamp verliert neun Häuser.«

»Pah, die stehen ja fest wie der Grund und Boden selbst! Wenn das Räubervolk zum Lande hinausgeprügelt ist, dann gehören sie wieder unserem braven Alten.«

»Pst! Du redest dich verzweifelt leicht um deinen Kopf.«

»Der sitzt noch ganz sicher zwischen den Schultern. Wißt ihr übrigens das Neueste?«

Sie horchten sämtlich. »Nun?«

»Morgen wird Nelles erschossen!«

»Der arme junge Mann, er war ein so liebenswürdiger Mensch, ein so tüchtiger Kaufmann! – Also mit der ungeheilten Wunde wollen ihn die Barbaren auf das Heiligengeistfeld hinausschleppen?«

»Ja, morgen vormittag sieben Uhr!«

»Bitte«, fragte Onnen, »wissen Sie nichts von dem Schicksal des Mannes, in dessen Haus man den verwundeten Nelles fand?«

»Bruhns, der Kornträger? Ja, er hat fünf Jahre Zwangsarbeit erhalten. Man steckt ihn in die Sträflingskleidung, legt ihm zwischen Hand und Fuß eine Kette und läßt ihn hier mit schanzen. Er ist besser dran als wir, denn die Franzosen müssen ihn wohl oder übel füttern.«

»Ein trauriger Trost, wahrhaftig!«

Irgendein andrer Schanzarbeiter wußte noch empörendere Neuigkeiten. »Das fällige Sechstel der Strafsumme ist nicht bezahlt worden«, sagte er, »der Napoleon hat daher an den liebenswürdigen ›Marschall Wut‹ einen großen Brief geschrieben.«

»Und was steht darin?«

»Schlimme Dinge. Die Schiffe im Hafen sind konfisziert, die Warenniederlagen aller Art, ferner die gesamte Augustmiete aller Hamburgischen Hauswirte!«

Ein Gemurmel der Entrüstung durchlief den Kreis. »Aber Kinder«, sagte eine Stimme, »das ist ja die einfache Plünderung, das Verfahren, dessen sich Straßenräuber schuldig machen!«

»Ja, natürlich. Hamburg ist außer dem Gesetz erklärt, wie ihr wißt.«

»Hm, hm, ich kann euch noch ganz andere Sachen erzählen!«

Aller Blicke suchten den neuen Sprecher. »Nun, und was wäre das?«

»Die Einwohner müssen für den Dienst der Lazarette sämtliche getragene Leinwand herausgeben. Nicht nur bis aufs Hemde ist also Hamburg ausgeplündert, sondern auch dieses hat es verloren.«

Mikosch trocknete den Schweiß von der Stirn. »Onnen«, flüsterte er, »wenn es früher oder später meinem Bären an den Kragen ginge!«

»Dann empören wir uns, Mikosch, dann – o, sprich nicht weiter, man erstickt an dieser ohnmächtigen Wut, die das Herz zerfrißt.«

Er warf die Erde mit solcher Gewalt auseinander, daß ihm Funken vor den Augen erschienen. »Dieser unglückliche Nelles«, sagte er nach einer Pause, »er muß nun als Opfer fallen! Er und der arme Bruhns. Ich will doch noch heute abend seine Frau besuchen – aber freilich, einen Trost kann ich ihr nicht bringen.«

»Den der Teilnahme«, versetzte Mikosch. »Du legst ihr ein paar Taler auf den Tisch und erinnerst an die Kugeln, welche den Hutmacher treffen werden – das hilft schon.«

»Und du wolltest mir diese Taler geben, Alter?«

Der Zigeuner nickte. »Die Schenkwirtschaft fängt doch bereits an, in Rauch und Nebel aufzugehen, mein Junge. Warum sollte man da nicht einem armen Weibe ein wenig Trost verschaffen? Mir haben ja auch andere Leute geholfen.« »Mikosch, du bist wahrhaftig ein guter Mensch! Ich schulde dir mehr Dank, als sich je im Leben abtragen läßt.«

»Pst – da kommt ein Aufseher.«

Sie schanzten emsig weiter und am Abend wanderte Onnen, mit Geld und verschiedenen Erfrischungen beladen, in den Hof hinter dem Speicher, wo das Kind des Kornträgers mit dem ermattenden Fieber immer noch rang. Frau Johanna weinte bitterlich, als sie ihn sah. »Ach, mein Mann, mein Mann« – das war alles, was sie hervorbrachte.

Onnen lenkte unmerklich ihre Gedanken auf den Knaben und erfuhr nun, daß die menschenfreundliche Frau des Arztes während der letzten Tage mehrfach erschienen war und daß der kleine Kranke nach Ansicht des Doktors von seinem bösen Fieber wieder genesen werde. Er schlief jetzt ruhiger, phantasierte nicht mehr so stark und hatte auch hin und wieder schon lichte Augenblicke gehabt. Onnen tröstete die weinende Frau im Hinblick auf das allgemeine Unglück der Bewohner Hamburgs und auch auf das Schicksal des armen Nelles.

Noch schaukelten die Körper der Gehängten im Winde auf dem Heiligengeistfeld, noch saßen fünfunddreißig der angesehensten Bürger Hamburgs als Geiseln für die Zahlung der Strafsumme ohne Verpflegung in einem schlechten Harburger Wirtshause gefangen, und schon wieder sollte ein braver Patriot ohne Recht und Urteil geopfert werden.

Schweren Herzens verließ Onnen die arme Frau, welche ihm mit Tränen in den Augen dankte. Morgen früh zum Heiligengeistfeld hinausgehen und dem Verurteilten noch ein freundliches Wort, einen Abschiedsgruß zurufen, das durfte er ja nicht – er mußte jetzt zur bestimmten Stunde auf dem Arbeitsplatz erscheinen und die Schaufel handhaben, oder sofort eine empfindliche Strafe erleiden. Eine Flut von bitteren und traurigen Gedanken erfüllte seine Seele; lebhaft wie nie vorher beherrschte ihn die Erinnerung an den Todestag des geliebten Vaters! So waren auch auf Norderney die Opfer hinausgeschleppt und ermordet worden, so in allen Teilen des niedergetretenen, gedemütigten deutschen Landes. Seit dem Monat Mai hatten die Franzosen in Hamburg mehrere Hunderte von mißliebigen Personen, völlig erfundener Verbrechen wegen, zu Pranger, Brandmarkung, Zwangsarbeit und Zuchthausstrafen verurteilt.

Morgen sollte die Erde wieder unschuldiges Blut trinken, das eines liebenswürdigen, unbescholtenen Mannes, dem nichts vorgeworfen werden konnte als nur seine Vaterlandsliebe, sein glühender Wunsch, Hamburg vom Drucke der Fremdherrschaft befreien zu helfen.

In dieser Nacht schlief Onnen nur wenig. Als er um sechs Uhr morgens zu arbeiten begann, da schwangen seine Arme nur ganz mechanisch die Schaufel – er horchte immerwährend.

Jetzt führten sie den armen Sünder aus dem Gefängnis und schleppten ihn zwischen zwei Soldaten hinaus auf die Straße, nach alter Gewohnheit mit ungekämmtem Haar, unrasiert und in den Kleidern, welche er bei seiner Gefangennehmung trug.

Onnen sah im Geiste alles, hörte alles – nur eins nicht. Auf dem Richtplatz hatten sich Hunderte versammelt, die kaum fähig waren, ihren Groll, ihren bitter nagenden Grimm in sich zu verschließen. Die Hutmachergilde verlor in dem Gefangenen einen beliebten Kameraden, persönliche Freunde den Freund, die ganze Stadt einen geachteten Bürger.

Noch beherrschte ein Summen und Raunen die ganze Versammlung, dann erschien eine Abteilung Franzosen und für den Augenblick entstand Todesstille. Hinter den Soldaten kam ein Blockwagen ohne Sitz oder Verdeck, ein schmutziger Lastwagen wie er für den niedersten Dienst benutzt wird; zwei trübselige Pferde zogen dies Fuhrwerk direkt zur Richtstätte.

»Er kann nicht gehen!« hieß es. »Ach, der Arme!«

»Laßt uns einmal näherrücken. Johann Nelles verdient doch wohl, daß ihm seine Freunde wenigstens ein Abschiedswort sagen.«

Ein älterer Hutmachermeister schüttelte seufzend den Kopf. »Ich glaube kaum, daß das im wahren Interesse des Verurteilten läge«, sagte er mit traurigem Tone. »Johann Nelles ist ohne Bewußtsein, also weckt ihn nicht etwa zu der Erkenntnis seines Schicksals.«

Die Menge drängte sich näher um den Sprechenden. »Ist es denn mit der Wunde so sehr schlimm, Meister Funke?«

»Der kalte Brand ist hinzugetreten – die Franzosen haben ja keinen Arzt geholt, nicht einmal einen Verband angelegt.«

»O die Barbaren, die Schändlichen!«

»Von wem wißt Ihr denn das alles, Meister Funke?«

Der Alte lächelte traurig. »Von den Gefängnisbeamten, Kinder. Für Geld und gute Worte kann man diese Leute kaufen – sie haben mich sogar hineingelassen, aber der arme Nelles lag schon gestern abend ohne Besinnung.«

»Dann ist ihm also der Richtspruch gar nicht verkündet worden?«

»O behüte, das geschieht niemals. Im Konventsaal des Marien- Magdalenenklosters halten die Machthaber ein scheinbares Kriegsgericht, bei welchem an einen Verteidiger für den Angeklagten, an Beweis oder Geständnis gar nicht gedacht wird; man spricht das Urteil und bringt den Gefangenen vom Leben zum Tode – das ist alles.«

»Jetzt hält der Wagen, sie heben ihn herab!«

»Ach Gott, wie sein Kopf hängt! – Die Unmenschen!«

»Seht nur, seht, er kann nicht stehen!«

»Danken wir doch dafür dem Himmel, ihr Leute! Er bemerkt von dem ganzen Vorgange nichts!«

»Sie binden ihn an den Wagen – die Soldaten stellen sich auf.«

»Ja, was können denn die dafür? Sie werden einfach kommandiert!«

»Sieh! Sieh! Bist du etwa ein Freund der Franzosen, daß du sie gar noch freiwillig in Schutz nimmst?«

»Oder vielleicht ihr Spion?«

»Narren seid ihr! Kommt hervor, wenn ihr mit einem Hamburger Bürger Streit zu haben wünscht!«

Es entspann sich eine Schlägerei, Steinwürfe flogen herüber und hinüber, die Soldaten wurden getroffen und erst, als die Salven krachten, kam wieder einige Besinnung in die erbitterten Massen zurück. Der Gefangene hatte von alledem nichts bemerkt als vielleicht sekundenlang das Eindringen der Kugeln in die schweratmende Brust – gerade so geknickt und haltlos, wie er als Lebender an dem Wagen gehangen, so hing er, von allem Erdenweh erlöst, noch jetzt.

Aber sein Anblick reizte eben dadurch die Wut der Massen; den Soldaten, welche die Hinrichtung vollzogen hatten, flogen wieder Steine an die Köpfe, es erfolgte ein plötzliches Kommando und mit gefälltem Bajonett rückten die Truppen gegen die versammelten Volksmassen vor.

Jetzt wandten sich diese zur schleunigen Flucht; nur vier Männer wurden, weil sie auf dem unebenen Boden stolperten und fielen, von den Franzosen aufgegriffen, um dann sofort abgeführt zu werden.

Lautlos folgten einige dem Zuge bis zum nahen Millerntor, dann verstärkte sich in der eigentlichen Stadt wieder die Menge, doch blieb man ruhig. Was würde jetzt geschehen?

Die Soldaten gingen, ihre Gefangenen zwischen sich, bis zu jener alten Wache auf dem Großneumarkt, die seitdem abgebrochen und nicht wieder aufgebaut worden ist; hier machten sie Halt.

Ein Kreis von Zuschauern umgab schweigend den Platz. Was hatten die Leute verbrochen? Waren es gerade die, welche mit Steinen warfen, oder vielleicht die, welche ruhig zusahen, aber unglücklicherweise im vollen Laufe stolperten?

Darum bekümmerten sich die Franzosen verzweifelt wenig.

Ein Profoß wurde herbeigerufen und die Bestrafung sofort vollzogen; vier Hamburger Bürger erhielten auf offener Straße vor der Neumarktswache je fünfundzwanzig Stockschläge – ganz in der Weise, wie man sie kleinen Kindern zu verabreichen pflegt.

Nach dieser Exekution wurden sie mit einer Verwarnung entlassen. Niemand wagte es, offen dem Übermut der grausamen Quäler entgegenzutreten, die schrecklichen Ereignisse des Jahres 1812 lebten noch zu frisch in der Erinnerung aller. Damals waren aus einem in voller Empörung begriffenen Volkshaufen sechs Personen aufgegriffen, umzingelt und ohne weitere Formalitäten erschossen worden – dergleichen konnte sich ja auch jetzt noch in jedem Augenblick wiederholen. So sehr aber auch in den Herzen aller die Erbitterung gärte und kochte – das Schauspiel des nächstfolgenden Tages sollte doch sämtliche vorausgegangenen Ereignisse in den Hintergrund drängen, um seiner ungeheuren Ruchlosigkeit willen alles Frühere fast vergessen lassen.

Es war ein Sonntag. Von den wenigen Kirchen Hamburgs, die nicht als Pferdeställe oder Futtermagazine benutzt wurden, erklangen die Glocken und riefen zum Gottesdienst, dem auch Onnen sich, wo es eben möglich war, niemals entzog. Durch die Luft sickerte ein feiner Staubregen, es war ein unangenehmes, kühles Wetter, dem man wohl im Innern des Zimmers ein gemütliches Behagen abgewinnen konnte, draußen aber auf keinen Fall. Onnen hielt bereits die Tür der Michaeliskirche halb geöffnet, als ihn jemand hastig beim Namen rief; er wandte den Kopf und sah, wie Alexei mit beiden Händen winkte.

»Komm schnell zu mir, Herr!«

Onnen erschrak. »Was gibt es denn?«

»Nichts, das uns selbst anginge. Aber komm nur, Herr, du sollst etwas sehen, das Steine erbarmen könnte; die Franzosen haben in Lübeck zweihundert Knaben geraubt, um die Eltern derselben zur Bezahlung einer viele Millionen betragenden Summe zu zwingen. Jetzt sind die armen Kinder hier in Hamburg.«

»Und sollen hier bleiben?«

»Nur für diese Nacht. Im Hafen liegt ein Kriegsschiff, das bestimmt ist, sie nach Frankreich zu bringen.«

Onnen erbleichte. »Das Maß ist übervoll, Alexei, es kann nun mit dieser alle göttlichen und menschlichen Gesetze verhöhnenden Wirtschaft unmöglich noch lange mehr andauern!«

»Sei still, die Leute sehen uns an. Komm mit mir zur Gegend der Steinstraße, da lagern die unglücklichen Kinder.«

Sie gingen durch die Stadt bis zum heutigen Georgsplatz, und dort bot sich ihnen ein schrecklicher Anblick. Durchnäßt und beschmutzt, teilweise ohne Kopfbedeckung oder in Morgenschuhen, krank und verzweifelt, so lagen auf dem versumpften Boden zweihundert Knaben im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren, alles Söhne der angesehensten Familien Lübecks. Die Kinder waren von einem Bataillon Soldaten zu Fuß nach Hamburg eskortiert und daher schon zwei Tage und Nächte unterwegs; eine beängstigende Stille lag auf der ganzen Schar, sie mochten sich wohl zu sehr fürchten, mochten zu sehr vom Entsetzen geschüttelt werden, um noch nach Kinderart zu toben, oder auch nur irgendeinen Laut von sich zu geben.

Hinter den Reihen standen mehrere Frauen und Männer, Leute aus den besseren Kreisen der Stadt, Menschen mit todesblassen Gesichtern und gerungenen Händen, Verzweifelnde, die, solange es ihnen möglich war, in der Nähe ihrer Kinder bleiben wollten, die immer und immer wieder bei den französischen Soldaten um Gnade flehten, ohne eine andere Antwort als nur ein Achselzucken zu erlangen.

Mit den Knaben zu sprechen wurde ihnen gestattet, sie durften dieselben aber aus den Reihen ihrer Genossen nicht entfernen und das war es einzig und allein, was sie zu erreichen hofften.

Eine Mutter hielt ihren zehnjährigen kleinen Liebling mit beiden Armen umfaßt. Das Kind trug ein blaues Samtkostüm und Schnürstiefel, aber ihm fehlte der Hut, es hatte schmutzige Händchen und schien vor Furcht fast erstarrt. Große braune Augen sahen voll Scheu aus dem blassen Gesichtchen hervor, die Haare hingen naß und zerzaust um den Kopf herum.

»Herr Soldat«, flüsterte die Mutter, »ach, Herr Soldat, sehen Sie denn nicht, daß mein kleiner Knabe fiebert? Er muß zu Bett gebracht werden, muß den Arzt haben – o Gott, wenn er mir stürbe!«

Das Kind begann zu zittern. »Mama«, rang es sich über seine bleichen Lippen, »liebe Mama, laß mich nicht sterben – ich fürchte mich vor der schwarzen Erde so sehr!«

»Herr Soldat, um Jesu Christi willen, hören Sie denn nicht?«

Der Franzose zuckte die Achseln. »Fragen Madame selbige Sacke alle Stunden!« brummte er. »Können gar nix tun Soldat.«

Die arme Frau warf sich auf ihre Knie, sie hob die Hände zum Himmel empor und weinte laut, während einige größere Knaben sie und den Kleinen zu trösten suchten. Mittlerweile hatte sich aber auch eine ganze Anzahl von Frauen aus dem Volke an der Stätte so großen Jammers zusammengefunden; lauter Mütter, deren eigene Kinder allen möglichen Gefahren ausgesetzt waren, die vielleicht für sich selbst nichts mehr zu essen, nichts mehr anzuziehen hatten, denen aber das Elend der schuldlosen Knaben tief zu Herzen ging.

Für den kleinen Kranken war bald ein trockener Anzug herbeigeschafft, ein Regenschirm und ein Paar Stiefel, ein Kopfkissen, Stroh und ein kühlendes Getränk. Das arme Wesen! So jung und schon so unglücklich – die barmherzigen Samariterinnen weinten alle mit der Mutter um die Wette, sie hatten völlig vergessen, daß der barbarische Feind jedes Zusammenstehen auf der Straße mit Rutenhieben bedrohte, ihre Liebesgaben erquickten die halbverschmachteten Kinder, ihre Hände wuschen die blutenden Füße; es fand sich auf dem Boden der Fischfrau oder Kornhändlerin noch ein alter Strohhut, eine Mütze, mit denen die Söhne der Lübecker Millionäre ihre Augen gegen die Strahlen der Sommersonne beschützen konnten.

Speise und Trank kam von allen Seiten herbei, auch Onnen und Alexei brachten ihr Scherflein – nur der kleine Kranke genoß nichts mehr. Er hielt die großen Augen weit geöffnet, aber es war kein Blick darin, kein Ausdruck; der zarte Körper krümmte sich im heftigsten Fieber, die Haut war trocken und brennend heiß.

Einer der aus Lübeck mitgegangenen Herren näherte sich der unglücklichen Mutter und sprach mit ihr, er forderte sie auf, sich den Machthabern zu Füßen zu werfen. Was lag denn an einem einzigen kleinen Kind? Wer menschlich empfand, der mußte doch dem Kranken ein Obdach gewähren, wenigstens ein anderes Sterbelager als auf offener Straße.

Die arme Frau erhob sich schwankend, halb bewußtlos; treue Arme umschlangen ihren Knaben, mitleidige Seelen führten sie selbst durch die Straßen Hamburgs zu den Tyrannen, welche jetzt auch gegen wehrlose Kinder den Krieg erklären zu wollen schienen. Der frömmelnde, heuchlerische, aber im innersten Herzen grausame General Hogendorp befand sich in der Kirche; die arme Mutter mußte länger als eine Stunde warten und erhielt dann bei der ersehnten Audienz nur ein Achselzucken, eine ausweichende Antwort. »Ich kann keine Ausnahme gestatten, Madame; weshalb hat Lübeck die der Stadt auferlegte Kriegskontribution nicht pünktlich bezahlt? Der Kaiser liebt den schnellen Gehorsam.«

Die Hände der unglücklichen Frau falteten sich zu angstvollem Flehen. »Exzellenz, man kann nicht zahlen, wenn die Kassen leer sind! Es ist unmöglich, da zu geben, wo man selbst für den Augenblick nichts besitzt.«

Der General bedauerte halb spöttisch. »Haben denn die Lübecker Geldfürsten auch wie hier in Hamburg ihre baren Mittel auf den Wällen begraben, Madame? Oder wohin sind dieselben sonst gelangt?«

Sie wagte nicht, ihm zu antworten, darauf hatte er gerechnet. »Versuchen Sie Ihr Glück bei dem Herrn Maire, Madame. Die militärische Seite der Frage gestattet keine Abweichung von dem einmal erlassenen Befehl; vielleicht kann Ihnen Herr Rüder nützen, indem er irgendeine Kaution für den auf den Kopf Ihres Kindes entfallenden Anteil der Strafsumme herbeischafft.«

Damit war die Audienz beendet und mit einem immer schwerer werdenden Herzen wandte sich die arme Mutter jetzt zu dem bezeichneten Herrn; dieser ließ sich indessen bei seinem Frühstück nicht stören. Der Diener berichtete nur, daß Monsieur Rüder mit der ganzen Angelegenheit nichts zu schaffen habe – das sei Sache des Polizeichefs, Herrn d'Aubignose.

Wieder ein neuer weiter Weg, neue Todesangst, daß alle Hilfe zu spät kommen möge. Die gequälte Frau konnte kaum noch sprechen, sie warf sich dem Beamten zu Füßen und flehte schluchzend um Gnade.

Der Polizeidirektor schien ein weniger versteinertes Herz zu besitzen; er nahm die Sache außerordentlich leicht. Ein krankes Kind von der Straße auflesen und in irgendein Haus tragen – aber warum denn nicht? Seine Majestät, der Kaiser, würde dagegen durchaus nichts einzuwenden haben!

Ein Unterbeamter wurde der Dame als Begleiter zugesellt, und nun eilte die Unglückliche fliegenden Fußes nach dem Lagerplatz der Knaben zurück. Jetzt konnte noch alles gut werden; ihr Gemahl, an jenem verhängnisvollen Tage von Hause abwesend, war nun zurückgekehrt und würde sogleich nach Hamburg kommen, würde helfen, raten, alle Hebel in Bewegung setzen, um sein einziges Kind zu retten. Vielleicht war es sogar des Kleinen Glück, daß er in Hamburg erkrankte; das französische Schiff durfte seinetwegen nicht warten, und so schien wenigstens diese ärgste, äußerste Gefahr für den Augenblick abgewendet.

Sie selbst hatte bei der eiligen Flucht aus Lübeck Geistesgegenwart genug gehabt, eine größere Summe Geldes zu sich zu stecken, das würde für die Pflege des Kleinen unter allen Umständen genügen.

»Sind wir noch nicht bald da?« fragte sie jeden Augenblick.

Und dann endlich war die Stelle erreicht. Ein Gewühl, wie auf dem Jahrmarkt!

Man sah sie an, Frauen gaben ihr plötzlich die Hand oder begannen zu weinen; ein unbestimmtes Grauen erfaßte das Herz der armen Mutter.

»Wo ist mein Kleiner?« rief sie halb schwindelnd. »Paul! Paul!«

Der Freund aus Lübeck trat ihr entgegen, hielt sie an beiden Händen zurück. »Nicht so schnell, liebe Frau Rodenberg – kommen Sie, ich habe Ihnen etwas zu sagen.«

Aber sie wollte sich gewaltsam von ihm freimachen. »Paul, Paul, wo bist du? – Ach, allmächtiger Gott, er wird doch nicht gestorben sein!«

Neben ihr fiel eine Frau in Krämpfe, und nun wußte die Unglückliche alles, sie fand auch den Weg zu ihrem Kleinen, sie sah ihn fast so, wie ihn vor fünf Stunden ihre Arme den fremden barmherzigen Menschen überließen. Fast so, aber doch nicht ganz.

Die Augen waren noch starr und weit geöffnet, das kleine Gesicht so blaß und der Ausdruck desselben so ängstlich, aber auf der Stirn lag die Kälte des Todes und das Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Lautlos, wie vom Schreck gebrochen, fiel die junge Frau neben der Leiche ihres Kindes zu Boden; sie war ohnmächtig, vielleicht selbst sterbend – der Polizeibeamte fand es für gut, den Platz sogleich räumen zu lassen und auch die Lübecker Kinder, anstatt auf offener Straße, lieber in den leeren Speichern am Meßberg unterzubringen.

Die arme Frau Rodenberg und das tote Kind trug man ins nächste beste Haus, ohne sich um die Unglücklichen weiter zu bekümmern.

Onnen hatte alles mit angesehen. Ein furchtbarer Sonntag. – Und doch sollten ihm noch viel, viel schlimmere folgen.

Früh am Montag morgen brachte man die Lübecker Knaben an Bord des Kriegsschiffes, das darauf gegen Mittag unter Segel ging. Von diesen Kindern sind fünfzehn in ihre Heimat zurückgekehrt, die übrigen dagegen gestorben und verdorben, ohne daß ihre Eltern von ihnen jemals eine Nachricht erhielten.

Onnen konnte die Einschiffung nicht mitansehen, er mußte seinen Platz beim Schanzenbau wie gewöhnlich einnehmen und arbeitete mechanisch weiter, indes Flüsterworte von Mund zu Mund gingen, immer neue Schreckensbotschaften bringend, neue unglaubliche Schandtaten enthüllend.

Eine Bekanntmachung des verrufenen Maire Rüder gebot allen Witwen und unverheirateten Frauen, sich sogleich zum Dienst in den Lazaretten zu melden; der Oberst Chaban hatte von dem General Davoust aus dem Hauptquartier zu Ratzeburg einen Befehl erhalten, kraft dessen jedem Hamburger Einwohner das bare Geld ohne Umstände weggenommen werden sollte, und zwar, um die Bedürfnisse der Armee zu decken.

»Demnächst geht es dann an die Silberbarren der Bank«, flüsterte einer.

»Da fühlt man sich im Schutze seiner Armut förmlich behaglich!«

»Drüben hinter Sankt Georg lodert's wieder hell. Man verbrennt das Dorf Hamm!«

»Und auf dem Heiligengeistfelde knallen die Salven. Es werden wieder einmal Menschen erschossen, nur weil Spione bei ihnen Waffen gesehen haben wollen.«

Sie knirschten beide, der, welcher erzählt, und der, welcher zugehört hatte. Ja, die Spione! Sie hatten schon Fluten von Elend und Verzweiflung über die unglückliche Stadt gebracht, sie regierten faktisch die französischen Behörden und dadurch Hamburg.

Onnen sprach nicht mit; er dachte immer an das tote Kind der Frau Rodenberg, und dann verloren sich seine Erinnerungen unmerklich nach Norderney, zu jenem Morgen, als Kornelius Raß mit durchschossener Brust von den Fischern herbeigetragen wurde.

»Herr!« flüsterte neben ihm die Stimme des Zigeuners.

Er sah auf. »Nun, Mikosch?«

»Arbeite weiter, mein Sohn, und scheine nichts zu bemerken, nichts zu hören – willst du das?«

Onnen schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht, Mikosch! Hast du mir denn irgend etwas Besonderes zu erzählen?«

»Ja, aber etwas Gefährliches. Du darfst jetzt nicht aufblicken.«

»Es sind also Bekannte in der Nähe – aber wo?«

»Bei den hinter uns arbeitenden Strafgefangenen, Herr.«

Onnen erschrak. »Sage es mir, Mikosch! – Leute von meinem früheren Regiment?«

»Ja, Herr. Still, ganz still – es sind Feiko Hansen und Georg Wessel!«

»Großer Gott – und sie tragen die Sträflingskleidung?«

»Ja, Herr, aber vergiß nicht, daß du sie nur mit den Augen grüßen darfst. Wird eure Bekanntschaft von den Franzosen entdeckt, so stehst du als verdächtig da – das behalte im Auge.«

»Ich will es ja. Ach mein Gott, wer hätte das gedacht!«

Er warf die Erde während kurzer Zeit hastig hin und her und stützte sich dann schwer, wie ausruhend, auf den Spaten. So ging es an, sich gleichsam zufällig umzusehen.

In langer Reihe arbeiteten, erst seit dem heutigen Morgen neu eingestellt, die Strafgefangenen mit der Kette zwischen Arm und Fuß an den im Bau begriffenen Schanzen. Wenige Schritte von ihm entfernt standen Georg und Feiko in leinenen Matrosenkleidern, also von einem aufgebrachten Schiff direkt hierhergeführt, um allem Kriegsbrauch zuwider an den Befestigungswerken des Feindes mitzuarbeiten.

Wie verändert die beiden waren! So blaß und hohläugig, so abgemagert, als hätten sie Wochen und Monate ohne genügende Nahrung verbracht.

Die Blicke der drei jungen Leute begegneten sich flüchtig; keiner unter ihnen vergaß, daß er beobachtet wurde, aber dennoch erzählten die Augen von überstandenen Leiden, von Drangsalen, die Leib und Seele gleich sehr erschüttert hatten.

Onnen konnte kaum das Ende dieses zur Ewigkeit gedehnten Tages erwarten. Er würde mit seinen beiden Freunden auch am Abend nicht sprechen dürfen, das wußte er freilich, aber es blieb ihm doch unverwehrt, zum Hafen hinabzugehen und dort Erkundigungen einzuziehen; ebenso erfuhr er, wo Georg und Feiko wohnten. Jedenfalls hatten sie eine fürchterliche Gefangenschaft im verschlossenen Innern eines ausgeplünderten Kauffahrteischiffes zu ertragen gehabt.

Zwischen den sogenannt freien und den mit Ketten belasteten Arbeitern gingen Wachtposten fortwährend hin und her; es ließ sich kein einziges Wort sprechen, keinerlei gleichsam zufällige Bekanntschaft anknüpfen.

Endlich schlug es sieben. Die Strafgefangenen marschierten mit ihren Aufsehern zum Bauhof, die übrigen Schanzgräber zerstreuten sich nach allen Richtungen hin, auch unsere Freunde, und zwar auf dreifach verschiedene Weise. Alexei hielt sich in einiger Entfernung hinter Georgs und Feikos Abteilung, um ihr Quartier zu ermitteln, Mikosch führte seinen Bären auf ein Stündchen aus dem engen Stall hinaus ins Freie und Onnen eilte flüchtigen Fußes zum Hafen.

Drei französische Kanonenboote ankerten mitten im Strome und neben ihnen lag ein russischer Dreimaster mit entsetzlich zugerichteter Takelage. Masten und Spieren waren zersplittert, das stehende Gut zerschunden und zum Teil ganz entfernt, das laufende in Fetzen zerrissen. An den Seitenwänden zeigten sich Kugelspuren, das Steuer fehlte ganz und die Kombüse lag in Trümmern.

»Da drinnen im Raume leben noch Menschen«, flüsterte ein Jollenführer in Onnens Ohr. »Der Kapitän und die Steuerleute des unglücklichen Schiffes; sie fuhren unter falscher Flagge, aus diesem nichtigen Grunde will man ihnen den Prozeß machen.«

»Das heißt doch, sie erschießen?«

Der Jollenführer zuckte die Achseln. »Wir werden es schon knallen hören«, meinte er nach längerer Pause. »Und auch der liebe Gott wird's hören – der Schandtaten sind nun nachgerade so viele, daß die Erlösung bald kommen muß.«

Onnen wußte genug. Schweren Herzens ging er an diesem Abend nach Hause, grübelnd und immer angestrengter grübelnd, wie es ihm möglich werden solle, sich mit den beiden Freunden in Verbindung zu setzen. Erfuhren die Franzosen seinen Namen, seine Geschichte, so war ihm die Kugel für den nächsten Tag gewiß; es galt daher, äußerst vorsichtig zu Werke zu gehen.

Und doch hätte er Gott weiß was darum gegeben, mit den beiden Freunden einen Augenblick sprechen zu dürfen.

»Geerd Kluin ist hier, hütet euch um Himmelswillen vor ihm!« das wollte er ihnen zurufen – aber wo fand sich die Gelegenheit?

Zu Hause im Eichholz ging der Wirt jammernd und händeringend umher. Es war eine Botschaft des Generals angelangt, man hatte im Rate der Machthaber beschlossen, die ganze eine Häuserreihe der Straße zu Lazarettzwecken zu verwenden und aus diesem Grunde den Bewohnern einfach auferlegt, bis zum anderen Abend den Platz zu räumen. Alle Häuser mit großen eleganten Zimmern waren bereits zu irgendwelchen Zwecken mit Beschlag belegt; jetzt folgten also die der ärmeren Leute.

Ein ersticktes Schluchzen, ein Weinen und Fluchen ging durch die hartbetroffene Straße. Eine Grünwarenhändlerin hatte den Verstand verloren; sie saß auf einer Haustreppe und führte eingebildete Unterredungen mit Gott und dem Heiland, sie versprach unter Tränen ihren früheren Nachbarn, für sie im Himmel Gnade und Erlösung zu erwirken.

Das todesblasse Gesicht der armen Frau zeigte ein scheues, wahnwitziges Lächeln; von Zeit zu Zeit segnete sie die umstehenden Personen.

»Mutter Thiemann«, rief weinend eine Frau, welche mit ihr im selben Hause wohnte, »Mutter Thiemann, kommen Sie doch, die Leute lachen ja über alles, was Sie ihnen da erzählen. Wir wollen hineingehen.«

Die arme Wahnsinnige schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht mehr die Mutter Thiemann«, sagte sie, »das war vorzeiten, ehe die Franzosen kamen.«

»Still doch, Frau, um Himmelswillen still!«

»Weshalb? Alle Leute können hören, daß ich nun eine gekrönte Heilige im Himmel bin. Ich habe eine ebensolche Dornenkrone wie der Herr Christus! – Da sitzt er ja auf goldnem Throne mitten unter euch; seht ihr ihn denn nicht?«

Niemand lachte, hie und da klammerten sich größere Kinder mit scheuen Blicken an die Kleider ihrer Mütter, Frauen weinten und Männer schüttelten die Köpfe – in der ganzen Versammlung wurde kein Laut gehört.

Mutter Thiemann nickte immer leise vor sich hin. »Zuerst holten mir die Franzosen meinen Jungen, meinen lieben einzigen Jungen aus dem Hause«, sagte sie in klagendem Tone, »er fiel in der Schlacht, er ist tot, mein armer Bernhard! Dann kam sein Vater an die Reihe – sie haben ihn als Hochverräter auf dem Heiligengeistfelde erschossen!«

Ein Wimmern folgte diesen Worten. »Meinen guten Hannes, einen so braven Mann, einen so tüchtigen Hamburger Bürger und achtbaren Familienvater! Sie haben ihn totgeschossen wie einen tollen Hund!«

»Um Gotteswillen, Frau, so schweigen Sie doch beizeiten!«

Die arme Mutter Thiemann hörte nicht. »Nun hatte ich noch zwei Kinder«, schluchzte sie, »hübsche fleißige Mädchen, die holte das böse Fieber, beide an einem Tage. Meine Sachen mußte ich hergeben, Betten, Leinen, Lebensmittel, Möbel – nichts war übrig als das bißchen Kram auf dem Hopfenmarkt, aber auch das war noch zuviel, die Franzosen kamen und rissen alle die Körbe auf und nahmen, was sie fanden. Oh Kinder, Kinder, wie sind wir unglücklich!«

Die Alte stand auf und schob und zerrte an ihrer Witwenhaube. »Eine Nacht schlafe ich noch in diesem Hause«, sagte sie, »dann nehmen es die Teufel mit schwarzen Gesichtern und blutroten Krallen – ich fahre auf zum Himmel. Seht ihr wohl die Dornenkrone?«

Sie segnete nach ihrer Meinung die Umstehenden und versprach ihnen alles mögliche Glück und Wohlergehen; erst nach längerer Zeit ließ sie sich bewegen, wieder in das Haus zurückzukehren, völlig wahnsinnig, seit man ihr das letzte geraubt, die Stätte, an der all ihr irdisches Glück zu Grabe getragen worden war.

Außer dieser Armen befanden sich in gleicher Aufregung noch Hunderte. Diesen Morgen waren sämtliche auf dem Hopfenmarkt und in den Straßen zum Verkauf ausgestellte Lebensmittel, Gemüse, Früchte, Fische, Milch, von den Franzosen ohne lange Vorrede weggenommen worden, dazu kam der Verlust der Wohnung, die Furcht, auch noch das letzte bißchen Habe einbüßen zu müssen; kopflos vor Angst liefen die Leute während dieser ganzen Nacht durcheinander.

Einiges hatten die Franzosen bereits mitgeteilt. Frauen, Kinder, Greise und Kranke sollten, wie gewöhnlich, rücksichtslos auf die Straße geworfen werden; allen arbeitenden, Schanzen und Brücken bauenden Männern dagegen hatte man in den verschiedenen Arrestlokalen und Baracken der Stadt ein Quartier bereitet. Ihre Kräfte verlangten Schonung, um des vorhandenen Zweckes willen.

Der Wirt saß wie stumpfsinnig. »Wohin sollte ich wohl meine Sachen bringen, ihr guten Leute? In ganz Hamburg ist keine Wohnung zu bekommen, und wenn auch? Was die Franzosen sehen, das nehmen sie weg!«

Mikosch stützte den Kopf in die Hand. »Mein Bär! Mein Bär! Du großer Gott, wie soll ich ihn retten?«

Dann kam ihm gegen Morgen ein Gedanke. »Ich will zum Herrn Polizeidirektor gehen und Ruff mit mir nehmen, vielleicht läßt sich der Mann erweichen.«

Er kämmte und bürstete den plumpen Kerl, dann wanderte er mit ihm zur Wohnung des Herrn d'Aubignose und erwartete den Augenblick, wo dieser gebietende Herrscher seine Equipage besteigen würde. Ruff mußte den Schlag öffnen, er verbeugte sich auch mit Bärenzärtlichkeit und der Franzose lachte. Ehe noch fünf Minuten vergingen, hatte der schlaue Zigeuner einen Zettel in der Tasche und auf demselben die Unterschrift des Polizeichefs. Herr d'Aubignose sicherte ihm nicht allein den Besitz des Bären, sondern auch für die Zeit seines Aufenthaltes in Hamburg einen Stall oder sonstigen Raum, in welchem der Braune wohnen konnte.

Später am Tage kam dann die Besitzergreifung der Häuser im Eichholz. Wie einst das heimatlose Volk der Israeliten, so zogen mit Sack und Pack die Vertriebenen davon, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollten. Verschlossen die Stadttore, besetzt und beschlagnahmt jede Wohnung, angefüllt mit Kranken und Sterbenden jeder verfügbare Raum – wohin sollten sie künftig das Haupt betten?

Die Wälle zu betreten, war bei Prügelstrafe verboten, außerdem wehte draußen der Herbstwind schon recht kühl, man konnte im Freien keine Nacht mehr verbringen. Manch eine arme, geängstigte Seele hat sich in diesen Stunden des Schreckens und der höchsten Not dem göttlichen Erbarmen anbefohlen und mit der Erde die Rechnung freiwillig abgeschlossen, manch ein ehrlicher Mensch ist zum Schurken geworden, um sich von dem Fall ins Bodenlose nie, nie wieder zu erheben.

Eine Abteilung Soldaten säuberte den Platz, Kolbenstöße und Säbelhiebe beschleunigten die Schritte der Zögernden, bis endlich auf dem Eichholz niemand mehr übrig geblieben war. Mochten die Wachtposten in den anderen Straßen sehen, was sie mit den Heimatlosen anfingen.

Die arme irrsinnige Mutter Thiemann war bei mitleidigen Nachbarn an der entgegengesetzten Seite der Straße untergebracht worden, ebenso viele kranke Frauen und Kinder, aber dennoch blieben Hunderte obdachlos.

Gegen Abend zogen die Typhuskranken ein. Auf dem Fahrwege brannten hie und da Teertonnen, ein blauer dichter Dampf erschwerte das Atmen, ein Ächzen des höchsten Leidens rang sich von den Lippen der unglücklichen Kranken. Die Soldaten standen Wache, sie trugen und fuhren ihre Kameraden, sie hielten den Platz frei von denen, welche etwa noch Möbel aus den Häusern holen wollten, und nahmen endlich die von der Schanzarbeit zurückkehrenden Männer in Empfang.

Mikosch zeigte seinen Schein, er durfte den Bären mitnehmen, ebenso alle drei Zigeuner und die übrigen Männer ihre Kleidungsstücke, dann ging es fort.

»Wohin nun?«

»Zum Bauhof!« antwortete einer der Franzosen.

Onnen unterdrückte mit Mühe einen Freudenschrei. Vielleicht war es jetzt möglich, sich unbemerkt den beiden anderen zu nähern.

Als die ganze Schar antrat, um das Eichholz zu verlassen, da schlich mit gefalteten Händen eine kleine gekrümmte Gestalt herbei, ein Mann ohne Hut mit erdfahlem Gesicht, zitternd und immerfort hustend – Geerd Kluin, der Norderneyer.

»Nehmt mich mit euch, ihr Herren«, bat er, »nehmt mich um Gotteswillen mit euch. Ich kann noch ganz gut Schanzen graben, kann so mancherlei, bin gefügig und –«

»Marsch mit dir, Papa! Geh fort, du bist ein alter Herr, krank, halb närrisch. Geh, geh – wir brauchen dich nicht.«

»Ach, bitte, bitte!«

Der Franzose lachte ihn aus, Geerd Kluin wollte trotzdem den Weg nicht freigeben, er klammerte sich an die Soldaten und wurde mit den Kolben zu Boden gestoßen. »Onnen!« rief er in voller Verzweiflung, »Onnen!«

Unser Freund erschrak heftig; für den Augenblick stockte sein Herzschlag; er horchte.

Aber der Ruf verhallte ungehört, die ganze Masse zog davon, und wo Geerd Kluin blieb, das konnte Onnen nicht entdecken. Mikosch hatte ihm einen Taler zugeworfen, soviel sah er, und das beruhigte ihn einigermaßen.

Ein Unteroffizier maß den Zigeuner mit lauernden Blicken. »Du aben große Geld?« raunte er. »Viel Geld!«

Der schlaue Häuptling lachte so harmlos, als sei er arm wie Hiob. »Beim Schanzenbau ist kein Reichtum zu erlangen, Franzose.«

»Aber du aben Geld gegeben diese alte Mann.«

»Aus Mitleid, ja; der unglückliche Bettler kann nichts mehr verdienen. Weißt du, Franzose, mein Bär hier, der bringt mir immer so ein paar Silberlinge ins Haus, er ist ein sehr nützliches Tier – einen Taler habe ich oft binnen wenigen Minuten zusammen.«

Die Augen des Franzosen glänzten. »Mir auch geben Taler!« raunte er. »Nix bekommen große Geld – ick sein arm!«

»Das ist im Kriege nicht gut anders möglich, mein Lieber! Ich will dir auch recht gern einen Taler schenken, hier einen, dort einen, aber du mußt mir einige kleine Gefälligkeiten erzeigen, sonst geht's nicht.«

Der Unteroffizier zuckte die Achseln. »Was können tun ich? Is alle Soldat arm, hat keine Brot, kein Geld!«

Der Zigeuner lächelte. »Du sollst erstens dafür sorgen, daß mein Bär ein gutes Quartier erhält, Unteroffizier, kannst du das?«

»Oui! Oui! Aben ich Stall bei Bauhof gesehen, das nehmen. Monsieur d'Aubignose befehlen – werfen hinaus Pferd, nehmen Futter weg!«

»Sachte, sachte, andere Leute wollen auch leben, mein Freund. Ich ernähre den Bären selbst, und wenn er in irgendeiner sicheren Ecke ein Unterkommen findet, so bin ich vollständig zufriedengestellt. Aber höre«, fuhr er fort, »du kannst mir noch einen anderen, ebenso bedeutenden Dienst leisten.«

»Was das sein? Soldat wollen so.«

»Danke sehr. Sieh einmal, meine beiden Söhne und ich, wir sind Russen – du sollst unsere Pässe sehen, wenn du es wünschst! Da möchten wir also mit unseren Landsleuten aus der Strafkompanie gern ein wenig plaudern, das begreifst du gewiß. Ihr habt ein russisches Schiff aufgebracht und die Matrosen sind als Schanzarbeiter eingestellt – diese wollten wir gern kennenlernen, um in unsrer Muttersprache mit ihnen zu verkehren und vielleicht aus der Heimat dies oder das zu hören.«

Der Franzose lächelte. »Weiter nix verlangen, mon ami? Sind diese Gefangenen in Bauhof und sind Zigeuner auch in Bauhof. Können nicht sein zufrieden?«

»Doch wohl kaum! Der Bauhof ist groß; wer weiß, ob wir einander zu sehen bekommen! Hält übrigens deine Kompanie dort Wache, mein guter Franzose?«

»Oui, ich da sein alle Tage.«

»Dann läßt sich's ja vielleicht machen. Ob ich mit meinen Landsleuten ein wenig russisch spreche, das schadet deinem Kaiser nichts! – Ich denke, wir sind Freunde, Unteroffizier?«

»Das sein, oui, das sein. Aber du geben Taler, das wissen?«

»Heute abend den ersten, wenn meine Söhne und ich mit den Russen im selben Saale schlafen dürfen.«

Der Unteroffizier nickte. »Ruhig jetzt«, flüsterte er. »Werden fertik alles!«

Der Marsch war beendet und die weitläufigen Räume des in späterer Zeit abgebrochenen Bauhofes erreicht. Ein unregelmäßiges Viereck hoher alter Häuser umgab einen inneren großen Hof, der mit Gerümpel, Schuppen und Ställen angefüllt war; aus allen Fenstern sahen die Gesichter von Strafgefangenen und Schanzarbeitern; es schien unmöglich, hier noch einige Hundert Menschen unterzubringen.

Aber der Unteroffizier wußte Rat. Ruff bekam einen verschließbaren festen Schuppen für sich allein; die neuen Mannschaften wurden auf alle Säle verteilt und die Sache so eingerichtet, daß sämtliche Zigeuner mit den russischen Matrosen eine und dieselbe Ecke erhielten. Jene konnten nach Belieben kommen und gehen, diese trugen eine Kette, welche ihnen zur Nacht ein wenig gelockert wurde; das war der ganze Unterschied.

Mikosch schmunzelte; er winkte seinem jungen Schutzbefohlenen und schärfte ihm ein, keinen Verdacht zu erregen! »Du kannst dich ja im Laufe der Zeit besonders mit den beiden Deutschen befreunden, Herr – für heute abend sprichst du mit allen und scheinst nur froh, auch einmal Landsleute gefunden zu haben.«

»Mikosch, du bist doch ein arger Schlauberger!«

Der alte Häuptling nickte. »Nimm du nur dein bißchen Russisch gut zusammen, mein Sohn! Es ist hoffentlich noch nicht alles vergessen?«

»Keine Silbe! – Ach, da öffnet der erste Mann die Tür.«

Der Schlafsaal war erreicht; ein Raum, wie ihn sich keines Menschen Phantasie abscheulicher und schrecklicher denken könnte. Nach alter Bauart hingen die mächtigen Balken der Decke tief herab auf die Köpfe der Versammelten, was um so mehr und unangenehmer hervortrat, als die Weite des Raumes zu seiner Höhe in gar keinem Verhältnis stand und ohnehin alle und jede Einrichtungsstücke fehlten.

Rings um die Wände lief hochgeschichtet ein breites Strohlager ohne Kissen oder Decken; in der Mitte standen etwa zehn oder zwölf kleine sogenannte Kanonenöfen, deren lange Eisenrohre zu irgendeinem Fenster hinausgeleitet worden waren und an denen die Schanzarbeiter ihre ärmlichen Mahlzeiten kochten. Eine beinahe undurchsichtige Luft erfüllte diesen Saal, eine Atmosphäre, an welche sich die Lungen erst nach und nach gewöhnen mußten. Obgleich der Wind beständig hindurchfuhr, gab es doch so viele Gerüche, daß sich im ersten Augenblick eine Benommenheit des Kopfes, ein Klopfen in den Schläfen und Neigung zum Schwindel einstellten.

Mehrere Öfen rauchten, nasse Kleider trockneten überall und aus Tüten, Töpfen und Bündeln entströmten die Düfte der Abendmahlzeit. Zwiebeln, Pellkartoffeln, Heringe, Schmalz, Bier und Branntwein – so war das Gemisch beschaffen.

Einige von den Schanzarbeitern hatten dazu noch Hunde mitgebracht, andere flickten hämmernd ihre Stiefel, wieder andere brannten kleine offene Tranlampen, sogenannte »Kräusel« – Onnen glaubte wirklich im ersten Augenblick, daß es ihm unmöglich sein werde, in diesem entsetzlichen Quartier auszuharren.

Vom ersten Stock her tönten die Schritte der dort Untergebrachten so deutlich und beängstigend, daß man glauben konnte, in jedem Augenblick die niedere, schwankende Decke stürzen zu sehen. Aus den Fugen der Bretter fiel unaufhörlich ein feiner Sandregen den Untensitzenden ins Gesicht.

Ganz allmählich gewöhnten sich Auge und Lungen. Der Mensch erträgt unglaublich viel, wenn er es nur versteht, nie ärgerliche Vergleiche zu ziehen.

Magere, verkümmerte Gesichter tauchten auf, die von halberwachsenen Knaben und von alten, am Rande des Greisenalters stehenden Leuten; dumpfe wortlose Verzweiflung lag auf allen diesen Zügen, ein beginnender Stumpfsinn, der den Menschenfreund erschrecken mußte. Hier kauerte ein Angehöriger der niedersten Volksklassen, des niedersten großstädtischen Pöbels sogar, versumpft und vertiert, rohe Späße auf den Lippen, neben einem jungen Lehrer, der zu den Schanzarbeiten gepreßt worden war und nun in dieser Hölle ein Dasein voll unaussprechlicher Qualen verbrachte – dort lagen zweie, die sich in irgendeiner Weise den Genuß des Fusels zu verschaffen gewußt hatten, noch nicht ganz zum Tier versunken, aber doch hart daran, bereit, mit jedem, der sich etwa nahen würde, einen Streit vom Zaun zu brechen, rohe und gemeine Gassenhauer vortragend, in deren jedesmalige Schlußstrophen ein ganzer Chor jubelnd einfiel.

Am ruhigsten verhielten sich die Strafgefangenen, vielleicht weil ihnen das Todesurteil sozusagen in jedem Augenblick über dem Kopfe hing. Auch hier fanden sich viele Angehörige der besseren Stände, Leute mit den Manieren gebildeter Menschen, die jetzt Kartoffeln schälten oder die größten Löcher in ihren Kleidern eigenhändig nähten. In einem Winkel saßen die Russen, und hier war es, wo der Unteroffizier mit barscher Stimme befahl, noch weiter zusammenzurücken.

»An diesem Herd müssen drei Leute ihr Essen mit euch kochen. Schnell!«

Die eingeschüchterten Menschen leisteten sofort Gehorsam, Mikosch und unsere beiden Freunde konnten auf dem mit allerlei Abfällen, kleinen Pfützen und Sandhaufen bedeckten Fußboden ihre Plätze einnehmen; die Russen verzehrten beinahe stumpfsinnig das, was ihnen als Abendessen geliefert worden war, Heringe und etwas Roggenbrot mit Schmalz, dazu ein Trunk dünnes Kochbier. Was Georg und Feiko betrifft, so nahmen sie, einem Blick des Zigeunerhauptmanns gehorchend, von den Ankommenden keinerlei Notiz; auch Onnen blieb äußerlich ruhig, so daß es aussah, als seien Fremde zu Fremden gesetzt – Leute, die einander vollständig gleichgültig waren.

Der Unteroffizier suchte wie zufällig das Auge des alten Zigeuners. Mikosch verstand ihn sofort; es schien ebenso von ungefähr, als er in die Tasche griff und dann mit dem Kopfe nickte – befriedigt verließ der Soldat den Saal, um sein eigenes, wahrscheinlich nicht minder unangenehmes Quartier aufzusuchen und vorerst wenigstens in der Hoffnung auf einen blanken preußischen Taler bei sehr frugalen Rationen zu schwelgen.

Mikosch hatte noch kein Wort gesprochen, jetzt aber wandte er sich zu seinem jüngeren Stammesgenossen. »Welch eine schreckliche Luft!« sagte er in russischer Sprache.

Ringsumher horchten die Matrosen plötzlich auf. »Siehe da, ein Landsmann!« rief in freudigem Tone der eine.

»Ach! Ihr seid Russen?«

»Gewiß, Kamerad. Großrussen aus der Moskauer Gegend.«

»Ich natürlich auch!« log mit seinem liebenswürdigsten Lächeln der Zigeuner. »Aber wie kommt ihr denn hierher, Leute – und gar in die Sträflingskleider? Der Teufel hole die Franzosen lotweise!«

»Womöglich noch in dieser Nacht!«

Es bildete sich um den Herd herum eine lebhaft schwatzende, durch die fremde Sprache von den übrigen völlig abgetrennte Gruppe; auch Alexei begann eifrig zu fragen und zu sprechen, so daß schließlich die drei Deutschen in der Mitte aller Russen vollkommen unbemerkt blieben und Zeit fanden, miteinander nach Wunsch zu plaudern; die List des alten Zigeuners hatte ihnen den Weg bestens geebnet.

»So sehen wir uns wieder!« flüsterte Onnen, mühsam den Ausdruck seiner Züge beherrschend. »Habt ihr viel gelitten, Georg und Feiko?«

»Furchtbar!« antwortete schaudernd der Steuermann. »Jasko und Luiz brachten uns getreulich bis nach Reval, soweit ging auch alles gut, wir hatten die Genugtuung, die Reste der großen französischen Armee auf Krücken davonhinken zu sehen, und fanden später ein nach England bestimmtes Schiff, aber dann kamen die Tage des Leidens. Der ›Kaiser Paul‹ wurde aufgebracht und wir gerieten in die Hände der Franzosen. Ich sage dir –«

Onnen schüttelte den Kopf. »Du brauchst mir nichts zu erzählen, Feiko, ich selbst habe Ähnliches erlebt. Hunger und Kolbenstöße, eine wahrhaft unmenschliche Behandlung, das ist das Schicksal der Kriegsgefangenen auf den französischen Schiffen.«

»Mir haben die Unholde ins Gesicht gespuckt!« warf Georg ein.

»Mir auch. Aber laßt uns von angenehmeren Dingen sprechen – ich erhielt einen Brief aus Norderney!«

Er erzählte nun den Genossen alles, was ihm die Mutter geschrieben, Freude und Trost nach langer, bitterer Entbehrung in ihre Herzen zurückbringend, dann gestand er ihnen die traurigen Pläne seines Onkels und warnte sie vor der drohenden Gefahr. »Mich verrät der Unglückliche nicht, weil ich eben seiner Schwester Sohn bin«, setzte er hinzu, »aber bei euch wird die Sache anders. Geerd Kluin stirbt vor Hunger und Heimweh zugleich – wer weiß, was geschehen könnte, wenn ihn einmal die Verzweiflung übermannt.«

»Er erkennt uns nicht«, meinte Feiko. »Die langen Bärte, die verwilderten Haare, das alles schützt uns. Aber was macht er denn überhaupt in Hamburg, dein Onkel? Auf Norderney galt er für einen sehr reichen Mann!«

»Das ist er auch wirklich – sein Geld liegt in den Dünen vergraben.«

»Und mittlerweile hungert er hier zu Tode! Nun, ein jeder nach seinem Geschmack. Komm, Onnen, wir wollen uns nebeneinander auf das Stroh legen und noch die halbe Nacht hindurch zusammen plaudern.«

Das geschah nun zwar nicht wörtlich. Wer am Tage Schanzen gebaut hat, der widersteht des Nachts den Einflüssen der Ermüdung nur bis zu einem gewissen Grade, und auch unsere Freunde schliefen schon, ehe noch die erste Morgenstunde geschlagen hatte. Mikosch fand beim Ausmarsch zur Arbeit Gelegenheit, dem Unteroffizier einen Taler in die Hand zu drücken, freilich nicht, ohne für diesen Preis gleich eine kleine, ihm aber sehr wertvolle Vergünstigung zu erkaufen. »Herr Soldat«, sagte er, »wenn Sie mich nicht zuweilen ein wenig mit dem Bären spazierengehen lassen, ja, dann hört das Geldverdienen auf. Bei den vier Schillingen, welche wir vom Kaiser erhalten, sind eben Ersparnisse unmöglich.«

Der Unteroffizier nickte. »Natürlich«, sagte er. »Werden sich finden Gelegenheit.«

»Ich bezahle, was Sie für mich tun können, Herr Soldat.«

»Oui, oui, mir nur lassen Zeit. Ich daran denken.«

Er ordnete die ihm unterstellten Züge von Arbeitern so, daß die Zigeuner bei ihren Freunden blieben und ließ regelmäßig den alten Häuptling, sobald der betreffende Offizier seine Runde vollendet hatte, entschlüpfen, um mit dem Bären auszugehen. Mikosch erhielt zwar in der ausgeplünderten, dem Hunger preisgegebenen Stadt nur höchst selten ein paar Schillinge, aber er bezahlte aus dem geheimen Schatz im Ledergürtel seinen Gönner und stand sich gut dabei.

So kam der achtzehnte Oktober heran; der ewig denkwürdige Tag, an welchem Napoleons Heere auf deutschem Boden so vollständig geschlagen wurden. Die Nachricht dieser Niederlage gelangte sehr bald zur Kenntnis des verhaßten Marschall Davoust, aber er verdrehte dieselbe, aus Furcht, das Ansehen der Franzosen möge leiden, in ihr gerades Gegenteil, er ließ die ganze Stadt illuminieren und ein gewaltiges Feuerwerk veranstalten, dann gab er einen Ball, zu dem alle Damen Hamburgs eingeladen wurden und für welchen er sämtliche Erfordernisse aus den Läden und Niederlagen einfach requirierte.

Ganz ebenso ging es ihm allerdings auch mit den geladenen Tänzerinnen; es kam keine einzige. Der Franzose wußte sich indessen zu helfen, er ließ durch Polizisten und Nachtwächter die Schauspielerinnen in den Ballsaal bringen und feierte so ein Fest, das in allen seinen Teilen aus frecher Lüge, Erpressungen und Gewalttätigkeit zusammengesetzt war.

Durch die Verbindungen, welche die braven Patrioten der Hanseatischen Legion mit Hamburg heimlicherweise immer noch unterhielten, kamen indessen die Berichte über den wahren Hergang der Schlacht bei Leipzig doch allmählich in die rings umschlossene Stadt hinein; jetzt galt es für die Franzosen, noch alles an sich zu raffen, was irgend im Bereiche ihrer Hände lag, um womöglich, wenn sie vertrieben wurden, nichts zurückzulassen, als eine leere, zu Grunde gerichtete und doch vorher so blühende, so schaffensfrohe Stadt. Die sogenannten Kontributionen, Requisitionen und was es sonst für Namen gab, alle diese Räubereien im kleinen nützten nichts mehr, denn das Volk war ausgeplündert und die Wohlhabenden vertrieben – es mußte energischer vorgegangen werden.

Weshalb auch nicht? Wem es erlaubt scheint, den armen Gemüsehändlerinnen ihre Bohnen und Kartoffeln zu stehlen, der braucht sich keinen Zwang mehr aufzuerlegen.

In der Nacht vom vierten auf den fünften November ließ Marschall Davoust den Inhalt der Hamburger Bank mit Beschlag belegen und wieder einige zwanzig der angesehensten Bürger, welche einen Protest gewagt hatten, auf offenem Boote in stürmischer Nacht über die Elbe nach Harburg bringen und dort in das Gefängnis werfen.

Vierspännige Blockwagen holten darauf in den nächstfolgenden Nächten die baren Summen und die Silberbarren aus dem Bankgebäude; ja, der General Chaban ließ sogar in der Altonaer Münze aus diesem Metall Geldstücke mit seinem Namen prägen.

Verurteilungen zum Tode, zur Brandmarkung und Zwangsarbeit, Auspeitschungen und sonstige Bestrafungen folgten einander wie die Flocken im Winter; der Hunger und das pestartige Fieber rafften Tausende dahin.

Es gab keinen Markt mehr, keine offenen Läden, keine Arbeit; Leichengeruch wehte durch die Straßen, die Stufe des äußersten, unerträglichsten Elendes war erreicht.

In diese Zeit des schrecklichen Leidens fiel für unsere Freunde ein heller, glänzender Lichtstrahl. Aus einem Hotel am Jungfernstieg gelangte eines Tages eine Botschaft in den Bauhof, ein Brief an Onnen, in welchem ihn Baron Liliencron aufforderte, einen Augenblick herüberzukommen.

An den Befestigungen wurde jetzt der kurzen Tage wegen nicht mehr so stark gearbeitet, Onnen fand daher Zeit, sich sogleich zum Jungfernstieg zu begeben, und sprang fort, so schnell es ihm möglich war.

Der Baron hatte ein Extrazimmer genommen, er saß hinter der Flasche und schien in sehr guter Stimmung. »Politische Nachrichten, Zigeuner«, sagte er. »Allerlei Gutes!«

Onnen war etwas enttäuscht. »Herr Baron«, stammelte er, »ich hoffte, es sei ein Brief von meiner Mutter.«

»Es ist mehr als das, mein Junge! Dein Vaterland ist frei, die Franzosen haben Ostfriesland ohne Schwertstreich geräumt.«

Onnen sah ihn an, das Blut drang in heißen Strömen zu seinem Herzen. »Frei? Frei von dem Drucke der Fremdherrschaft? – Ach, aber mein Vater sieht es nicht mehr!«

Der Baron reichte ihm die Hand. »Daran darfst du jetzt nicht denken, Onnen. Laß mich dir den Hergang erzählen, mein Junge. Die tapfere Königsberger Landwehr hat unter Major Friccius den Feind vor sich hergetrieben, daß er lief wie ein Hase – ich sage dir, Fischerburschen und Straßenjungen haben die abziehenden Franzosen mit Steinen geworfen! – dann sind Donsche Kosaken in Emden und Aurich eingerückt; das ganze Ostfriesland jubiliert, als sei jeder einzelne Mensch neugeboren.«

»Ach«, rief Onnen, »und ich bin nicht dabei!«

»Aber du wirst es bald sein, mein ungeduldiger Freund. Noch kämpft man im engsten Umkreise von Hamburg, doch die Franzosen sind auf der ganzen Linie geschlagen – selbst in Frankreich ist Napoleons Ansehen im Schwinden begriffen. Das war es, was ich dir erzählen wollte.«

Er reichte dem tief erregten jungen Manne ein Glas Wein und stieß dann mit ihm an. »Auf glückliche Nachhausekunft, Junge!«

Onnen tat Bescheid, vor Aufregung kaum fähig zu sprechen. »Meine Frau läßt dich bestens grüßen«, fuhr der Baron fort, »ebenso auch die Kinder und dein Schützling, Frau Pehmöller. Ihr Mann kämpft mit Begeisterung gegen die Franzosen; in jedem Briefe schickt er dir seine herzlichsten Grüße.«

Onnen dankte mit Tränen in den Augen. Es schien jetzt alles besser, glücklicher zu gehen; auch der kleine Heinz Bruhns war von seiner schweren Krankheit längst wieder genesen, und den Vater desselben hatte unser Freund bei den Schanzarbeiten, mit ungebrochenem Mute der frohen Zukunft harrend, gesehen – ob wirklich die Sonne der Freiheit, des wiedererlangten Bürgerglücks für das deutsche Land im vollen Glanze am Himmel aufgehen würde?

Er hoffte es jetzt und verabschiedete sich bei seinem freundlichen Gönner mit dem Ausdrucke der innigsten Dankbarkeit. Wieviel gab es nicht in dieser Nacht zu erzählen – sie sprachen heute wirklich bis zum Morgen miteinander, die drei jungen Leute, sie feierten, ob auch räumlich getrennt, doch mit ihren Landsleuten das Fest der endlichen Erlösung aus tiefem, ja, aus dem tiefsten, schrecklichsten Elend, dem der Fremdherrschaft.

Jetzt war der Monat Dezember angebrochen. Eine furchtbare Kälte, als die des Belagerungswinters noch vielen Hamburg-Altonaern aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern wohl erinnerlich, eine selten eintretende entsetzliche Kälte herrschte in der Stadt. Elbe und Alster waren gefroren, das Feuerungsmaterial teurer als in gewöhnlichen Zeitläufen, das Brot und die Lebensmittel geradezu unerschwinglich. Eine einzige Schnitte Roggenbrot kostete sechzehn Schilling, also etwa nach unserem deutschen Reichsgelde eine Mark zwanzig Pfennig.

Daß unter solchen Umständen zwei Drittel aller Einwohner krank darniederlagen, kann eben nicht wundernehmen.

Die französischen Machthaber sannen jetzt auf Mittel, sich der durch ihre Verhöhnung alles Rechtes und aller Menschlichkeit zu Bettlern gemachten Hamburger zu entledigen; ihre Schanzen waren fertig, die Stadt eine Festung ersten Ranges, die baren Mittel sowie sämtliche beweglichen Güter in ihren Händen – also fort mit den unnützen Brotessern.

Es erschien eine neue Proklamation, wahnwitzig und grausam zugleich:

»Alle Einwohner sind gehalten, sich sofort für die Dauer von sechs Monaten zu verproviantieren und das Register ihrer Vorräte an Brennmaterial, Speck, Mehl, Kartoffeln, Fleisch und Früchten auf die Mairie einzuliefern. Wer das versäumt, wird mit fünfzig Stockprügeln bestraft; wer unangemeldete Vorräte bei sich verbirgt, dem sollen sie zum Besten der Garnisonverwaltungen und Lazarette konfisziert werden, wer endlich erklärt, sich nicht verproviantieren zu können, der muß die Stadt innerhalb vierundzwanzig Stunden verlassen. Sollte er später noch in Hamburg angetroffen werden, so wird ihn der Büttel vor das Tor schaffen; seine Sachen aber sind dem Fiskus verfallen.«

Dieser empörende, aller Menschlichkeit hohnsprechende Befehl machte in Hamburg nur wenig Eindruck. Diejenigen, welche noch Lebensmittel besaßen, hüteten sich, das zu verraten, weil sie sehr wohl wußten, daß ihnen unter irgendeinem nichtigen Vorwande sogleich alles genommen werden würde, die Armen dagegen schwiegen aus Furcht.

Marschall Davoust ließ seine Bekanntmachung wiederholen – der Erfolg war auch diesmal der gleiche.

Nun begann ein widerwärtiges, scheußliches Treiben. Es eilte ja, mitten im härtesten, kältesten Winter die Hungernden, Beraubten einfach abzuschütteln, weil sie lebende Wesen waren und als solche essen und trinken wollten.

Französische Soldaten drangen in jedes Haus und durchsuchten alle Räume. Waren ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt, fand sich irgendwo ein gefüllter Mehlsack oder eine Speckseite, so wurden vorläufig diese Dinge mit Beschlag belegt und hinterher der bedauernswerte Eigentümer zur Bestrafung angemeldet.

Vor den Wachen auf dem Zeughaus- und Großneumarkt gab es in dieser Unglückszeit bestimmte Stellen, an denen man, häufig in Davousts und Vandammes Gegenwart, diese entwürdigenden Exekutionen vollzog. Die Franzosen fanden dabei auf jede Weise ihre Rechnung, denn das Volk wurde eingeschüchtert; es brachte jeden über den Bedarf des gegenwärtigen Tages hinausgehenden Gegenstand auf die Mairie, nur um sich vor dem Stocke des Profosen zu bewahren.

Mikosch ging, gedrängt von sämtlichen jungen Leuten, eines Tages zum Maire, gestand, daß er sich und seine Söhne unmöglich verproviantieren könne, und bat um die Erlaubnis, Hamburg verlassen zu dürfen; dieselbe wurde ihm indessen rundheraus verweigert. »Sie können bleiben«, hieß es, »Schanzarbeiter sind von dieser Verfügung ausgenommen.«

»Aber die Schanzen sind beinahe vollendet, gestrenger Herr«, wagte der Zigeuner dem berüchtigten Maire Rüder entgegenzuhalten.

Ein finstrer Blick traf seine Stirn. »Man bezahlt euch, nicht wahr? – Hinaus!«

Mikosch ging, er wußte, daß Stockprügel verabfolgt wurden, wo immer eine Gelegenheit zur Bestrafung vom Zaun gebrochen werden konnte.

Unterwegs, auf dem Marsche nach Eppendorf begriffen, sah er die Kinder des Hamburgischen Waisenhauses im langen Zuge, still und vielfach weinend nebeneinander dahingehen. Scharen von Bürgern gaben den Kleinen das Geleite, Frauen und Kinder weinten mit ihnen, hie und da umhüllte eine mitleidige Seele irgendein besonders schwächliches oder anscheinend krankes kleines Geschöpf mit einem wärmenden Kleidungsstück; Brotschnitten wurden verteilt, Äpfel und Speisereste; man tröstete die unglücklichen, jetzt doppelt heimatlosen Kinder in jeder Weise.

Auch diese Armen hatte ein kurzer Befehl des Marschalls aus ihrer bisherigen Wohnung vertrieben. Das Waisenhaus sollte Kranke aufnehmen, also mußten die Gesunden weichen.

Vor der Tür des Gebäudes hielten mehrere Wagen, welche der Hausvater bestellt hatte, um die Betten und Kleidungsstücke der Kinder nach Eppendorf zu schaffen, aber ein Adjutant des Marschalls trat dazwischen und verbot jede Entfernung von Gebrauchsgegenständen. »Alle vorhandenen Betten sind für die Kranken«, erklärte er.

Der brave Hausvater sah über die Brille hinweg kopfschüttelnd zu dem herrisch auftretenden Franzosen hinüber. »Wenn der Herr Offizier mich begleiten möchte«, sagte er lächelnd, »ich hätte noch eine Bemerkung hinzuzufügen.«

Klirrenden Schrittes folgte ihm der Franzose. Der redliche, aber etwas derbe alte Hamburger blieb vor dem ersten Bett im Schlafsaal stehen und deutete mit der Rechten auf dasselbe. »Herr Offizier, ist es möglich, daß Soldaten, also erwachsene Männer darin schlafen können?« sagte er im Tone ruhigen Spottes.

Der Franzose zog seine Lorgnette hervor; er betrachtete die Kinderbetten, als seien dieselben nie vorher bemerkte Naturwunder. »Wirklich!« schnarrte er, »das ist so! Arme Kinder! – Herr Direktor, ich verspreche Ihnen, zu laß die Bett ici!«

»Danke!« versetzte trocken der Hausvater. »Ich denke es auch. So haben denn die Kinder in ihrer Verbannung wenigstens ein Weihnachtsgeschenk – man setzt sie nicht, wie so viele ehrliche Hamburger Bürger, des Notwendigsten beraubt, einfach vor die Tür.«

Das hatte der Franzose nicht verstanden oder er war zu klug, um nachzufragen. Die Kinderbetten konnten aufgeladen und nach Eppendorf gebracht werden; am Nachmittag zogen dann kranke Soldaten in das Waisenhaus, mit dessen Besitzergreifung das letzte öffentliche Gebäude, alle Kirchen, Schulen und Bibliotheken eingerechnet, den militärischen Zwecken anheimfiel. In der Jakobi-, Petri- und Heiligengeistkirche standen Pferde, in den übrigen lagerten Stroh- oder Futtervorräte.

So kam der vierundzwanzigste Dezember, der Weihnachtsabend heran. Die französischen Machthaber gaben Feste und Bälle, sie schwelgten, während Tausende im unerträglichsten Jammer und Elend vergingen; ihre Equipagen rollten durch die dunklen, menschenleeren Straßen, ihre galonierten Diener trugen alle erdenklichen Delikatessen aus den Niederlagen zusammen und aus ihren Häusern hervor schallte rauschende Ballmusik – auf der ganzen übrigen Stadt dagegen lag Totenstille.

Wer hätte nicht schon von dem berühmten Hamburger Weihnachtsmarkt, dem Dom gehört? Wer kennt nicht die auf allen Marktplätzen gehäuften Schau- und Verkaufsbuden, die Seiltänzer, Affentheater, Polichinells und Riesendamen, mit deren Leistungen Hamburg und namentlich die Vorstadt Sankt Pauli von alters her aus der ganzen holsteinischen und hannoverschen Umgebung die Besucher zu Tausenden heranzuziehen pflegt? – In dem Trauerjahr 1813 war alles verödet; kein Tannenbaum stand auf dem Hopfenmarkt zum Verkauf, kein Rauschgold und Flitterkram, keine bunte Kerze hing in den Schaufenstern. Es gab niemand, der noch Luxusgegenstände bezahlen konnte.

Onnen hatte an seine Mutter einen langen Brief geschrieben, den ihm eine befreundete Hand in Altona auf die Post brachte; dann war der ganze Saal von seinen Insassen nach Möglichkeit gefegt und gesäubert worden, um doch, so gut es eben ging, den heiligen Abend zu feiern. Mikosch gab das Geld für zwei Flaschen Rum und ein paar Pfund Zucker, ein Kessel mit Wasser wurde auf den Herd gesetzt und die zerschlagenen Fenster durch Lumpen notdürftig verhüllt. Eine flackernde Tranlampe erhellte den Umkreis des Tisches, dem heute abend die Karten fernblieben.

»Mikosch«, flüsterte Onnen, »sei gut, lade den Unteroffizier zu einem Glase Punsch an unseren Tisch.«

Der Zigeuner nickte. »Daran dachte ich selbst schon, Herr!«

Er ging hinüber in denjenigen Teil des Bauhofes, welcher als Kaserne diente, und spähte nach dem Unteroffizier Eblé, dem die Obhut eines Teiles der Strafgefangenen anvertraut worden war; nach einigem Suchen fand er ihn auch und konnte seine Einladung anbringen, aber der Franzose, obwohl er sich sonst einem guten Tropfen keineswegs abgeneigt zeigte, der sonst so habsüchtige Franzose schien heute unruhig und zerstreut. »Merci, monsieur«, sagte er. »Können nix trinken, aben nix Zeit.«

Mikosch war sehr erstaunt. »Am Weihnachtsabend, Herr? Sie scherzen.«

Der Unteroffizier schüttelte den Kopf. »Große Ernst, große Ernst, Monsieur – können ich nicht lernen Ihren Namen!«

Er sah nach allen Seiten und näherte sich dann, als er in dem Unwetter dieses Tages keinen Menschen erblickte, hastig dem Zigeuner. »Wir beide heute maken einen Handel?« raunte er, während seine Augen habgierig glänzten. »Ihr und ich!«

Mikosch erschrak ein wenig; auch er hatte eine kleine Schwäche für gemünztes Metall und fürchtete nicht mit Unrecht einen Angriff auf die Schätze des Ledergürtels, aber dennoch bewahrte er äußerlich seine Fassung. »Ein Geschäft, mein lieber Herr Eblé? Lassen Sie hören! Wenn es sein kann, bin ich gewiß dabei.«

Der Unteroffizier spielte mit einem kleinen Schlüssel, den er in der Hand hielt; seine bohrenden Blicke hafteten fortwährend an dem Gesicht des Zigeuners. »Aben ich Augen«, sagte er, »und aben ich Ohren. Eh bien! Ich sehen, daß Monsieur nicht lieben sehr die russisch Gefangen – lieben viel mehr zwei junge Leute, das sind Deutsche – heißt Georg die eine und heißt, glauben ich, Fego die andre.«

Mikosch lächelte äußerst liebenswürdig. »Es traf sich, daß gerade diese beiden jungen Leute persönliche Bekannte sind, mein werter Herr Eblé! Aber gewiß werden Sie mir aus dieser Angelegenheit keinen Vorwurf machen wollen.«

»Durchaus nicht! Aber aben ich doch hören und sehen ricktig?«

»Das allerdings. Sie sind Menschenkenner, Monsieur Eblé!«

Der Franzose lächelte geschmeichelt. »Ihr sehen diese Schlüssel?« fragte er.

»Gewiß! Was soll's mit ihm?«

»Das die Schlüssel sein für Kette von Gefangene! Maken auf! Maken zu! – Nun sprechen von Handel wir beide. Heute nacht kommen große Exekution.«

Der Zigeuner erschrak »Gott behüte uns, Monsieur Eblé, was wird denn geschehen?« fragte er voll Bestürzung.

»Pst! Davon kann ich sprecken nix. Noch nix. Aber kommen ich heute nacht mit zwanzig Soldaten in Schlafsaal – wollen Ihr dann haben dieser Schlüssel und maken auf in dunkel Ecke ganz heimlich die Kette von Monsieur Fego und Monsieur George?«

»Um sie freizulassen? Mit tausend Freuden, Herr, aber –«

»Pst! Sagen gar nix aber! Was bezahlen für Schlüssel?«

Mikosch seufzte. »Sie halten mich doch nicht für reich, Monsieur Eblé? Ich bin ein armer Teufel, der sich, genau genommen, durch die Welt bettelt!«

Der Franzose lächelte. »Das glauben ich nix«, erklärte er rundheraus. »Ihr verstehen Zauber, Ihr haben Buch, große Geheimnis – Ihr können maken Geld.«

»Ach, du lieber Himmel, ich wollte, es wäre so!«

»Es so sein. Wollen Ihr geben zehn Taler für Schlüssel?«

»Das ist zu teuer, bester Herr, viel zu teuer! Ja, wenn ich wüßte, daß Georg und Feiko entfliehen könnten, daß sie –«

»Pst! Die junge Leute können fliehen, weit fliehen, kommen nix wieder zurück ici – ich es sagen.«

Der Zigeuner begriff je länger, desto weniger das, was ihm der Franzose mitteilte. »So sprechen Sie doch deutlicher, Herr«, rief er ungeduldig.

»Das nix können. Zehn Taler für diese Schlüssel!«

Mikosch schien plötzlich von einem Gedanken ergriffen. »Hören Sie, Herr Unteroffizier«, rief er, »kommen Sie heute nacht auch in den Schlafsaal am anderen Flügel?«

»Gewiß, mein Freund! Warum fragen das?«

»Kennen Sie da den Strafgefangenen Nummer 210? Er ist ein großer, starkgebauter Mann mit blondem Vollbart und heißt Theodor Bruhns!«

»Kenne ihn! Was sollen er?«

Der Zigeuner sah fest in das Gesicht des Franzosen. »Wenn Sie auch seine Ketten öffnen wollen, so sollen Ihnen die zehn Taler gewiß sein, Herr!«

Der Unteroffizier überlegte. »Ich können ihm vertrauen?« sagte er unschlüssig. »Diese Mann kein Verräter?«

»Ganz gewiß nicht. Ich bürge für ihn!«

»Bon. Dann er sollen aben die Freiheit heute.«

»Und Sie das Geld, Herr Unteroffizier!«

Der Franzose beugte sich weiter vor. »Nix aben von Geld in Tasche jetzt?« raunte er atemlos vor Gier.

»Wahrhaftig nicht, aber ich bleibe Ihnen das Versprochene auf keinen Fall schuldig, mein werter Herr.«

Der Unteroffizier nickte. »Das wünschen ich«, sagte er mit bedeutsamem Tone. »Ihr nicht zahlen die Geld, dann schießen ich mit Pistole und treffen diesen jungen Mensch, das Ihr lieben sehr – Oinon heißen er, Euer Sohn!«

Mikosch erbebte. Welch ein feiner Beobachter war dieser Mann!

»Geben Sie mir nur den Schlüssel«, sagte er. »Ich zahle!«

Das leichte und doch so bleischwer wiegende Stück Metall glitt aus der Hand des Unteroffiziers in die des Zigeuners. Die beiden Männer trennten sich und Mikosch kam zurück in den Schlafsaal, wo seine Mitteilungen das größte Erstaunen erregten. Niemand begriff ihn, aber dennoch beherrschte das Vorgefühl einer Katastrophe die Herzen aller. Was mochte Neues, Schlimmes im Werke sein?

Der Teekessel kochte; Gläser, Tassen und Blechbecher standen auf dem Tische, ein großes Weißbrot lag als Festessen in der Mitte. Onnen hatte die Kartoffelschüssel sowie einen Holzlöffel herbeigeholt und begann jetzt den Punsch zu brauen, aber er war nicht bei der Sache, ebensowenig Feiko und Georg; besonders diese beiden letzteren flüsterten fortwährend. Wenn nicht der Schlüssel in den Händen des Zigeuners ein bündiger Beweis gewesen wäre, so würden alle an ein Mißverständnis geglaubt haben.

»Was ist mit euch?« fragte einer aus der kleinen Schar gefangener russischer Matrosen, »was habt ihr nur?«

Onnen reichte ihm ein gefülltes Glas. »Nichts, Kamerad«, versetzte er. »Laßt uns anstoßen – es ist doch immer ein eigen Ding, den heiligen Abend fern von der Heimat und noch dazu als Gefangener zu verbringen. Weißt du's noch, Mikosch, heute vor einem Jahre waren wir die Gäste eines russischen Bauernhauses!«

»Und Georg und ich befanden uns auf dem Meere«, warf Feiko ein. »Möchten für uns alle bald bessere Zeiten kommen!«

Die Gläser klangen aneinander, auch von den übrigen Tischen her scholl Gesang und Becherklingen hinaus in das wilde Schneetreiben des Dezemberabends. Sie feierten alle: den heiligen Abend, diese Opfer einer traurigen, entsetzlichen Zeit, alle, nur jeder einzelne auf seine besondere Weise.

Ein kleines Häuflein sang ein Kirchenlied; wieder andere, jüngere und weniger gebildete Leute irgendeinen Gassenhauer, ein poetisches Erzeugnis, wie sie Kriegszeiten immer sehr reichlich hervorzubringen pflegen; noch andere pfiffen oder sprachen lebhaft, aber das alles blieb doch frei von jener Roheit, jenem lauten Leben des gewöhnlichen Tages. Der Weihnachtsabend übt seinen besonderen Zauber; auch die Zügellosesten können sich ihm nicht entziehen.

»Und ihr habt doch etwas vor, irgendein Geheimnis!« rief wieder der Russe. »Was kann es nur sein?«

»Heimweh!« seufzte Onnen, indem er die Arme ausbreitete. »O mein liebes Norderney, du feierst deinen heiligen Abend frei vom Druck der Fremdherrschaft!«

»Und auch du, Mütterchen Moskwa!« rief der Russe. »Gott erhalte dich für und für, Gott heile alle deine blutenden Wunden.«

»Amen! Amen!«

»Laßt uns nochmals trinken und dann schlafen gehen«, riet Mikosch. »Man wird durch solche Erinnerungen traurig gestimmt!«

»Ja, ja, laßt uns schlafen!«

Alexei legte die Arme auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. »Kommen wir bald zurück nach Rußland, Alter? Ich habe Hamburg satt.«

»Still, still – da singen über uns Gefangene. Es sind Preußen aus Blüchers kampflustigen Scharen.«

»Die wahrhaftig ihre Haut dreist genug zu Markte tragen. Hört doch nur!«

Aus dem ersten Stockwerk klangen frohe Stimmen herüber; das was die Leute sangen, war ein frisches, keckes Soldatenlied.

»Im Himmel sitzt der alte Fritz,
Und schaut auf uns hernieder.
Potz Himmeltausend Hagelblitz,
Schlagt die Franzosen nieder!«

Sie rechneten darauf, daß die fremden Gewaltherrscher den deutschen Inhalt der Verse nicht verstehen würden, oder sie rechneten überhaupt schon gar nicht mehr, stießen nur noch von Zeit zu Zeit mit den längst geleerten Gläsern aneinander und wiederholten ihren grimmigen, aus tiefstem Herzen herauf quellenden Refrain: »Schlagt die Franzosen nieder!«

Dann rieselte jedesmal eine wahre Sintflut von Sandkörnern durch die Fugen und unseren Freunden auf die Köpfe. »Hurra!« schrien von unten herauf die Hamburger, »Preußen soll leben, Hurra!«

Der ganze Raum widerhallte von Klängen aller Art, aber doch in abnehmender Folge. Draußen tobte ein Schneesturm, der zuweilen ganze Massen von weißem Puder durch die Risse und Spalten der halbzerschlagenen Fenster trieb, dessen Pfeifen und Singen durch alle Teile des alten Baues tönte, ein furchtbarer Schneesturm, von anderen schauerlichen Stimmen hier und da unterbrochen.

»Was war das?« flüsterte Mikosch. »Es schrie ein Weib!«

»Kinderstimmen«, meinte Onnen. »Ha – das war eben ein Hornsignal!«

Alexei hob den Kopf, er zog aus einer Scheibe die hineingestopften Lappen und horchte. »Irgendein Auflauf«, raunte er, »ein besonderes Ereignis. Die ganze Stadt ist in Bewegung.«

Mikosch hielt in fest geschlossener Faust den kleinen Schlüssel. Das Stück Metall war wie aus heißem Wasser gezogen, das Herz des braunen Häuptlings pochte in nervöser Unruhe. Irgend etwas schwer ins Gewicht Fallendes bereitete sich vor – aber was?

Im Saale schliefen jetzt fast alle; die einen, weil sie des Guten zuviel getan hatten, die anderen aus Gram, aus Verzweiflung. Es war still in dem überfüllten Raum, die meisten Lampen erloschen, die lautesten Schreier waren verstummt.

»Horch!« flüsterte Alexei, »Bitten um Gnade, herzzerreißendes Wimmern! – Geht durch Hamburg der Upyr und würgt alles, was da lebt?«

»Still! Willst du ihn rufen?«

»Sprich den Zaubersegen, Mikosch!«

Der Alte begann zu murmeln. Es war eine Mundart, die keiner der Deutschen verstand, dem äußeren Anscheine nach eine Beschwörung, vielleicht eingelernte Silben, vielfach verzerrt, dem ursprünglichen Laute kaum noch ähnlich, aber trotzdem mit Inbrunst gesprochen, mit dem offenbaren unerschütterlichen Glauben an ihre Macht.

Alexei horchte andächtig; er hielt die Lippen halb geöffnet. Der Zaubersegen schützte ihn vollständig gegen die Angriffe des gefürchteten Upyr.

Draußen tönte, ganz aus der Nähe, plötzlich ein wilder, gellender Schrei. »Meine Kinder, meine Kinder! Ihr Unmenschen, ich will bei meinen Kindern bleiben!«

Dann ein Schlag, ein Wimmern, ein dumpfer Fall!

Feikos Kette klirrte leise, wie wenn die Hand des Trägers gebebt hätte. »Gib her den Schlüssel, Mikosch. Was auch kommen möge, es soll uns wenigstens nicht gefesselt finden.«

Der Zigeuner schien unschlüssig. »Warte noch, bis unser Freund das Rätsel löst«, sagte er. »Es ist nahe an Mitternacht!«

»Nein, nein, gib den Schlüssel. Wenn du wolltest, daß wir ruhig blieben, dann hättest du uns von dem Mittel der Befreiung nichts erzählen müssen.«

Stumm reichte ihm der Alte das kleine Instrument. Von seiner Hand fielen langsam die großen Tropfen hinab auf den Fußboden.

Feiko unterdrückte mit Mühe einen Freudenschrei; er schloß auf und die Kette sank – ein Strom neuen Lebens rann durch alle seine Adern.

»Da, Georg – schnell, schnell!«

Draußen fuhren Wagen vorüber, es erhob sich hier und da lautes, wildes Getümmel; Kommandorufe erschallten, Flüche, Wehklagen, alles durcheinander.

Da erklangen feste Schritte, die Tür wurde geöffnet und der Unteroffizier Eblé erschien mit einer starken Abteilung Soldaten, die an beiden Seiten Posto faßten.

»Alle freien Schanzarbeiter sollen vortreten!«

Der Unteroffizier ging, nachdem er das Kommando abgegeben, langsam durch den Saal und schien die Schlafenden zu wecken. Er berührte jede Schulter, streifte jede Gruppe und sprach hier und dort ein ermunterndes Wort; auch vor dem Tische unserer Freunde machte er Halt. »Allons, allons – die freien Arbeiter hinaus!«

Seine Finger preßten sich in Feikos und Georgs Schultern, er streckte den Arm aus, um zugleich das versprochene Geld und seinen Schlüssel in Empfang zu nehmen. Nur eine Sekunde, dann hatte ihm Mikosch, gewandt wie ein Taschenspieler, beides zugesteckt. »Und Nummer 210?« raunte er.

»Fort! Längst fort!«

»Wohin sollen wir denn? Was habt Ihr vor?«

»Hinaus! Weg von Hamburg, fort! Nix aben Essen, Brot!«

»Du lieber Gott, alle Armen werden aus der Stadt verjagt?«

»Freilich! Ist nicht zu ändern im Krieg!«

Er ging weiter und ungestüm drängte sich mit den übrigen die ganze Gruppe unserer Freunde zur Tür. Feiko und Georg hielten sich möglichst in der Mitte – es hätte ja zufällig irgendeiner unter den Franzosen sie erkennen und zurückschleudern können in das Elend der Gefangenschaft.

Aber die Soldaten sahen nur nach der Kette. Wer keine trug, den ließen sie unbedenklich passieren.

»Wohin geht ihr?« riefen aus dem Schlafe auffahrend die Russen. »Mikosch, Alexei, wo seid ihr?«

»Wir werden hinauskommandiert, ihr hört es ja. Adieu! Adieu!«

»Feiko!« rief eine andere Stimme, »Feiko!«

»Schnell hinaus – sie könnten Alarm schlagen!«

Noch ein rascher Sprung und die Schneefluten umtobten von allen Seiten zugleich unsere Freunde, sie standen auf der Straße, um hier durch eine andere Abteilung Soldaten in Empfang genommen und weitertransportiert zu werden.

»Vorwärts! Vorwärts! Nicht stillstehen!«

Die Unteroffiziere schoben und stießen, andere Gruppen kamen hinzu, allmählich füllte sich die ganze Straße mit Menschen in allen Lebensaltern und aus den verschiedensten Ständen. Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett begleiteten die Unglücklichen, unter denen sich viele Kranke befanden, kleine Kinder, die Insassen eines Siechenhauses, Krüppel jeder Art.

Mikosch und Alexei sahen einander an. »Es ist nicht der Upyr!« flüsterte ersterer. »Dem Himmel sei Dank!«

Auch Feiko und Georg beteten heimlich. Sie waren wenigstens in allem Elend freie Menschen, und – einmal über Hamburgs Grenzen hinaus – von der Gefangenschaft der Franzosen für immer erlöst.

Der Weg ging durch den oberen Teil der Steinstraße zur Petrikirche. Dort brannte Licht, die Türen standen weit offen, ein Strom dunkler Gestalten wogte fortwährend aus und ein, Wachtposten umgaben in kurzen Zwischenräumen den ganzen Bau.

»Was sollen wir hier?« flüsterte Mikosch. »Welch eine trostlose Nacht!«

»Einerlei, die Ketten sind doch im Bauhof geblieben! – Ich erschlage jeden, der mich in die Gefangenschaft zurückführen will!«

»Geradeaus!« befahl der begleitende Unteroffizier. »Hinein!«

Und als dann der letzte seiner Schar hinter dem geöffneten Portal verschwand, eilte er mit den Soldaten zurück, um neue Abteilungen hierher zu führen.

Unsere Freunde sahen einander an. »Ich glaube, wir sind im Augenblick uns selbst überlassen«, flüsterte Mikosch, »wir sind frei.«

»Probiere es einmal, Onnen!«

Der junge Mann ging zur Tür zurück und tat einen Schritt hinaus ins Freie, aber ein gefälltes Bajonett kehrte sich ihm sofort entgegen. »Kein Ausgang!«

»Es geht nicht!« flüsterte er. Wenigstens ist hier aber doch eine bessere Luft als im Bauhofe – lieber Gott, welch ein Weihnachtsabend!«

Sie drängten sich nun durch, um weiter in das Innere der geräumigen Kirche hineinzugelangen und womöglich noch einen Sitz zu finden, aber dies Bemühen war umsonst, nicht einmal alle Frauen hatten einen Platz erhalten; die Siechen und die kleinen Kinder mußten ja vorangehen.

Hart unter der Kanzel auf den kalten Fliesen kauerte die kleine Gruppe eng beieinander und an ihren Ohren rauschte vorüber, was während der letzten Stunden geschehen war – die Geschichte dieser entsetzlichen, grauenvollen Nacht.

Marschall Davoust befahl, daß bis zum Morgen alle diejenigen eingefangen und gruppenweise in die Kirchen gesperrt werden sollten, denen der Verproviantierungsschein fehlte, die daher nicht für den Winter mit Brennmaterial und Lebensmitteln versorgt waren und aus diesem Grunde den Machthabern lästig werden konnten. Er wollte sie einfach vor das Tor setzen lassen, aber in einer Weise, welche die Familienglieder voneinander trennte und durch die so entstandene Ratlosigkeit und Verzweiflung in jeder Weise schwächte.

Während die armen Leute, zum größten Teil hungernd und frierend, hinter den vereisten Scheiben ihrer Wohnungen saßen oder vielleicht gar schon schliefen, zerschlugen französische Soldaten mit den Kolben der Gewehre die Türen und befahlen den Erschrockenen, ihnen sogleich zu folgen. Es wurde ihnen kaum Zeit genug gelassen, um sich notdürftig bekleiden zu können; mitnehmen durften sie nicht das allergeringste, man antwortete auch auf keine Frage und setzte den verzweiflungsvollsten Klagen entweder ein beharrliches Stillschweigen oder die schwersten Drohungen entgegen.

In das Siechenhaus zu den gelähmten, blinden und tauben alten Frauen drangen die menschlichen Hyänen. Plötzlich erhellte sich der Schlafsaal, Bajonette blitzten im Licht, das Kommando der Unteroffiziere trieb die armen zitternden Geschöpfe aus den Betten; krank und hilflos, zum Teil unfähig, sich allein fortzubewegen, so wurden sie hinausgejagt in das Schneetreiben der Dezembernacht – die Tauben, während sie nicht wußten, was mit ihnen geschah, die Blinden, während sie sich halbtot vor Angst an die Sehenden klammerten und bei jedem Schritt fielen, um von den Kolbenstößen der Soldaten, von ihren rohen Griffen wieder emporgezerrt zu werden.

Eisnadeln wirbelten durch die Luft und trafen ihre unbeschützten Stirnen, der Schnee überflutete das graue Haar – am glücklichsten waren noch die, welche gleich nach den ersten Schritten fielen und nicht mehr aufstanden; sie gingen dem entsetzlichsten, untragbarsten Elend aus dem Wege.

In die Armenhäuser, in die Gotteswohnungen, in Buden und Keller trugen die Schergen des Marschalls das Verderben. Hinaus in die Winternacht schleppten sie jedes lebende Wesen, taub gegen Bitten und Vorstellungen, taub gegen die Stimme der Menschlichkeit, der Religion, bloße Handlanger derer, die selbst Sklaven eines Gewaltherrschers waren und die durch ihr Beispiel das Heer demoralisiert hatten. Als anständige, lebensfrohe Leute kamen die Soldaten aus Frankreich; als Tiger in Menschengestalt kehrten sie dahin zurück, Schäden und Verluste hinterlassend, an deren Tilgung drei Menschenalter zu arbeiten hatten.

Eiserne Fäuste trieben die Heimatlosen in entweihte Kirchen, aus denen das Vieh für die Stunden dieser Schreckensnacht entfernt worden war. Ganze Straßen standen jetzt leer, ganze Budenreihen und Höfe – fünfundzwanzigtausend Menschen hatten seit dem vorhergehenden Tage ihr letztes Hab und Gut verloren.

Stumpfsinnig sahen die einen vor sich hin, händeringend jammerten die anderen. Ein Durcheinander von Stimmen, von Weinen, Beten und lautem verzweifeltem Schreien erfüllte die Kirche; kleine Kinder mischten ihre Angstrufe mit dem Schluchzen der Mütter, mit den beharrlich wiederholten Fragen derer, welche sich in ihrem guten Rechte gekränkt wußten und das nun nicht so ruhig hingehen lassen wollten.

Besonders eine alte Frau setzte die Geduld ihrer Unglücksgenossen auf eine harte Probe. Es war ein rundliches, behäbiges Mütterchen, etwas harthörig zwar, aber sonst gesund; die Zunge befand sich in steter rastloser Tätigkeit.

»Meine neue Haube mit der gelben Rose«, sagte sie kläglich, »und die sechs Mark im Bettstroh und –«

»Aber laßt das nun doch endlich einmal ruhen, Frau! Ihr leidet ja nichts anderes, als was auch alle übrigen ertragen müssen. Die gelbe Rose wird doch nicht so schwer zu ersetzen sein!«

»Und der neue Kohltopf«, fuhr die Alte fort, »lieber Himmel, er hat zwölf Schillinge gekostet! – Ja, und wann ziehen wir denn überhaupt in die Gotteswohnungen wieder hinein? – Wenn nur nicht jetzt alle Sachen ruiniert werden! Sollten die Franzosen wohl stehlen?«

»Gelbe Rosen nicht!« antwortete die schnippische Stimme von vorhin.

»Gute Frau«, bat eine weinende junge Mutter, »hattet Ihr Kinder, versteht Ihr Euch auf ihre Krankheiten? Mein armer kleiner Bube verdreht die Augen so schrecklich!«

Ein Kreis von Frauen umgab die Unglückliche, das Schreckenswort Krämpfe ging von Mund zu Mund, ein Schluchzen erfüllte rings die Umgebung. Wieder versuchte jemand, hinauszukommen und Hilfe herbeizuholen, aber die Wachtposten ließen ihn nicht durch, selbst dann nicht, als ihnen Geld geboten wurde.

»Es ist vier Uhr morgens«, hieß es, »sobald der Tag anbricht, werdet ihr alle hinausgeführt, also wartet noch kurze Zeit.«

»Aber unterdessen stirbt mein kleiner Knabe!«

Der Soldat zuckte die Achseln. »Können nix helfen«, sagte er. »Monsieur le Marechal a ordonné.«

»Wohin werden wir gebracht?« fragte ein Mann den Soldaten.

»Aus den Toren – comme ci, comme ça!«

Es wurde in der offenen Tür ein wenig Schnee gesammelt und derselbe dem sterbenden Kinde auf den Kopf gelegt, aber ohne eine Besserung herbeiführen zu können; das kleine Wesen rang mit dem Tode und die, welche es umstanden, falteten ihre Hände, zitternd vor Grauen und Furcht, zugleich um des eigenen und des fremden Schicksals willen.

Hier umstanden fünf Kinder ein blasses Elternpaar, dort stützte und trug ein erwachsener Sohn den alten Vater. Wohin das Auge blickte, sah es Tränen und stumme oder laute Verzweiflung; was das Ohr hörte, waren Ausbrüche des bittersten Schmerzes.

»In einer Stunde beginnt der Tag«, flüsterte Mikosch. »Ich habe dem Unteroffizier Eblé den Schein des Herrn Polizeidirektors gegeben; daraufhin will er mir meinen Bären hierherschicken. Wenn er nun unehrlich wäre, nicht Wort hielte?«

»O Himmel, jetzt fängst auch du an zu klagen!«

»Ja, ja, Herr, was sollte ich machen, um mein Tier zu bekommen?«

»Du versteckst dich hinter die Orgel – gezählt sind wir nicht – und gehst zum Bauhof zurück. Ein Schlaukopf wie du wird sein Ziel wohl erreichen.«

»Da kommt Ruff!« sagte Onnen dann. »Ein Soldat führt ihn.«

Mikosch stürzte vorwärts, der Franzose bekam ein reichliches Trinkgeld und der Bär eine jener Näschereien, welche sein Herr für ihn immer in der Tasche trug. Er schlug den linken Arm um den Kopf des Tieres und blieb trotz aller Kälte mit ihm in der offenen Tür stehen, bis am Himmel das erste Grau erschien und nun eine sonderbare Prozession ihren Anfang nahm. Man hatte sämtliche Gassenkehrerwagen herbeigeholt und begann nun, die in der Kirche Befindlichen hineinzutreiben.

Dabei verfuhren die Soldaten nach erhaltener bestimmter Vorschrift in einer vollkommen barbarischen Weise. Hier wurde ein Wagen mit lauter Kindern angefüllt, dort einer mit Frauen; hier beförderte man hilflose Greise, dort ihre Angehörigen; die Männer mußten warten bis zuletzt.

Ein Toben und Schreien, ein Tumult ohnegleichen beherrschten den Platz vor der Kirche. Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett hinderten die unglücklichen Menschen, welche den verlorenen Ihrigen nacheilen wollten; sie warfen sich zwischen die abfahrenden Wagen und die Zurückbleibenden, hier und da entstand ein Handgemenge, tönte ein Aufschrei – dann färbte sich der Schnee mit blutroten Streifen, und sekundenlang herrschte die Stille des Entsetzens. Bei einem Frost, der die Augenlider erstarren ließ und den Atem wie eine weiße Perldecke gegen die Kleidungsstücke zurücktrieb, bei einem außergewöhnlich harten Frost sahen im Dämmergrau des Morgens Eltern ihre kleinen, halbbekleideten und vom Hunger ermatteten Kinder davonfahren, ohne zu wissen wohin, und ob dieselben jemals zu ihnen zurückkehren würden. Die Franzosen legten Schwerkranke zu sechs und zehn auf einen jener ungesäuberten, zum niedersten Dienst bestimmten Wagen, rissen die Unglücklichen von den Ihrigen und brachten sie nach der Höhenluft, Uhlenhorst, nach Winterhude und Hohenfelde, wo dann die Pferde ausgespannt und die Vertriebenen ihrem Schicksal überlassen wurden.

Recht alten und halb gelähmten, weder als Nahrungsmittel noch für den Militärdienst brauchbaren Gäulen geschah es dann wohl, daß man sie gleich an Ort und Stelle erschoß; Kranke, Kadaver und Wagen mitten auf der Landstraße verlassend, gleichviel, was aus ihnen werden mochte.

Einzelne Frauen holten aus den Falten ihrer Kleider, aus verborgenen Taschen noch Geld oder irgendwelche goldene und silberne Schmuckgegenstände hervor; sie baten flehentlich die Soldaten, alles hinzunehmen und ihnen dafür ihre Kinder zurückzugeben, ja, sie nur neben den Wagen hergehen zu lassen, aber ganz umsonst – die Leute hatten strenge Befehle, sie durften dieselben zugunsten der unglücklichen Frauen nicht verletzen.

So oft ein Wagen davonfuhr, klang bitteres Schluchzen dem letzten Rollen und Knirschen der Räder nach; herzzerreißend tönten die Weherufe der Kranken, die unschuldigen Stimmen kleiner Kinder – eine Welt voll Elend und Jammer öffnete sich den entsetzten Blicken.

Allmählich wurde die Kirche leer. Frauen, Kinder und Kranke waren weggebracht; jetzt nahmen einzelne Abteilungen von Soldaten die Männer in ihre Mitte und zwangen auch diese, fortzugehen, hinaus in das ungewisse Schicksal, in Eis und Frost, vielleicht in den Tod.

Feiko atmete tief, wie aus erlöstem Herzen. »Nun noch eine halbe Stunde, dann haben wir das Tor hinter uns – dann sind wir frei! frei!«

»Sei still – man muß nicht vorausrechnen!«

Sie blieben dicht nebeneinander, Mikosch führte den Bären an der Kette, Onnen und Alexei gingen ihm zur Seite, während Feiko und Georg zwischen den übrigen Männern ihre Aufstellung nahmen. Auf ein: »Vorwärts, Marsch!« des kommandierenden Unteroffiziers setzte sich der Zug gegen das Millerntor hin in Bewegung.

Alle Straßen waren Kopf an Kopf voll Menschen. Eine Völkerwanderung von fünfundzwanzigtausend Personen braucht viel Platz, namentlich wenn außerdem noch etwa viertausend transportierende Soldaten hinzukommen.

Überall stäubte und wirbelte der Schnee, überall rangen verzweifelnde Menschen umsonst gegen das entsetzliche Verhängnis. Man hatte nicht Wagen genug auf treiben können, um alle aus den Toren zu bringen; ganze Züge mußten gehen, wobei es dann natürlich nicht ausbleiben konnte, daß Greise und Kranke, unfähig gegen den Sturm zu kämpfen, am Wege liegenblieben und dort unbeachtet starben.

Je weiter gegen das Millerntor der Zug vorwärts schritt, desto häufiger wurden diese stillen Gestalten. Zuweilen hatte der fallende Schnee ihre Körper schon ganz bedeckt, zuweilen sahen aus dem stäubenden weißen Puder nur noch die Augen hervor, gramvoll und verzweifelnd blickend, eine stumme Anklage gegen die, welche sengend und brennend, mit allen Mitteln herzloser Barbarei ganz Hamburg ins Elend gestürzt hatten.

Auf dem Großneumarkt stockte der Zug. Von rechts und links her nahten aus den Gängen Hunderte und aber Hunderte, die alle durch das Millerntor hinausgebracht werden sollten; ein Gedränge vor der Wache hinderte den Durchgang, dort hatten sich etwa fünfzig oder sechzig Männer zusammengerottet und schienen einen Auflauf verursachen zu wollen. Sie entrissen den Soldaten die Gewehre und schlugen mit den Kolben um sich.

»Wir wollen in Hamburg bleiben; niemand hat das Recht, uns aus unserer Heimat zu verjagen!«

»Schufte, die ihr seid, gebt uns unsre Frauen und Kinder heraus!«

Andere erbitterte Leute kamen hinzu, der Knäuel wurde immer dichter und dichter, die Soldaten schlugen mit der flachen Klinge dazwischen, mehrere höhere Offiziere erschienen, und Geschrei und Toben erfüllte den Platz. Das Blut floß in Strömen, Tote gerieten unter die Füße der Menge – wie ein Sturm brausten die wilden Kampfrufe aus so vielen Hunderten von Kehlen.

Dann erschien, vom Dragonerstall herbeigerufen, eine Abteilung Kavallerie und rückte schonungslos vor. Die Massen drängten in eiliger Flucht zurück gegen den alten Steinweg; wer nicht rasch genug laufen konnte, der wurde überritten oder in dem schmalen Eingang der Straße gegen die Mauern gepreßt, daß er erstickte, ehe noch die Menge Raum gab.

Marschall Davoust erschien persönlich; er gab den Befehl, keinen Rebellen zu schonen, sondern mit der äußersten Strenge zu verfahren.

Allmählich konnte sich der Zug wieder in Bewegung setzen, namentlich da jetzt zwei Wege zur Verfügung standen, der durch die Schlachterstraße und der über den alten Steinweg. Kavalleristen ritten vorn und hinten; es blieb für die Unglücklichen, von Haus und Hof Vertriebenen kein Gedanke an Flucht mehr möglich.

Jetzt war der Zeughausmarkt erreicht, das breite Millerntor kam in Sicht.

Feiko wischte die großen Tropfen von der Stirn. »Mikosch, es ist mir, als wären wir seit einer Ewigkeit unterwegs! – Da, da, hinter dem Eisengitter liegt die Freiheit!«

»Wie langsam es geht! Lieber Himmel, wie langsam!«

»Und doch hatten wir in Hamburg ein erträgliches Auskommen«, sagte Onnen. »Wovon aber sollen wir jetzt leben?«

Mikosch lächelte. »Es ist noch auf viele Wochen hinaus gesorgt, Herr!«

»Durch dein Geld, Alter, du wolltest –«

»Sei doch ruhig. Ich fange eben von vorn wieder an, das ist alles!«

Immer näher kam das Millerntor; Georg Wessel drückte verstohlen die Hand des Zigeuners. »Ich finde früher oder später eine Heuer auf einem Schiffe, irgendeine Arbeit, Mikosch, und dann zahle ich dir auf Heller und Pfennig zurück, was du jetzt für mich auslegst.«

Feiko nickte. »Bei Gott, Mikosch, ich auch!«

Der Zigeuner lächelte. »Wartet, bis ich euch die Rechnung schicke, Kinder. Ach, da ist die Wache – jetzt noch hundert Schritte und wir sind frei!«

»Marschall Davoust reitet immer noch mit den übrigen Offizieren nebenher!«

»Er kann uns jetzt nichts mehr tun, er –«

Mikosch erschrak. Neben ihm tauchte aus dem Gewühl ein kleiner, alter Mann empor, ein erdfahles Gesicht sah ihn an und heiße, fieberglühende Finger umklammerten begierig seine Hand.

»Du Zigeuner, höre – der da hinter dir geht, der junge Bursche, kennst du ihn? Heißt er nicht Georg Wessel?«

Mikosch hatte fast augenblicklich seine Fassung wiedergefunden. »Was meinst du, Martin Kracht?« sagte er gelassen. »Ich kenne keinen Georg Wessel.«

Der kleine, alte Mann ächzte. »Aber ich weiß es gewiß«, preßte er hervor. »Der andre dort heißt Feiko Hansen – sie sind beide Deserteure, sie –«

»Wirst du schweigen, Onkel!« raunte Onnen. »Soll ich etwa deinen Namen laut heraus rufen!«

»Das kannst du nicht – zum Schutze deines eigenen!«

»Auge um Auge, Onkel Geerd, du sollst schweigen!«

»Es sind also wirklich Feiko und Georg! Sie haben Gelegenheit gefunden, aus dem Bauhofe zu desertieren! – Hallo, Herr Offizier! Hallo –«

Er kam nicht weiter, Onnens Hand lag fest auf seinem Munde. Die nächsten, jetzt vergehenden Minuten durchlebten unsere Freunde fast ohne Bewußtsein.

Das große eiserne Tor öffnete sich, der Zug stockte auf Augenblicke, dann flogen die Riegel zurück und die Kavalleristen nahmen Aufstellung zu beiden Seiten.

Onnens Arm wurde herabgedrückt, für einen Augenblick blieb Geerd Kluin sich selbst überlassen. »Herr General«, rief er, »hier sind Deserteure, hier –«

Aber jetzt war das Tor überschritten, die Menge wälzte sich hinaus und der Ruf verhallte ungehört. Wie ein Stein fiel es von Onnens Herzen.

Noch einige Schritte weiter, und er sah nach dem alten Manne – Geerd Kluin lag wie leblos am Boden.

Die jungen Leute hoben ihn auf und trugen ihn weiter. »Mikosch«, flüsterte Onnen, »er ist der Bruder meiner Mutter.«

»Wir wollen ihn auch mitnehmen, Herr! – Du lieber Himmel, ich fange auch an, mich nach Ruhe zu sehnen.«

»Hier herrschen immer noch die Franzosen«, sagte Feiko. »Was denkst du, Mikosch – gehen wir nicht lieber nach Altona?«

»Ja, gewiß, gewiß!«

Rings um das Tor her gähnte das öde, schneebedeckte Heiligengeistfeld. Von der heutigen Eimsbüttelerstraße existierte damals noch kein Haus, die Gegend des Elbparkes war Wiese, der Spielbudenplatz ohne Alleen und der große, dem Seileramt gehörige Raum hinter der jetzigen Reeperbahn ganz freie Fläche – soweit das Auge reichte, sah es nichts als nur das öde, weiße Leinentuch und die wirbelnden Flocken.

Fast alle Vertriebenen zogen nach Altona. Tausende näherten sich dem Nobistore, nur einer einzigen Hoffnung, einem Wunsche Raum gebend – die Franzosenherrschaft zu fliehen.

»Der Weg ist lang«, seufzte Onnen. »Werden wir den alten Mann ganz bis nach Altona tragen können?«

»Wir wechseln ab«, meinte Alexei. »Es wäre unmöglich, ihn liegen zu lassen!«

Von der Seite her näherte sich ein hochgewachsener Mann dem Zuge. »Herr«, sagte er, seine beiden gewaltigen Hände unserem Freunde entgegenstreckend, »Herr, kennen Sie mich noch? Sind Sie es, der mich losgekauft hat?«

»Bruhns!« rief Onnen, »Gottlob, Sie sind hier! Wie ist es Ihnen denn gelungen, sich aus der Stadt zu flüchten?«

Der Riese schüttelte den Kopf. »Das hat einer bezahlt«, wiederholte er. »Der Windbeutel, der Franzose, der kommt zu mir gestern abend ganz im Dunkeln und sagt: ›Monsieur 210, schließ Sie auf seine Kette mit dieses Schlüssel und marschier Sie aus, wenn ich kommandiert! Aber sagen Sie nix, das sein bezahlte Sie wissen schon, das war der Muschö Eblé!«

Mikosch erklärte nun die ganze Sache und wehrte den Danksagungen des braven Speicherarbeiters, indem er hinzufügte, daß der Unteroffizier für die erhaltenen zehn Taler noch ein übriges getan habe. »Laßt uns nun nur so schnell wie möglich nach Altona zu kommen suchen«, bat er.

»Mikosch«, rief Onnen, »du bist doch nicht krank?«

»Ich denke nicht, Herr, nur etwas müde.«

Alexei nahm den Bären und Schritt um Schritt, immer im dichten Gewühl, wurde der Weg nach Altona weiter verfolgt. Wo heute dichtbelaubte Alleen ihren Schatten spenden, wo Schaufenster sich an Schaufenster reiht und Pferdebahnen und Equipagen unaufhörlich kreuzen, da zogen am Morgen dieses ersten Weihnachtsfeiertages Tausende von Vertriebenen hungernd und frierend der Nachbarstadt entgegen. Links blieben die Aschenfelder der zerstörten Häuserreihen von St. Pauli unter Schnee begraben liegen, allmählich näherte man sich dem Nobistore.

Ob es geöffnet werden würde? – Neue bange Frage, neue Angst!

Jesus, Jesus, wenn das Dänenland den Flüchtigen versperrt blieb, wenn es keine andere Möglichkeit gab als die der Umkehr auf Hamburgisches Gebiet, in das Reich der Franzosen!

Lieber gleich in den Tod! Lieber sterben!

Bruhns, der Kornträger, näherte sich unserem Freund! »Herr, sind Sie jemals wieder bei meiner armen Frau gewesen?« fragte er mit gepreßtem, unruhigem Tone. »Ob mein kleiner Heinz wohl noch lebt?«

Das konnte Onnen bejahen, aber über die ferneren Schicksale der verlassenen Frau wußte er seit seiner eigenen Halbgefangenschaft im Bauhofe nichts mehr, ebensowenig, ob sie heute mit den übrigen Unverproviantierten ausgewiesen sei oder nicht. Der Kornträger seufzte. »Sie ist natürlich mit rausgeworfen«, sagte er in seiner derben Art, »ich muß sie nun suchen. Hier auf St. Pauli und in Altona fang ich an, und dann an der anderen Seite, bis sie gefunden sind. Bei allem Elend will ich mich doch einen reichen Mann nennen, wenn ich die beiden erst wieder habe!«

Onnen tröstete ihn, so gut es ging; in seinem eigenen Herzen war seit kurzem eine schlimme Ahnung erwacht – Mikosch sah sehr leidend aus. Er war blaß trotz der braunen Haut und schloß häufig die Augen, als sei er todmüde.

»Alter«, flüsterte Onnen, »fehlt dir etwas?«

»O nein, Herr, nur Ruhe, denke ich. Ich bin kein so junger Springinsfeld mehr wie du!«

Aber das sagte er nicht mit seinem gewohnten, schlauen Lächeln, selbst die Pfeife hatte er ausgehen lassen – Onnen seufzte heimlich.

Auch dieser lange, mühselige Weg neigte zum Ende; das Nobistor erschien weit geöffnet, dänische Soldaten standen unter voller Bepackung zu beiden Seiten und hinter ihnen zeigten sich Reihenstraße und Grund bis zum Rathausmarkt Kopf an Kopf gefüllt. Die Altonaer waren hinausgeeilt, um ihre von einem so entsetzlichen Schicksal betroffenen Hamburgischen Nachbarn willkommen zu heißen und vor allen Dingen mit irgendwelchen Erfrischungen zu versehen.

Heiße Getränke wurden den Halberfrorenen eingeflößt, man nahm die ermüdeten Kinder freundlich auf die Arme, man brachte den Männern Tabak und den Frauen wärmende Kleidungsstücke. Überall öffneten sich die Türen der anliegenden Häuser, um den Heimatlosen einen Platz am Ofen, eine vorläufige Unterkunft zu bieten.

Dicht vor der Gruppe unserer Freunde, mitten im breiten Strome des drängenden und treibenden Volkes sah man plötzlich zwei Frauen einander weinend umarmen, während ein etwas seitwärts stehender Mann einen vielleicht zehnjährigen Knaben aufhob und an sich drückte. »Mein kleiner Heinz«, sagte er freundlich, »nun ist es gut, nun hab' ich dich gefunden! Wo ist deine Mutter? – So, so, Mine, ich sah dich nicht gleich! Ach, guten Tag, Johanna, nun macht nur, daß ihr in die Wärme kommt, Kinder!«

Eine Frauenstimme wollte antworten, aber nur ein unbestimmtes Schluchzen brach sich Bahn. »August und Mine – habt ihr nichts gehört – von meinem Mann?«

Der Speicherarbeiter legte plötzlich die Hand auf Onnens Schulter. »Da, da – das ist mein alter, lieber Heinz! Hurra! Hurra! – Hanne, ich bin ja hier!«

Er drängte sich vor, er schob alles beiseite, um zu den Frauen, dem Knaben zu gelangen. »Hanne, meine liebe Hanne, weine doch nicht, es ist nun alles gut!«

Der Knabe streckte beide Arme aus. »Vater, Vater – ach, wie freue ich mich, daß die Franzosen dich nicht totgemacht haben.«

Die kleine Familie lag auf offener Straße eins in den Armen des anderen und ringsumher tönte lautes Schluchzen. Der Speicherarbeiter, vom Bette seines Kindes gerissen, als es fiebernd und bewußtlos mit dem Tode rang, der überglückliche Tedje Bruhns weinte vor Freude. »Mein Heinz, mein lieber, süßer Heinz!« – er wiederholte es immer und immerfort.

Andere, die ihr Liebstes verloren hatten, schluchzten in bitterem Gram, ganz Verlassene standen abseits, auch jetzt allein, Freunde umarmten die langentbehrten Freunde, barmherzige Menschen gingen mit großen Kannen voll heißer Getränke umher und boten sie jedem an.

Der Weg über den Marktplatz war völlig gesperrt und erst, als die engen Seitenstraßen einen Teil des Gedränges abgeleitet hatten, konnte wieder neue Bewegung entstehen. Jedes Herz schlug freier, jede Brust hob sich höher! Hier in Altona war die Schreckensherrschaft der Franzosen zu Ende, hier hatten Recht und Ordnung noch ihre geweihte Stätte; man fühlte sich nach langer marternder Unsicherheit wieder wohl und ruhig unter dem Schutz der Gesetze.

»Mikosch«, fragte Onnen, »kennst du auch in Altona eine Herberge?«

Der Zigeuner nickte. »Ja, wir müssen nach der Königsstraße. Laßt nur erst den ärgsten Strom sich ein wenig verlaufen.«

Er sprach noch, als aus dem Gewühl ein bekanntes Gesicht zu ihnen herübersah. Es war der Baron Liliencron, welcher im Drängen und Treiben des Rathausmarktes nach Hamburgischen Bekannten ausspähte und jetzt die Zigeuner erkannte. »Hallo, Onnen«, rief er, »auch mit auf den Schub gebracht? – Wen habt ihr denn da, Junge?«

Unser Freund wechselte die Farbe. »Dieser Mann ist der Bruder meiner Mutter, Herr Baron!«

»Ach, und du nimmst dich seiner an, das ist brav von dir. Wollt ihr einstweilen mitkommen in mein Haus? Ich habe den großen Gesellschaftssaal ausräumen und mit Stroh und wollenen Decken versehen lassen, da können so viele Heimatlose Quartier finden, wie der Raum nur immer fassen will.«

Mikosch zog den Hut. »Aber wir bringen vielleicht dem Herrn Baron das Fieber ins Haus«, sagte er. »Dieser Mann ist ohne Besinnung.«

Der Oberst schüttelte halb seufzend den Kopf. »Altona ist vollständig angesteckt«, antwortete er, »in meinem eigenen Haus liegen schon zwei Dienstboten krank – geht deshalb nur in Gottes Namen mit mir und seid herzlich willkommen.«

Feiko und Onnen nahmen den kranken, alten Mann in ihre Mitte und nun ging es durch die Prinzenstraße zum Quäkerberg, an dessen Fuß die Elbe unter starrem Eise begraben lag. Zum erstenmal sandte die Sonne ihre goldigen Strahlen über den Schnee dahin, das Flockentreiben hatte aufgehört, die Kälte schien minder unerträglich.

Ein sauberer, behaglicher Raum umgab die Flüchtigen, sie erhielten ein warmes Frühstück, konnten ruhig aufatmen und ruhig die Augen schließen, um stundenlang zu schlafen und sich nach den Anstrengungen dieser entsetzlichen Nacht zu erholen. Geerd Kluin wurde in einem Giebelzimmer des Anbaues sorgfältig gebettet und sogleich der Hausarzt geholt, um ihm alle nur mögliche Hilfe angedeihen zu lassen. Der freundliche alte Herr war wie außer sich, er hatte an diesem Morgen schon so viele Schrecknisse gesehen, so viele Kranke und Sterbende behandelt, daß ihm graute.

»Mindestens fünfhundert Schwächliche, Greise und Kinder sterben vor dem nächsten Morgen allein an den Folgen des Schrecks und der Kälte«, sagte er. »Auch dieser arme, alte Mann ist völlig verloren – er geht zu Grunde am Hungertyphus.«

»Und man kann für ihn nichts mehr tun, mein guter Doktor?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß er vor dem Ende noch die Besinnung wiedererlangt.«

Am Nachmittag, als die jungen Leute gestärkt erwachten, war Mikosch noch schläfriger als vorher, sein Kopf schmerzte, er konnte nichts genießen und schon am folgenden Tage mußte Doktor Fischer auch an sein Lager geführt werden. Es war der Typhus, welcher sich vorbereitete.

Nun lagen zwei Kranke im selben Zimmer; böse traurige Tage folgten dem Einzug in Altona. Während Geerd Kluin mehr und mehr in sich zusammensank, phantasierte der alte Zigeunerhauptmann oft so stark, daß ihn zwei seiner treuen Pfleger kaum im Bette festzuhalten vermochten. Bald befand er sich auf dem schmalen unsichtbaren Fahrdamm des Teufelsloches im fernen Rußland; er fühlte das hereinspülende Wasser, er durchlebte nochmals die Todesangst jener Stunde – dann wieder lachte er leise vor sich hin. »Ich bin doch schlauer als sie alle, ich kenne die Wege, die niemand weiß, ich passe in jede Verkleidung hinein! Ha, ha, ha, kaufen Sie Rettich, schöne schwarze Rettich!«

Doktor Fischer kam zweimal am Tage, sein Gesicht war sehr ernst. »Die Hoffnung habe ich noch nicht aufgegeben«, sagte er. »Solch ein Zigeuner ist eine zähe Natur!«

Das klang wenig tröstlich, aber es war doch etwas und weit mehr, als vielen Tausend anderen zuteil wurde. Bald nach dem Weihnachtsfeste kam jener Tag, an welchem auf dem Kirchhofe zu Ottensen die ersten Opfer der Franzosenwillkür in das große gemeinsame Grab gelegt wurden. Hunderte von Leichen, alle in weiße Tücher gehüllt, empfing die eisige Erde; wie wenn eine Schlacht geschlagen und die gefallenen Helden reihenweise in das letzte Bett gelegt werden, so trug man hier von allen Seiten, aus allen Straßen die gemordeten Hamburger im Totenkleide herbei – wahrlich, wie der Dichter sagt: »Ein ganzes Völkergeschlecht.«

Tausende gaben den Armen das letzte Geleit, auch unsere jungen Freunde gingen mit hinaus und warfen die Schaufeln voll Erde in das Massengrab, dessen Tiefe so grenzenloses, so unerhörtes Elend mit ihrem stillen Frieden deckte.

Tausende lagen noch krank, Tausende waren bestimmt, diesen Vorausgegangenen zu folgen, aber dennoch war die Wut der Franzosen nicht gestillt, ihre Menschlichkeit nicht erwacht. Der Hamburger Krankenhof wurde geräumt und seine Insassen nach Eppendorf gebracht; von achthundertundsechzig Menschen starben dabei auf dem mit der furchtbarsten Unmenschlichkeit geführten Transport ihrer fünfhundertundachtzig. Die Börse wurde während dieser Schreckenszeit zum Pferdestall verwandelt, die Börsenhalle zum Heumagazin.

Es erschien auch wieder eine neue Proklamation, durch welche man den Einwohnern verbot, von ihrem Eigentum irgend etwas zu verkaufen, natürlich bei Todesstrafe. Es befanden sich am Neujahrstage im ganzen nur noch fünftausend Zivilpersonen in der Stadt; die Franzosen hatten ihren Zweck erreicht, sie konnten sämtliche Vorräte allein verzehren, dennoch aber veranstalteten sie in der Nacht auf den ersten Januar abermals eine Treibjagd in den Gängen und Höfen des nördlichen Viertels, und zwar, um die Juden aus den Toren zu bringen und nachher ihre Wohnungen zu plündern.

Unterdessen rückten die Russen von Norden heran und stürmten den Vorort Eimsbüttel. Ein Flammenmeer bezeichnete die Stelle, wo Napoleons Soldaten geschlagen worden waren, zugleich aber brachte dieser Tag den Altonaern eine sehr angenehme Beruhigung; es kamen jetzt keine Franzosen über das verlorene Dorf mehr in die Stadt hinein, um mit Güte oder Gewalt Lebensmittel zu erlangen.

Mehr und mehr verbreitete sich in Altona die entsetzliche Krankheit. Doktor Fischer, der treue Freund aller Armen und Bedrängten, wanderte von Bett zu Bett, ohne seine eigene Gesundheit zu schonen, auch in das Haus des Barons kam er wenigstens einmal täglich. Geerd Kluin lag in den letzten Zügen, er flüsterte immer vor sich hin, und was er sagte, klang unendlich traurig. »Du warntest mich, Schwager Visser, ich weiß wohl, was du damals sagtest, aber ich wollte nicht nachgeben. Mein Geld liegt in den Dünen, niemand kann es finden – Sparpfennige, ein paar Taler!«

Bei diesem Gedanken wurde er jedesmal unruhig. »Was ich mir für das kleine Vermögen kaufen möchte, ist nun dahin, die französischen Gesetze sind zu streng, gar zu streng. Paff! da fliegt die Kugel, und der Tote wird verscharrt wie ein Hund. Ich kann nie wieder Geerd Kluin werden, nie – als Martin Kracht muß ich auch sterben. Es gibt überhaupt keinen Geerd Kluin, niemand kennt ihn!«

Dann begann er leise vor sich hin zu weinen. »Begrabt mich nicht, um Gotteswillen, begrabt mich nicht – ich wollte vorher so gern meine Heimat wiedersehen – nur von fern, nur einmal – o mein liebes, liebes Norderney!«

So kam langsam der Tod heran, ganz allmählich. Während Mikosch die Krisis überstand und im Schlummer der Genesung lag, kämpfte Geerd Kluin den letzten Kampf. »Das Geld liegt gut versteckt«, sagte er, »weißer Sand rieselt darüber hin, es sinkt und sinkt, niemand findet es.«

Die letzten Worte wiederholte er mit großer Befriedigung: »Niemand! Niemand!«

»Besaß er wirklich ein Vermögen?« flüsterte der Baron. »Die Leute behaupten es«, antwortete Onnen. »Mein Onkel war immer sehr mißtrauisch und verschlossen.«

Der Baron schüttelte den Kopf. »Aber du bist sein Erbe, denke ich. Da sollte man doch Genaueres zu erfahren suchen.«

Onnen bat seinen Gönner, in dieser Beziehung alle Fragen zu unterlassen. »Wenn mein Onkel das Geheimnis mit sich ins Grab zu nehmen wünscht, so möge es geschehen«, sagte er. »Es widersteht mir, ihn durch eine List zum Sprechen zu bringen, und überdies sind auch die Dünen so ausgedehnt, so meilenlang, daß es unmöglich wäre, dort etwas Verborgenes zu suchen.«

Der Baron wandte sich ab, er fühlte ganz wie sein junger Schutzbefohlener und wollte daher an diesem Sterbebette die nüchterne Lebensklugheit nicht gewaltsam zur Geltung bringen. Geerd Kluin hätte auch wohl kaum noch irgendeines Menschen Stimme vernommen, seine Atemzüge wurden immer schwächer und schwächer.

»Zu spät«, murmelte er, »zu spät. Martin Kracht verfolgt mich, er steht hinter mir – ach, er hat Geerd Kluin erschlagen!«

Und dann war alles zu Ende. Onnen zog ein Tuch über das Antlitz des Toten, leise schlich er aus dem Zimmer und zu den übrigen, die mit ebenso blassen Gesichtern umhergingen wie er selbst. Der Winter wollte nicht weichen; die Kämpfe am jenseitigen Ufer der Elbe dauerten immerfort, es wagte sich kein Schiff in die Nordsee hinaus, es gab keinerlei Arbeit oder Verdienst, obwohl Alexei Tag um Tag durch die Stadt wanderte, um irgendeine Beschäftigung zu erlangen. Der Baron hatte den Ledergürtel des Zigeuners versiegelt und in Gewahrsam genommen; unsere jungen Freunde lebten immer noch als seine Gäste im Hause, aber die Zeit wurde ihnen täglich länger, sie sehnten sich hinaus auf das Wasser, um endlich einem geregelten Betrieb nachzugehen und nicht länger das Brot der fremden Barmherzigkeit zu essen.

Während dieser Zeit wurde rings um Hamburg fortdauernd gekämpft; die Russen nahmen und verbrannten Harvestehude, Eppendorf und Hamm – General Davoust war jetzt auf die eigentliche Stadt Hamburg beschränkt, alles umliegende Gebiet hatte er verloren.

Von den Getreuen der Hanseatischen Legion kamen die besten Nachrichten. Der Holzhändler Pehmöller schrieb seiner jungen Frau häufig Briefe und erschien sogar eines Tages persönlich im Hause des Barons. Seine Abteilung lag in Ritzebüttel, er war daher mit mehreren Genossen über die Elbe nach Glückstadt gegangen und durch Holstein nach Altona.

Wie ihn das Kriegsleben verändert hatte! Selbst Frau und Kinder erkannten kaum in dem braunen derben Soldaten den Mann, der vor Ärger blaß und krank an jenem Tage der Plünderung aus Hamburg fortzog, aber die Freude des Wiedersehens war unbeschreiblich, grenzenlos. Wie viele Tausende hatten nicht seitdem außer aller irdischen Habe die verloren, welche ihnen auf Erden das Liebste waren.

Onnen erhielt die besten Grüße aller derer, welche damals durch seine rechtzeitige Warnung gerettet wurden; Rosenberg, der Getreidehändler, war zum Hauptmann befördert, Karl Pehmöller selbst zum Leutnant.

Die Tage, während welcher er sich zum Besuche in Altona befand, blieben allen in angenehmster Erinnerung, obwohl immer neue Schreckensbotschaften aus Hamburg jeden frohen Eindruck trübten und selbst in die sonnigste Stunde ihre Schatten warfen. Auf dem Heiligengeistfelde waren wieder drei brave Patrioten erschossen worden, etwas später abermals drei – näher und näher an die beiden Schwesterstädte Hamburg-Altona heran zog sich die Reihenfolge kleiner Gefechte.

An der Sternschanze trafen Kosaken und Franzosen im Scharmützel zusammen; im Verlauf des Kampfes entzündeten letztere den dänischen Teil von Eimsbüttel und die zu Altona gehörende Straßenseite des Schulterblattes, ja sie wollten auch die große Gärtnerstraße und die Rosenstraße verbrennen, so daß ganz Altona in Aufruhr geriet.

Noch lag die Elbe unter der festen Eisdecke des Winters, die wenigen vorhandenen Brunnen hätten das Verderben von der Stadt nicht abwenden können, es galt daher, die schurkische Absicht der Franzosen zu vereiteln. Altonas Neutralität war von ihnen anerkannt, sie durften dieselbe also auch nicht brechen.

Der Oberpräsident, Graf Blücher, begab sich persönlich nach Hamburg und erwirkte dort eine Anerkennung des Vertrages, während dieser angstvollen Stunden aber sammelten sich alle jungen Männer, mit den bekannten, ledernen Noteimern versehen, am Hummeltor und an den Eimsbütteler Grenzen, um den Flammen, sobald sie das Altonaer Gebiet berühren würden, nach Möglichkeit zu wehren.

Die Franzosen umschlichen fortwährend die letzten Häuser. Plötzlich einzufallen und die noch in ihrem vollen Besitzstande verbliebene Stadt bei guter Gelegenheit zu plündern – das war es, was sie wünschten.

Auch unsere Freunde standen auf Wache. Das Feuer verzehrte wieder Hunderte von Häusern, aller Schnee schmolz trotz des härtesten Frostes, eine sengende Glut erfüllte die Luft. Zuweilen züngelten Flammen hinüber auf das altonaische Gebiet, irgendeins der heute noch stehenden uralten Häuser der Gärtnerstraße fing Feuer, aber ebenso schnell waren die Löschvorrichtungen bereit – Hunderte von Händen brachten in langer Kette das Wasser aus den nächsten Brunnen herbei und das Unglück wurde rechtzeitig abgewendet.

Gegen Morgen mußten die Franzosen unverrichteterdinge abziehen. Graf Blücher hatte es verstanden, den Marschall, so sehr er sich auch sträubte, an das einmal gegebene Versprechen zu binden.

Alle diese Ereignisse verträumte Mikosch in dem wohltätigen Schlummern der Genesung. Bei Bahrenfeld, Eppendorf, Nienstedten, Eimsbüttel und dem Grevenhof, in allen Dörfern bei Harburg oder, mit anderen Worten, im Kranze um Altona herum donnerten die Kanonen, auf dem Heiligengeistfelde wurden beinahe täglich mehrere Hinrichtungen vollzogen, aber er bemerkte von allem dem nichts. Doktor Fischer erklärte diesen ruhigen traumlosen Schlaf für das Zeichen wiederkehrender Gesundheit, er war mit seinem Patienten sehr zufrieden, und so konnten es die übrigen auch sein.

Dann kam die Nachricht von dem Siege der Alliierten vor Paris. Die Stadt hatte kapituliert und Ludwig der Achtzehnte war als König anerkannt; Marschall Davoust nahm von diesen Vorgängen aber geflissentlich keine Notiz, sondern brandschatzte womöglich nur um so ärger, ja, in einer geradezu wahnwitzigen Weise, er ließ auf den Straßen die alten Frauen prügeln, er ließ Leute erschießen, die mit seinen Soldaten von den jetzt massenhaft vorkommenden Desertionen gesprochen hatten, er verbot alles Glockenläuten und schickte ohne Wahl oder irgendeinen Schein von Recht den Bürgern die Rekonvaleszenten der Armee zur Verpflegung in die Häuser – endlich aber hatte auch seine Stunde geschlagen; es war sein eigener Onkel, der Staatsrat Davoust, welcher ihm das Abberufungsschreiben nach Hamburg brachte.

Zugleich wurden die Städte Hamburg und Harburg als Teile des Königreichs Frankreich proklamiert und dann die feierliche Besitzergreifung durch das Aufziehen der weißen Fahne dem fanatischen und unbeugsamen Marschall vorher angekündigt.

Die Tore Hamburgs waren an diesem Tage schon seit dem frühen Morgen geöffnet und der Verkehr nach allen Richtungen hin freigegeben. Das geschah im April, als Mikosch unter den blühenden Kirschbäumen des Gartens saß und, in wärmende Decken gehüllt, seine verräucherte alte Stummelpfeife wieder mit dem früheren Behagen rauchte. Neben ihm lag Ruff im Sonnenschein und dann und wann kam eins der Kinder, um mit dem braunen zutraulichen Gesellen zu spielen.

Noch acht oder vierzehn Tage, dann wollte der Alte den Stab weitersetzen; er fühlte sich kräftig genug, um die jungen Leute nach Ostfriesland zu begleiten und namentlich Onnen in Person der verlassenen Mutter wieder zuzuführen. Es war außer dem unglücklichen Geerd Kluin im Hause des Barons niemand gestorben, andererseits aber stand der Verlust eines treuen und sehr geschätzten Freundes nahe bevor – Doktor Fischer, der Arzt, welcher Tage und Nächte den Vertriebenen geopfert hatte, der unermüdliche Menschenfreund war vom Typhus ergriffen und lag sterbend; jede Stunde konnte die Nachricht seines Todes bringen.

Der Baron saß häufig am Bette des langjährigen Freundes; er war es auch, der ihm die Augen zudrückte und an dessen Seite die drei jungen Ostfriesen den von der ganzen Stadt betrauerten Mann zur letzten Ruhestätte im Schatten der Heiligengeistkirche begleiteten. Er war gefallen auf dem Felde der höchsten Ehren, im Dienste seiner armen, von Haus und Herd vertriebenen Mitmenschen.

Als die Tore Hamburgs geöffnet wurden, machten sich Onnen und Alexei auf, um die Feierlichkeiten der neuen Besitzergreifung von Seiten Frankreichs mitanzusehen. Sie konnten es ohne Furcht vor Schaden; der Paß des alten Häuptlings sicherte sie vollständig.

Welch eine Veränderung war mit der Straße von Hamburg nach Altona seit jenem Tage der Austreibung vor sich gegangen! Jetzt lag das Heiligengeistfeld im grünen Schmuck und auf den Trümmern der verbrannten Vorstadt St. Pauli begann neues Leben sich zu regen. Der Friede, der langentbehrte goldene Friede war ja nun gesichert und auch die Befürchtung, daß Hamburg wirklich eine französische Stadt bleiben werde, wurde im Grunde nirgends gehegt. Man freute sich der günstigen Stunde, obwohl freilich Marschall Davoust mit allen seinen größeren oder kleineren Henkersknechten immer noch die ruinierte Stadt behauptete.

Von den Wällen flatterten die weißen Fahnen, am Mittag sollte eine solche auch auf der höchsten Spitze des Michaelisturmes erscheinen und damit das Ende der napoleonischen Schreckensherrschaft verkünden. Tausende erwarteten in den umliegenden Straßen den Augenblick dieses glückverheißenden Ereignisses.

Als Onnen und Alexei das weitgeöffnete Millerntor passierten, sahen sie die französischen Soldaten, Gewehr bei Fuß, auf den Wällen stehen. Der Marschall wollte den Sturz seines vergötterten Kaisers nicht anerkennen, er fügte sich nur der Gewalt und wartete ungeduldig auf die Rückkehr eines Boten, den er selbst dem entthronten Napoleon geschickt hatte – inzwischen versuchte er es, die Soldaten zur Widersetzlichkeit, zur Rebellion gegen den neueingesetzten König von Frankreich aufzuhetzen.

In den Straßen der Stadt wogte es von Gendarmen und Zivilpersonen. Viele Hamburger hatten an ihren Hüten und Mützen die hanseatische Kokarde befestigt; die Franzosen versuchten, dieselben wieder herabzureißen, und so entstanden unaufhörliche Reibereien, welche bis in die Nacht hinein dauerten.

Onnen und Alexei gingen allen diesen Streitigkeiten aus dem Wege; sie standen gegen Mittag in Gesellschaft Tausender von Menschen auf dem Platze vor der großen Michaeliskirche und sahen zum Turme empor. Wann endlich würde die Fahne erscheinen!

Dann schlug es zwölf – der bestimmte Zeitpunkt kam heran.

Aller Herzen schlugen schneller; die Leute hielten ihre Hände gefaltet, zahllose Frauen und Kinder schluchzten laut.

Und nun öffnete sich eine Luke. Goldiger Sonnenglanz umflutete die Turmspitze, langsam bauschten im Winde die weißen golddurchwirkten Lilien von Frankreich – des Korsen Herrschaft, Deutschlands unermeßliches Elend war gebrochen, das zeigte, allen sichtbar, dieses Symbol.

»Gib acht«, flüsterte Alexei, »nun kommt ein Hurra, das Tote erwecken könnte.«

Aber er irrte vollständig. Die Stille einer religiösen Feier lag auf der ganzen Versammlung, ein Knie nach dem anderen beugte sich im Gefühl überwältigenden Glückes, eine Stirn nach der anderen sank in die gefalteten Hände. Sie riefen nicht Hurra, die gefolterten, über alles Maß hinaus gequälten Hamburger – sie beteten.

Und hinter ihren Reihen ritt Marschall Davoust, todesbleich, mit zusammengebissenen Zähnen. Ein Gottesurteil vollzog sich an dem Mann ohne Gewissen, und er empfand schwer und furchtbar drückend die eiserne Wucht desselben.

Die weiße Fahne war es, die er selbst und sein Gebieter bekämpft hatten, mit der sie rangen, bis der Kaiseradler den scharfen Schnabel erheben könnte, um die Lilien zu zerfetzen. Der wahnwitzige Traum von einem Weltreich, einer Weltherrschaft, schien kurze Zeit hindurch zur Wirklichkeit werden zu sollen, dann zerrann auf Rußlands Eisfeldern das Trugbild; des Adlers Schwingen wurden matt.

Ganze Völkerschaften gerieten ins Elend, Hunderttausende fluchten dem korsischen Tyrannen, man jagte ihn wie ein flüchtiges Wild, man entriß ihm Stück nach Stück den Herrschermantel – er mußte erkennen, wie sehr ihn die Menschheit verabscheute.

Und dann, aus Blut und Trümmern, aus einem Meer von Tränen erhob sich die Fahne mit den Lilien, sie flatterte im Sonnengold und Morgenwind, sie war das sichtbare Zeichen göttlicher Gnade für alle die Tausende, welche da auf ihren Knien lagen und dem Vater im Himmel für die Botschaft des Friedens aus Herzensgrund dankten.

Leise präludierte drinnen im Heiligtum die Orgel, und dann erschallten die Klänge des Dankliedes tief und feierlich dahin über die große Gemeinschaft derer, welche nach Jahren der Fremdherrschaft und des Leidens endlich, endlich erlöst waren – erlöst durch die Tapferen, welche dem französischen Volke die Fahne seines legitimen Königshauses zurückerobert hatten.

»Nun danket alle Gott!«

Brausend und gewaltig fielen alle die Tausende von Stimmen ein in das fromme Lied. Was jeder dachte und empfand, was die Herzen durchflutete und schwellte, das sagte ja dieser Gesang, das widerhallte in jeder einzelnen Strophe desselben. Auch Onnen und Alexei sangen mit; für beide junge Leute bedeutete ja der Sturz Napoleons die unbehinderte Rückkehr in das Vaterland zu denen, welche sie liebten.

Der Marschall spornte sein Pferd, Gift und Galle im Herzen. Am Nachmittag sollten die Truppen dem neuen König von Frankreich den Fahneneid leisten, das war dem mit seinem Gebieter entthronten Gewaltherrscher schwerer, als es der Tod auf dem Schlachtfelde gewesen wäre.

Fast unter den Augen der Vorgesetzten desertierten die Soldaten an diesem Tage zu Hunderten, namentlich solche, welche in fremden Ländern gewaltsam zum Militärdienst gepreßt worden waren, Holländer, Spanier und Italiener; es wanderten allein über vierhundert Niederländer in der Richtung auf Bremen über die Veddel und Harburg davon, ohne durch die französischen Anführer daran verhindert zu werden.

Auf der Elbe lagen vom Grevenhof oberhalb der Stadt bis nach Neumühlen dänische und englische Kanonenboote in großer Anzahl. Wo der starrsinnige Marschall versuchte, noch an den Befestigungswerken arbeiten zu lassen, da wurden die unglücklichen Leute von den Schiffen aus erschossen – wo in der Stadt selbst irgendeine Stimme sich des errungenen Sieges der Alliierten freute oder sonst ein gegen den entthronten Kaiser gerichtetes Wort sprach, da ließ der Marschall sogleich auf dem Heiligengeistfelde den Schuldigen hinrichten.

Ein Geist der Rebellion, des Auflehnens gegen diesen Gewaltherrscher machte sich freilich damals je länger, desto stärker geltend. Wenige Tage nach der Anerkennung Ludwigs des Achtzehnten sollte der Marschall erfahren, welche Gesinnung das Volk gegen ihn hegte.

Es war an einem Sonntag. Mikosch und die übrigen hatten einen Spaziergang nach Ottensen unternommen und wollten durch die Palmaille zurückkehren, als ihnen schon von weitem ein bedeutender Volkshaufen bemerkbar wurde. Der Zutritt zur Palmaille war in der Gegend des heutigen Bahnhofes fast vollständig gesperrt.

»Was gibt es?« fragte Onnen.

»Drinnen im Hause des Generals Grafen Bennigsen befindet sich Marschall Davoust, der Henker«, antwortete eine Stimme. »Und den wollt ihr sehen, Leute?«

»Jawohl – sehen und vielleicht sonst noch etwas.«

Ein allgemeines Gelächter folgte diesen Worten. »Möge er nur kommen, der gute Marschall – hohe Herren brauchen ja immer einen besonderen Empfang, wißt ihr!«

»Natürlich! Natürlich!«

Unsere Freunde drängten sich durch die Massen, bis vor das Haus des Generals; hier war an kein Durchkommen mehr zu denken. Wie eine feste Mauer standen die Menschen, jedes Auge beobachtete die Tür, hinter welcher der verhaßte Franzose sich befinden sollte.

Ein Wachtposten ging gemessenen Schrittes auf und ab; er schien klüglich die erregte Menge zu übersehen, selbst Fragen und beleidigende Zurufe ließ er unbeachtet.

»Du, Russe, sag einmal, ist es der Marschall, welcher bei deinem Gebieter speist?«

»Dummer Polacke, man müßte ihn prügeln, damit er das Antworten lernt!«

»Seid doch ruhig, Leute, wir können ja warten.«

»Unterdessen entkommt der Franzose durch den Garten nach der Elbstraße!«

»Hoch zu Roß? Das wäre unmöglich!«

»Und unmöglich wäre es auch, daß sich Marschall Davoust verkröche. Er ist tapfer wie ein Löwe, das muß ihm selbst sein Feind nachsagen.«

»Sieh! Sieh! Wer bist du denn, daß der Mordbrenner an dir einen so warmen Lobredner findet? Komm doch einmal hervor, Bürschchen!«

Es entstand ein Drängen und Stoßen, jemand wurde geohrfeigt, Frauen kreischten, die Menge teilte sich und der Gemaßregelte entschlüpfte, so schnell ihn seine Füße trugen. »Der Marschall ist doch ein tapferer Mann!« rief er aus einiger Entfernung, »tapferer als irgendein Deutscher!«

»Wart, verfluchter Däne!«

Es begann eine eifrige Jagd und vielleicht würde bei den damals hochgehenden Wogen politischer Erregung auch noch Blut geflossen sein, wenn nicht gerade zur rechten Zeit eine Stimme gerufen hätte: »Da kommt der Marschall!«

Niemand dachte mehr an den flüchtenden Dänen, aller Augen sahen hinüber zu der Tür, die jetzt den verhaßten Franzosen herausgeben sollte.

Nur der seitwärts gelegene Torweg war geöffnet worden; zwei Reitknechte brachten am Zügel ein schönes arabisches Pferd, dessen Satteldecke das Wappen des Marschalls zeigte. Durch die Menge ging ein Murmeln der Befriedigung; sie hatten also doch richtig gesehen, diejenigen, welche den Franzosen erkannten – nun mußte er auf jeden Fall herauskommen, mußte sich der versammelten, nach Tausenden zählenden Menge ungeschützt preisgeben.

Die nun folgende Pause der Erwartung schien allen eine Ewigkeit. Wieder erinnerten einige an die große Elbstraße. »Der Garten führt ja ganz bequem den Berg hinab – kein Auge kann die Sache beobachten.«

»Vielleicht steht das Pferd hier, um die Flucht des Marschalls zu decken.«

»Ah! – Ah! Jetzt kommt er!«

Die Doppeltüren öffneten sich; der Wachtposten präsentierte und alle Welt sah, wie sich der Franzose von dem ihn begleitenden General Bennigsen verabschiedete. Die beiden hohen Herren wechselten einen zeremoniellen Gruß, dann trat der Marschall hinaus auf die Straße. Unbekümmert, den letzten Knopf seiner Handschuhe schließend, sah er über das Meer von Köpfen ruhigen Blickes dahin.

Ein lautes Pfeifen und Zischen, ein tausendstimmiger Wutschrei empfing ihn. Davoust lächelte kalt, als höre er da Töne, die ihn nicht betrafen, etwas ganz, ganz Gleichgültiges. Langsam bestieg er das scharrende Pferd, die Knechte traten zur Seite – ein Zungenschlag und das Tier setzte sich in Galopp, die breite Palmaille hinab.

Ein Hagel von Steinwürfen erhob sich im selben Augenblick; die Menschenmenge schien den Weg versperren zu wollen, hier und da traf ein Wurfgeschoß das Pferd oder den Reiter, aber ohne die Kaltblütigkeit des letzteren erschüttern zu können. Er riß ein Pistol aus der Brusttasche und feuerte mitten in den Menschenhaufen hinein.

Nach rechts und links stoben die Leute auseinander; ein Mann fiel, von der Kugel getroffen, zu Boden und eine breite Blutspur färbte das Pflaster. Der Marschall ließ plötzlich sein Tier hoch aufbäumen und über die Nächststehenden hinwegsetzen; dann hatte er Raum gewonnen zur wilden Jagd durch die Mühlenstraße und weiter durch ganz Altona nach St. Pauli.

Tausende folgten ihm; das Pflaster wurde aufgerissen, um Steine zu erhalten, bis zum Nobistor dauerte die Jagd, dann streckten sich französische Bajonette den Nachstürmenden entgegen und der Marschall konnte den rasenden Galopp seines Renners mäßigen.

Der Getroffene war nur leicht an der Schulter verwundet, die Niedergeworfenen nur geschrammt, aber dennoch währte die Erbitterung fort; es vergingen Stunden, ehe der Platz wieder ganz still und verlassen dalag wie vorher.

Onnen und Mikosch sahen einander an. »Tapfer ist er doch!« flüsterte unser Freund. »Er schätzt das eigene Leben um nichts höher als das fremde.«

Sie gingen langsam nach Hause, wo schon alle Vorbereitungen zur Abreise getroffen wurden – nur wenige Tage noch, dann mußte sich's entscheiden, ob eins der dänischen Kanonenboote nach der Nordsee auslief und die kleine Gesellschaft unserer Freunde mitnehmen konnte; wenn nicht, dann wollten alle zu Fuß nach Bremen gehen, wo sich ohne Zweifel eine Schiffsgelegenheit finden würde.

Mikosch und Alexei hielten es in den geschlossenen Räumen des Hauses nicht länger aus, und auch die drei jungen Leute sehnten sich auf das lebhafteste nach geregelter Tätigkeit, nach dem Wiedersehen der langentbehrten Heimat.

Von Onnens Mutter war auf den letzten Brief keine Antwort gekommen. Die überall stattgehabten, ganz Hannover durchziehenden kleinen Gefechte und Scharmützel hatten alle Postverbindungen entweder vollständig aufgehoben oder doch sehr geschädigt, so daß durch diesen Umstand die Sehnsucht nach Norderney, in Onnens Herzen anfing, nachgerade jeden anderen Gedanken zu verdrängen.

In acht Tagen sollte nun die Wanderschaft wieder beginnen.

In Hamburg herrschte die Unordnung des Übergangszustandes. Mit Trommeln und Pfeifen bezogen eines Tages die Nachtwächter sämtliche Wachen, englische Matrosen besetzten das Arsenal und zuletzt zogen wieder die immer gern gesehenen Russen unter Bennigsen in die Stadt. Das war für die Franzosen das Signal zum Aufbruch, für den von allen Seiten nach Hamburg zurückgekehrten Pöbel aber außerdem auch die willkommene Gelegenheit, nun noch zu guter Letzt an den besiegten Feinden jede mögliche Rache zu nehmen.

Ganze Rotten sammelten sich in den Straßen, versperrten den Soldaten den Weg und griffen sie tätlich an, Steinwürfe flogen herüber und hinüber; die Franzosen luden ihre Gewehre und es entspannen sich Straßenkämpfe, welche die Russen mit blanker Waffe schlichten mußten. Die französischen Soldaten wurden dann von ihren Vorgesetzten gezwungen, auf den Wällen sämtliche Gewehre abzuschießen und in aller Stille dem vorangegangenen Marschall zu folgen.

Nun war Hamburg tatsächlich frei; der Feind hatte, gänzlich geschlagen, besiegt und verarmt, das Feld räumen müssen, nachdem ihm während der letzten Besetzung Hamburgs durch den Typhus nahe an zehntausend Mann verlorengegangen waren.

Unsere Freunde sahen noch das Jubelfest, bei dem Russen und Dänen vom Nobis- zum Millerntor Spalier bildeten, wo alle Schiffe und Häuser beflaggt waren, wo rotweiße Bänder alles und alle umschlangen – dann kam der Abschied.

Baron Liliencron hatte sich eifrigst bemüht, für seine Schützlinge Plätze an Bord eines dänischen Kanonenbootes zu erlangen, aber es war ihm unmöglich gewesen, und so mußten sie bis Bremen wandern.

Die ganze Familie, auch Frau Pehmöller mit ihren Kindern, brachten die Gäste der letzten Monate zur Fähre, die sie beim Bauhof über die Elbe setzen sollte. Nochmals sahen unsere Freunde empor zu dem ruinenhaften alten Gebäude – wie viele Tage des bittersten Elendes, wieviel Hunger und Frost hatten sie dort ertragen!

Eine furchtbare Zeit, dies letzte Jahr der französischen Besetzung!

»Nun ist's für uns alle überstanden«, sagte der Baron. »Gott gebe, daß Deutschland solche Zustände niemals wiedersehe!«

Onnen küßte die Kinder und diese liebkosten den Bären; nur mit Tränen in den Augen trennten sich die, welche während so schwerer Prüfungen treulich zueinander gestanden hatten.

»Ich danke Ihnen tausendmal, Onnen«, sagte Frau Pehmöller, »Sie haben mir im Augenblick der Not freundlichen Beistand geleistet, haben den Hanseaten die Flucht vor den französischen Kugeln ermöglicht – Gott lohne es Ihnen reichlich!«

Er wehrte ihr stumm, selbst tief ergriffen. Seine rechte Hand hielt der Baron, seine linke die weinenden Kinder. »Leb wohl, Onnen, leb wohl! Wir haben dich so lieb!«

»Gott beschütze euch – es ist mir, als müsse ich nochmals aus dem Elternhause scheiden.«

Auch Mikosch war tief erregt. »Wo immer der Zigeuner sein Zelt aufschlägt, wo er wandert öder seine Feuer brennen, da wird er des gnädigen Herrn gedenken und für ihn beten, für den, welcher sich zur Stunde der Not des Verlassenen annahm.«

Der Baron schlug kräftig in die Hand, welche ihm der alte Häuptling in treuherziger Dankbarkeit entgegenstreckte. »Lebe wohl, Mikosch, und möchte dein Ledergurt recht bald wieder straff werden! Was ich für dich tat, das geschah von Herzen gern!«

Auch die übrigen verabschiedeten sich und die Fähre stieß vom Ufer. Der letzte Teil der langen und gefahrvollen Reise hatte begonnen.


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