Sophie Wörishöffer
Onnen Visser - Der Schmugglersohn von Norderney
Sophie Wörishöffer

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12

Glühende Sonnenstrahlen versengten die Stirnen, ermattet blieb hie und da ein Soldat am Wege liegen, unfähig, sich weiter fortzubewegen, dem sicheren Tode überliefert.

Niemand bekümmerte sich um ihn. Bisher waren nach militärischem Gebrauche zwei Mann kommandiert, um bei ihm zu bleiben und ihn seinem Regimente wieder zuzuführen, aber diese Rücksicht hatte jetzt gänzlich aufgehört. Man ließ den Gefallenen am Wege liegen und war nur bedacht, vorwärts zu kommen, den französischen Heeresmassen entgegen – nur bedacht, sich selbst auf dem Gebiete der russischen Operationsarmee in Sicherheit zu bringen, ehe vielleicht ein Zusammenstoß und damit die Vernichtung erfolgte.

Massen von Landstreichern bedeckten die Straßen; von Viertelstunde zu Viertelstunde erstatteten die vorausgeschickten Späher ihre Berichte.

Am Wege floß kein Wasser, stand kein Haus – die Sonne brannte in immer heißeren Gluten.

Man mußte rasten, wenn nicht die Leute vor Ermattung sterben sollten.

Auf den Gepäckwagen fieberten die Kranken; stumm, verdrossen lagen die Gesunden, mit den Köpfen auf ihren Mänteln, am Wege. Eine Anzahl Franzosen wurde ausgeschickt, um Wasser zu suchen; die militärische Mannszucht hatte sich bereits derartig gelockert, daß Dinge geschahen, die im Frieden undenkbar wären. Der verhängnisvolle Schritt von dem siegreichen Heere im feindlichen Lande bis zum Räuberzuge schien halb und halb getan; die hungernden unbezahlten Soldaten hielten es nicht länger für notwendig, den Befehlen ihrer Vorgesetzten zu gehorchen.

»Wasser! Wasser!« seufzte Onnen; »es ist mir immer, als sähe ich vom schwarzen Kap auf Norderney hinab zum Meere, als hüpften die weißen Wellen und sprängen hoch auf, wenn sie den Strand erreichen.«

Georg Wessel drückte das Gesicht in die heißen Hände; er murmelte etwas, das wie ein halberstickter Zornesausbruch klang. Feiko zuckte die Achseln. »Und wäre unsere liebe alte Nordsee hier, Kinder, wären ihre Fluten wirklich im Bereiche unserer Hände – trinken könnten wir sie ja doch nicht.« »Da unten bei dem Kieferngebüsch kräuselt eine Rauchwolke«, setzte er dann hinzu, »vielleicht gibt es dort Wasser!« Onnen sah auf. »Jedenfalls Landstreicher«, seufzte er. »O Gott, welch ein entsetzliches Dasein.«

»Laß uns erst einmal hingehen, mein Bester. Komm, komm, man hält es in der glühenden Sonne nicht mehr aus.«

Onnen erhob sich und die beiden Vettern gingen langsamen Schrittes durch ganze Schwärme von Stechmücken zu einem dichten Gebüsch, in dessen Mitte das Feuer brannte. Mehrere magere Pferde weideten das verdorrte Gras, eine Anzahl Wagen stand zusammengeschoben am Rande der Kiefern, zerlumpte Kinder und zahlreiche Hunde tummelten sich auf dem Boden und unter den Rädern umher.

»Zigeuner!« sagte Onnen. »Ich dachte es wohl!«

»Bärenführer!« setzte Feiko hinzu.

Er hatte kaum das Wort ausgesprochen, als ein schlaues Gesicht zwischen den Kiefern hervorlugte. Ein Mann kam zum Vorschein, hinter ihm, auf den mächtigen Pranken stehend, ein Bär. »Ruff! – Das ist Ruff!«

Mikosch, der Zigeuner, lächelte. »Ihr seid durstig«, sagte er, »kommt und trinkt, aber verratet es euren Kameraden nicht! Der arme Bärenführer hat nur wenig Wasser, er kann unmöglich allen Soldaten davon geben.«

»Kennst du mich denn nicht, Mikosch?«

»Gewiß! Du bist der Sohn der barmherzigen Frau, die einst im eisigen Winter auf Norderney meine Kinder kleidete und speiste – um dieses Tages willen gebe ich dir jetzt den Labetrunk, obwohl es die letzten Tropfen sind.« »Habt ihr übrigens auch Hunger?« fuhr er fort »Da liegen Fleisch und Brot – laßt's euch wohlschmecken!«

Die beiden jungen Leute langten zu wie ausgehungerte Wölfe. Kauend und schluckend führten sie die Unterhaltung mit ihren braunen, verschmitzt blickenden Gastfreunden.

»Ziehst du denn auch dem Kriegsschauplatz entgegen, Mikosch?« fragte Onnen.

»Natürlich, natürlich. Viele Köpfe, viele Sinne, weißt du! – Da gibt es allerlei zu verdienen, woran im Frieden kein Mensch denkt.«

»Und sehr viel Beute, nicht wahr!«

Der Zigeuner kniff die Muskeln seines Gesichtes dermaßen zusammen, daß ein Auge gänzlich darunter verschwand. »Der arme Bärenführer ist auch ein Mensch!« antwortete er ausweichend.

Die beiden Deutschen lachten. Sie dehnten sich, gesättigt und durch den Rauch gegen die Mücken geschützt, behaglich auf dem Gras, während Ruff, halb schlummernd, neben ihnen lag. »Höre einmal, Mikosch«, sagte Onnen, »du hältst es mit den Russen, nicht wahr?«

Der Zigeuner wiegte den Kopf. »Wir müssen leben, Herr, wir suchen unsere Freunde, wo wir sie finden – der Krieg kümmert uns nicht.«

»Ah – das ist schade. Ich hielt dich für gut russisch gesinnt, Mikosch!«

Jasko, der ältere Sohn des Bärenführers, hob den Kopf. »Wenn wir es wären«, fragte er blinzelnd, »was könnte dir daran liegen, Herr?«

»Hm – ich suche auch Freunde, ebenso wie ihr! Ich möchte fliehen.«

Feiko sah von einem zum anderen. »Ihr seid russische Spione, Kinder, gebt euch nicht die Mühe, das zu leugnen. Ihr zieht hin und her, um Botschaften zu überbringen; euer Bär ist dabei nur ein Aushängeschild, mehr nicht.«

»Das glaubst du!« lächelte Jasko.

»Nein, das weiß ich ganz gewiß. Hätten wir Geld oder Wertgegenstände irgendeiner Art, so würden wir sie euch bieten, um auf euern Wagen einen Platz zu erlangen und in Zigeunerkleidern aus Rußland zu entkommen.«

Jetzt rückte Mikosch näher. »Geld und Gut braucht es dafür nicht«, sagte er halblaut, »nur Aufrichtigkeit. Ich bin ein Deutscher wie ihr selbst!«

»Du?«

»Ja, ich. Irgendwo trugen die Engel das Kind in die Arme der braunen Mutter, irgendwo tragen sie einmal den Greis zurück in die ewige Heimat; eine bleibende Stätte besitzt der Zigeuner auf Erden nicht. Aber ich liebe die Deutschen und ich bin auch deinen Eltern vielen Dank schuldig – damals war ich sehr, sehr arm! – Deshalb zieht mit uns, ihr beiden Knaben, wohin und auf wie lange Zeit ihr wollt. Der die Sperlinge unter dem Himmel ernährt, wird auch eurer nicht vergessen.«

Das war ehrlich und aufrichtig gemeint; die jungen Leute erkannten es vollkommen, dennoch aber legte Feiko, ehe er einwilligte, die Hand auf den Arm des Zigeuners. »Einen Augenblick, Mikosch! – wir können allenfalls deinen Bären an der Leine führen oder, wenn es hoch kommt, Messer und Kaffeemühlen schleifen, aber die Spionage, und ob es auch gegen unsere Feinde, die Franzosen ginge – die Spionage, mein guter Mikosch, teilen wir mit dir auf keinen Fall.«

Der Zigeuner lächelte behaglich. »Ob ihr's auch verständet, he? Dazu gehört mehr als ein hausbackener Verstand. Man muß sowohl ein altes Bettelweib wie einen Mönch oder einen Blödsinnigen vorstellen können, man muß den Blinden oder den Lahmen spielen und namentlich selbst des Teufels Großmutter nicht fürchten! – Das überlaßt mir, ich bin der König meines Stammes, die Ehre bei der Sache ist für mich allein! Ha, ha, ha, selbst mit den beiden Jungen da, mit meinen eigenen Söhnen teile ich sie nicht!«

Feiko und Onnen wechselten einen verstohlenen, aber sehr zufriedenen Blick. Seine Majestät, König Mikosch mit dem schwärzlichen Antlitz, der Stummelpfeife und den Messingnägeln in den Ohrläppchen, Seine zerlumpte, blinzelnde, schmutzüberzogene Majestät beanspruchte die Ehre des Spiones für sich allein!

»Jeder nach seinem Geschmack!« nickte Feiko. »Du nimmst uns also mit dir, königlicher Herr? Du malst uns braun und leihst uns Gewänder aus der Garderobe deiner Prinzen? Für alle diese Wohltaten soll dir in Deutschland ein klingender Lohn zuteil werden, dessen sei sicher!«

»Aber noch eins!« rief Onnen. »Georg Wessel geht mit uns!«

»Mag auch der Dritte kommen!« nickte Mikosch. »Überall stehen leere Häuser, in denen man schlafen kann, überall ist das verlassene Feld reif zur Ernte und niemand schneidet die Frucht. Kommt nur, kommt nur – dem Napoleon drei Soldaten zu entführen, das ist's gerade, was mir gefällt!«

Feiko sah zum Lagerplatz hinüber. »Wir verkaufen das Fell des Bären, bevor er erlegt ist, wie mir scheint. Erst gilt es zu fliehen!«

»Man wirft sich hin und steht nicht wieder auf, das ist einfach genug.«

Mikosch zeigte mit der Pfeife in die Ferne. »Da unten läßt sich's besser ausführen als hier auf der ebenen Fläche, Kinder. Es kommt ein Tannengrund ohne Straße, lauter Gebüsch und Unterholz, eine wüste Schlucht – dort versucht euer Glück. Der Franzose mit dem Katzengesicht hat Eile, er weiß, daß hier herum jeden Augenblick die Russen auftauchen können.«

Drüben erklang jetzt die Trommel. Es war kein Wasser gefunden worden; die Kranken ächzten, die Gesunden murrten laut – Oberst Jouffrin hielt den Leuten eine Anrede, aber ohne sie wirklich beruhigen zu können. Hunger und Ermüdung sind zwei Feinde, die sich durch Worte nicht verscheuchen lassen.

»Wir müssen fort!« rief Onnen. »Sollen wir dich hier finden, Mikosch?«

Der Zigeuner schüttelte den Kopf. »Ich fahre bis an die Grenze des Tannengrundes – euch zuliebe. Unser Weg geht dann rechts ab, nach Smolensk.«

Feiko und Onnen gaben dem alten Fürsten vom Schleifstein und Schmiedehammer die Hand. »Leb wohl also! Auf Wiedersehn!«

»Auf Wiedersehn!«

Die Trommel rasselte nochmals, dann begann der Weitermarsch. Kleine Vögel flogen vom Boden auf, hie und da segelten Krähenscharen durch die Luft; leise grollend erhob in der Ferne der Donner seine gewaltige Stimme. Eine Wolkenschicht verhüllte das Antlitz der Sonne, hie und da fielen schwere Tropfen.

Die Tannenzweige rauschten und bogen sich im Wind. Kein Weg führte durch die Schlucht – grün und schwärzlich erhob sich das Unterholz vom Boden – nur einzeln, ohne Ordnung, konnten die Soldaten vordringen.

»Mut, Kinder, Mut! In zwei Stunden ist Witebsk erreicht!«

Dichter und dichter fiel der Regen, flammend zuckten die Blitze vom Himmel. »Dieser Tag bringt uns Glück«, raunte Feiko, »wir entkommen schon heute!«

»Wo ist Georg Wessel? – Ich sehe ihn nicht mehr!«

»Jedenfalls hat er sich auf und davon gemacht. Nun bist du an der Reihe, Onnen – wirf dich hin!«

»Erst du, Feiko!«

»Ich will unbedingt der letzte sein! – Ah, sieh da den Blitz!«

Eine große uralte Tanne war getroffen und in der Mitte auseinandergespalten. Dichte, beinahe schwarze Nadeln bedeckten die bis auf den Erdboden herabreichenden Zweige; unter den schweren Massen knisterte es und zischte, dann schlug rote Lohe heraus und der schöne königliche Baum, harzreich und ausgedörrt, brannte von der Wurzel bis hinauf zur Krone.

Der Sturm peitschte die Funken, daß sie sprühend auseinanderflogen; Schlag folgte auf Schlag, Blitz auf Blitz. Hie und da fiel der feurige Regen in eine grüne Krone – gleich einer Fackel streckte der Baum, glutumflossen, seine Zweige zum Himmel empor, feuertriefend und glitzernd, bis die nächsten Stämme erfaßt waren, bis alles brannte, von der heißen blitzdurchfurchten Luft bis auf den Boden, dessen dürres Moos die Funken auffing und weitertrug.

Der Sturm drang den Soldaten entgegen; je schneller sie vorwärtseilten, desto sicherer entrannen sie dem Verderben. Es bedurfte in diesem Augenblick keines Kommandos; trotz Hunger und Müdigkeit liefen alle, um dem toddrohenden Bereiche der Flammen zu entkommen.

Gebüsche und Stämme trennten den einen von dem andern; Offiziere und Unteroffiziere mußten ihre Kompanien zerstreut sehen, der Marsch war binnen wenigen Minuten zur regellosen Flucht geworden.

»Jetzt, Onnen – krieche dort durch die Büsche und halte dich dann an einer sicheren Stelle verborgen!«

Unser Freund übersah die Umgebung. Hinter ihm brannte alles, vor ihm führte eine Art von Schlucht bergab in das Tal – er stürzte vorwärts auf gut Glück hin, schien zu stolpern, fiel und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen.

Neben ihm, über ihn hinweg sprangen andere. Das Rauschen der brennenden Tannen drang schauerlich nahe in sein Ohr, immer mehr Bäume wurden ergriffen, heiße Luftwogen schlugen über ihn hinweg – eine Hand rüttelte seinen scheinbar leblosen Körper.

»Steh auf, Kamerad, steh auf, du kannst hier nicht bleiben!«

Es war ein Landsmann, der sich mitleidig über ihn herabneigte; Onnen fühlte, wie sein Herz zum Zerspringen schlug. Um keinen Preis durfte er antworten.

»Mille tonnerre, lassen brûler den Kerl! En avant! En avant!«

Ein Unteroffizier trieb mit blanker Waffe die Soldaten vor sich her. Einige Nachzügler folgten, dann wurde es still um den wie tot Daliegenden. Roter Schein fiel auf das Moos, glühende Luft prickelte seine Stirn, der starke Duft des brennenden Harzes versetzte den Atem.

Vorsichtig sah Onnen umher.

Die letzten Schritte der Soldaten waren verhallt, niemand befand sich mehr in der Nähe, kein Auge konnte ihn sehen, kein Ohr ihn hören.

»Feiko!« rief er.

Keine Antwort.

Es war unmöglich, noch länger so liegen zu bleiben. Die nächsten Gebüsche brannten schon, der Sturm trieb nach allen Seiten ganze Schauer von Funken; Onnen sprang auf, packte das Gewehr und eilte fort, nach den ersten Schritten aber blieb er schon wieder stehen. Sollte er die Waffe mitnehmen?

Nein! Sie flog in das Gebüsch samt Kaskett und Seitengewehr, ebenso Patrontasche und Riemen – nun war er frei.

Vor ihm brannte es überall. Er schlug sich nach der Seite hin durch das Unterholz, durch regennasse Zweige, über umgestürzte Baumstämme und mit Gestrüpp bewachsene Erdwälle. Welche Richtung war die, in der er den Wagen des Zigeuners zu finden erwarten durfte?

Wie die Blitze blendeten! Das Rollen des Donners und das Brausen in der Luft mischten sich zu einem einzigen anhaltenden Getöse; nach der unerträglichen lähmenden Schwüle folgte ein Unwetter, dem die stärksten Stämme nicht zu widerstehen vermochten.

Es erfüllte die Seele des einsamen jungen Mannes mit unabweislichem Grauen. Im fernen Lande so ganz allein, so ganz verlassen, der einzige Freund ein Zigeuner, die einzige Hoffnung die auf seine Treue – wahrlich, viel ärmer konnte er nicht mehr werden.

Aber doch bewahrte er einen ruhigen Mut. Wenigstens die Franzosen, die Mörder seines armen Vaters, würden ihm nun nichts mehr anhaben, ein quälender Gedanke war jetzt von seiner Seele genommen. Neun oder zwölf Leute aus dem Regimente des Obersten hatten damals auf Norderney die Exekution an den Schmugglern vollzogen, aber welche? – Das wußte er nicht; vielleicht gingen sie Seite an Seite mit ihm, vielleicht scherzte und lachte er mit ihnen. Gottlob, das war vorüber.

In der Ferne erhob sich zwischen Stämmen und Gebüschen plötzlich Feikos hochgewachsene Gestalt; mit einigen schnellen Sprüngen hatte er den jüngeren Vetter erreicht. »Da bist du ja, Onnen! Komm rasch, der Zigeuner wartet.«

»Und Georg – ist er auch da?«

»Wohlbehalten. Der brave König verwandelt ihn eben in einen braunen Sohn der wandernden Bande.«

Onnen lachte. »Dem Himmel sei Dank, Feiko. Nun sind wir frei!«

»Hurra, hurra! – Gott verläßt doch keinen Deutschen.«

In geringer Entfernung standen die Klepper des Zigeunerkönigs, seine Wagen, Kinder und Hunde samt den drei Frauen, alles von Schmutz überzogen, bunt in Lappen und Fetzen gehüllt, aber lustig und treuherzig. Die ganze Familie jubelte den beiden jungen Leuten entgegen, Ruff spendete ihnen sogar eine Bärenverbeugung und erschien, in der Meinung, fremde Gäste vor sich zu haben, mit dem Sammelteller.

Hinter einem der wie bewegliche Trödelbuden aussehenden Wagen zeigte sich ein schlanker junger Zigeuner mit dem Ring, an welchem Messer und Scheren hingen. »Nichts zu schleifen, meine Herrschaften?«

Die Stimme verriet ihn. »Georg Wessel! – mein Gott, wir hätten dich wahrlich nicht erkannt.«

»Das ist mir sehr lieb. Fahrt nur gleich selbst in die braune Haut hinein, damit wir einmal vom Fleck kommen.«

Die Verwandlung war schnell vollbracht, irgendwo in den Tiefen der Wagen fanden die französischen Uniformen ein Versteck; seltsame Kaftane und lange Großvaterröcke umhüllten die jungen Leute, dann ging es fort, so schnell die Gäule laufen wollten.

Der Regen fiel unablässig auf die schutzlosen Menschen, aber trotz dieser Sintflut schienen alle in der besten Laune. Ach, wie behaglich lag sich's auf dem nassen Stroh, wie schön war es, die Franzosen nun so weit entfernt zu wissen!

Allmählich sank der Abend herab; nach dem Gewitter glänzte blau und sternenhell der Himmel, wie ein freundliches Gesicht lächelte der Mond.

Alles Leben entfaltete neu erfrischt seine Schwingen. Über das Feld lief hurtig der Hase und spitzte horchend die Ohren, sobald das Fuhrwerk nahte; Scharen von Hühnern schwirrten durch die Luft, große Nachtfalter taumelten zwischen Blatt und Blüte.

Immer weiter, weiter. Erst gegen Morgen konnten die Wagen ihr Ziel erreichen, Stunden mußten noch vergehen, bis die Klepper wieder ausruhen durften.

Zuweilen streiften große gelbgraue Tiere den Weg, dann bellten alle Hunde, die Pferde schüttelten schnaufend die Köpfe und Mikosch schlug mit der Peitsche, daß es knallte.

»Wölfe«, sagte er, »feiges Gesindel. Im Sommer fürchtet sie niemand.«

Onnen schloß die Augen. Schlafen wollte er nicht, nur so recht behaglich in vollen Zügen die kühle Nachtluft genießen. Eine der Zigeunerinnen sang mit halber Stimme ihr kleines Kind in Schlummer, – merkwürdig, wie die leisen getragenen Töne das Bewußtsein umhüllten. Onnen wachte nach seiner eigenen Meinung ganz vollständig, aber doch mischten sich in seine Gedanken die Bilder ferner Tage, er sah das Meer und die Dünen, er schaukelte auf den Planken der »Taube« über dem Ozean und sprach mit den Freunden längst entschwundener glücklicher Kinderzeit. Wie seltsam, auch der tote Vater lebte wieder und legte ihm lächelnd seine Hand auf die Stirn. »Ich bin immer bei dir, Onnen, mein Junge, immer!«

Leise sang die Zigeunerin, leise, bis auf ihren Lippen der Laut erstarb. Im nassen Stroh schliefen Kinder und Erwachsene, nur Mikosch wachte und sah spähend durch das Halbdunkel der Mondnacht, zuweilen lächelnd, als erwarte er etwas sehr Angenehmes.

Die kleinen Pferde trabten unermüdlich. Es wurde heller und heller, ein Stern nach dem andern erblich, da glaubte Onnen im Schlafe plötzlich ein dumpfes Rollen und Brausen zu hören. »Sturm!« flüsterte er im Schlafe, »Sturm! – Und wir fahren durch das Kattegatt! Feiko, laß wenden, ehe es zu spät ist!«

Dann erwachte er jählings. Die ersten Strahlen der Sonne fielen auf ein buntes bewegtes Bild, auf Bärenmützen und lange glitzernde Lanzen; unübersehbar zeigte sich die Straße bedeckt von den kleinen windschnellen Steppenpferden.

»Kosaken!« sagte Mikosch. »Donsche Kosaken! Heisa, ein stattliches Heer!«

Tausende bevölkerten die Straße, schöne kräftige Männergestalten mit sauberen Uniformen und in strammer Haltung. Da gab es keine Risse und Flecke, keine verhungert aussehenden Gesichter; dem Zuge folgte eine Reihe von Gepäckwagen, auf denen sich starke Vorräte stapelten; die Leute sangen mit den Pfeifen zwischen den Lippen, sie riefen allerlei Scherzworte herüber, die Mikosch ebenso lustig zurückgab.

In einiger Entfernung erhob sich ein Kirchturm und bald darauf auch die Dächer eines großen, ganz aus Holz erbauten Dorfes. Das Morgenglöcklein erklang, die Bauern eilten zur Frühmesse in die Kapelle, deren Türen weit offen standen.

Beim Anblick der Kosaken brachen Jubelrufe über aller Lippen. Ein brausendes Hurra empfing die Söhne der Steppe auf ihrem Wege zum Kriegsschauplatz, zur Befreiung des Landes von Not und Verderben; jeder Bauer führte sich so viele Soldaten, als seine Isba fassen wollte, unter das Dach von Stroh und Schindeln, jede Frau spendete, was Küche und Vorratskammer vermochten.

Hierher waren die Franzosen bis jetzt nicht gekommen, aber man hatte schon längst in großer Furcht gelebt und freute sich nun doppelt der schützenden Nähe treuer Freunde.

Auch die Zigeuner erhielten aus den vollen Schüsseln und Krügen ihren Anteil. Man wußte, daß Mikosch und seine Söhne die Geige zu spielen verstanden, ein paar junge Burschen schlossen sich ihnen an und durch das ganze Dorf erklangen die lustigen Weisen.

Vor Abend sollte der Zug weiterreiten, aber bis dahin hatte man Zeit, ein Fest zu feiern, das schon seit länger als einer Woche im Kalender angezeigt war, dem sich die Leute aber unter dem Druck der bangen Ungewißheit nicht hinzugeben wagten – das Totenfest.

Die Kosaken verstummten, als der Dorfälteste das Wort aussprach, die Musikanten fiedelten nicht mehr, tiefer Ernst legte sich auf alle Gesichter. »Das Totenfest! Nicht viele Russen können es in diesem Jahr feiern.«

»Auch wir nicht, wir nicht! Es ist weit bis zu unserer Stanitza am Don!«

»Und doch brauchen wir die Fürbitten der Toten so notwendig.« »Alle Heiligen beschützen uns!« fuhr der Dorfälteste fort. »Wir Russen sind Brüder, Freunde, ob auch des einen Wiege am Don stand und die des andern an der Wolga – feiert euer Totenfest mit uns, ihr Kosaken und betet zu den eurigen, indes ihr auf unseren Gräbern sitzt. Die seligen Geister hören's und sehen's überall, denke ich!«

Der Vorschlag wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen, und nun entwickelte sich eine Szene, die in ihren Vorbereitungen den Deutschen so unverständlich blieb, daß sie sogleich Erkundigungen einzuziehen begannen.

»Mikosch, bist du eigentlich ein Christ?« fragte Onnen.

»Ganz gewiß. Meine Kinder sind sämtlich getauft, eins in Ungarn, eins hier, das dritte in Schottland. Weshalb interessiert dich das?«

»Weil ich wissen möchte, was diese Leute unter dem Totenfest verstehen?«

Mikosch lächelte. »Ihr könnt ja hingehen und euch auf dem Gottesacker die Feierlichkeit nach Belieben ansehen. Nur vergeßt nicht, ein Stück Brot und Fleisch mitzunehmen.«

»Brot und Fleisch?« wiederholte Onnen. »Auf den Kirchhof?«

»Ja. Geht nur hin. Man gibt auch dem armen Zigeuner auf jedem Grabe gern ein Plätzchen, um zu beten.«

Onnen schüttelte den Kopf; Das klang merkwürdig genug.

Unterdessen vollzog sich zwischen den Dorfhütten eine komische Szene. Vorsichtig wie alle Bauern hatten die Leute ihre Vorräte aus Angst vor den raubgierigen Franzosen vergraben und öffneten nun die unterirdischen Vorratskammern, um Würste und Schinken, Speck und Butterfässer, Brot und dickbäuchige Branntweinkruken hervorzuholen. Auch Eingemachtes kam zum Vorschein, trockene Fische, Früchte – die Lebensmittel türmten sich auf den die Hütten umgebenden Höfen zu ganzen Bergen.

Jeder Kosak bekam seinen Anteil, ebenso die vermeintlichen und wirklichen Zigeuner; ein Ackerwagen wurde mit Garben beladen, einige Stücke Vieh aus den Ställen hervorgeholt und zu guter Letzt eine Drehorgel herbeigeschafft. Die Einwohner ergriffen Tische und Stühle, und mit flatternden Fahnen setzte sich ein Zug in Bewegung, wie ihn die christliche Glaubensgemeinschaft keines Landes der Welt jetzt noch kennt und besitzt.

Voran schritt der Pope, hinter ihm die Fahnenträger und das ganze Volk samt Tausenden Donscher Kosaken. Mütter hielten ihre kleinen Kinder auf den Armen, Blinde wurden geführt, Greise und Lahme wurden getragen – so ging es zum Gottesacker.

»Begreifst du die Geschichte?« flüsterte Feiko.

»Ich bitte dich, auch die Ochsen werden hierher getrieben!«

»Und da kommt der Schutzheilige des Dorfes!«

Ein großes Kirchengemälde, den heiligen Nikolaus vorstellend, wurde von mehreren Männern in der Mitte des Gottesackers aufgerichtet, und nun begann die Prozession der Gläubigen, während der Pope betete und die Anwesenden segnete. Viele von den bärtigen Kosaken küßten inbrünstig die Füße oder das Kleid des Heiligen, viele Frauen weinten laut; die Furie des Krieges durchzog ja mit lodernder Fackel das Land – es gab wenige Personen, die nicht für diesen oder jenen Angehörigen, für ihren Besitz oder ihre persönliche Sicherheit fürchteten.

Dann folgte das Gebet auf den Gräbern. Jede Familie brachte Tische und Stühle in die Nähe des Kreuzes, unter dem ihre Angehörigen schlummerten, und zu jeder gesellten sich so viele Kosaken, wie der Raum zu fassen vermochte. Auf einem Hügel im Hintergrunde stand der Erntewagen mit den Ochsen; von Gruppe zu Gruppe ging spielend der Orgeldreher.

Zwischen den Gräbern tummelten sich lachende Kinder, pflückten Blumen und tanzten, während alle Erwachsenen aßen und tranken, den abgeschiedenen Seelen ihrer Toten zu Ehren. Was jeder einzelne wünschte, das vertraute er in Gedanken oder laut redend den Gestorbenen, die im Leben seine Nächsten waren, das erzählte er ihnen und bat sie, die Sache vor den Thron des Weltenschöpfers zu bringen.

»Du ruhst weit von hier an den Ufern des Don, mein alter Vater mit dem weißen Bart und dem Herzen voll Gerechtigkeit, du ruhst weit von hier, aber die Ohren des Geistes hören durch alle Entfernungen, sagt der Pope – ich bitte dich also, sprich für mich bei dem heiligen Sergius, daß mein Roß und ich glücklich heimkehren in die Stanitza auf der Steppe!«

»Heilige Barbara, meine Schutzpatronin, sieh, ich esse hier ein großes Stück Fleisch auf dem Grabe meines Kindes, damit du dem Engelchen, das ja, als es starb, noch nicht sprechen konnte, freundlich den Weg zeigst zu Gottes und des Herrn Christus Thron. Auch mein zweites Kind ist kränklich und schwach, aber ich liebe es doch so sehr, ich wollte es so gern behalten! Heilige Barbara, hilf, daß die Bitte eines armen Weibes erhört werde!« »Pawlik!« schluchzte eine Frau in Witwenkleidern, »Pawlik, laß deine Seele mir beistehen, wie es deine Fäuste zu Lebzeiten immer taten! Man pfändet meine Hütte, ich bin in großer Not, Pawlik – hilf mir doch!«

Zwischen jedem Satze würgte das arme Weib irgendeinen Bissen von etwas Genießbarem hinab, offenbar bemüht, dem Heimgegangenen damit die landesübliche Ehrenbezeugung zu erweisen, obgleich sie vor Kummer kaum zu schlucken vermochte. Neben ihr stand ein blondes Mädchen mit gefalteten Händen und blassem Gesicht, ohne zu essen oder zu trinken.

»Mütterchen, mein süßes Mütterchen, verschaffe mir doch einen Dienst bei guten Christen, ehe der Herbst und die Kälte kommen. Niemand will mich nehmen, weil meine Brust so krank ist, Mütterchen – ich kann auch nichts essen, gar nichts, Mütterchen, es ist mir so weh ums Herz, aber du weißt ja, wie sehr dich dein Kind liebt!«

Weiterhin standen zwei halberwachsene Knaben. Ihre jungen Augen glänzten, ihre Gesichter waren gerötet, sie verzehrten große Portionen Pfannkuchen.

»Heiliger Christoph, du weißt, daß von unserer Familie niemand gestorben ist, wir können also auch zu keinem Toten beten, aber schenke du selbst uns scharfe Schwerter und gute Kugelbüchsen; wir möchten gern die Franzosen zum Lande hinausjagen helfen. Amen!«

Luiz, der junge Zigeuner, übersetzte unseren Freunden alle diese verschiedenen, mit Inbrunst und leidenschaftlichem Flehen vorgebrachten Bitten – die Deutschen fühlten schon nach ganz kurzer Zeit, daß sie unvermerkt in den Bann der Stunde mit hineingezogen wurden.

Auf Gräbern zu essen und zu trinken, das schien ihnen anfänglich eine empörende Entheiligung, aber der erste Eindruck verwischte sich bald. Die armen unwissenden Menschen beteten so innig, waren von der Wirksamkeit dieses Festessens auf dem Kirchhofe so vollkommen überzeugt, daß schon die Weihe einer solchen Empfindung sie beglücken mußte. Das Gebet aus gläubigem Herzen ist immer echt, es enthalte was es wolle, es erscheine dem andern töricht oder gut – Gott wird es hören.

Sie dachten an die Gräber ihrer ermordeten Väter, die beiden jungen Leute; Georg Wessel durchlebte im Geiste die bittere Abschiedsstunde im Schiffsraum der »Hortense« – ihre Herzen schlugen höher, ihre Lippen hatten das Lächeln vergessen.

Dann sprach der Pope ein Gebet für alle, zu allen. Er schilderte die drohenden Gefahren des Krieges, er bat die ewigen Mächte, den russischen Waffen zum Siege zu helfen, und andächtig, lautlos horchten die Bauern. Dieser Teil der Feier war ein gemeinschaftlicher, diese Bitte betraf das geliebte Vaterland und alt und jung stimmte freudig in das Amen, dessen dreimalige Wiederholung den Gottesdienst beschloß.

Die Sonne sank langsam herab, purpurne Lichter verstreuend, ein runder Ball, dessen Strahlen in einen blauen stillen See zu tauchen schienen. Wie ein Feuermeer unter dem Wasser brannte die Glut, den Gottesacker hell umleuchtend, die betenden Menschen und die Ochsen, denen zuletzt der Inhalt des Erntewagens preisgegeben wurde. Das Vieh und die Felder, die seelenlose und die unbelebte Schöpfung waren auf diese Weise mit hineingezogen in den Kreis des Flehens, das zu Gott empordrang, zu dem Schöpfer und Erhalter aller Dinge.

Ein Hornsignal erklang vom Dorfe. Die Kosaken mußten weiterziehen, der Begegnung mit dem Feinde, dem gehofften Siege entgegen. Alles gab ihnen das Geleite, jede Hand spendete Gaben, bis zu den kleinen Kindern, die Blumen brachten, zu den Knaben, die Eichenzweige an die Bärenmützen befestigten und sehnsuchtsvoll mit scheuer Hand die Waffen, die stählernen, glänzenden, berührten.

»Lebt wohl, lebt wohl und alle Heiligen beschützen euch!«

»Betet für Rußland, ihr Leute. Hoch unser Zar!«

Ein brausendes Hurra durchlief die Reihen, Abschiedsgrüße flogen herüber und hinüber; wie Millionen Goldfunken glitzerte und glühte es auf den Lanzenspitzen.

»Lebt wohl! Lebt wohl!« Tiefe Stille folgte dem Scheiden des Regiments. Kopfschüttelnd sah Mikosch den Reiterscharen nach. »So viele, viele tapfere Knaben werden untergehen, so viele glänzende Augen im Tode brechen müssen! – Ach, es ist traurig, unsagbar traurig.«

»Aber doch eine geheiligte Aufgabe, Alter! – Möchten wir so daher sprengen und die Franzosen über Deutschlands Marken hinauswerfen können, ich bezahlte es gern mit meinem Leben.«

Der alte Mann seufzte. »Ein Zigeuner hat kein Vaterland«, sagte er. »Seine Augen sehen Europas Reiche von Finnland bis nach Italien, sie lernen hier diese Schönheit kennen und dort jene, hier die eine Völkertugend, dort die andere – weshalb muß es Krieg und Zerstörung geben? Gott wollte die Menschen zu Brüdern erschaffen!«

Er ging fort, um seine Pferde anzuschirren. Die Nacht mußte mondhell werden; man konnte reisen und unterwegs im dichten Walde zu einer anderen Abteilung wandernder Zigeuner stoßen. Das Stelldichein war verabredet; König Mikosch wollte Wort halten.

»Wohin fahren wir eigentlich?« fragte Onnen.

»Über Smolensk nach Moskau. Das weitere wird sich finden; wir müssen sehen, wer den Sieg behält, Napoleon oder der Zar.«

»Und schließlich bringst du uns an die deutsche Grenze, Alter?«

»Oder an ein Schiff, wie sich's eben macht. Ich kenne in jeder Stadt zuverlässige Leute, ich habe Freunde überall.«

Ruff ging, nachdem er getanzt und verschiedene Kunststücke vorgetragen hatte, mit dem Sammelteller umher und erntete reiche Gaben. Die Leute standen vor den Türen, sie sprachen von Krieg und Frieden, sie trugen noch alle die Erinnerung an den durchlebten Tag frisch im Herzen – solche Stimmung macht freigebig, verwischt den Geiz und den Ärger.

Die Wagen krochen im Schneckenschritt davon. Kinder und Erwachsene hatten reiche Geschenke erhalten, alles zählte Geld und sang und sprang vor Vergnügen.

Jasko spielte die Geige. »Es geht jetzt durch den Wald«, sagte er, »wir haben wenigstens acht Tage vor uns, in denen kein weißer Mensch und kein Haus uns begegnet.«

»Aber dafür andere Zigeuner?«

»Der ganze Stamm, ja.«

»Könnte man doch nach Hause schreiben!« dachte Onnen. »Was würde meine arme gottesfürchtige Mutter sagen, wenn sie mich unter Halbwilden wüßte!«

Aber er sprach es nicht aus. Die braunen Nomaden waren im Augenblick seine einzigen Freunde und er hütete sich, sie zu beleidigen.

Ein stolzer, echt nordischer Wald zeigte sich den Blicken. Hohe uralte Eichenstämme wiegten ihre Kronen im Wind, ein brauner Blätterteppich bedeckte den Boden, hie und da erschienen zwischen dem Grün die ersten, vom Sonnenbrand rotgefärbten Schattierungen. Der Specht hämmerte an den Rinden, die Taube gurrte; im tiefsten Schöpfungsfrieden lag unter den Strahlen des aufgehenden Mondes die Natur.

Dichtes Moos bedeckte den Weg. Im Walde war es fast dunkel; die Zigeuner führten jetzt ihre Tiere und befestigten auf den Wagen kleine Laternen, während Ruff ohne Maulkorb an der Kette ging.

»Das ist der Wölfe wegen«, erklärte Mikosch. »Sie fürchten den überlegenen Feind ihres Geschlechtes.«

Es flatterte und zwitscherte unter den Zweigen, es raschelte im Moos. Hie und da zeigten die Wurzelüberreste stolzer Stämme, daß der Mensch seinen Bedarf an Brennholz da genommen hatte, wo er ihn zunächst fand; endlich hörten auch diese letzten Spuren menschlicher Tätigkeit ganz auf und das Gebiet des Urwaldes begann.

Füchse bellten in weiter Ferne; es raschelte und ein Geweih durchbrach die Zweige. Flüchtig wie der aufgeschreckte Vogel setzte ein Hirsch in Sprüngen davon.

»Jagt ihr niemals das eßbare Wild?« fragte Feiko.

»Nie. Irgendwo bei den Bauern findet sich schon etwas Fleisch; im Lager unserer Freunde wird es euch an nichts fehlen.« Die Deutschen sahen einander an. »Man jagt in den Hühnerhöfen oder Ställen der Landleute«, raunte Onnen. »Das ist bequemer.«

Mikosch besaß eine Uhr und diese zog er jetzt hervor. »Gleich elf! – Etwas nach Mitternacht werden wir den Stamm erreicht haben.«

Seitwärts zwischen den Bäumen sprang eine Quelle aus dem Boden hervor und plätscherte lustig zu Tal. Ein Höhenzug begrenzte den Weg, ganz oben wob der Mond seine Silberschleier um die Wipfel.

Zuweilen richtete sich der Bär plötzlich auf und brummte, dann erklang aus den Büschen ein Ton wie verdrießliches Wimmern – die Wölfe flüchteten in ihre Verstecke.

Breiter, immer breiter wurde der Quell; Blumen blühten an seinen Rändern, üppiges Schilf und Binsen mit wehenden Schäften. Wilde Schwäne tauchten auf und erhoben sich mit lautem Schrei hoch in die Luft, Scharen von Enten schwammen schnatternd zwischen den Halmen, gefolgt von ihrer zweiten Brut, kleinen gelbgefiederten Vögelchen, die hastig den Alten nachsegelten.

Durch die Stämme schimmerte ein heller Punkt wie ein Auge oder wie ein Stern, zuweilen verdeckt und dann plötzlich wieder erscheinend, größer, glänzender, endlich ein Feuer, dessen Flammen den Rauch wie eine halbgeneigte Riesenfeder hinaufsandten gegen den sternenbedeckten Nachthimmel.

Mikosch deutete mit dem Peitschenstiel hinüber. »Da sind sie!« sagte er.

Der Wald wurde offener, freier, der Bach dehnte sich zum See, von nickendem Schilf umrahmt; eine weite Lichtung lag vor den Blicken der Ankommenden. In dem inneren Teile derselben brannte das Feuer, zwölf bis zwanzig Zelte standen nebeneinander, man sah die hingestreckten Gestalten mehrerer Männer, aber kein Ton wurde gehört, kein Willkommenruf begrüßte den Anführer des Stammes.

Mikosch schien unruhig zu werden. »Hallo!« rief er. »Alexei!«

Ein hochgewachsener Mann erhob sich und ging den Wagen entgegen. »Vater Mikosch«, sagte er, »du kommst zu den deinen in böser Stunde.«

»Weshalb?« fragte hastig der Zigeuner. »Ist jemand gestorben?«

»Du errätst es«, zögerte Alexei. »Das Unglück wird dich sehr betrüben, Mikosch.«

Der Alte ließ den Peitschengriff aus der zitternden Hand fallen. »Barbarin, mein Bruder!« stammelte er.

Das Schweigen des anderen bestätigte seine schlimme Ahnung. »Wie konnte es nur geschehen?« fragte er hastig. »Barbarin war jünger als ich!«

»Er ist auch keines natürlichen Todes gestorben, Mikosch. Uns begegneten Franzosen, sie hielten Barbarin für einen russischen Spion – ihre Kugel steckt in seiner Brust.«

Unter den Zeltdächern war es während dieses kurzen Gespräches lebendig geworden; eine Anzahl von Männern umringte den Häuptling, spannte die Pferde aus und brachte Nahrungsmittel herbei. Die Leute schienen auf den ersten Blick die Verkleidung der Deutschen zu durchschauen, sie stellten keinerlei Fragen, sondern boten ihren Gästen Brot und Fleisch neben den Überresten einer schwärzlichen Suppe, die im Kessel am Feuer brodelte.

Wo sie schlafen wollten, das schien man ihnen selbst zu überlassen. Die Zelte beherbergten offenbar nur Frauen und Kinder; jeder Mann streckte sich auf das Moos, wo er gerade ging und stand.

Mikosch nahm von alledem keine Notiz. Auf einer kleinen Anhöhe, etwas vom Feuer entfernt, lagen Bärenfelle ausgebreitet und auf diesen ruhte, verhüllt von einem roten Tuche, eine menschliche Gestalt. Blumen und bunte Bänder waren phantastisch ringsumher ausgebreitet, mehrere Waffen lagen zu Füßen des Toten, ein großer Wolfshund kauerte daneben, ohne sich von seinem Platze entfernen zu lassen.

Mikosch zog mit leiser Hand das Tuch herab. »Barbarin«, sagte er traurig, »o mein Bruder, mein letzter Bruder!«

Er setzte sich neben den Toten und nahm eine seiner erstarrten Hände. »Wie mich das Unglück erschreckt hat, Alexei! – O lieber Gott, vor wenigen Wochen verließ ich ihn gesund und lebensfrisch!«

»Er war es noch bis gestern nacht, Mikosch. Die Franzosen haben ihn gemordet.«

Der Zigeuner senkte den Kopf. »Auch ihn«, murmelte er, »auch ihn. Die Schuldenlast wächst furchtbar und sie soll getilgt werden, ja, sie soll getilgt werden!«

»Wie kam es?« setzte er dann hinzu. »Was begehrten die Franzosen von dem armen Barbarin?«

Alexei ballte die Faust. »Wir begegneten einem ihrer Regimenter«, antwortete er, »es war vom Wege abgekommen und in einen Sumpf geraten, ihm fehlte ein ortskundiger Führer. Da winkte der Kommandeur deinem Bruder und gebot ihm, die Truppen nach Witebsk zu bringen, aber Barbarin weigerte sich dessen. Als Russe wollte er den Feinden des Vaterlandes keine Dienste leisten. Du würdest ebenso gehandelt haben, Mikosch!«

»Gewiß!« nickte der Zigeuner, »gewiß!«

»Barbarin behauptete, selbst den Weg nicht zu kennen«, fuhr Alexei fort, »und da erschoß ihn der Franzose auf dem Fleck. Es war nur eine einzige schnelle Bewegung, niemand konnte voraussehen, was folgen würde.«

Mikosch sah schweren Blickes empor. »Hat keiner von euch den Namen des Mörders erfahren?« fragte er die übrigen.

»Doch, Mikosch. Er heißt Oberst Jouffrin.«

Das Auge des Zigeuners blitzte plötzlich auf. »Der also!« rief er. »Ich kenne ihn wohl, ich finde ihn unter den Tausenden, die unser armes Land überfluten! Ich finde ihn!«

Niemand antwortete. Leise rauschte in den Baumkronen der Wind, stumm trauernd saß das Haupt des wandernden Stammes neben dem Toten und hielt dessen Hand. »Schlaft!« flüsterte Alexei den Deutschen zu, »schlaft oder eßt! Wir bleiben jedenfalls noch bis übermorgen an dieser Stelle.«

Er deutete nochmals auf die gehäuften Vorräte, dann brachte er einige Decken herbei und überließ die jungen Leute sich selbst.

»Ohne Zweifel war auch Barbarin ein russischer Spion«, meinte Feiko. »Der Zweck der ganzen Reise ist für Mikosch vereitelt. Die beiden unterrichten das Generalkommando in Smolensk von der Stellung der französischen Truppen; sie bilden mit allen ihren Helfershelfern eine Kette von Spionen, die das ganze Land überzieht.«

»Dann wird wohl Alexei jetzt an die Stelle des Erschossenen treten.«

»Seht einmal«, flüsterte Georg, »kommt euch das nicht ein wenig heidnisch vor?«

Ein Kreis von Frauen umgab die Leiche, unaufhörlich murmelnd und mit den Oberkörpern von einer Seite zur anderen wiegend.

»Er verstand die geheimsten Künste«, raunte die eine, »er konnte in den Sternen und in den Linien der Menschenhand lesen; Barbarin stillte mit drei Worten das rinnende Blut, er heilte alle Wunden.«

»Er war der schnellste Reiter seines Volkes, er konnte den bösen Blick beherrschen und verstand die Zauberei aus dem Grunde.«

»Barbarin ist tot. Seine Seele schreit um Rache an dem Mörder!«

»Rache! Rache!« wiederholten alle.

Aus dem Kreise erhob sich eine uralte Frau, eisgrau und wankend; sie ging zu einem der Wagen und ließ sich durch einen jungen Burschen ein Kästchen reichen, das sie öffnete und dem ihre Hand einen unkenntlichen Gegenstand entnahm.

»Führe mich«, murmelte sie, matt die Arme ausstreckend, »führe mich!«

Zwei Zigeuner geleiteten die Hundertjährige zum Feuer, an dessen Rand sie zusammensank. Das bunte Tuch war von ihrem Kopfe herabgeglitten, das dunkle Gesicht glich dem einer Mumie; nur die Augen sprachen von einem verborgen glimmenden, leidenschaftlich angefachten Hasse, der die Seele der Alten erfüllte.

Ihre dürre Hand hielt ein wächsernes Herz, wie man es in katholischen Ländern vielfach trifft, bestimmt zum Opferdienst an heiliger Stätte – hier aber ein Zaubermittel, das Werkzeug einer Rache, deren Ausführung halb komisch erschien, halb grauenvoll.

Alexei reichte der alten Frau ein langes spitzes Messer, das sie mitten in das wächserne Herz hineinstieß. Dann hielt sie es in die Nähe des Feuers und fing an zu murmeln.

»Ich war seine Mutter, ihr Götter des braunen Volkes, ich habe ihn auf meinen Armen in das Leben hineingetragen – Barbarin liebte mich! Jetzt liegt er erschlagen, tot; ich werde nie wieder seine Stimme hören, nie sein Auge sehen. Zieht den Mörder an das Tageslicht, ihr Götter – ich überliefere ihn euch!«

Von dem wächsernen Herzen flossen langsam schmelzende Tropfen und fielen hinab in das Feuer. »Blut!« murmelte die Alte, »Blut! So soll es vergossen werden, so soll sein Leben zum Opfer dienen für das, was er geraubt hat.«

Alle Zigeuner aus den Zelten schlichen sich herbei, Männer und Frauen, alle umstanden düsteren Blickes das Feuer und beobachteten, wie der Wachsklumpen langsam schmolz. Nur Mikosch hielt ganz allein die Totenwacht und der Wind spielte mit den bunten rauschenden Bändern zu Füßen der Leiche.

Als die Zauberszene beendet war, trugen kräftige Arme die alte Frau wieder in ihr Zelt. Barbarins Antlitz wurde mit dem Tuche bedeckt, der große Hund kauerte unbeweglich neben dem Körper seines toten Gebieters.

»Wenn das der Oberst wüßte!« sagte Onnen.

»Er erfährt es, sobald ihn das Messer trifft. Ich bin überzeugt, er entgeht der Rache dieser braunen Heiden nicht so leicht.«

Der Mond trat hinter eine Wolke, Schatten fielen auf das Zeltlager und den See mit seinen rudernden Schwänen – leise murmelten und raunten die kauernden Frauen ihren Zaubersegen.

Unsere Freunde suchten zu schlafen. Inmitten aller Gefahren des Krieges und der Wildnis tröstete doch ein Gedanke ihre Herzen – sie waren aus dem französischen Joche erlöst.

Der Wind rauschte Schlummerlieder, die Augen fielen zu, die Gedanken verschwammen zum unklaren Bilde. Tief im russischen Urwalde schliefen die drei Deutschen den Schlaf der gesunden Jugend bis an den hellen Morgen. Als sie erwachten, fand sich keine Spur der nächtlichen Szene mehr vor, auch die Leiche und ihr Schmuck war weggebracht, der große Hund fehlte und an der Stätte der gestrigen Feier tummelten sich Scharen von braunen Kindern.

Eine ältliche Frau kochte in einem großen Topfe das Frühstück, die Männer saßen stumm und rauchten oder schnitzten irgendeinen hölzernen Gegenstand, aber das laute Treiben, das Durcheinander, wie es sonst unter dem wandernden Völkchen herrschte, alle die lebensfrohen Stimmen fehlten gänzlich.

Unsere Freunde nahmen den schlanken, klug blickenden Alexei beiseite und fragten ihn, ob er nicht einige Gewehre besitze. »Wir möchten ein wenig jagen!« gestand Onnen.

»Hm – aber ihr findet nicht wieder zum Lager zurück.«

»Wenn du mitgingest, ganz bestimmt«

Der Zigeuner schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht; Mikosch würde sich beleidigt fühlen.«

Das dunkle Gesicht des Häuptlings sah hinter der Zeltwand hervor. »Lauft nur, Kinder«, sagte er in gütigem Tone, »lauft nur. Wenn ihr so alt seid wie ich, wenn ihr das Leben kennengelernt habt, ist es für die Freude an Jagd und Abenteuern zu spät, also genießt sie jetzt. Geh mit unseren Gästen, Alexei; die Gewehre liegen unter dem Stroh in meinem Wagen.«

Der junge Zigeuner eilte fort, um die Waffen herbeizuholen, und dann zog die ganze kleine Schar in den Wald hinaus.

»Ich habe gestern eine Bärenfamilie gesehen«, erklärte Alexei, »junge Tierchen von der Größe einer Hauskatze. Wie wäre es, wenn wir sie einfingen?«

»Prachtvoll!« rief Onnen. »Wie viele waren es?«

»Zwei Junge mit der Mutter. Diese letztere müssen wir töten.«

»Erschießen?« fragte Feiko.

Alexei schüttelte den Kopf. »Das wäre zu gefährlich«, antwortete er, »und überdies gebraucht der Zigeuner nicht gern Feuerwaffen.«

»Ich weiß schon!« rief Onnen. »Ihr macht es wie die nordamerikanischen Indianer, ihr fangt den Bären mit Honig, indem ihr ihn von einem vor die Waben gehängten schweren Block erschlagen laßt.«

»Oder in der Grube!« setzte Georg hinzu.

»Auch nicht. Kommt nur mit, ihr werdet es schon sehen.«

Jenseits der Lichtung begann wieder tiefdunkler ragender Wald mit dichtem Gebüsch und zahllosen kleinen Wasseradern. Zuweilen mußten die Jäger seichte Stellen durchwaten, zuweilen auf einem der vielen umgestürzten Bäume über den Bach gehen oder gar ihren Weg von Zweig zu Zweig hoch über dem flutenden Elemente quer durch die Luft nehmen. Das war eine Vergnügungsreise, bei der die Herzen jubelten und die gelenkigen Glieder der seegewohnten jungen Leute selbst den Zigeuner in Erstaunen setzten.

»Alexei, bist du aber auch sicher, dich von dieser Irrfahrt wieder ins Lager zurückzufinden?« fragte Feiko.

»Sei ganz ruhig, Herr, ich durchziehe den Wald nicht zum erstenmal.«

Onnen wollte den Sitz hoch oben in den Wipfeln gar nicht verlassen. »Hier fehlt mir das Meer«, erklärte er, »aber auf Norderney wird mir künftig der Wald ebenso fehlen. Es ist doch gut, wenn man von der Welt etwas mehr zu sehen bekommt als nur seine allerengste Heimat.«

Die übrigen lachten. Während Alexei ganz Europa mehrfach durchzogen hatte, waren die beiden jungen Seeleute in den Tropen gewesen und kannten aus eigener Anschauung die schönsten Punkte der Erde, Tahiti, Brasilien, Fernando Po usw. Onnen dagegen sollte seine erste Reise mit des Vaters Dreimaster gerade antreten, als die Franzosenwirtschaft den deutschen Handel lahmlegte – er sah zum erstenmal über das flache Ostfriesland hinaus und die lange unterdrückte Jugendlust durchbrach alle Schranken.

Er wiegte sich auf seinem Aste über dem Wasser und bedeutete den Genossen, sich ruhig zu verhalten. Dann kroch er höher hinauf. »Ein Eichhörnchennest mit fünf Jungen! Seht doch! Seht doch!«

Er zeigte den anderen ein Tierchen wie eine Maus, rot behaart und mit klugen Augen, dann legte er es vorsichtig wieder in das Nest; auf einem nahestehenden Baum sprang die Alte so angstvoll wimmernd hin und her, er konnte es nicht über das Herz bringen, sie noch länger zu quälen, sondern kletterte wie ein Seiltänzer von Zweig zu Zweig an das jenseitige Ufer hinüber, während oben in der Krone die geängstigte Mutter ihre Kleinen zu beruhigen suchte und die ganze Familie miteinander um die Wette pfiff und krabbelte.

»Ist es bis zur Bärenhöhle noch weit, Alexei?«

»Ein halbes Stündchen. Die kugelrunden Gesellen werden dir besser gefallen als das rote Völkchen da oben.«

Onnen riß das Gewehr von der Schulter. »Da war eben ein Tier!« rief er.

»Wo?«

»Hier unter den Baumwurzeln. Ein ganz weißes Geschöpf.«

»Ach – ein Hermelin! Möchtest du es sehen, Herr?«

»Gehorchen dir etwa die Hermeline, wenn du sie rufst, Alexei?«

»Natürlich. Der Zigeuner ist der König des Waldes. Aber wir alle müssen uns verstecken, sonst kommt das Tierchen nicht zum Vorschein.«

Der Vorschlag wurde angenommen, im nächsten Augenblick schien die Stelle leer und nur ein leiser, ganz leiser Ton durchschwirrte die stille, warme Sommerluft. Es klang wie das Pfeifen einer Maus. »Alexei, weshalb –«

»Pst! Pst!«

Onnen schwieg und der Zigeuner begann wieder zu pfeifen, ganz täuschend wie eine hungrige Maus, die vergebens nach Nahrung sucht. Nur wenige Minuten vergingen, dann zeigte sich schon der gewünschte Erfolg.

Eine weiße Schnauze sah aus dem Gebüsch hervor, noch eine, die Köpfe kamen zum Vorschein, endlich zwei weiße hübsche Tierchen mit hellbrauner Rückenfärbung.

Immer stärker und stärker, in ungeduldigem, ärgerlichem Tone pfiff der Zigeuner.

Die kleinen, kaum fußlangen Marder liefen schnuppernd von einer Baumwurzel, einer Erdspalte zur anderen, sie suchten die Maus, ohne dieselbe finden zu können, sie erhitzten sich immer mehr und begannen zuletzt in feindseliger Weise gegeneinander aufzuspringen. Die scharfen Zähne griffen in den Pelz, daß die Haare nach allen Seiten flogen, kopfüber und kopfunter kugelten die erbitterten Geschöpfe auf dem Moos herum, ohne zu gewahren, daß das Mäuschen schon längst nicht mehr pfiff; erst als die versteckten Zuschauer laut lachten, fuhren sie plötzlich auseinander und verschwanden schattengleich unter den Wurzeln des hohen Stammes.

»Alexei«, rief Onnen, »weshalb fängst du die kleinen Tiere nicht ein?«

»Weil ihr Pelz im Sommer nichts taugt, Herr. Im Winter legt man ein Tellereisen mit einem Ei oder einer Maus in der Mitte neben ihren Bau; sie fangen sich darin sehr zahlreich.«

»Überhaupt scheinen eure Wälder viel Wild zu enthalten!«

»Unermeßlich viel. Laßt uns nur jetzt die Bären aufsuchen. Ich glaube, die Jungen sind noch nicht imstande, sich vom Lager zu entfernen.«

Sie drangen durch Gestrüpp und Ranken bis zu einem Platze, wo sich tiefe Wagenspuren zeigten. Diesen Weg hatte gestern der Zug der Zigeuner genommen und den Einschnitten gingen die vier Jäger etwa eine halbe Stunde lang nach. Eine Krümmung des den ganzen Wald durchfließenden Baches trat wieder aus dem Gebüsch heraus, wilde Enten schnatterten, ein Luchs strich dicht vor den Füßen der jungen Leute über den Weg.

Alexei deutete auf einen riesigen, in halber Höhe abgestorbenen Baumstamm, dessen blattlose Äste schwarz und dürre aus dem umgebenden Grün hervorragten. Am Erdboden war das ganze Innere hohl und zum Teil vermorscht, kleine Splitter bedeckten ringsumher das Moos.

»Dorthin!« flüsterte der Zigeuner. »Ihr müßt jetzt eure Waffen laden; jeder Mann stellt sich so gegen einen Baum, daß der Rücken gedeckt ist.«

Er wählte drei Stämme, an denen die Jäger Posto faßten, dann nahm er selbst den vierten, in einiger Entfernung dem hohlen Baume gegenüberstehenden, und zog das lange spitze Messer aus der Scheide, worauf er die Jacke ablegte und Hand und Arm bis zum Ellbogen fest umwickelte.

Als das geschehen war, warf er ein Stück Brot dicht vor die Höhle.

Allen Jägern klopfte das Herz zum Zerspringen. Was würde in den nächstfolgenden Minuten geschehen?

Alexei ließ sich auf ein Knie nieder; er beobachtete mit Falkenblicken die Umgebung nach allen Seiten hin.

Aus der Höhle kam ein wolliges dunkelfarbiges Tierchen hervor, rund wie ein Muff, unbehilflich gehend und springend; ihm folgte ein zweites ebenso aussehendes, beide berochen das Brot, rupften an demselben, zerrten es hin und her und warfen sich auf den Rücken, um mit den kleinen emporgehaltenen Pfoten brüderlich zu spielen.

Die Tiere konnten allenfalls drei oder vier Wochen zählen.

Unbekümmert um die Nähe der Menschen, noch völlig ahnungslos der Gefahr gegenüber, torkelten sie umher, während die Jäger in lautlosem Schweigen verharrten.

Alexei sah zu den anderen hinüber, dann bewegte er langsam die Hand. Das Zeichen war deutlich – sie sollten die kleinen Bären, sobald sich dieselben wieder in die Höhle begaben, greifen und festhalten.

»Wenn nur die Alte ausbliebe«, dachte Onnen. »Es ist doch so sehr gefährlich!«

Er sah nach allen Seiten und dann brach über seine Lippen ein Schrei des Entsetzens. Aus dem hohlen Baume hervor blickten die funkelnden Augen der Bärin – sie hatte offenbar versteckt gelegen und war jetzt im Begriff, hinauszuspringen.

»Still!« gebot mit lauter Stimme der Zigeuner.

Ein wütendes Brüllen erschütterte die Umgebung; aufgeschreckt, ratlos flüchteten die beiden kleinen Bären zur Höhle, während das alte Tier, in diesem Augenblick unbekümmert um seine Jungen, Miene machte, sich Onnen als dem nächststehenden entgegenzuwerfen und ihn zu packen.

Gedankenschnell ergriff der Zigeuner mit der linken Hand einen Stein und schleuderte ihn dem gereizten Tiere gerade an den Kopf.

Die Wirkung erfolgte augenblicklich. Petz drehte sich um, setzte an und sprang seinem Widersacher entgegen. Das Ganze war Sache einer halben Minute und doch genügte diese kurze Frist, um den Kampf zu entscheiden. Mit weit aufgerissenem Rachen hatte das Ungeheuer den gewandten Zigeuner packen wollen, anstatt dessen aber traf das Messer, von sicherer Hand gestoßen, sein Herz und taumelnd sank es zurück.

Der Anblick dieser Szene war grauenhaft. Bis an den Ellbogen steckte Alexeis rechter Arm in dem Rachen des Bären, dessen Todeszuckungen schon begannen; er konnte die beiden furchtbaren Zahnreihen nicht schließen, sondern brachte nur ein dumpfes Röcheln hervor und dann streckte er die Glieder, um sich nie mehr zu erheben. Über ihm, siegreich und stolz blickend, stand der Zigeuner. Bis an das Heft steckte die Klinge im Körper des Tieres, Herz und Lungen durchschneidend; ein breiter Blutstrom sprang hervor, aber dennoch wartete Alexei – wenn er die Waffe zurückzog, konnte der Schmerz des Augenblicks noch eine halb unwillkürliche Zusammenziehung der gefährlichen Pranken veranlassen; das wollte er verhüten.

Ebenso gespannt, so unruhig wie er selbst beobachteten auch die Weißen.

Endlich lockerte Alexei die Klinge. Das Tier war tot, es regte sich nicht mehr.

Ein Bann schien von den Seelen der jungen Leute genommen, sie eilten zur Höhle und versicherten sich zunächst der beiden kleinen Bären, die Alexei in seine Jacke hüllte und sich auf den Rücken band, wo sie mit den Schnauzen hervorsahen, ohne entfliehen zu können.

»Aber jetzt ist noch der Papa dieser braunen Familie übrig geblieben«, rief Onnen. »Wollen wir seinen Besuch erwarten?«

»Keineswegs«, versetzte der Zigeuner, indem er hurtig das Fell der getöteten Bärin abzog. »Ich möchte nur diesen Pelz vor den Wölfen bewahren, dann gehen wir. So, das Fleisch können die hungrigen Bestien nehmen – morgen hole ich das Fell.«

Er befestigte es in angemessener Höhe zwischen zwei derben Ästen und die ganze kleine Gesellschaft machte sich wieder auf den Weg.

Die Sonne war schon im Sinken begriffen; der Magen knurrte gewaltig. »Gibt es denn hier herum keinerlei menschliche Ansiedlung?« fragte Georg. »Ich finde, daß die mitgenommenen Vorräte nicht so ganz ausgereicht haben.«

Alexei lächelte verschmitzt. »An der Außenseite des Waldes liegt ein Frauenkloster«, versetzte er. »Da können wir um eine Gabe bitten.«

»Aber man wird uns nicht hineinlassen.«

»O doch, die armen Nonnen erfahren in dieser bösen Zeit gar zu gern ein wenig Neues über Krieg und Frieden; dafür geben sie schon eine Mahlzeit.« »Dann laßt uns den Versuch machen«, lachte Onnen. »Zu Hause in Deutschland erfährt es ja keiner.«

Sie kletterten über einen Höhenzug und dann durch ein steiniges Tal; es war doch noch ein Marsch von zwei starken Stunden, ehe das Kloster mit seiner düsteren, altersgrauen Mauer vor ihnen lag. Die Menschen seufzten und die kleinen Bären quiekten, nur Alexei schien weder Hunger noch Erschöpfung zu kennen.

Ein hoher alter Kuppelbau ragte zum Himmel empor. Bunte Glasfenster schmückten das Dach, zierliche Galerien umgaben Türme und Türmchen, die sich über tiefe Nischen und offene Plattformen erhoben. Überall im Abendschein glänzten Kreuze, unübersehbar nach rechts und links dehnte sich die Mauer, deren glatte Fläche wie ein fester Ring das Klostergebiet zu umschließen schien.

Kein Laut drang aus dem Inneren der heiligen Hallen hervor.

Alexei ging sicheren Schrittes einer kleinen versteckten Pforte entgegen; er mochte hier schon mehr als einmal geklopft haben. Der Ton einer Glocke erklang drinnen auf dem Hofe und bald danach verschob sich in der Mauer eine Eisenplatte – das Gesicht einer alten Frau sah hervor.

Sie musterte die ganze kleine Gesellschaft mit mißtrauischen Blicken, dann stellte sie in russischer Sprache eine Frage, welche Alexei sofort lebhaft bejahte. Schwere Riegel klirrten, ein Schlüssel drehte sich im Schlosse, dann war die Pforte offen und wurde hinter den jungen Leuten sofort wieder geschlossen.

An dieser Seite besaß das Kloster kein einziges Fenster; eine zweite, niedrigere Mauer trennte den Vorhof vom Garten und nur eine einzige eiserne Tür führte von hier in das Gebäude. Die Schwester Pförtnerin mit ihrem großen Schlüsselbund und ihrer weißen Kapuze deutete auf eine Bank, die den Stamm einer uralten Rieseneiche rings umgab, dann begann sie mit dem Zigeuner eine Unterhaltung, bei der er sehr lebhaft erzählte, während sie nur zuweilen ein Wörtchen einwarf oder die Hände vor Erstaunen zusammenschlug – jedenfalls berichtete er ihr von den Franzosen, den gefürchteten, den unliebsamen Gästen, die aller Herzen mit Angst erfüllten und das Interesse der Leute von jeder anderen Frage abzogen.

Endlich hatte die gute Frau genug gehört, um drinnen im Kloster den Nonnen die Schauermär wiederholen zu können; sie brachte schleunigst Suppe, Brot und Fleisch, sprach einen Segen und lief davon, begierig, nun ihrerseits lauschenden Ohren zu verkünden, was sie soeben selbst erfahren. Die eiserne Tür flog ins Schloß und unsere Freunde waren allein.

»Die Suppe ist gut«, erklärte Onnen, indem er den Löffel immer aufs neue eintauchte, »ach, das ist einmal wieder ein Essen, Pflaumen mit Klößen, mein liebstes Gericht. Alexei, hast du auch der würdigen Schwester Pförtnerin ganz und gar die Wahrheit gesagt?«

Der Zigeuner lächelte. »Ich habe ihr gesagt, was sie zu hören wünschte, Herr, daß die Franzosen nicht hierherkommen werden.«

»Das gebe der Himmel! – Du, Alexei, fressen die Bären Pflaumen?«

»Ich glaube wohl, aber sie haben ja noch keine Zähne, Herr.«

Onnen zerkaute also die gekochten Früchte und stopfte das Gemisch den hungrigen Tieren in die Mäulchen, dann kam das Fleisch und den Beschluß machte eine heiße Tasse Tee, welche die Schwester Pförtnerin herbeibrachte.

Aus der Klosterkirche erklang jetzt eine leise angenehme Musik Die Nonnen sangen ein geistliches Lied und kaum erkennbar begleitete eine Orgel, von Frauenhand gespielt, die fromme Weise. In den Baumwipfeln jubilierten die Vögel, der Wind rauschte zwischen den Blättern, rot und goldig versank der Sonnenball hinter die Kuppeln und Zinnen des Klosters.

»Und nie kommt ein fremder Mensch in dies Haus hinein?« flüsterte Feiko, »nie sehen, nie hören die Nonnen von der Außenwelt das Allergeringste?«

»Nie!« bestätigte der Zigeuner. »Die kleine Pforte da hinten öffnet sich nur dann, wenn eine neue Schwester einzieht. Hinaus geht sie nicht wieder.«

Der feierliche Gesang verstummte, Schwalben huschten um das Gemäuer – die Schwester Pförtnerin spielte mit ihren Schlüsseln, als wolle sie sagen, daß nun die Fremden gesättigt sein könnten.

»Laßt uns gehen«, mahnte Alexei, »zur Mitternachtsstunde wird Barbarin begraben und der Weg ist noch weit.«

»Müssen wir ganz durch den Wald zurück?«

»Das nicht, aber auch am äußeren Rande ist es keine kleine Strecke.«

Sie dankten der Schwester Pförtnerin, bekamen noch einen Zehrpfennig, den natürlich Alexei erhielt, mit auf die Reise und verließen die Stätte eines nie gestörten Friedens, um das Lager im Walde wieder aufzusuchen.

Der Mond schien hell vom Himmel, zwischen den Zelten brannte kein Feuer, der ganze Platz war sauber gefegt und die Wagen zusammengeschoben.

Drinnen, im Zelte des Toten wehklagten leise Stimmen, unruhig winselnd umkreiste ausgesperrt der große Hund die Stelle, wo sein geliebter Herr in den bunten Fetzen tot und kalt auf Blumen lag. Eine Bahre aus jungen Zweigen war von den Zigeunern im Walde angefertigt worden, Pelze darüber gedeckt und das Ganze mit grünen Girlanden geschmückt. So harrte der eigentümliche Sarg des Gestorbenen.

Unsere Freunde ordneten, so gut sie konnten, ihre Anzüge, Alexei gab die beiden jungen Bären einer Frau in Verwahrung, und dann erwarteten alle schweigend den Beginn der Mitternachtsstunde, um den toten Genossen zur letzten Ruhe zu betten.

»Ist das Grab denn schon ausgeworfen?« fragte Onnen.

»Ja, längst. Wenn der Mond gerade über unseren Köpfen steht, brechen wir auf.«

Bis dahin mußte noch eine halbe Stunde vergehen, und Onnen schloß die Augen, um wachend zu träumen. Seine frühere Spannkraft schien zurückgekehrt, er atmete freier, fühlte sich wohler, seit die verhaßte französische Uniform nicht mehr an das Unglück des Vaterlands, an das eigene tiefempfundene Weh stündlich erinnerte. Was hinter ihm lag, mußte er überwinden lernen – so vielen Tausenden ging es ja auch nicht besser; die Edelsten, Vortrefflichsten bluteten aus unheilbaren Wunden.

Und lebte ihm nicht daheim auf Norderney das treue alte Mütterchen? – Gewiß, gewiß, er wollte ringen und zum Sieg gelangen, schon dieser Teuren wegen.

Eine leise Melodie, ernst und wehmütig, weckte ihn aus seinem Sinnen. Wenigstens zehn Zigeuner umstanden die Bahre und spielten mit den braunen vielfach von Ringen geschmückten Fingern ihre Geigen, während vier andere, unter ihnen die Söhne des Hauptmanns, den Toten aus dem Zelte trugen und ihn auf die Bahre legten.

Das Gesicht war und blieb verhüllt, die Hände lagen auf der Brust übereinander. Leise klagten und weinten die Geigen.

Zwei Frauen führten zunächst hinter der Bahre die greise Mutter des Erschossenen. Sie ging aufrecht mit verhülltem Antlitz, ihr bitterliches Weinen hätte auch das härteste Herz rühren müssen.

Nahe am See, auf unfruchtbarem Kiesgrund war eine Grube gegraben, weit genug, um die Bahre zu fassen; alle Erde aber mußte in das Wasser geworfen sein, denn es fand sich nur ein ganz kleines Häufchen, während eine stattliche Menge von Feldsteinen zusammengetragen worden war. Zwei alte Bretter, von grünen Ranken umwickelt, lagen neben der offenen Grube; außerdem die Leiter, auf welcher Frauen und Kinder die Reisewagen zu erklettern pflegten.

Alexei ergriff sie und stellte sie an den Rand der Grube, dann stieg er mit noch einem anderen jungen Mann hinab und beide empfingen die Bahre, um sie unten auf den Grund zu legen. Als das geschehen war, kehrten sie zu den übrigen zurück.

Jetzt entstand unter den Frauen eine Bewegung, auch Mikosch schien die alte Mutter von irgendeinem Vorhaben zurückhalten zu wollen, er umfaßte sie zärtlich und flüsterte mit ihr, aber sie schüttelte immer wieder den Kopf. »Laß mich, mein Sohn, laß mich!«

Und so halfen denn Sohn und Enkel der alten Frau, zu dem Toten in die Grube hinabzusteigen. Ihre bebenden Hände ordneten die verschobenen Falten seiner Hülle, legten die wachsfarbenen Fingerspitzen auf der Brust übereinander und entfernten dann zögernd das Tuch von dem braunen, mit grauem Barte umgebenen Gesicht.

Leise flüsternd erklangen die Geigen. Von den Lippen der Zigeunerinnen quoll zum letztenmal gedämpft und wehmütig die Totenklage. – Drinnen im Grabe warf sich die alte Frau auf ihre Knie und küßte die kalte Stirn dessen, den sie einst als hilfloses Kind auf ihren Armen getragen. Ein letzter Abschied, ein Gruß vor dem Scheiden, dann zog sie mit fester Hand die Falten des Tuches zusammen und legte auf den Körper des Toten jene beiden Bretter, die zur Seite der Bahre standen. Mikosch reichte ihr zwei Steine, den einen legte sie auf die Stirn, den anderen auf die Füße ihres gestorbenen Sohnes – erst als diese letzte Pflicht erfüllt war, half ihr der Häuptling wieder zur Oberwelt empor.

Ganz erschöpft, bitterlich weinend sank die alte Frau in sich zusammen und widerstrebte jetzt nicht mehr, als man sie zu den Zelten zurückführen wollte. Unterdessen warfen die Männer langsam und feierlich Stein nach Stein in die Grube, bis diese ganz ausgefüllt war; erst an der Oberfläche wurde das Ganze mit Kies bedeckt, festgetreten und dem umgebenden Boden so vollständig gleichgemacht, daß kein Auge den Punkt, an welchem ein Mensch begraben lag, jemals hätte entdecken können. Zuletzt wurde Wasser über den Kies gegossen, so daß sich auch die kleinste Unebenheit verwischte – nun war jede Spur des Geschehenen ausgetilgt.

»Weshalb setzt ihr auf das Grab kein Erinnerungszeichen?« fragte Onnen den jungen Zigeuner. »Ihr könntet doch einen Baum pflanzen oder ein Kreuz zimmern.«

Alexei schüttelte den Kopf. »Auf unseren Gräbern darf nichts wachsen«, antwortete er.

»Sind sie denn immer so aus Stein aufgebaut? Warum wohl?«

Der Zigeuner zuckte die Achseln. »Das ist so ein alter Brauch, weißt du, Herr – ich selbst glaube nicht daran. Wenn die bösen Geister der Seele eines Gestorbenen etwas anhaben wollen, so wirft er nach ihnen und vertreibt sie.«

»Alexei! – der Tote?«

»Ja, ja, ich habe dir schon gesagt, daß das mein Glaube nicht ist, Herr. Nun komm, wir müssen noch ein paar Stunden schlafen; morgen mit Tagesanbruch geht es weiter.«

Er zog den jungen Deutschen mit sich fort und bald lag alles in tiefster Ruhe; nur Onnen konnte nicht aus dem Halbwachen herauskommen. Das seltsam geheimnisvolle Begräbnis, der Kampf mit der Bärin und die stillen Klostermauern, alles beschäftigte seine lebhafte Phantasie, er hörte die Nonnen singen und dazwischen ein Mäuschen pfeifen, aber er wußte schon, das war Alexei mit den Schelmenaugen – die beiden Hermeline sprangen ja vor ihm auf dem Boden herum und zausten einander.

Erst das Geräusch des Aufbruches weckte ihn. Pferde wieherten, Hunde bellten und dürres Holz prasselte in den Flammen. Weiter, weiter auf der abenteuerlichen Fahrt durch das fremde Land, neuen Gefahren, neuen Erlebnissen entgegen.


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