Sophie Wörishöffer
Onnen Visser - Der Schmugglersohn von Norderney
Sophie Wörishöffer

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15

Die braune Farbe auf den Gesichtern der drei Deutschen war erneuert worden; Mikosch hatte es sogar verstanden, ihre Haare kohlschwarz zu beizen, und so ausgerüstet wagten sie es, mit den Zigeunern dem Einzuge der Franzosen entgegenzugehen.

Napoleon selbst, Murat und Davoust sollten in die Dorogomilowsche Barriere einrücken – das wollten sie ansehen.

Nur Gesindel befand sich hier in der Gegend des äußeren Tores auf den Straßen; vor dem Kreml, der innersten ältesten Stadt, hatten sich fünfhundert Bewaffnete aufgestellt, nicht in dem eigentlichen Gedanken, durch ihre geringe Anzahl dem Eindringen der französischen Armee einen erfolgreichen Widerstand entgegenzusetzen, sondern getrieben von jener bitteren Verzweiflung, die nicht tatenlos bleiben kann, eben weil sie lieber untergehen, als das Gefürchtete, Untragbare ruhig geschehen lassen möchte.

Aber auch selbst das Gesindel schämte sich im hellen Lichte des Morgens seiner schlimmen nächtlichen Pläne. Stumm, mit zusammengebissenen Zähnen standen die Männer, drohend ballten die Weiber ihre Fäuste.

»Sie können wohl einziehen, die sauberen Herren Franzosen, die Räuber von Smolensk, aber ob alle, die heute unsere Stadt betreten, später auch mit heiler Haut aus derselben wieder herauskommen – dafür will ich nicht bürgen.«

»Sie haben es verschuldet, daß sich in ganz Moskau kein Tröpfchen Branntwein mehr befindet!«

»Hoho! Hoho! Ich allein will wenigstens zehn von diesen Mordgesellen in die Ewigkeit schicken. Man sagt, daß so ein Franzose ein Flederwisch sei, ein Kerlchen, das jeder kräftige Russe auf seinen Armen davonträgt! Ich nehme ein paar von den Schurken und werfe sie in den Moskwafluß, gerade da, wo der Branntwein verschüttet wurde; ihr alle sollt es sehen.«

Ein Gelächter folgte diesen Worten. »Dann hättest du nach Smolensk gehen und sie dort in die Kolotzscha werfen sollen, langer Peter!«

Ein Kanonenschuß zerriß plötzlich die Luft; atemlos horchten alle. Die Weiber schrien laut auf, sie rissen ihre Kinder an sich, viele flohen wie sinnlos. »Seht ihr etwas? – Seht ihr etwas?«

Ein paar halbwüchsige Jungen waren auf die nächsten Bäume geklettert; sie überwachten die Landstraße. »Noch ist alles leer.« Banges Schweigen beherrschte die Gruppen, selbst der lange Peter hatte seine Prahlereien eingestellt, mehr als nur ein Schreier und Großsprecher war in aller Stille verschwunden. Der Kanonenschuß hatte die Wirklichkeit den Leuten nähergerückt, sie fühlten ihre Herzen schlagen und verstummten.

»Es entstehen große Staubwolken!« riefen die Wächter auf den Bäumen.

Ein Kreischen antwortete. »Das werden sie sein, die Räuber, das werden sie sein! Heilige Mutter Gottes, stehe uns bei!«

»Ja, ja, sie sind es, ich sehe die blanken Gewehrläufe!«

»Und die Pferde! – Einer reitet voraus!«

»Herrgott! Herrgott, verlasse uns nicht!«

Jetzt flüchteten auch die Mutigeren. Nur wenige blieben zurück; lang und öde, verlassen von allem Lebenden, dehnte sich die Straße.

»Mikosch«, flüsterte Onnen, »wenn nun Oberst Jouffrin zufällig unter den ersten wäre!«

»Dann denkt er sicherlich an anderes als an ein paar deutsche Deserteure. Übrigens ist es lauter Kavallerie, die ich kommen sehe.«

Allmählich traten die Gestalten der Reiter und ihrer Tiere deutlicher aus den wallenden Staubwolken hervor. Ein unübersehbarer Zug näherte sich der Stadt, Generale in voller Uniform, Offiziere jeder Waffengattung, Fürsten und Marschälle mit prachtvoller, im Sonnenglanze blitzender Ausrüstung. Allen voraus ritt ein breitschultriger, untersetzter Mann mit einem dreieckigen Hute und dem Ordensbande, auf der Brust – Napoleon, der letzte Eroberer, den die Geschichte der zivilisierten Völkerschaften zu verzeichnen hat.

Er schien auffallend blaß; seine Hand bewegte sich heftig, seine Augen schossen Blitze des Zornes. Langsam näherte er sich dem offenen Tore.

Beinahe niemand war jetzt noch zugegen. Halbversteckt standen die Zigeuner und außer ihnen noch hie und da einige andere Personen – der sieggewohnte Kaiser der Franzosen zog in eine von ihren Bewohnern verlassene Stadt. Er, der erwartet hatte, alle Militär- und Zivilpersonen zum Empfang versammelt zu finden, der von einem Triumphzuge sondergleichen träumte, er sah nur die Staubwolken, welche der Wind durch die Gassen trieb und hie und da einen Haufen des niedersten Volkes, das in Gängen und Kellern verschwand, sobald der Reiterzug nahte.

Die Zigeuner begleiteten ihn. Es war keine Infanterie dabei und folglich für die Sicherheit der drei Deutschen nichts zu fürchten. »Der Empfang beginnt erst an den Toren des Kreml«, flüsterte Mikosch. »Sieh, Onnen, dort kommen zwei Herren, sie verneigen sich tief – ob es Franzosen sind?«

Napoleon hielt das Pferd an; er winkte den beiden. »Wer sind Sie, meine Herren?« fragte er in scharfem, den inneren Groll verratendem Tone.

Einer der Männer verbeugte sich tief. »Ich bin Franzose, Sire. Ein in Moskau ansässiger Buchhändler.«

»Ah, mein Untertan also! Wo ist der Senat!«

»Nicht anwesend, Sire!«

»Und die Verwaltungsbehörden, der Zivilgouverneur?«

»Auch fort!«

Napoleon griff in die Zügel, daß das Pferd sich plötzlich bäumte.

»Aber wo ist denn die Bevölkerung? – Man sieht keinen Menschen.«

»Alle weggezogen, Sire!«

»Zum – – Aber wer ist denn endlich noch hier, mein Herr?«

»Nur das Proletariat, Sire!«

Die Lippen des Kaisers bebten vor Zorn. »Es kann nicht sein!« rief er.

»Ich schwöre es Eurer Majestät auf Ehre und Gewissen.«

»Schweigen Sie! Aus dem Wege!«

Dann wandte er sich zu den Generalen. »Vorwärts!«

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung; von Mund zu Mund lief die unerwartete Nachricht, daß Moskau verlassen sei. Offiziere und Soldaten teilten die Erbitterung des Kaisers, ein lautes Murren durchzog die Reihen, so daß der Befehl, unter keiner Bedingung vom Pferde zu steigen, in jeder Schwadron den Leuten eingeschärft wurde. Nur Napoleon selbst, wohl unfähig, so still dazusitzen und die bittere Beleidigung schweigend hinzunehmen; Napoleon sprang vom Pferde und nahm für seine Person in einem ganz gewöhnlichen, leerstehenden Hause Quartier, wahrscheinlich um allein zu bleiben und die ungeheure Täuschung erst einigermaßen überwinden zu lernen.

Mehrere Regimenter besetzten die umliegenden Straßen, Kanonen wurden überall aufgepflanzt und Wachen ausgestellt, während König Murat mit dem Rest der Truppen weiterzog, um den Kreml zu besetzen.

Unsere Freunde folgten dieser letzteren Heeresabteilung. Der Kreml bildete den Kern der Stadt – hier mußte es zur eigentlichen Entscheidung kommen.

»Ob sich die wenigen ungeübten und schlecht bewaffneten Bürger auf einen Kampf einlassen werden, Mikosch?« Der Alte wiegte den Kopf, »Es sind Verzweifelte darunter, Leute, die schon Vermögen und Stellung infolge des Krieges verloren haben; sie wollen vielleicht untergehen, indem sie den gehaßten Feinden zu guter Letzt noch soviel wie nur irgend möglich schaden.«

»So würde auch ich handeln«, sagte Feiko. »Gebt acht, diese bunten Scharen flüchten als Bettler, zerschmettert und zerschlagen, nach Frankreich zurück.«

»Still – laßt das keinen hören.«

Langsam zogen die Reitermassen durch Moskau. Totenstille Straßen lagen vor ihnen und hinter ihnen, selbst der Pöbel blieb ruhig, die Kinder wurden von den Eltern in den Häusern zurückgehalten, die Hunde eingesperrt – man ließ die Franzosen einziehen, wie man denen weicht, welche durch Anwendung brutaler Gewalt und ohne einen Schein des Rechtes zum Ziele gelangt sind – stumm und verachtend.

Endlich traten in der Ferne die dunkeln Umrisse des Nikolskischen, zum Kreml führenden Tores deutlicher hervor, zugleich sah man eine Menschenmenge, die dort anscheinend ruhig wartete. Ohne Umformen zu besitzen, trugen die Leute doch Gewehre und Säbel in den Händen.

König Murat nahm das Glas und beobachtete ziemlich lange, dann gab er einem Adjutanten einen Befehl. Einige Minuten später sprengte ein junger polnischer Offizier in reicher, ja fürstlicher Uniform an seine Seite, das ganze Regiment Uminski rückte vor und bildete so die Avantgarde, welche, allen Franzosen voraus, das Allerheiligste des russischen Reiches, den Kreml betrat.

Nicht ohne wohlüberlegte Absicht war diese Verfügung erlassen worden – Rußlands unversöhnlichste Feinde, die Polen, sollten hier einen Triumph genießen, der sie den Franzosen auf Tod und Leben verbünden mußte.

Das Pferd des schönen jungen Offiziers tänzelte, das schwarze Auge des Reiters blitzte in übermütiger Jugendlust. Wie der Kriegsgott der Alten, ein Bild frischester Kraft und Anmut, so saß der Jüngling im Sattel, kecken Blickes, voll Erwartung dessen, was nun folgen würde, in der Hoffnung eines Triumphes, an dem sich seine Seele jetzt schon berauschte.

»Ein schöner Mann!« flüsterte Mikosch. »Schade um ihn!«

»Weshalb?« fragte Onnen. »Gehört er nicht zu den Siegern?« Das tiefliegende Auge des Zigeuners flammte düster. »Die Linke trägt einen Handschuh«, raunte er, »aber siehst du wohl die Rechte? – Sie ist dir ganz nahe.« –

»Eine weiße feine Hand, ja!«

Mikosch nickte. »Weiß und fein!« wiederholte er, »weiß und fein! – Aber doch wird sie heute noch im Tode erkalten – bald, gleich sogar!«

»Mikosch!«

»Still, Herr! Siehst du, wie der Pole die Mähne des schwarzen Hengstes durch seine Finger zieht ? – Wie er die innere Fläche der Hand betrachtet? – Jetzt wieder! Durch das weiße zarte Fleisch zieht sich eine blutrote Linie, sie fühlt sich heiß an, sie –«

Ein Büchsenschuß unterbrach die seltsame Prophezeiung! Murats Pferd schüttelte den Kopf, es war nicht getroffen, aber erschreckt.

Vor den Reitern lag fest geschlossen das Nikolskische Tor, umstanden von etwa fünfhundert Bewaffneten, deren totenbleiche Gesichter das Ärgste zu verkünden schienen. Der Schuß war fehlgegangen, jetzt aber sprang aus dem Haufen hervor ein herkulischer Mann, der das Gewehr von sich warf und mit einem einzigen, völlig unerwarteten Ruck den Polen vom Pferde herabriß. Ein Messer drang dem Unglücklichen tief bis an das Heft in die Brust; sein Gegner beugte sich über den Sterbenden und zerbiß ihm die Kehle, zerfleischte mit seinen Zähnen das schöne jugendliche Antlitz. Er selbst wurde im gleichen Augenblick von zehn, zwanzig Säbeln buchstäblich in Stücke zerhackt.

»Da hast du es!« sagte tief atmend der Zigeuner.

»Wie gräßlich! – O Gott, wie gräßlich!«

Im Augenblick herrschte die äußerste Verwirrung. Jener Geist der Zügellosigkeit, welcher die französischen und polnischen Truppen längst schon zersetzte, jene immer mehr um sich greifende Insubordination trat hier wieder offen zutage. Ohne Befehl sprangen die polnischen Reiter von den Pferden und schlugen mit den Steinen der Straße das Tor in Splitter, während andere den Befehl Murats ausführten und die Mündung einer Kanone den Bewaffneten entgegenkehrten.

Noch ein Offizier wurde erschlagen, grade als er »Feuer!« kommandierte, aber der Schuß fiel trotzdem, und als die Menge nicht wich, noch zwei andere.

Blut in Strömen floß über das Pflaster, zuckende Menschenkörper lagen hie und da, geballte Fäuste drohten in ohnmächtigem Grimm den Feinden. Über Tote und Verwundete hinweg ritten die Sieger in das gewaltsam geöffnete Tor.

Mikosch hob die Hand des gemordeten Polen. »Schon kalt!« sagte er. »Siehst du die Linie, Herr? Rot und heiß! Von der Fingerwurzel bis zum Arm! – Nein, nein, du brauchst die deinige nicht zu suchen, sie ist noch weit vom Ziel!«

Er gab mehreren Verwundeten eine etwas bequemere Lage und dann gingen alle den Soldaten nach in den Kreml.

Murat bezog eins der elegantesten, obwohl gänzlich ausgeleerten Schlösser, und von der Stunde ihres Erscheinens an plünderten die Truppen auch in Moskau ebenso rücksichtslos, so grausam wie vorher in allen anderen Orten, die sie als Sieger besetzten. Ein unerhörtes Treiben herrschte während dieser und vieler folgenden Tage in der unglücklichen Stadt

Napoleon selbst hatte den Befehl zur Plünderung gegeben. »Moskau ist ein Leichnam«, sagte er zähneknirschend, »mögen ihn meine Soldaten zerfleischen.« Das wurde buchstäblich befolgt. Wie ein Heuschreckenschwarm fielen die Truppen, zu allen Toren hereinziehend, über das her, was an Besitztümern noch geblieben war, Offiziere und Gemeine, Hohe und Niedere, kurz, jeder einzelne Mann plünderte. Die Offiziere eilten zu der sogenannten Wagenreihe, suchten sich nach Belieben die ihnen zusagenden Equipagen aus und zeichneten dieselben sogleich mit ihren Namen – die Soldaten forderten Lebensmittel, und wenn die unglücklichen Einwohner erklärten, keine mehr zu besitzen, so antworteten sie durch Mißhandlungen.

Das Regiment Uminski und noch drei andere Kavallerieregimenter hielten den Kreml besetzt; besonders die Polen wirtschafteten in dem alten Zarenschlosse auf die schrecklichste Weise, sie zerschnitten die Samtpolster des Thronsessels und zerstreuten die Splitter in alle vier Winde; draußen auf den weiten Höfen, in den Kellern und Gärten gruben sie nach Schätzen.

Alle Kostbarkeiten des alten Schlosses, die Kronen der früheren Zaren, die Silber- und Goldgeräte, die Heiligenbilder waren längst in die entlegensten Provinzen geflüchtet worden, dennoch aber durchwühlten gierige Hände den Boden, um zu stehlen, in der eitlen Hoffnung, Juwelen und schimmerndes Gold zu finden, wo nur die schwarzen Schollen der geduldigen alten Erde ihnen entgegenstarrten.

Bei jedem Trupp hielten mehrere Offiziere ängstlich Wacht. Was etwa entdeckt wurde, das durfte doch keineswegs denen gehören, die es zutage förderten, sondern ihnen selbst, ihnen, die den Grundsatz des Kaisers kannten: »Meine Offiziere sollen sich in den eroberten Ländern jeder ein Vermögen erwerben.«

Die Soldaten gruben mit trotzigen verbissenen Mienen. In ihren Seelen wohnte heimlich der feste Entschluß, sich nichts rauben zu lassen; bei dem ersten Erblicken eines goldenen oder silbernen Gegenstandes würden beide Parteien übereinander hergefallen sein und sich die Beute streitig gemacht haben.

Aber die Erde barg nichts, gar nichts. Was man so emsig suchte, das lag wohlverwahrt in den festen Schlössern der nördlichsten Städte.

Unaufhaltsam zog Regiment auf Regiment in die Tore. Keine Quartiermacher waren den Soldaten vorausgegangen, keine Behörden empfingen sie, kein Brot oder Nachtlager harrte ihrer; sie standen auf den Straßen und sahen einander an.

Wohin nun?

Andere kamen ihnen entgegen, Kranke und Verwundete auf Wagen, Ausgehungerte und Heimatlose, Leute, die seit gestern nichts mehr gegessen hatten und deren Füße bluteten. Wohin? fragte ein jeder den ändern – und niemand konnte Auskunft geben, niemand wußte, was die nächste Stunde bringen würde.

Leere Fenster starrten unheimlich den Soldaten entgegen, verschlossene Türen bereiteten ihnen Hindernisse – von Minute zu Minute wuchs der Unmut. Da kamen aus einer Straße Kameraden, die schon Beute gemacht hatten; Leute mit großen Bündeln und Körben.

»Hurra!« riefen sie, »die Stadt gehört uns. Der Kaiser hat erlaubt, alles zu nehmen, was uns gefällt!«

»Ist das wahr?«

»Gewiß und wahr!«

Wie der Funke das Pulver entzündet, so wirkten diese Worte auf die ausgehungerten, ermatteten Truppen. In wenigen Augenblicken waren die Türen der umliegenden Gebäude mit dem Kolben zerschlagen und die Bewohner ausgetrieben. In Kellern und Höfen kämpften die Soldaten um das Einzige Bett oder die geringen Vorräte der armseligen Behausung, draußen rangen die des letzten beraubten Menschen voll Verzweiflung ihre Hände.

Wohin nun?

Fort, fort aus der unglücklichen, dem Verderben geweihten Stadt!

Ganze Züge wandten sich den Toren zu, andere kamen von allen Seiten herbei, beladen mit wenigen, noch geretteten Lebensmitteln, mit dem Stück Brot oder Fleisch, das sie vor dem Hunger schützen sollte. Alles flüchtete, lief, gejagt vom Entsetzen, alles trachtete nur danach, aus der Stadt und in die schützende Nähe der eigenen vaterländischen Behörden zu kommen. Durch das Tor zog mit klingendem Spiel eine neue unübersehbare Menge. »Brot!« – Die Soldaten hatten es in den Händen der Vertriebenen gesehen, hatten es in Taschen und unter Lumpen entdeckt. »Her damit! Der Stärkere hat recht!«

Und auch Schuhe trugen die Heimatlosen, auch Geld besaßen noch einige von ihnen.

»Her damit! Gebt's gutwillig oder –«

Kolbenstöße und Schläge vervollständigten den Satz. Ganz ausgeplündert, aller irdischen Habe beraubt, verließen die Unglücklichen ihre Vaterstadt, aufs Geratewohl in das offene Feld hinausgehend, ohne Hoffnung oder Trost, verarmt an jedem Gute des Lebens.

Die Soldaten brachen in alle Häuser. Straßenkämpfe entstanden, Kranke und Verwundete wurden rücksichtslos hinausgeworfen, es starben Menschen unter freiem Himmel – die Anarchie, der Zustand vollkommener Gesetzlosigkeit, hatte ihren Einzug gehalten.

In langer Reihe standen die Equipagen, welche Napoleons Offiziere bereits als ihr Eigentum betrachteten; in dichten Gruppen daneben die Eigentümer mit Pelzmützen und blauen Kitteln. »Sollen wir gearbeitet haben, gespart und gerungen, sollen wir unser Geld dahingegeben haben, um den fremden Räubern Chaisen und Kutschen zu verschaffen?« fragte einer.

Ein anderer schüttelte den Kopf. »Gott verderbe die Schurken! – Was können wir beginnen, um unsere Wagen zu retten?«

»Jetzt gibt es keine Mittel mehr; man läßt die Gespanne nicht zum Tore hinaus. O lieber Gott, und ich dachte, gerade in dieser Zeit könnte man ein paar Rubel verdienen!«

Der erste Sprecher blickte langsam um sich her. »Kein Mittel?« wiederholte er. »Ich halte es hier in der Hand.«

Und er zeigte den übrigen einen Haufen Werg nebst Stahl und Stein.

»Feuer?« flüsterte eine Stimme. »Wir sollten unser Eigentum verbrennen?«

»Ja. Ehe die Franzosen es nehmen, möge es zu Asche werden!«

»General Sebastiani«, las der eine. »Ob nicht dieser Dieb von einem Franzosen seine Visitenkarte schon an die Kissen geheftet hat!«

»Oho, der Name an meinem Wagen besitzt ebenso vornehmen Klang. Marschall Mortier steht hier zu lesen.«

»Und hier: Herzog von Auerstädt, Prinz von Eckmühl, Marschall von Frankreich. Ein Tausendsassa, dieser Prinz, macht lange Finger!«

Der erste Sprecher legte Werg und Späne auf die Polster seines Wagens, dann schlug er Feuer und die leichte, bläuliche Flamme züngelte empor. »So, Kinder, mein Eigentum ist den Franzosen entzogen – nun macht mit dem eurigen, was ihr wollt!«

»Meins sollen sie ebensowenig haben!« – »Auch meins nicht!«

Und die Wagenbudenreihe brannte lichterloh. Ihr gegenüber erhoben sich vom Kaufhof die Flammen, hie und da in den Straßen glühte es auf – der Brand von Moskau, das entsetzlichste Ereignis unseres Jahrhunderts, hatte begonnen.

Den französischen Soldaten war eine reiche Stadt zur Plünderung versprochen worden – sie fanden leere Räume, in denen die wenigen Einwohner selbst Hunger litten; kein Tropfen Branntwein war aufzutreiben, kein bares Geld, kein Brot. Aus den leichtherzigen, im Grunde nicht bösartigen Südländern wurden Teufel, die auf jede mögliche Weise vorgingen, um sich die notwendigsten Lebensbedürfnisse zu verschaffen, die Dinge unternahmen, von denen der Chronist wörtlich sagt: »In Tausenden von Jahren gab es gewiß keinen einzigen Tag, an welchem die Sonne Zeuge solcher Greuel war, und gewiß keine einzige Nacht, deren Finsternis so viele Verbrechen barg. Es war kein bürgerliches Gesetz, kein heiliger Gebrauch, welche die Feinde nicht beschimpften, keine Schandtat, die sie nicht begingen, keine Grausamkeit, die nicht verübt wurde. Als Mongolen und Tataren in Rußland einbrachen, da achteten sie die Tempel unseres Gottes; die Hand des heidnischen asiatischen Kriegers berührte nicht das Heiligtum derselben, allein während der französischen Herrschaft sahen wir Christen, welche die Kirche Christi beschimpften und besudelten.«

Ganze Straßen brannten; das geschmolzene Metall floß wie Lava über die Steine. Leichen von Menschen, die Körper toter Tiere lagen durcheinander, Arme, Köpfe, Stücke von allen Körperteilen bedeckten die Wege.

Hie und da fand sich ein totes Pferd, ein verbrannter oder erschlagener Hund – Scharen französischer Soldaten rauften in erbittertem Kampfe um die willkommene Beute. Es entstanden Krankheiten der schrecklichsten Art; Hungersnot und pestartige Leiden befielen die unglückliche Stadt, in welcher Napoleon mehr als zwanzigtausend Soldaten im vollständigsten Frieden durch Fieber, Totschlag, Hunger und Verbrennen einbüßte.

Die Straße, in welcher unsere Freunde wohnten, war vom Feuer verschont; Mikosch verstand es meisterhaft, seine Vorteile wahrzunehmen. Er hatte sich da einquartiert, wo unter den Ärmsten der Bevölkerung keine Schätze gesucht wurden, und kamen trotzdem die Soldaten in das Haus, um zu plündern, so ging ihnen Ruff auf den Hinterbeinen und ohne Maulkorb entgegen. Das Mittel wirkte gewöhnlich schnell – die Räuber verschwanden, ohne sich in dieser unheimlichen Nachbarschaft erst weiter umzusehen.

So blieben nicht allein sämtliche Hausbewohner von der Plünderung verschont, sondern es konnten sogar Vorräte gesammelt werden. Grütze, Brot, Speck und Hülsenfrüchte lagen in Menge auf den Höfen und in den Kellern der Häuser vergraben – wer Geld besaß, der konnte zu verschwiegener Stunde kaufen, was er brauchte.

»Wer zwei Röcke hat, der soll seinem Bruder einen geben! Das ist ein gar schöner Spruch«, sagte lächelnd der alte Zigeuner, welcher zwar tatsächlich ein Heide, aber dabei ein guter Mensch war. »Ich habe mit den Meinigen so manches Stück deutsches Brot gegessen; nun nehmen Sie dafür von mir ein bescheidenes Teil, liebe Frau Müller, und Gott gesegne es Ihnen.«

Die arme Witwe konnte nur weinen, nur stumm dem Zigeuner die Hand darbieten; er war es, der in den schrecklichen Septembertagen ihr eigenes und das Leben ihrer Kinder erhielt.

Näher und näher rückten die Flammen, das Straßenpflaster begann sich zu erhitzen, die Luft wurde den Lungen unerträglich. Mikosch wanderte überall umher, er sah alles, wußte alles und brachte eines Tages auch die Nachricht, daß Oberst Jouffrin in Moskau sei.

Dann verschwand Alexei aus der Herberge – er beobachtete den Feind.

»Aber vergiß nicht«, ermahnte Mikosch, »ich bin der Goel!«

Alexei nickte. »Du bist es«, bestätigte er. »Sei ohne Sorgen, Vater.«

Onnen hörte die Worte, aber ohne sie zu verstehen; später fragte er den jüngeren Sohn des Alten und erhielt nun eine Auskunft, die ihn innerlich erbeben ließ. »Brauchst's ja dem Vater nicht zu sagen«, meinte Luiz, »die Alten hängen so sehr an ihren Geheimnissen; wie du weißt, sie möchten uns immer noch ein wenig wie Kinder behandeln. Der Goel ist der Bluträcher.«

»Wahrscheinlich der nächste Verwandte eines Ermordeten?«

»Wie gut du zu raten verstehst!« lächelte Luiz.

»Und kein anderer darf an den Täter die Hand legen?«

»Durchaus nicht. Die Blutrache ist ein heiliges Gesetz; genau so, wie der Mörder an seinem Opfer das Verbrechen verübte, wird ihm selbst von dem Goel geschehen.«

Onnens Herz schlug höher. Der unbarmherzige Mann, die Geißel von Norderney sollte also mit dem Messer in der Brust unter freiem Himmel sterben!

Mikosch trat ein und unterbrach die Stille, welche nach den letzten Worten des Zigeuners eingetreten war. »Kommt rasch«, sagte er, »es gibt ein Stück Geld zu verdienen. Wo sind die übrigen? Schnell, ihr Herren! Auch du, Jasko!«

»Was ist denn los?« fragte dieser letztere. »Soll ich den Bären holen?«

»Nicht doch, nicht doch! – Wir wollen löschen!«

Der Weg zur Nikolajamskajaschen Kirche wurde eingeschlagen, eilenden Schrittes gingen die Männer vorüber an den schwarzen Ruinen des Palastes, aus dessen Innerem am Abend vor dem Einzüge der Franzosen die Spieluhr ihre süßen Klänge zum letztenmal hervorsandte, wo die gedeckte Tafel zum Genüsse einlud und die Bettchen der Kinder schon geöffnet, mit Wärmflaschen versehen, dastanden.

Heute wirbelte im scharfen Ost die schwarze stäubende Asche von der verödeten Stätte; angebrannte Balken ragten aus den Mauern hervor, in wüstem Durcheinander lagen Steine und Trümmer. Ganze Reihen stolzer Paläste waren hier den Flammen zum Opfer gefallen, ganze Straßenseiten verwüstet. Mitten in einem großen Garten, bedeutend hinter der Straßenflucht, lag unversehrt ein großes Gebäude, dessen Nebenhäuser, nur durch die Anlagen geschieden, lichterloh brannten. Ein kleinerer Bau, gleichsam im Schatten des größeren, war an das brennende Haus zur Linken fest angefügt.

»Die Knabenerziehungsanstalt der Kaiserin Maria Feodorowna«, sagte Mikosch. »Der Staatsrat Tutolmin ist mit den jüngeren Kindern hiergeblieben und hat von dem französischen Kommandanten Duronel zwölf Mann mit einem Leutnant als Schutzwache erhalten, aber er fürchtet, daß ihm die Funken, welchen die Soldaten doch nicht wehren können, trotz aller Fürsorge das Dach entzünden, und daher braucht er vertraute Leute, um ihm zu helfen. Geht nur durch die Pforte.«

Der kalte Ostwind allein ermöglichte es, in den Gluten, welche die brennenden Häuser ausströmten, überhaupt zu atmen; er rettete während jener Schreckenstage ungezählten Menschen das Leben. Heiße Wogen schlugen über die Straßen dahin, aber der tapfere nordische Ost brauste hinterher und schlug immer wieder den hinterlistigen Gegner. Die Zigeuner und unsere Freunde kamen glücklich durch die Feuerlinie und in das bedrohte Haus, wo der Staatsrat Tutolmin, ein würdiger alter Herr, ihrer bereits ungeduldig harrte.

»Auf das Dach!« gebot er. »Auf das Dach! – O lieber Himmel, hätten wir doch etwas wie einen Spritzenschlauch!«

»Es wird auch so schon gehen, Exzellenz!«

»Meinst du, guter Freund? Der Herr General Graf Rostoptschin hat dich mir als unerschrockenen ehrlichen Mann geschildert; tue also jetzt, was in deinen Kräften steht, es soll dein Schade nicht sein.«

»Ich danke im voraus, Exzellenz!«

»Nur schnell, nur schnell, die Funken fallen in ganzen Schauern.«

Über drei Treppen ging es hinauf zum platten Dache des Hauses, wo schon drei Lehrer und etwa zwanzig Knaben die Feuerwache hielten. Die armen Kleinen, lauter Kinder unter zwölf Jahren, zitterten vor Furcht, sie trugen in den Händen blecherne Eimer, die ihnen von den Genossen immer wieder frisch gefüllt wurden, und spritzten jedesmal, sooft ein Funke geflogen kam, mit Lappen oder Bürsten Wasser auf die bedrohte Stelle, ohne jedoch selbst immer ganz unbeschädigt davonzukommen. Ihr Haar, ihre Gesichter, Nacken und Hände waren versengt, große Blasen zeigten sich auf der Haut.

Die kleinen Waisen, meistenteils Söhne gefallener Offiziere, wurden hier auf Kosten der Kaiserin erzogen; ohne Eltern oder Freunde, nur ihren Lehrern überlassen, sahen sie sich von den schwersten Gefahren umgeben und hefteten jetzt die ängstlichen Blicke bald auf das Feuermeer vor sich, bald auf die fremden Männer, welche ihnen sogleich die vorläufig nicht bedrohten Plätze auf den Treppen anwiesen.

Die Kinder mußten, indem sie kleine Eimer von Hand zu Hand gehen ließen, das Wasser herbeischaffen; die Männer blieben auf dem flachen, unerträglich heißen Dache und wehrten den Funken, sich festzusetzen.

Staatsrat Tutolmin brachte in eigener Person eine große Gartenspritze auf das flache Dach. »Wir müssen unsere Apotheke beschützen«, sagte er. »Dort in dem Nebengebäude lagern kostbare und unentbehrliche Waren – ob es wohl möglich wäre, den Wasserstrahl aus dieser Spritze hinüberzusenden?«

Mikosch probierte, und es ging vortrefflich, kostete aber sehr viel Wasser. Die Kinder des Staatsrats, die Dienstboten, die Soldaten und sogar der Leutnant, kurz, alle im Hause befindlichen Personen brachten in Eimern und Küchengeräten die kalte Flut herbei, Ströme nach Strömen ergossen sich über das Dach und das Nebengebäude, um von den Steinplatten des Hofes als heißer Dampf wallend und wirbelnd wieder aufzusteigen. Das fünfstöckige Nachbarhaus neigte sich, brennend wie es war, nach der Windseite, in jedem Augenblick konnte das Dach stürzen und die Apotheke mit glühenden Trümmern überschütten.

Alle Kräfte vereinten sich, um die Bleiplatten des Daches vor dem Schmelzen zu bewahren. Das Wasser kam eiskalt aus der Erde; es verhinderte das Metall, sich bis zu einem gefährlichen Punkte zu erhitzen. Nur noch kurze Zeit, dann war das Ärgste überstanden.

Auf den Treppen weinten die Kinder; es wurde den armen Kleinen an diesem Tage mehr aufgebürdet, als ihre Kräfte erlaubten.

»Haltet aus, Leute!« rief der Staatsrat, »haltet aus, die Entscheidung ist nahe!«

Da übertönte plötzlich das Geräusch einer Explosion seihe Worte. Die Luft schien zerrissen, die Grundfesten des Hauses bebten; ein Summen und Klirren entstand vor den Augen aller.

Und dann folgte ein zweiter Donner, ein dritter und vierter; das Getöse dauerte ununterbrochen fort, es verschlang alles übrige.

War die Hölle losgebrochen, um ihre Schrecken den schon vorhandenen hinzuzufügen? Himmel und Erde schienen ein einziges Feuermeer, es schwankte und stürzte alles, das Brausen in der Luft wurde zum Donner, der den erschreckten Menschen wie die Posaune des letzten Gerichtes erklang.

Mikosch deutete mit der Hand nach Westen; sprechen konnte unter dem betäubenden Knattern und Toben niemand.

Wie die Schwärmer eines Riesenfeuerwerkes flogen unaufhörlich ganze Massen explodierender kleiner Körper in die Luft empor, um, wenn sie erloschen, ebensoschnell von anderen ersetzt zu werden. Dann kam die bengalische Flamme, haushoch, turmhoch, in blutrotem Glänze – der westliche Himmel schien einem purpurnen Teppich gleich; schwarze und blaue Wogen schlugen wie ein buntes Muster darüber hin.

Im Kreml hatten die Munitionswagen des polnischen Regimentes Feuer gefangen und waren einer nach dem anderen in die Luft geflogen. Ein schrecklich-schönes Schauspiel, das die Herzen der Zuschauer erbeben ließ.

Als verhältnismäßige Ruhe zurückgekehrt war, sah der Staatsrat nach der Apotheke – das brennende Nebengebäude stand nicht mehr, anstatt aber nach der Seite zu fallen, war es in sich zusammengesunken. Die steinerne Seitenmauer konnte der Apotheke keinen besonderen Schaden mehr zufügen.

»Gottlob!« rief der alte Herr, »Gottlob, das Haus ist gerettet!«

Mikosch zog ehrerbietig die Mütze. »Aber was geschieht dort, Exzellenz? Eine Rotte von Plünderern stürmt die Pforte!«

»Herrgott, auch das noch!«

Und der Staatsrat eilte hastig die Treppen hinab. Bald danach sahen die Zigeuner ihn und das Häuflein französischer Soldaten am Gitter erscheinen. »Entfernt euch!« rief der Leutnant, »dies Haus steht unter dem besonderen Schütze des Kommandanten Duronel!«

Die Draußenstehenden antworteten mit einem Hohngelächter. »Der Kaiser hat uns diese Stadt zur Plünderung übergeben«, riefen sie, »daran wird auch General Duronel nichts ändern können. Macht auf, wir wollen hinein.«

Steinwürfe flogen in den Garten, das Geschrei und Toben wurde immer ärger. Die Soldaten standen hinter ihrem Anführer, aber sie schienen seine Befehle nicht zu hören; selbst als er: »Feuer!« kommandierte, regte sich keiner von ihnen.

Der junge Offizier wurde blaß wie der Tod, er riß den Degen aus der Scheide und würde sich im nächsten Augenblick unter gänzlicher Nichtachtung der eigenen Gefahr auf die Widersetzlichen geworfen haben, wenn nicht von draußen die Pforte zerschlagen worden wäre.

Wie eine Schar brüllender Teufel, versengt, zerzaust, von Rauch geschwärzt, in Lumpen und mit ausgehungerten Gesichtern, so stürzten sich die Plünderer in den Garten und seltsamerweise nicht auf das Hauptgebäude, sondern auf die Apotheke.

»In dem großen Hause sind nur Kinderbetten zu finden«, rief eine Stimme, »ihre Schätze haben die verdammten Russen hier untergebracht.«

»Es ist eine Apotheke – man findet da Spiritus und feine Liköre!«

»Auf! Auf! – Weshalb zögert ihr noch?«

Der Staatsrat hob die Hand, er gab dem Zigeuner ein Zeichen und dieser handelte statt seiner, ebenso umsichtig wie er selbst. »Luiz, mein Junge, du läufst, so schnell dich deine Füße tragen, zum Stadtkommandanten und bittest um Verstärkung! Du, Jasko, bleibst mit den Herren Lehrern hier oben und wir drei gehen hinab!«

Georg und Onnen waren schon vorausgeeilt. Durch eine Hintertür gelangten alle in die Apotheke, wo zunächst sämtliche Fensterläden geschlossen und die Zugänge mit Eisenstangen gesperrt wurden. Schießwaffen besaßen die Plünderer nicht; wenn der erbetene Beistand zur rechten Zeit kam, konnte es immerhin gelingen, das Haus und seine Güter vor den Stürmenden zu beschützen.

Wo sich eine Hand den Türen oder Fensterläden näherte, da floß Blut; wo aber auch ein losgerissener Pflasterstein durch die halbzersplitterten Läden flog, da klirrten drinnen Gläser und Flaschen. Endlich brachte der Staatsrat eine Kugelbüchse; Mikosch legte an und der ärgste Schreier stürzte mit dem Gesicht zu Boden, um nicht wieder aufzustehen.

Der Haufen erschrak und wich etwas zurück, sehr bald aber ermutigte einer den anderen; die ganze Schar drang wieder vor, obwohl Mikosch den bleiernen Willkommengruß zum zweitenmal hinaussandte.

»Welche Schätze mögen wohl in dem alten Gerümpel verborgen sein, da es die Russen so hartnäckig verteidigen?«

»Gewiß Gold- und Silbergerät! Bares Geld!«

»Und alter Wein. Solch eine Exzellenz hat immer einen guten Keller!«

»Vorwärts! Vorwärts!« Wieder folgte ein Anlauf, wieder antworteten neue Schüsse, während sämtliche Pflastersteine, welche die Angreifer hineinwarfen, von den Verteidigern ebenso prompt wieder hinausgeworfen wurden. Letztere standen unter sicherer Deckung, erstere dagegen mußten dem Bombardement schutzlos entgegengehen, und gerade das verstärkte die anfängliche Raublust bis zum Ingrimm.

»Weshalb zögern wir denn noch lange?« rief einer der Strolche. »Es ist ja doch an Feuer wahrhaftig kein Mangel! Steckt die Giftbude in Brand.«

»Hurra, das ist auch wahr!«

Mehrere Plünderer stürzten fort und zur nächsten Brandstätte. Gegen siebentausend Häuser lagen in Asche – es war wirklich an Feuer kein Mangel.

Woher sollte für die Rettung der Apotheke das nötige Wasser genommen werden? Im Hauptgebäude war eine Pumpe, hier aber fehlte jede Möglichkeit, ein etwa entstehendes Feuer zu löschen. Der Staatsrat war leichenblaß geworden, er ließ mutlos die Arme sinken. »Nun sind wir verloren«, stammelten die bleichen Lippen. Mikosch antwortete nicht; er überlegte, wie es möglich sein würde, wenigstens das eigene Leben zu retten. Drei Türen ließen sich schließen, ehe die Angreifer bis zum rückseitigen Ausgange vorgedrungen waren, dadurch gewann er mit den Seinen allerdings Zeit zur Flucht, aber auf dem Hofe würden alle gepackt werden. Luiz blieb lange aus. Wahrhaftig, die nächsten Minuten schienen sich sehr lang zu gestalten.

Da kam auch schon ein riesiger Unteroffizier mit einem Stücke hellbrennenden Holzes herbei. Andere trugen Splitter, verkohlte Stämme aus den Gärten, Möbeltrümmer – vor der Haustür schlug die Flamme lustig empor.

»Aha, jetzt haben wir die Schufte in der Hand!«

Der Rauch drang in die inneren Räume der Apotheke, das Holz knisterte und bog sich – noch immer war von dem ausgeschickten jungen Manne nichts zu sehen.

»Ihr beide«, flüsterte der Zigeuner, »macht euch davon, hört ihr! Die Räuber sind vor der vorderen Tür versammelt, ihr könnt über den Hof entkommen.«

Sowohl Onnen als auch Georg weigerten sich bestimmt, ihren tapferen alten Freund im Stiche zu lassen; sie blieben an seiner Seite, fest entschlossen, das zu teilen, was etwa über ihn hereinbrechen würde.

Da durchdrang ein lauter schriller Schrei das Toben ringsumher; der alte Zigeuner atmete plötzlich leichter. Sein Sohn gab ihm ein Zeichen; die Hilfe in höchster Not war nahe.

»Luiz kommt!« rief er. »Sucht Deckung, Kinder!«

Die Tür war durchgebrannt, Steinwürfe beschleunigten das Werk der Zerstörung, über Splitter und brennende Balken drangen die Stürmer in das belagerte Haus, zunächst in die Apotheke, wo nur Scherben und ausgeflossene Präparate aller Art ihrer harrten. Mikosch war mit den beiden Deutschen in die hinteren Räume geflüchtet, der Laden dagegen stand leer.

Über den Hof kam im Laufschritt ein Häuflein französischer Infanterie und kehrte den Plünderern das gefällte Bajonett entgegen. Sie, deren Roheit bisher jedes Gesetz zu verachten schien, sie, die Tolldreisten, begannen zu flüchten, aus den Fenstern zu springen und sich auf jede Weise in Sicherheit zu bringen.

Die Tür zum Hintergrund wich dem vereinten Drucke mehrerer Männer, sie flog auf und der ganze Schwarm stürzte hinein; hinterher die Soldaten.

Es war ein wüstes Durcheinander von kämpfenden und ringenden Menschen, die sich in dem alles verhüllenden Rauche überhaupt nur aus nächster Nähe erkennen konnten. Das Haus brannte lichterloh, niemand dachte daran, es zu löschen, hie und da explodierte ein Glasgefäß mit verschiedenen Flüssigkeiten, wie sie in der Apotheke zur Anwendung kommen; es stürzte ein Schrank oder klirrte ein Flaschenstand – immer noch wühlten die Hände der Räuber in allen Ecken und Winkeln, um verborgene Schätze zu entdecken.

»Da ist ein Ausgang«, raunte Mikosch. »Schnell!«

Er sprang über brennende Trümmer gewandt wie ein Jüngling hinweg, ihm nach folgte Georg, während Onnen der letzte war. Eben im Begriff, auch seinerseits das Freie zu suchen, fühlte er, daß sich eine Hand auf seine Schulter legte, und wandte den Kopf.

Ein mageres braunes Gesicht tauchte aus den ziehenden und wallenden Rauchwolken herauf, ein Paar haßerfüllte Augen blitzten ihm entgegen.

»Hab ich dich, Onnen Visser!«

Und die Hand wollte fester zugreifen, die andere packte mit an, da zerriß der Bann des Erschreckens, in welchem sich Onnens Seele bisher befunden. »Adam Witt!« rief er, »Schurke, laß los, oder –«

»Ich lasse dich nicht! Hierher, Kameraden, hierher!«

Weiter kam er nicht. Onnens kräftige Arme packten ihn und schleuderten ihn mit der Kraft der Aufregung in das brennende Haus zurück. Noch einen Augenblick und unser tapferer Freund war den beiden Vorausgegangenen nachgeeilt.

Das Haus des Staatsrates nahm sie auf. Der Leutnant hatte seine widersetzliche Schar einer Militärpatrouille überliefert, andere Soldaten waren zum Schutze der Erziehungsanstalt befehligt und auch eine starke Feuerwache auf das Dach gestellt, dennoch aber konnte sich Onnen nicht beruhigen.

»Adam Witt ist hier!« sagte er. »Er hat mich erkannt.«

»Er war natürlich unter den Plünderern?«

»Jedenfalls – wir haben jetzt den Wolf auf unserer Fährte.«

Auch Feiko und Georg waren unruhig geworden. »Mikosch«, flüsterte ersterer, »ist es nicht möglich, Moskau zu verlassen?«

Der Zigeuner wiegte den Kopf. »Oberst Jouffrin ist hier!« sagte er endlich.

»Aber ob er dir jemals ins Garn laufen wird, Alter?«

Mikosch nickte. »Er wird, Herr, er wird. Alexei bewacht ihn wie der Hund die Fährte des Wildes, fünf Männer von unserem Volke leisten ihrem Haupte Späherdienste. Ich bin der Goel, ich muß meinem ermordeten Bruder die Ruhe des Grabes verschaffen; Barbarin wacht und wacht, bis mein Messer die Brust des Verbrechers durchbohrt, dann erst schließt er die Augen und träumt vom Paradiese.«

Onnen seufzte. »Aber wenn wir entdeckt werden, Alter?«

»So rette ich dich, Herr! Du hast meinen Eid.«

Der Staatsrat ließ ein gutes Mahl und mehrere Flaschen Wein auf den Tisch setzen. Die Apotheke war bis auf den Erdboden herabgebrannt und die Plünderer aus dem Hofe verjagt; eine verhältnismäßige Ruhe herrschte wieder in den Räumen, die noch kurz vorher so heißen Kampf gesehen. Mikosch bekam eine reichliche Belohnung, die er mit den übrigen gewissenhaft teilte.

Als die frühe Dämmerung des Herbstes herabsank, wollten die Zigeuner in ihr Quartier zurückkehren. Jasko und Luiz gingen daher voraus, um die Straßen zu beobachten und einen etwaigen Hinterhalt rechtzeitig zu entdecken. Wenn nichts Verdächtiges ihnen begegnete, so sollte Luiz wiederkommen und den anderen Nachricht bringen.

Onnen schüttelte den Kopf. »Das nützt nichts«, meinte er. »Adam Witt ist viel zu klug, um uns allein oder mit seinen Spießgesellen anzugreifen. Er kommt in Begleitung einer Militärpatrouille, dann hat die Sache ein dienstliches Aussehen.«

»Insofern wir als Deserteure standrechtlich erschossen werden; das ist sicher.«

»So muß man die Herberge wechseln«, erklärte Mikosch. »Morgen ziehen wir um.«

Das Wort sollte sich erfüllen, aber anders, als der Zigeuner dachte. Jasko und Luiz gingen langsam durch die Straßen, sahen in jeden Garten, jeden Keller und Torweg hinein, ohne irgendein Zeichen von etwaigem Verrat entdecken zu können; Luiz kehrte daher in die Erziehungsanstalt zurück und alle fünf Männer machten sich, bewaffnet mit Messern und starken Stöcken, auf den Heimweg. Auch diesmal sahen und hörten sie nichts.

Die Umgebung der Herberge, Hof und Torweg, die nächsten Ecken und Winkel wurden vor Nacht nochmals gründlich durchforscht, aber wieder umsonst.

»Vielleicht ist der Bursche in dem brennenden Hause zu Grunde gegangen«, meinte Feiko, »Vielleicht hast du ihn erschlagen, Vetter!«

Onnen schüttelte den Kopf. »Er fiel auf zwei Räuber, die am Boden mit einem der Befreier kämpften – es ist ihm kein Leid geschehen.«

»Nun, dann hat er einfach unsere Spur verloren.«

Onnen schwieg, aber er wußte sehr wohl, daß sich Adam Witt die Gelegenheit zur Ausübung seiner Rache nicht so wohlfeilen Kaufes entgehen lassen würde. Während die übrigen aus ihren kurzen Pfeifen rauchten und halbliegend in Ruhe die Ereignisse des Tages besprachen, saß er oben und unterhielt sich mit seinen deutschen Freunden. Einige Näschereien von der Tafel des Staatsrates hatte er dem kleinen Mädchen mitgebracht und verabredete nun mit Otto einen Ausflug nach dem Kreml. Die von den in die Luft geflogenen Munitionswagen verursachte Zerstörung sollte entsetzlich sein; die beiden jungen Leute beschlossen daher, alles persönlich in Augenschein zu nehmen, und sprachen lebhaft von den Zuständen, die in der unglücklichen Stadt herrschten. Es war jetzt so weit gekommen, daß die Franzosen, wenn sie mehr zusammengeraubt hatten, als ihre Arme tragen konnten, dann die Einwohner ohne Umstände als Lasttiere benutzten. Was vielleicht ihnen selbst gestohlen worden war, das mußten die armen Menschen aufpacken und, dem brutalen Befehl ihrer Peiniger gehorchend, tragen, wohin es den letzteren beliebte.

Unten sprachen Mikosch und Feiko von den Vorbereitungen, welche man getroffen hatte, um einem etwaigen Überfall rechtzeitig begegnen zu können. Das vordere Tor war geschlossen, die Haustür auch; eine kleine Treppe zum Nebenhause dagegen offen gelassen. Über die Stufen derselben gelangte man zu einem benachbarten Boden und von da unbehindert ins Freie.

»Klopft jemand an das vordere Tor, so ruft ihr Onnen und verschwindet mit ihm«, gebot der Zigeuner. »Luiz kann euch begleiten, damit wir einander nicht verlieren.«

»Ach, es kommt nichts, Alter«, meinte Feiko. »Zuerst geriet ich selbst in Unruhe, aber seitdem scheint mir die Sache nicht gefährlich. Der Bengel denkt an Beute und Plünderung, aber nicht an einen Feldzug, der ihm keinen Pfennig einbringen könnte.«

Er sprach noch, als es mit starken Schlägen an die Haustür klopfte. Man rüttelte am Schloß und pochte zugleich gegen die Scheiben.

»Sie sind da!« raunte Feiko. »Also doch!«

»Pst! – Ich will sie aufhalten. Ruft Onnen!«

Mikosch erhob sich und ging zur Tür, aber ehe er das Zimmer verlassen hatte, flog das Haustor auf und blanke Waffen zeigten sich seinen Blicken. Die Franzosen besaßen offenbar einen Dietrich, mit dem sie vorher den Torweg und jetzt die Haustür geöffnet hatten. Ein Offizier und etwa zwanzig Mann betraten den Flur. Mikosch erschrak heftig; aber er verstand die schwere Kunst, selbst wenn es in ihm stürmte, doch äußerlich ganz gelassen zu bleiben. Feiko und Georg hatten sich ohne Zweifel schon längst über die Hintertreppe in Sicherheit gebracht – aber Onnen? Was sollte aus ihm werden, wenn die Franzosen das Haus durchsuchten?

So ruhig wie möglich sah er den Soldaten ins Gesicht. »Was wünschen die Herren?«

Der Offizier spähte umher. »Es ist hier ein Deserteur versteckt«, sagte er, »möglicherweise sogar mehrere. Du weißt davon, Zigeuner!«

Mikosch zuckte die Achseln. »Ich, Herr? – Suche, soviel du willst; dies hier ist das Zimmer, welches ich bewohne.«

Der Franzose nahm von ihm keine weitere Notiz, sondern befahl einem Teile der Soldaten, im Torweg Wache zu halten, während er selbst mit den übrigen das Erdgeschoß des Hauses durchspähte. Die Tür zur Treppe war jetzt geschlossen und die beiden jungen Deutschen ohne Zweifel längst in Sicherheit; desto schlimmer dagegen schien Onnens Schicksal sich zu gestalten. Er war verloren, wenn nicht ein Wunder ihn rettete.

Mehrere andere Bewohner der Herberge wurden aus dem Schlafe aufgeschreckt, sogar die Keller durchforscht, der Stall und der Hof, aber natürlich alles ohne Erfolg; nun wandten sich die Soldaten zu den oberen Stockwerken.

Jasko war früher als sie in das Zimmer der Witwe gekommen. »Sie sind da«, raunte er, »verstecke dich, Herr!«

Onnen wurde blaß. »Wohin denn? – Es ist unmöglich.«

Geräuschlos erhob sich Otto von seinem Platze und ging an den großen Schornstein, der in einer Wand der Mansarde lag. Er öffnete stumm die Klappe und deutete hinein – unten am Fuße der Treppe sammelten sich bereits die Franzosen.

Onnen kroch in die gähnende Tiefe hinab, eine Eisenstange und verschiedene vorspringende Steine, für die Sicherheit der Essenkehrer angelegt, gaben ihm den nötigen Halt, die Luft in dem engen, vollständig dunklen Raume aber erstickte ihn fast. Der späten Stunde wegen brannte in den Öfen und auf den Herden des Hauses kein Feuer mehr, sonst wäre er langsam geröstet worden.

Jasko hatte die Klappe geschlossen; jetzt ging er mit den Händen in den Taschen die Treppe hinab und pfiff leise vor sich hin, während Frau Müller im Fluge das Zimmer aufräumte und jede Spur der Anwesenheit eines Dritten mit geschickten Händen verwischte. Die Tasse, aus der Onnen seinen Tee getrunken, der Stuhl, auf dem er saß, alles verschwand im Augenblick.

Otto nahm ein Buch und sah mit gestütztem Kopfe hinein, aber ohne zu lesen. In seinem Herzen lebte der feste Entschluß, den Freund eintretenden Falles bis zum letzten Atemzuge zu verteidigen.

Jetzt klopften die Franzosen. »Herein!«

Der Offizier grüßte flüchtig, dann sah er unter alle Möbel und betastete sogar das Bett, in welchem die Kleine friedlich schlief. »Ich warne Sie, Madame«, sagte er, der Witwe gegenüber unwillkürlich in einen höflichen Ton verfallend, »ich warne Sie! Einen Deserteur zu verstecken ist für den Helfershelfer sehr gefährlich.« Frau Müller blieb vollkommen gelassen. »Suchen Sie, mein Herr, ich halte in diesen Räumen weder einen Deserteur noch sonst irgendjemand verborgen.«

Es war so, der Offizier mußte wohl oder übel den Rückzug antreten. Nachdem er noch Licht verlangt und auch den Hausboden durchstöbert hatte, zog er brummend mit den Soldaten ab. Ottos Herz schlug so, daß er nicht zu sprechen; vermochte. Wenn eine Wache in das Haus gelegt wurde!

Fast schien es so. Der Offizier ging allerdings fort, aber es blieb ein Doppelposten im Torweg zurück: Wenn sich im Hause irgendetwas regen sollte, würden natürlich die Soldaten sogleich erscheinen.

Und doch konnte Onnen nicht viel länger mehr in dem finsteren, von Rauch erfüllten Schornstein gefangen sitzen. Jasko kam leisen Fußes die Treppen herauf; er hatte um den Leib ein starkes neues Seil geschlungen, wenigstens achtmal – das löste er jetzt ab und bat die Witwe, ihre Tür zu verschließen. »Onnen muß auf den Hof gelangen, ohne die Treppe hinabzugehen«, sagte er flüsternd. »Unten brennt eine Lampe und die Kerle beobachten alles.«

Otto sah auf. »Ganz gut«, versetzte er, heiser vor Aufregung, »aber wie wollen wir es anfangen?«

»Hiermit«, nickte der Zigeuner, auf das Seil deutend. »Sie haben, wenn ich mich nicht vollständig täusche, einen großen Wäschekorb, nicht wahr, Frau Müller? Darf ich ihn einmal näher besehen?« Otto brachte das Gewünschte herbei und Jasko nickte befriedigt, »So wird es gehen. Mein Vater spannt gerade jetzt das Pferd an den Wagen und zieht es aus der Pforte hinter dem Schuppen – wir müssen den Gefangenen, damit er zu ihm gelangt, im Korbe hinablassen.« Die Witwe erschrak »O Gott, welch ein Gedanke! Ihr werdet ihn sicherlich nicht halten können.«

Jasko lächelte. »Ich nehme es auf mich, das Doppelte zu leisten, liebe Frau Müller – holen Sie nur jetzt unseren Freund hierher.« Auch Otto sagte, daß für den Flüchtling keine Gefahr zu fürchten sei. Onnen wurde aus seinem Gefängnis hervorgezogen und in aller Eile von dem Vorhaben der Verbündeten unterrichtet. Nachdem er sich gewaschen hatte, ging es zum Abschied.

»Lebe wohl, Onnen, und wenn du glücklich gerettet wirst, so laß einmal von dir hören.«

»Gewiß, liebe Frau Müller, gewiß; ich danke Ihnen herzlich.«

»Nein, nein, Onnen, wir sind es, die dir danken müssen. Du und der gute alte Vater dieses jungen Mannes, ihr habt uns gerettet.«

»Sprechen Sie doch davon nicht. Leb wohl, Otto, behalte mich lieb!«

Der Knabe schluchzte. »Onnen, Onnen, wie sehr werde ich dich vermissen. Gott sei mit dir, Gott beschütze dich!«

»Das wird er. Lebt wohl! Lebt wohl!«

Jasko hatte bereits zum Fenster hinausgesehen und von seinem Vater ein Zeichen erhalten; es war die höchste Zeit.

Der Korb wurde aus dem Fenster gehoben und das Seil durch beide Griffe gezogen, dann kletterte Onnen hinein. Frau Müller hielt voll Herzensangst die Hände gefaltet, während der Zigeuner und Otto mit festem Griff das Seil an beiden Seiten packten und Zoll um Zoll durch die Finger gleiten ließen.

Da erklangen im Torweg Schritte. Einer der beiden Soldaten kam auf den Hinterhof hinaus und rief den Zigeuner. »Eh, Burschäh, was maken du mit die cheval?«

»Danke der Nachfrage, Herr. Ich will hinausfahren und nachsehen, ob nicht irgendwo einige Lebensmittel aufzutreiben sind.«

»Du wollen escamoter! Je me meurs de faim – bringen mir einige Brot, oui?«

»Wenn ich mit Beute beladen zurückkomme, sollst du deinen Anteil erhalten, Soldat, darauf verlasse dich!«

Er hantierte an dem Geschirr herum und warf einige Säcke auf den Wagen, alles um nur die Zeit hinzubringen. Der Franzose stand neben ihm; hätte er zufällig emporgesehen und auf halber Höhe der Mauer den Korb bemerkt, so wäre das Schicksal des Flüchtlings beschlossen gewesen.

Mikosch fühlte, wie ihm das Herz gegen die Rippen pochte.

Der Soldat gähnte. »Nicht oublier le pain!« wiederholte er.

»Gewiß nicht.«

Der Franzose schlenderte zum Torweg zurück und Mikosch gab nach oben hin ein Zeichen. So schnell es anging, wurde der Korb herabgelassen, dann band Jasko das Seil an das Fensterkreuz und kletterte daran wie eine Katze auf den Hof hinunter.

Während Frau Müller das Fenster schloß, gab der Zigeuner seinem Sohne einen wohlgefüllten Beutel. »Hole den Bären, Jasko, schnell, und sieh dann zu, daß du die beiden anderen Deutschen an die Grenze oder an ein Schiff bringst. Ich hinterlasse dir an allen Orten, wohin ich komme, unser Zeichen.«

»Es ist gut, Vater, ich werde deinen Willen befolgen.«

Der Alte beugte sich näher zu seinem Sohne herüber. »Jasko«, sagte er feierlich, »bis wir wieder beisammen sind, verleihe ich dir die Rechte und Pflichten des Goel. Willst du dessen eingedenk sein?«

»Ich schwöre es dir, Vater.«

»Gut, dann lebe wohl!«

Ruff war auf den Wagen gesetzt, die letzten Händedrücke wurden gewechselt, dann schloß sich leise knarrend die Pforte. Jasko warf zur Vorsicht den Schlüssel über die Mauer und lachte befriedigt vor sich hin. Gottlob, die List war gelungen!

Eine bittere Kälte ließ die beiden auf dem Wagen befindlichen Männer zusammenschauern. Mikosch hatte Decken mitgebracht, in deren eine er sich hüllte, während Onnen die andere erhielt. So mit der funkensprühenden Stummelpfeife und den gänzlich vermummten Gliedern sah der Zigeuner aus wie irgendein Unhold des deutschen Märchens, der in halbdunkler Nacht über die Heide fährt und einen kostbaren Schatz oder ein noch kostbareres Königskind seiner unterirdischen Räuberburg zuführt.

Und doch schlug das Herz des Alten so warm. »Lehne dich an den Bären, Herr«, sagte er, »sein Pelz kann dir nützen.«

»Ich umschlinge ihn schon mit beiden Armen«, lachte Onnen. »Ruff ist doch ein guter Kerl, er soll auch Zucker haben.«

Irgendwoher aus den Falten seiner Gewänder brachte Mikosch ein Stückchen dieser vielbegehrten Näscherei und Ruff verzehrte es voll Behagen. Fernher leuchtete die Glut der brennenden Stadt, weiße Flocken tanzten im purpurnen Schimmer, eisig durch blattleere Äste fuhr sausend und brausend der Ostwind.

»Mikosch«, rief Onnen, »welch ein Opfer bringst du mir!«

»O nicht doch, Herr, nicht doch! Du bist mir lieb geworden, ich will dich deiner Mutter erhalten, der guten Frau mit den sanften Augen und dem Herzen voll Mitleid. Freue dich, jetzt sind wir aus dem von den Franzosen besetzten Gebiete heraus.«

»Schon ganz heraus, Alter?«

»Was das besetzte Gebiet angeht, ja. Aber die Herren unternehmen Beutezüge, um Lebensmittel zu erhalten, und in dieser Weise kommen sie dann allerdings auch hierher.«

»Was uns hoffentlich nicht schaden wird. Sollten wir wohl vor Tagesanbruch noch ein Haus antreffen, Mikosch?«

»Einen Landsitz, dessen Eigentümer freilich den Zigeunern nie Einlaß gewährt. Wir müssen aber unser Heil versuchen!« Onnen erwiderte nichts. Der unerschrockene Mann da vor ihm, der keinen Menschen fürchtete und vor keiner Mühe zurückbebte – er sollte ihn an Mut nicht übertreffen.

Die Gegend war flach und öde, die Luft kalt und Ruffs Pelz so wundervoll warm. Onnen versank immer tiefer in die große Wolldecke und lag endlich mit dem Kopfe auf dem Rücken des Bären, sanft schlafend, ob auch die Flocken ihn von allen Seiten umhüllten und den alten Zigeuner schier in einen Schneemann verwandelten.

Meile nach Meile blieb hinter dem Wagen; vor ihm in einiger Entfernung erhob sich das Herrenhaus eines stattlichen Landgutes. Ein Eisengitter umgab den Park und den Hof, mehrere Hunde bellten schon von weitem den beiden Zigeunern entgegen.

Es konnte jetzt sechs Uhr morgens sein; hinter den Fenstern des vornehmen Hauses brannte bereits Licht.

Mikosch übersah die Gegend, als er plötzlich mit einem halberstickten Schreckensschrei zurückfuhr. Ein Trupp Franzosen, alle in Infanterieuniform, aber trotzdem beritten, ein Trupp von etwa vierzig Mann, näherte sich in gleicher Richtung wie er selbst dem Herrenhause.

»Plünderer!« dachte der Zigeuner. »Nun ist guter Rat teuer – das nächste Dorf liegt zwei Stunden von hier.«

Er sah zu seinem Schützling hinüber. Onnen schlief fest; er war derartig verhüllt, daß ihn kein Auge entdecken konnte.

Mikosch fuhr weiter. Die Franzosen nahmen von ihm gar keine Notiz, sondern ritten der Pforte entgegen, obwohl aus größerer Entfernung als der Zigeuner, welcher um mehrere Minuten früher an das Ziel gelangen konnte.

Der Gaul erhielt ein Zeichen, die Räder drehten sich schneller und Mikosch klopfte an das Tor, ehe einer der Reiter herangekommen war. Zu seinem Erstaunen fand sich die Pforte offen, er fuhr daher hinein und rief mit lauter Stimme einen Knecht, der eben zwei große Hunde an die Kette legte und nun, als er den Reitertrupp sah, heftig erschreckend zur Eisenpforte lief, um dieselbe zu schließen.

Er kam nicht schnell genug. Der vorderste Franzose hatte bereits den Eintritt gewonnen, eine Kugelbüchse wurde dem Leibeigenen entgegengehalten, und unfähig zu irgendeiner Verteidigung mußte er die Schar das geöffnete Tor passieren lassen. Sein lautes Angstgeschrei klang gellend über den Hof dahin. Die Haustür öffnete sich und ein mit einer Kugelbüchse bewaffneter Mann trat heraus, zunächst dem Wagen des alten Zigeuners entgegen.

»Aha!« rief er zornig, »wieder einmal dies Gesindel! Sprich, du Hund, hast du es gewagt, die Franzosen hierherzuführen?« Während er sprach, hatte er eine kleine Metallpfeife hervorgezogen und ließ jetzt kurz nacheinander mehrere schrille Pfiffe ertönen. Der Hof füllte sich mit Leibeigenen; Säbel, Gewehre, Lanzen und Dreschflegel kamen zum Vorschein. Ehe Mikosch Zeit fand, dem fremden Herrn zu antworten, standen mehr als fünfzig Bauern, alle bewaffnet, zwischen dem Hause und den eingedrungenen Franzosen.

»Herr«, sagte Mikosch, »mir sind diese Leute ganz unbekannt, Ich komme aus Moskau und bitte dich nur um einen Trunk Wasser und einen Platz im Stall, damit mein Tier und ich einige Stunden schlafen können.«

Während dieser Worte war Onnen erwacht und sah voll Erstaunen in das feine, energische Antlitz des Fremden. Wo hatte er diese Züge schon früher kennengelernt?

Dann sprach der Gutsbesitzer, gab dem Zigeuner die verlangte Erlaubnis und mit dem ersten Ton seiner Stimme zerriß der Schleier, welcher bis dahin Onnens Erinnerung gefesselt hielt – er wußte jetzt, wer der Fremde sei.

Poppinga und Sohn! –

Zum letztenmal hatte er ihn gesehen in jener Nacht, wo ihn selbst und die beiden Unbekannten die Buttfischer auf ihren Schlitten entführt hatten, als sich der Nebel zum Gebirge türmte und das laute fröhliche Lachen der Schlickfahrer von allen Seiten erschallte.

Dieser Herr war derselbe, welcher in Düke Mommsens Gasthof zu Emden den gefälschten Paß an sich nahm und damit seinen Verfolgern entrann.

Onnen sprang aus dem Wagen und die wenigen Stufen der Treppe hinauf. »Kennen Sie mich nicht mehr, Herr Poppinga?« fragte er lächelnd.

»Was sagen Sie da?«

»Denken Sie an Emden, an einen Knaben, den damals die Franzosen verfolgten, an den Polizeidirektor Lemosy!«

»Alle Wetter – dieser Knabe waren Sie?«

»Ich selbst!«

»Und jetzt brauchen Sie Schutz gegen irgendeinen Feind?« »Wenn auch nicht gerade das, so doch ein Obdach – nur für wenige Stunden!«

»Für so lange, wie Sie wünschen, mein junger Freund; am liebsten behielte ich Sie ganz hier. Jetzt kommen Sie schnell herein – auch der Zigeuner mag in die Küche gehen.«

Mikosch hatte voll Erstaunen diese ihm unverständlichen Worte mit angehört; als er aber bemerkte, daß sich die beiden Männer kannten, pries er im stillen das glückliche Zusammentreffen und wollte gerade den Wagen zum Hofe lenken, als er sah, daß einer der Franzosen vom Pferde sprang und die Stufen hinaufeilte.

»Hab ich dich, Onnen Visser! Zum zweitenmal in vierundzwanzig Stunden«, frohlockte Adam Witt. Hier führte ihm das Schicksal den Gesuchten entgegen, hier fand er den, welchen alle List in Moskau nicht umgarnen konnte.

Seine Hände krallten sich in Onnens Rock. »Mein Herr«, rief er, dem Gutsbesitzer zugewandt, »dieser Mensch ist ein Deserteur, Sie müssen ihn herausgeben!«

Ein gehöriger Stoß mit dem Kolben war die Antwort. Der Herr des Hauses öffnete die Tür, schob ohne weiteres seinen Gast hinein und schloß sie wieder, dann wandte er sich an den Führer der Franzosen mit der Anfrage, was die Herren wünschten.

Der Offizier hatte schon während der ganzen Unterredung Onnens mit dem Gutsherrn seinerseits den Verwalter bestürmt, Lebensmittel und Futter für die Pferde herauszugeben, jetzt wandte er sich an den Eigentümer und drohte mit Gewaltmaßregeln, wenn nicht seinem Wunsche sofort entsprochen werden würde.

Es entstand eine Unruhe, eine Art Vorbereitung zum Kampfe; Gewehre wurden angeschlagen und Säbel geschwungen, herüber und hinüber flogen erbitterte Worte, als plötzlich Mikosch einen Ton hörte, von dem er glaubte, daß derselbe nur in seiner erregten Phantasie bestehen könne.

Es klang, als wenn jemand eine Sense schärft. Einmal und nochmals – der Ton war wirklich vorhanden.

»Alexei!« rief der Alte. »Alexei – sollte er hier sein?«

Und wirklich sah er plötzlich den jungen Menschen. Neben den Pferden der Franzosen erschien das listige Gesicht, sein Abgesandter winkte ihm.

Unvermerkt, während der Streit zwischen dem Gutsherrn und dem Offizier in immer verstärktem Maße fortgeführt wurde, unvermerkt näherten sich einander die beiden Söhne des braunen, wandernden Stammes.

Alexeis Augen glänzten triumphierend. »Goel!« sagte er bedeutsam.

»Was? – Was?«

»Goel, sieh dorthin. Der Mann mit dem Tigergesicht ist Oberst Jouffrin!« »Ah!«

Nur dieser eine Laut drang aus der Kehle des Zigeuners hervor, aber es lag darin eine Welt von Befriedigung, ein Rausch des errungenen Sieges.

Mikosch lockerte das Messer in der Scheide.

Alle Hintersassen des Gutsherrn, Leibeigene und gemietete Tagelöhner, über siebzig an der Zahl, hatten sich jetzt auf dem Hofe eingefunden; es kam zum Handgemenge und von da zum Kampfe; die Franzosen versuchten anfänglich, ihre Gegner niederzureiten, aber das mißlang ganz und gar, darum saßen sie ab und kämpften Mann gegen Mann.

Vier Arme streckten sich aus, um den Obersten zu Boden zu reißen, vier Arme hielten wie eiserne Schrauben seinen zuckenden Körper. Er konnte nicht schreien, ein Knebel steckte ihm zwischen den Zähnen; er konnte nicht aufspringen, denn die Füße waren eng umschnürt.

So trugen sie ihn hinter die Ecke eines Nebengebäudes, ganz wehrlos, jählings überfallen und zu Boden geschlagen, wie das Schicksal den Schuldigen ereilt, gleichviel durch welches Werkzeug, auf welche Weise.

Und hier nahmen sie ihm das Tuch aus dem Munde. Im Donner der Musketenschüsse, des Schreiens, Stampfens und der Pferdehufe ging seine Stimme völlig verloren.

Mikosch beugte sich über ihn, das blanke Messer in der Hand. »Tyrann!« sagte er mit tiefer, vor Erregung unsicherer Stimme, »Tyrann, entsinnst du dich jener Stunde, wo ein armer harmloser Zigeuner mit seinem Wagen dir begegnete und wo du ihn nach dem Wege fragtest? Als guter russischer Patriot konnte und wollte er dir keine Auskunft geben. Was tatst du da, elender Franzose?«

Der Oberst hob den Kopf. Bei allen seinen Lastern war er doch keineswegs feige, auch jetzt loderte in seinen Blicken ein ungemessener Zorn, er lachte höhnisch. »Ich behandelte den Hund, wie er es verdiente. Ein Wolf mehr oder weniger in der Welt, wen kümmert es?«

»Da hast du recht«, nickte Mikosch. »Und nun wisse, du bist der Blutrache meines Volkes verfallen, du mußt jetzt sterben!« Oberst Jouffrin versuchte eine gewaltsame Anstrengung, um sich zu befreien, aber das Messer des Zigeuners hatte bereits seine Brust durchbohrt. Noch einmal öffneten sich die Lippen – ob zum Beten oder Fluchen – aber kein Ton drang hervor. Der »Schinder« hatte aufgehört zu leben.

Unter freiem Himmel, mit durchstochenem Herzen, wie er Barbarin getötet, so ereilte ihn die Rache.

In den Augen des Zigeuners erschien ein Freudenblitz; langsam zog er das Messer aus der Wunde und reinigte es an den Kleidern des Gerichteten. »Das wäre abgetan, Alexei, nun kann mein armer Bruder schlafen, schlafen – und von dem ewigen Glanze träumen! – Auf, Alexei, auf, wir müssen da vorn den Bären ins Treffen führen; es scheint, als wollten die Bauern den französischen Freibeutern erliegen.«

Die Leiche des Obersten ihrem Schicksal überlassend, eilten die beiden Männer auf den Kampfplatz, wo die Soldaten Fuß für Fuß das Terrain eroberten. Wildgewordene Pferde sprengten verwundet, blutend und reiterlos überall umher, die Gartenbeete waren zerstampft, die Fensterscheiben zerschlagen, die Obstbäume beschädigt; der Gutsbesitzer kämpfte mit dem Säbel in der Faust gegen die Feinde, denen im Handgemenge keine Zeit blieb, sich ihrer Feuerwaffen zu bedienen – sie schlugen mit den Kolben gegen die Dreschflegel der Bauern oder rangen mit diesen, bis einer den anderen erwürgt hatte.

Die Kampflinie umgehend, eilte Mikosch zu seinem Wagen und setzte den Bären in Freiheit. Der Maulkorb wurde abgestreift, Stock und Kette entfernt, dann sprang Ruff schwerfällig zu Boden. »Auf, mein Tier«, ermunterte der Zigeuner, »auf! Das sind Feinde!«

Der Bär spitzte die Ohren. Mit einem lauten, gewaltigen Brüllen stürzte er sich in das Getümmel und erreichte sofort, was sein Herr beabsichtigte: die Bauern flüchteten nach einer, die Franzosen nach der anderen Seite.

Mikosch hob ermutigend die Hand. »Diese da, mein Alter, diese sind's! Gib es ihnen!«

Ruffs furchtbare Tatzen streckten die nächsten Gegner zu Boden; den Bauern schien durch diese unerwartete Wendung neues Vertrauen eingeflößt, sie drangen mit verdoppelter Kampflust vor und schon nach wenigen Minuten waren die halbverhungerten, vor Kälte schaudernden Franzosen aus dem Hofe vertrieben.

Krachend flog das große eiserne Tor ins Schloß; eine Wache, aus sechs Leibeigenen bestehend, postierte sich nahe am Gitter, und nun begann alles, was auf dem Gute noch Hände regen konnte, zunächst den vielen Verwundeten zur Hilfe zu eilen. Man trug Freund und Feind in ein Zimmer des Erdgeschosses, wo der Gutsherr selbst die ersten Anordnungen traf; ein Knecht ritt zum Arzte, zehn oder zwanzig andere teilten sich in Gruppen, um die flüchtigen Franzosenpferde einzufangen und sofort zum Tore hinauszujagen. Jedes einzelne trug am Sattel mehrere aufgerollte Leinwandsäcke, in denen jedenfalls die Beute nach Moskau transportiert werden sollte; stattdessen mußten nun viele der Tiere, den Spuren ihrer Genossen folgend, leer in die Hauptstadt zurückkehren.

Der Vorgarten sah aus wie ein Schlachtfeld; Blut stand in Lachen zwischen den Vertiefungen der Steine, Blut hatte die Erde durchsickert; in ganzen Haufen lagen zertretene, zerknickte Büsche und Gesträuche umher. Jetzt kam auch das weibliche Personal des Hauses zum Vorschein, die Gutsherrin und ihre Mägde; man säuberte, glättete und fegte, bis die frühere Ordnung einigermaßen wiederhergestellt war.

Die Toten, vierzehn an der Zahl, lagen sämtlich in einer Scheune, wohl gewaschen und mit gefalteten Händen, jeder ein Sträußchen vom Lebensbaum auf der Brust; so sollten sie am Abend, wenn der Pope des nächsten Dorfes die Einsegnung vollzogen hatte, im gemeinschaftlichen Grabe der Mutter Erde übergeben werden.

Auch Oberst Jouffrin war dabei. Die stumpfsinnigen Leibeigenen glaubten, daß er sich mit der Todeswunde in der Brust noch so weit fortgeschleppt haben könne – sie fragten nicht weiter, sondern trugen ihn zu den übrigen Leichen.

Mikosch und Alexei wurden in der Küche auf das beste bewirtet; Onnen dagegen hatte ein Zimmer im Herrenhause erhalten und stand jetzt nach Beendigung aller dieser aufregenden Szenen, noch geschwärzt vom Pulverdampf, mit zerfetzten Kleidern dem Gutsherrn gegenüber. Sein Auge leuchtete vor Vergnügen; er lachte, als ihm Herr von Bojanoff Vorwürfe machen wollte.

»Aber wie konnte ich denn ruhig und im gesicherten Versteck ansehen, daß alle Männer des Gutes gegen die Franzosen kämpften, während ich selbst untätig dastand!« rief er. »Das durften Sie nicht verlangen, mein Herr!«

Der Edelmann lächelte. »Nun, nun, vielleicht hätte ich ja an Ihrer Stelle gehandelt wie Sie, mein junger Freund, aber dennoch – der Paß, welchen ich damals in Emden aus Ihrer Hand nahm, dieser Paß für Poppinga und Sohn rettete damals meinem Vater und mir das Leben; ich möchte also die Schuld gern so viel wie möglich abtragen, ich will nicht, daß Ihnen unter meinem Dache ein Leid geschieht!«,

»Nun aber«, setzte er hinzu, »machen Sie sich's vor allen Dingen bequem. Hier ist Ihr Zimmer; wenn Sie ausgeruht haben, so kommen Sie zum Essen wieder herunter. Später soll Ihnen dann der Schneider einen neuen äußerlichen Menschen anmessen.«

Onnen dankte gerührt. »Will Mikosch so lange hierbleiben?« fragte er.

»Mikosch? Wer ist das? – Ah so, der Zigeuner. Nun, über alle diese Dinge wollen wir später in Ruhe sprechen; jetzt vergönnen Sie sich nur zunächst eine gründliche Wäsche.«

So war denn Onnen plötzlich aus dem Schmutz und der Niedrigkeit der Zigeunerherberge in die eleganten Räume des freiherrlichen Schlosses versetzt; er aß von Porzellantellern und trank aus geschliffenen Gläsern, die vier Kinder des Gutsherrn kamen zutraulich an ihn heran, alles atmete Wohlhabenheit und Sicherheit, alles stand im schärfsten Gegensatz zu den wilden und schrecklichen Szenen, welche er seit so vielen Monaten durchlebt hatte.

Beim Kaffee erzählte Herr von Bojanoff seinem jungen Gaste die Geschichte der damaligen Reise nach Emden und der Gefahr, welcher er so glücklich durch Heye Wessels Paß entronnen war. »Ich bin aus einer russischen Familie«, sagte er, »aber persönlich von Geburt ein Österreicher. Als Generalleutnant geriet ich bei Wagram in französische Gefangenschaft, wo mir die leitenden militärischen Kreise, namentlich dieser Viktor Lemosy, zu verstehen gaben, daß es für mich von größtem Vorteil sein werde, wenn ich über gewisse Einzelheiten österreichischer Armeeverhältnisse eine vertrauliche Auskunft geben wolle. Meine einzige Antwort war eine schallende Ohrfeige, die Lemosy in Gegenwart dritter Personen erhielt – das verzieh er mir natürlich nicht. Ich wurde sehr streng behandelt, fand aber dennoch Gelegenheit zur Flucht und entkam nach Amerika, wo ich mehrere Jahre lebte; dann starb ein älterer Verwandter, welcher mir dies Gut hinterließ; ich nahm den Platz auf einem nach Hamburg gehenden Schiffe und wollte von dort, mit einem amerikanischen Passe versehen, über Dänemark und Schweden hierher gelangen, aber das Schicksal hatte es vorläufig anders beschlossen. Mein Vater war mir nach England entgegengereist; wir kamen glücklich durch den Kanal und litten dann auf der Höhe von Borkum Schiffbruch. Der Paß und mit ihm mein ganzes Gepäck gingen verloren, ich hatte nur das bare Geld gerettet, allerdings vorläufig das notwendigste, aber dennoch war ich in Verzweiflung; die französischen Behörden ließen niemand ohne Paß des Weges gehen.

»So saßen wir im Gasthof zu Emden, mein Vater und ich, ratlos, immer grübelnd und doch ohne Auskunftsmittel; immer neue Pläne ersinnend und doch überzeugt, daß einer ebenso unausführbar sei wie der andere, bis – Sie kamen!«

»Gottlob!« schaltete Onnen ein.

»Ja, gottlob!« wiederholte innig der Gutsherr. »Wir hatten aus unserem Zimmerfenster gesehen, wie die beiden Lederpuppen in Sicherheit gebracht wurden, wir hörten, wie der Wirt den Leutnant hinter das Licht zu führen suchte, und durchschauten unschwer den Zusammenhang der Dinge. Dieser Paß, zu dem die Inhaber fehlten, mußte in unseren Besitz gelangen!

»Als der Wortwechsel gerade vor unserer Tür immer heftiger wurde, da erschien ich und nannte meinen Vater und mich selbst ohne Umstände Poppinga und Sohn, ich sprach auch von meinem Hause in Emden und – das Weitere wissen Sie.

»Ich kann Ihnen sagen, daß mir das Herz den Kanonen der Feinde gegenüber nie so mächtig schlug wie in dem Augenblick, wo ich Lemosys Züge erkannte! Ein schmachvoller Tod von Henkershand wäre mir im Fall der Entdeckung gewiß gewesen.«

Er nahm die Zigarre aus dem Munde und sah minutenlang stumm vor sich hin; sein Gesicht schien blaß.

»Solche begünstigten und völlig gewissenlosen Kreaturen Napoleons haben leider überall, wohin sie gelangen, gegenwärtig eine unheilvolle Macht«, sagte er dann; »ich hätte jene Ohrfeige mit den ärgsten Martern büßen müssen. Gut, daß Sie kamen, mein junger Freund, gut, daß die braven Buttfischer mit ihren Kreien zur Stelle waren! – Ich habe die Leute später reichlich entschädigt und will auch Ihnen nach Möglichkeit beistehen. Bleiben Sie hier, werden Sie das älteste meiner Kinder und seien Sie mir als solches tausendmal willkommen.«

Er streckte die Hand aus – es zuckte in Onnens Fingerspitzen, als müsse er sie hineinlegen, aber nur einen Augenblick, dann schüttelte er kräftig den Kopf. »Ich danke Ihnen aus Herzensgrund, gnädigster Herr, es ist mein eigenes Glück, das ich hier verscherze, aber – daheim betet die verwitwete Mutter zu jeder Stunde, daß ihr Gott den Sohn wieder in die Arme führen wolle! Ich kann die, welche so Schreckliches ertragen mußte, in dieser letzten Hoffnung nicht täuschen.«

Herr von Bojanoff streichelte lächelnd das erglühende Gesicht seines jungen Gastes. »Ich kann Ihnen nur beipflichten, lieber Visser«, sagte er freundlich, »Sie handeln so, wie es einem guten Sohne geziemt, und der Lohn dafür wird nicht ausbleiben.«

»Da sehe ich aber den Arzt kommen«, setzte er hinzu. »Jetzt muß ich ihn und wahrscheinlich auch gleich den Popen empfangen; das Grab für die Toten wird auf dem Gottesacker schon ausgeworfen.«

Der Nachmittag brach an und die Leichenfeier sollte, sobald der Arzt die Körper der Gefallenen besichtigt hatte, vor sich gehen. Nach und nach kamen aus dem Dorfe die sogenannten Klagefrauen, solche Bäuerinnen, die eine besonders schöne Singstimme haben und daher die Totenlieder vortragen, Dichtungen, von denen man sagen kann, daß sie, nie geschrieben und nie gedruckt, unvergänglich im Herzen des Volkes fortleben und gerade dadurch ihren wahren Wert erhalten. Die Frauen trugen ihren besten Sonntagsstaat und hielten weiße Taschentücher in den Händen; sie wurden zunächst alle in der Küche freigebig bewirtet, dann begann die eigentümliche Feier.

Der Pope hielt eine Rede, in der er von den Wechselfällen des Krieges sprach und von dem Lohne, welcher im ewigen Leben die treuen Diener erwarte, denen hier das schöne Los zuteil geworden, für ihren Herrn und Gebieter sterben zu dürfen; er segnete die Leichen ein und übergab darauf den nun folgenden Teil der Totenfeier den Frauen.

Der Gutsherr und seine Gemahlin hatten in der großen Vorhalle mitten unter dem Gesinde Platz genommen; vor ihnen standen die Klagefrauen und neben diesen lagen in langer Reihe die Opfer des heutigen Morgens.

Eine ganz in Schwarz gekleidete, mit wallendem Schleier umhüllte Frau trat vor. Sie sang an Stelle der hinterlassenen Witwen aller dieser Toten, ihre Hände waren gefaltet, ihre Augen rot vom Weinen; das was sie sagte, kam aus dem tiefsten Herzen, wie denn auch diese Sterbegesänge nie bezahlt, sondern immer nur erbeten werden.

»Die rote Sonne«, so begann der Gesang, dessen Worte Onnen notdürftig verstand, »die rote Sonne hat sich hinter hohen Bergen, hinter wallenden Wolken und rauschenden Bäumen versteckt, sie hat unter den östlichen Sternen ihren Platz gesucht. Mein Mann, mein Ernährer ist dahin, ich bin eine Witwe geworden und meine Kinder sind Waisen! O ich Arme, ich Unglückliche, weshalb ließ ich den Tod in das Haus hinein, weshalb erkannte ich ihn nicht zur rechten Zeit, den Lügner, den Betrüger! Ach, es wäre mir ja gewiß gelungen, ihm sein Opfer zu entreißen, er hätte mit einem minder kostbaren Leben fürlieb genommen, er hätte sich erweichen lassen! – Ich Arme besitze nicht einmal das Bild meines Gatten; was soll ich nun seinen Kindern zeigen, wenn sie erwachsen sind?« Ringsumher seufzte alles. Schwankenden Schrittes näherte sich die Sängerin einer Gruppe anderer Frauen, welche die Nachbarinnen der beraubten Witwe vorstellten. Sie warf sich ihnen zu Füßen und umklammerte ihre Knie. »Verlaßt mich nicht, um Jesu willen, verlaßt mich nicht, sonst bin ich der Verzweiflung überliefert!« In diesem Augenblick trat der Gutsherr vor. »Tröste dich, arme Frau«, sagte er,»tröste dich, suche den Schmerz zu überwinden.« Aber die gesungene Klage wurde nur noch heftiger. »Laß mich weinen, laß mich jammern, oder der Schmerz rafft auch die Mutter dahin, macht unschuldige Kinder ganz zu Waisen, raubt ihnen das letzte!«

Die Nachbarin, deren Knie jene umfaßt hielt, übernahm jetzt die Fortsetzung des Gesanges. »Was soll wohl eine arme Witwe beginnen?« tönte es von ihren Lippen. »Woher soll sie Brot und Kleider nehmen, womit die Söhne unterrichten und die Töchter aussteuern? – Wehe, wehe, auch mein Gatte ging dahin; ich kenne das Los der Verlassenen!«

Sie machte sich mit sanftem Zwange aus den Armen der ersten Sängerin frei und trat zu den Toten. Ihre Hände, weit vorgestreckt, waren gefaltet, ihr Kopf zurückgebogen. »Ach, warum ist der Tod so stumm, so kalt, warum ist es euch nicht gestattet, einen Brief mitzunehmen an meinen Gatten? Ich hätte ihm so gern von den Kindern geschrieben, von der bunten Kuh und dem Pferdchen, das er aufzog, das er liebte! – Ihr könnt keine Briefe besorgen, denn eure Hände sind kalt und eure Augen gebrochen, aber in den Ländern des ewigen Sonnenscheines werdet ihr meinen Gatten sehen – grüßt ihn von seiner Witwe, seinen Kindern, von der bunten Kuh und dem Fohlen!«

Damit war die Trauerfeierlichkeit im Hause beendet; der lange Zug bewegte sich in Sturm und Schneegestöber hinaus zum Dorfkirchhof, wo das große weite weiße Grab wie die verkörperte Öde und Einsamkeit unter den kahlen Baumstämmen dalag. Das ganze Dorf hatte sich eingefunden; viele beraubte Mütter, Frauen und Kinder weinten an den Bahren, viele Männer hatten ihre Brüder, ihre Freunde verloren. Der Pope sprach wieder einige Worte, worauf ihm die erste Sängerin für seinen Segen im Namen der Toten dankte und dann ihre verzweifelten Klagen abermals erschallen ließ. Während derselben wurden die Toten in das letzte Bett gelegt und nun warf sich die Sängerin am Rande der Grube auf ihre Knie, laut den Himmel anrufend, daß er die Heimgegangenen zu neuem Leben erwecken und den Angehörigen zurückgeben möge. »Wir werden sie am Morgen erwarten, am Mittag und am Abend«, schloß sie die rührende Klage, »wir werden uns in der Nacht wachzuhalten suchen, um ihre Ankunft nicht zu versäumen. Gib sie uns wieder, Herr, gib sie uns wieder!«

Schauerlich im Pfeifen und Ächzen des Ostwindes klang die bange Weise; es ging gewiß von allen Teilnehmern des Zuges kein einziger ohne tiefe nachhaltige Erschütterung in das Dorf zurück – für Onnen sollte indessen noch ein unerwarteter Augenblick der Erregung bevorstehen. Als er mit dem Schloßherrn nach Hause kam, da hatten die Knechte in einem Gebüsch vor dem Tore noch eine Leiche aufgefunden, einen jungen Mann, dessen krampfhaft verschlungene Finger das dürre Gras erfaßt hielten, dessen Züge den schweren Todeskampf deutlich erkennen ließen. Eine Kugel war ihm in die Brust gedrungen – er mußte furchtbar gelitten haben. Mikosch sah ihn zuerst, dann winkte er unserem Freunde. »Schau einmal den Burschen an, Herr, ich denke, du wirst ihn kennen!«

Onnen kam näher. »Ist es Adam Witt, Alter?«

Der Zigeuner nickte. »Fühle seinen Rock, Herr! Die Knechte waren schon ganz erstaunt.«

Vor Onnens Blicken lag auf Stroh die Leiche dessen, den er im Leben so tief verachtet, der ihm ohne allen Grund ein Feind und Widersacher gewesen. Adam Witt war tot, der Verräter hatte seine gefährliche Macht verloren.

»Fühle den Rock, Herr«, wiederholte Mikosch.

Onnen fuhr auf; er streckte mechanisch die Hand aus. »Du, Alter, ich glaube, hier sind Goldstücke in das Futter genäht!«

»Hm, ich glaube es auch. Unten und oben, im Kragen und in den Ärmeln, überall sitzen die runden Dinger. Auch die Weste ist ausgestopft, und um den Leib liegt ein breiter Ledergurt! Wenn das die Herren Kameraden gewußt hätten!«

Onnen schüttelte den Kopf; er zog über das entstellte Gesicht des Toten ein Tuch und machte dann dem Gutsherrn die Meldung dessen, was er gesehen hatte. Herr von Bojanoff spielte mit dem Stift in der Hand; er seufzte. »Hat dieser junge Mensch daheim auf Norderney eine arme Familie?« fragte er nach längerer Pause.

»Nur noch seinen Vater, Herr Baron, und dieser ist sehr reich.«

»Gut; dann soll das zusammengeraubte Geld den Witwen und Waisen der heute morgen gefallenen Männer zugute kommen. Wenn wir – was mir allerdings das liebste wäre! – den Schatz mit dem Toten begraben wollten, so würde das nur zu neuen Räubereien Veranlassung geben. Eines Tages wäre das Grab aufgewühlt und die Leiche herausgezerrt – wir wollen das Geld den Hinterbliebenen meiner Bauern geben.«

Für diesen Tag war es zu einer neuen Beerdigung zu spät geworden. Die Kammer, in welcher der Tote lag, wurde verschlossen und eine Wache vor die Tür gestellt; dann versperrte man mit doppelten Eisenstangen das vordere Tor und ließ die beiden großen Bulldoggen schon in der Dämmerung frei umherlaufen.

Während der Nacht schliefen alle Bewohner des Gutes wie Menschen, die geistige und körperliche Anstrengungen durchlitten haben; am folgenden Morgen ließ dann der Gutsherr den Dorfgeistlichen, sowie den Verwalter und den Schreiber kommen, um in Gegenwart dieser Zeugen festzustellen, wieviel Geld bei dem Toten gefunden sei.

Die durchnäßten, blutbefleckten Kleider wurden von den erstarrten Gliedern geschnitten und dann der ganze Inhalt auf einen Tisch gehäuft. Silberne und goldene Münzen, edle Steine und Stücke zerbrochener Schmuckgegenstände, alles von dem Blute des mißleiteten jungen Menschen überströmt, so quoll unaufhaltsam das gestohlene Gut aus den Nähten und dem Futter der Kleidungsstücke, aus dem Ledergurt und den Stiefeln hervor. Tausende lagen da beieinander – ein eisiges Grauen ging durch die Seelen der Männer. Wie viele Tränen mochte der nun Gestorbene um dieser Schätze willen erpreßt haben? Wie viel Elend anderer verklagte ihn vor Gott! –

Das Antlitz der Leiche blieb bedeckt. Die zerfetzten Uniformstücke wurden vergraben und dann ein Sarg gezimmert, um ohne die üblichen Totenklagen und die Begleitung dritter Personen den Verstorbenen, der ja nicht zur russischen Kirche gehörte, am folgenden Tage zu beerdigen.

Nur Onnen gab ihm die letzte Ehre; er begleitete den Sohn seiner Heimatinsel zum Grabe und warf die erste Handvoll Erde auf den Sarg. Mochte ihm Gott ein gnädiger Richter sein! –

Etliche Stunden später ging es dann zur Abreise. Die geschlagenen und stark aufgeriebenen Freibeuter konnten immerhin in Moskau von dem Geschehenen Mitteilung gemacht haben; der Oberst wurde vielleicht vermißt und andere Streifpartien zogen aus, um seinen Tod zu rächen, es war also besser, denselben aus dem Wege zu gehen. Onnen hatte von der Güte des Schloßherrn neue derbe Pelzkleidung erhalten, Mikosch außerdem eine größere Barsumme und alle drei vorzügliche Waffen; so ausgerüstet machten sie sich, nachdem die Räder abgenommen und der niedrige Wagen in einen Schlitten verwandelt worden war, nach herzlichem Abschied wieder auf den Weg.

Herr von Bojanoff hatte sich durch einen reitenden Boten eine Abteilung Kosaken erbeten und auch erhalten. Das Gut war also jetzt vollständig beschützt und vor der Rache der Franzosen gesichert. Unsere Freunde hörten noch, daß das alte Zarenschloß des Kreml teilweise in die Luft gesprengt worden sei, dann flog der Schlitten durch die wirbelnden Schneemassen dahin, und als Onnen den Alten fragte, welchen Weg er jetzt einschlagen wollte, da lachte dieser wohlgefällig. »Es wird überall für uns Brot gebacken, Herr – zunächst muß ich nun in den Winterquartieren meines Volkes vorsprechen, muß sehen, wie die Frauen und Kinder leben.«

»Ganz gut«, rief Onnen. »Wo liegt der Ort?«

»Weit hinaus – und noch weiter geht unsere Fahrt. Laß dir sagen, Herr, daß die Stunde der Befreiung schon heraufzieht, für dein Land sowohl wie für das meinige. Napoleon leidet in Moskau Höllenqualen, er kann die glühende Luft kaum noch atmen, er findet für seinen Tisch keine Speisen mehr, er erhält von unserem Zaren, mit dem er unterhandeln will, keine Antwort.«

»Sprachst du mit den Kosaken, Alter?«

»Ja. Sie waren sehr guten Mutes. Napoleon kann sich in Moskau nicht halten, seine Leute werden reihenweise, tausendweise ermordet – sie gehorchen ihm nicht länger, sie lachen ihren Vorgesetzten ins Gesicht und schlagen die Wachtposten, sie ziehen bandenweise umher und erbrechen ohne Umstände die von ihm errichteten Magazine. Kann es noch ärger werden? Der Tyrann Europas zittert, ich sage es dir!«

Er knallte mit der Peitsche und ließ lustig die Schlittenglocken klingen. Milliarden von Flocken wirbelten durch die Luft und häuften sich auf die Pelzkappen der Männer, hoch in der grauen bleifarbenen Luft krächzte der Rabe und aus den öden Waldungen bellten Fuchs und Wolf.

Wie ein Schatten huschte der Schlitten hindurch.


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