Sophie Wörishöffer
Onnen Visser - Der Schmugglersohn von Norderney
Sophie Wörishöffer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6

Während aller dieser Vorgänge draußen im Dorfe lagen die Gefangenen im halbdunkeln Raume des Kanonenbootes und erfuhren weder, was über ihr ferneres Schicksal beschlossen worden war, noch, was die Freunde und Kameraden zu ihrer Rettung vorbereiteten. Der Schiffsarzt hatte die Wunden flüchtig nachgesehen; man brachte ihnen Speise und Trank und überließ die Unglücklichen ihren eigenen quälenden Gedanken, ohne sich weiter um sie zu bekümmern.

Besonders die Engländer rüttelten ungeduldig, voll leidenschaftlichen Zornes an den Ketten, womit man sie gefesselt hielt. Es waren altgediente Leute, der Unteroffizier sogar ein Fünfziger mit ergrauendem Haar; sehnsüchtig spähten sie den ganzen Tag auf das Wasser hinaus, immer in der stillen Hoffnung, die Schiffe ihrer Nation kommen und den Befreiungskampf aufnehmen zu sehen.

Aber Stunde um Stunde verstrich – es blieb alles leer.

Dann legten sich die beiden anderen französischen Schiffe der »Hortense« zur Seite und für den Augenblick schwellte neue Hoffnung die Herzen aller Gefangenen. Waren das Vorsichtsmaßregeln einem englischen Angriff gegenüber?

»Ich sehe nichts!« seufzte der Unteroffizier. »Das Wasser zeigt kein einziges Fahrzeug – und morgen in aller Frühe wollen sie uns den Garaus machen. Verdammt! wie ein toller Hund mit gebundenen Händen erschossen zu werden, nachdem man die Franzosen bei Trafalgar und anderswo gehauen hat, daß die Fetzen davonflogen.«

Einer der Matrosen seufzte. »Ja, es ist bitter, Wilkie, es ist bitter. Wenn du denkst, daß zu Hause in Kent mein alter Bruder starb und daß ich das liebe kleine Gehöft antreten sollte – bald schon, bald – die Schenke zum Kegelkönig, wo so viele Fuhrleute und Viehtreiber verkehren, weißt du! – welches Geld hätte ich da verdienen können! Die Landratten werden es ja nie müde, sich Geschichten von Seeabenteuern erzählen zu lassen!«

»Well! Well!« nickte der Unteroffizier. »Ich wollte mich ja auch verabschieden lassen; ich habe in Ehren ein kleines Vermögen erworben, dachte nun die Früchte langer Mühen daheim im gesegneten alten England zu verzehren – ach, und statt dessen werfen mich morgen die Lumpenkerle ohne Sarg in das Grab!«

Der Dritte, ein noch junger Mann, schüttelte den Kopf. »Schweigt doch«, murmelte er traurig, »schweigt doch, Kameraden – was heißt es denn, ein Gehöft oder ein Vermögen zu verlieren? Ich bin unter euch der Unglückliche; ich habe mich erst vor Jahr und Tag verheiratet, stehe kaum vier Monate bei der Marine und erhielt ganz kürzlich von meiner armen Lizzie einen Brief, worin sie mir schreibt, daß uns der gütige Gott einen Sohn geschenkt habe, ein prachtvolles Geschöpfchen, das schönste Kind in ganz Altengland – und ich soll es niemals sehen, niemals – morgen um diese Stunde ist es eine Waise!«

Aus dem halbdunklen Inneren des Raumes her antwortete dem unglücklichen Manne eine andere Stimme. »Und ich?« sagte Lars Meinders, »und ich, Thompson? Mein kleines Töchterchen zählt fünf Monate, es kannte mich schon, es jauchzte, wenn ich nach Hause kam und es tanzen ließ! – Ach, es ist um den Jammer meines armen Weibes und des Kindes, wenn ich heute nicht mehr standhaft bin, wenn –«

Seine Stimme erstickte; tiefe Stille beherrschte den Raum. Es war unter den Männern keiner, dessen Seele nicht in diesem Augenblick die Teuren umschwebt hätte, von denen er nun binnen weniger Stunden getrennt werden sollte auf immer, so weit das Erdenleben reicht.

»Mögen unsere Kinder klein sein oder erwachsen«, sagte nach einer Pause der Kapitän, »das macht für den Abschied nichts aus. Mein Onnen ist fast sechzehn Jahre alt, aber dennoch tut mir's unbeschreiblich weh, ihn ohne den Schutz des Vaters allein zurücklassen zu müssen, nur mit der alten Mutter, die sich zu Tode grämen wird, wenn ich erschossen bin!«

Heye Wessel schlug mit der geballten Faust gegen die Planken, daß es dröhnte. »O dies Elend!« rief er, »dies Elend! So gefangen zu sein, wie ein Fisch im Netz! Ich wollt', ich wär' der Krake, der Riesenhai mit den Feueraugen, und könnte auf Norderney ans Land steigen, um alle Franzosen mit Haut und Haar zu verschlingen, mit Haut und Haar, daß sie fühlen müßten, was es heißt, den Stärkeren über sich herrschen zu lassen und stumm hinzunehmen, was seine Willkür gebietet!«

Nach diesem Ausbruche eines verzehrenden Grolles wurde es still im Innern der »Hortense«, nur der junge Engländer ächzte zuweilen leise vor sich hin. Er hatte den Brief seiner Frau aus der Tasche gezogen und las zum hundertstenmal den Inhalt desselben, wobei er immer mit dem Rücken der Hand über die Augen fuhr, um den heißen Tropfen zu wehren, die wieder und wieder auf das Blatt herabfielen, so oft er sie auch abwischte – wieder und wieder.

Etwas später legte ein Boot an und Männertritte erklangen auf dem Verdeck; es kam jemand zu den Gefangenen, der Geistliche von Norderney, dem ein Diener das Altargerät nachtrug.

Bei seinem Anblick erhoben sich die Fischer und auch die Soldaten; der Prediger gab ihnen beide Hände, stumm, wortlos vor innerer Bewegung. Männer im kräftigen Lebensalter, Familienväter, die um eines geringen Vergehens willen den Tod erleiden sollten – wie schrecklich!

Er sprach mit ihnen wie jemand, der frohe Botschaft bringt, Trost und Freundesgrüße, Verheißungen einer Milde und Treue, die nicht richtend, sondern erbarmend verzeihen will dem, dessen Herz nach Versöhnung ringt, er erinnerte sie an das große allgemeine Elend und die Tränen so vieler Edlen, er sagte, daß dereinst, früher oder später für die Bedrücker der Tag der Abrechnung kommen werde, hier auf Erden und vor dem Throne des Allmächtigen, dann fragte er mit vor Erschütterung unsicherer Stimme, ob es ihm möglich sei, den Verurteilten noch irgendeinen Dienst zu leisten.

»Wollt ihr die Eurigen ein letztes Mal sehen, habt ihr Briefe zu bestellen, Botschaften oder Grüße? Gibt es geschäftliche Angelegenheiten, die ihr zu ordnen wünscht? Legt alles getrost in meine Hände, ich will es ausrichten, so wahr mir Gott helfen möge.«

Der junge Engländer preßte den Kopf gegen die harte Schiffswand; er weinte. »O mein kleines Kind, mein süßer kleiner Knabe – wenn ich ihn nur einmal, nur ein einziges Mal gesehen hätte!«

Der Wattführer schüttelte den Kopf. »Ich danke Euch, Herr Pastor, wahrhaftig, ich danke Euch, aber meine arme Moiken soll nicht hierher kommen – nein, nicht – ich will wie ein Mann sterben – und das müßte mich weich machen, ich ertrüg's nicht. Aber, Herr, wenn das kleine Mädchen größer wird und die Leute erzählen ihm, sein Vater sei gerichtet wie ein Missetäter, wollt Ihr dann ein Wörtlein für mich sprechen, wollt Ihr der armen Waise erzählen, wie das alles geschah und daß ich kein Verbrecher war, kein Dieb und Schurke?«

Der Prediger drückte warm die Rechte des jungen Mannes. »Ich will es, Lars Meinders, ich will es, so wahr mir Gott gnädig sein möge. Dein Kind soll sich mit Liebe und Achtung des Vaters erinnern, es soll ihm ein Freund und Beschützer, so lange ich lebe, nicht fehlen.«

Der Wattführer drückte lebhaft die Hand des Geistlichen. »Ich danke Euch, Herr Pastor«, sagte er mit bebender Stimme. »Ihr gebt mir den letzten Trost auf den Weg zum Grabe.«

Der Unteroffizier berührte leise seine Schulter. »Kamerad«, flüsterte er, »eine Frage – ich stelle sie nicht aus Neugier. Hat dein junges Weib, wenn du dahin bist, für sich und das Kind zu leben? Hinterläßt du ihr ein Vermögen?«

Lars Meinders stöhnte tief. »Keinen Pfennig«, seufzte er. »Meine arme Moiken muß arbeiten, um sich und die Kleine vor dem Hunger zu schützen.«

Der Engländer nahm seine Brieftasche heraus und schrieb mit Bleistift einen kurzen Brief an den Kapitän des Schiffes, auf welchem er gedient hatte, dann reichte er das Blatt dem Geistlichen. »Gebt es ab, Sir, wenn Ihr die Güte haben wollt. Da in meiner Kabine liegt das Geld, was ich mir erworben hatte, lauter gute englische Papiere, ich hab's immer bei mir getragen und damit geliebäugelt und den Mammon mein Teuerstes genannt – zur Strafe dafür muß ich jetzt sterben, ehe mir's zugutekommen kann. Aber schadet nicht, schadet nicht, ich erlebe doch im letzten Augenblick daran noch eine große Freude. Des Malcolm kleiner Bube soll die Hälfte erhalten und dein Mädel den Rest, Freund Meinders, dann ist für beide gesorgt. So, basta, sagt kein Wort des Dankes, irgendwo muß nach meinem Tode das Geld doch bleiben und Verwandte hab ich auf Gottes weiter Welt keinen einzigen mehr, darum eben hing ja meine ganze Seele an den gestempelten Dokumenten. Es war alles, was ich besaß, nun nehmt's hin und Gott gesegne es den beiden Kindern!«

Der junge Soldat war aufgesprungen. »Mein Sohn?« rief er, »du willst dein Geld meinem Sohn schenken? O, Gott gebe dir dafür in seinem Himmel den besten Platz, John Wilkie, Gott vergelte es tausendfältig!«

Und er umfaßte mit beiden Armen den Hals seines ehemaligen Waffengefährten, er küßte schluchzend das bärtige Gesicht. »Wenn du droben einen Mann brauchst, der dir treu ist wie ein Hund, der dich lieb hat, John Wilkie, dann bin ich es, das darfst du glauben!« Auch Lars Meinders streckte die Hand aus. Er konnte kein Wort hervorbringen, große Tränen rollten über sein blasses Gesicht.

Ebenso stumm blieb der Prediger, aber seine Augen glänzten in hoher Freude. Er sah den narbigen alten Soldaten an und durch seine Seele wehte wie freundliches Grüßen das Wort des Erlösers: »Wahrlich, ich sage dir, du wirst noch heute mit mir im Paradiese sein!«

»Hört auf«, lächelte der Unteroffizier, »was ist es denn weiter? Ich mache mein Testament wie jeder andere auch. Sorgt nur, daß es erfüllt werde, ehrwürdiger Herr; eine Einsprache kann kein Mensch erheben!«

Der Geistliche steckte das Blatt zu sich, er versprach gerührten Herzens, sogleich die englischen Behörden in Kenntnis zu setzen und dann das Vermächtnis des großmütigen Gebers für beide Kinder nach bestem Ermessen zu verwalten. Als diese Angelegenheit geordnet war, wandte er sich zu den älteren Gefangenen, den dreien, die bisher geschwiegen hatten, weil sie ihre äußeren Angelegenheiten geordnet zurückließen. Er kannte den Kapitän und Heye Wessel seit langen Jahren genau, den Baltrumer Wattführer wenigstens von Ansehen, hier wurde ihm also, den alten Leuten gegenüber, die Trennung schwerer. »Wir hatten heute eine außerordentliche Sitzung der Gemeindeältesten«, sagte er traurig, »ich soll euch beiden von allen die herzlichsten Grüße bringen. Es wird niemand außer mir zu euch gelassen, sonst wären schon viele Freunde hier gewesen.«

Heye Wessel nickte. »Das glaube ich, Herr Pastor, das glaube ich, aber meine Kinder dürfen doch von mir Abschied nehmen?«

»Und mein Junge«, setzte der Kapitän hinzu, »meine arme Frau ? – Waren übrigens unsertwegen die Gemeindeältesten versammelt, Herr Pastor?«

»Nein, meine Freunde, ich darf euch keine falschen Hoffnungen erregen. Der Präfekt selbst hat das Urteil als ein unwiderrufliches bezeichnet – es war der alten Aheltje wegen, daß wir Rat hielten; die Franzosen haben ihre Hütte zerschlagen, ihr bißchen Hab und Gut in alle vier Winde zerstreut und die bedauernswerte Frau arg mißhandelt. Aheltje bittet, ihr ein neues Obdach zu schaffen; sie irrt ohne Heimat, ohne eine Stelle, wohin sie ihr Haupt legen möge, in den Dünen herum.«

Der Kapitän sah auf. »Noch bin ich Gemeindeältester«, sagte er nachdrücklich, »und als solcher gebe ich der armen Alten meine Stimme. Sie soll eine neue Hütte haben.«

»Das ist auch meine Ansicht«, rief Heye Wessel. Der Prediger nicke freundlich. »Davon war ich überzeugt«, antwortete er. »Aber nun zu euch selbst, Leute, habt ihr nichts mehr auszurichten? Auch Ihr nicht, Andreas Fokke?«

Der Wattführer seufzte. »Meine Kinder sind klein und mein Weib ist kränklich«, sagte er. »Von Baltrum hierher ist es für alle zu weit und beschwerlich. Grüßt sie, Herr Pastor, wenn Ihr so freundlich sein wollt – tröstet die Armen! In leibliche Not geraten sie nicht, dafür ist durch die letzten guten Jahre gesorgt, wenn ich auch nun den Schmuggelhandel mit meinem Leben bezahlen muß.«

Heye Wessel bat, seine Kinder sehen zu dürfen, und der Kapitän wenigstens seine Frau. Der Knabe lag noch krank im Bette, er würde die große Aufregung nicht ertragen können, sondern sollte lieber von dem gefällten Todesurteil noch nichts erfahren.

Nachdem so die Dinge dieser Erde geordnet waren, versammelte der Geistliche die kleine zum Sterben geweihte Gemeinde um sich und spendete den Unglücklichen das heilige Abendmahl.

»Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden« – viel mehr als nur diese Worte sprach er nicht, aber er bat die Gefangenen, sich den ganzen Segen der tröstlichen, darin enthaltenen Verheißung voll zu eigen zu machen, sich der ewigen Heimat zu freuen, nun ihnen die zeitliche entrissen werde.

Dann kam der Abschied – fast stumm, aber innig empfunden. Was die Herzen in letzter Hoffnung bewegte, was noch an Erdensorgen zu erledigen war, das ruhte nun in treuen Händen. Mochte der Tod kommen, er würde seine Opfer bereit finden.

Von den Gefangenen begab sich der Prediger unmittelbar zu dem Präfekten, Monsieur de Jeannesson; er erhielt auch bereitwilligst die gewünschte Audienz, aber er nahm keine noch so geringe Hoffnung aus dieser Zusammenkunft mit sich hinweg.

»Glauben Sie es mir«, sagte im Tone der unverkennbarsten Wahrheit der Franzose, »ich würde Gott weiß was darum geben, wenn die Hinrichtung unterbleiben könnte, aber meine Befehle sind gemessen und nebenbei glaube ich auch, daß die zum Gewerbe gewordene Schmuggelei, nachdem diese Züchtigung der Insel widerfuhr, nun endlich einmal aufhören werde.«

»Die öffentliche Moral ist untergraben«, setzte er hinzu, »List und Gewalt behaupten die Stelle der Gesetze; das ist ein ungesunder Zustand.«

Der Prediger widersprach nicht, er sagte nur, daß er gekommen sei, um zu bitten, nicht um zu fordern; Monsieur de Jeannesson drückte ihm die Hand, aber er betonte, daß keine Gnade obwalten könne. »Morgen um die sechste Stunde wird die Hinrichtung stattfinden«, sagte er, »wenn also die Angehörigen der Verurteilten von diesen noch Abschied zu nehmen wünschen, so muß es vor Abend geschehen.«

Der Geistliche empfahl sich schweren Herzens, um den beiden Familien, die er so viele Jahre hindurch gekannt hatte, die Trauerbotschaft zu bringen. Heye Wessels Haus lag ihm auf seinem Wege am nächsten, er kam also dahin zuerst und traf beide Geschwister daheim. Während Amke, das junge Mädchen, beim Empfang der Hiobspost laut aufschrie und dann ohnmächtig zu Boden sank, hatte ihr Bruder für den Prediger nur ein siegesgewisses Lächeln.

»Es wird niemand erschossen, Herr Pastor«, sagte er. »Haben Sie es denn meinem Vater nicht gesagt, daß Uve Mensinga und ich über siebenhundert streitbare und treuergebene Männer verfügen? Das englische Kriegsschiff erscheint mit Tagesanbruch an der Ostspitze der Insel, bereit, die Verurteilten aufzunehmen – wir massakrieren die ganze Franzosenbande bis zum letzten Mann, wir hauen die braven Norderneyer heraus, ob auch Hunderte von uns fallen mögen. Vielleicht kommen doppelt soviele Wüteriche wieder hierher, aber der Vater und seine Gefährten sind vorläufig gerettet. Sie haben es ihm doch gesagt, Herr Pastor?«

Der Geistliche schüttelte den Kopf. »Gewiß nicht, mein guter Junge«, antwortete er ruhig. »Ich glaube bis jetzt keineswegs, daß euch der tollkühne Plan gelingen werde, und bitte dich dringend, die letzten Lebensstunden deines Vaters von der Bitterkeit einer getäuschten Hoffnung freizuhalten. Er hat sich in den Willen der Vorsehung ergeben, diese Stimmung mußt du achten.«

»Und ihm nichts mitteilen?« rief Georg.

»Ihm nichts mitteilen, mein Junge. Gelingt dann der beabsichtigte Handstreich – nun, so ist es ja um so besser.«

Der junge Schiffer dachte nach. »Sie haben recht, Herr Pastor«, rief er endlich. »Muß nicht auch die Freude um so herrlicher wirken, wenn sie sich mit der Überraschung vereinigt? – Die Gefangenen werden hinausgeführt bis zur Schanze, sie sehen schon die Soldaten vortreten und haben alle Hoffnung aufgegeben, da brechen plötzlich die Befreier aus den Dünen hervor, die französischen Offiziere sind zuerst niedergeschlagen, dann die Soldaten, und im Triumph geht es an Bord des englischen Schiffes – wissen Sie was, Herr Pastor? wir wollen auch den geraubten Kaffee wiedergewinnen. Die Gauner haben ihn auf den Böden des Badehauses und unter Fischernetzen auf dem Hofe gestapelt – sie sollen das gestohlene Gut herausgeben und die allerwuchtigsten Norderneyer Hiebe in den Kauf erhalten.«

Der Prediger fühlte, wie ihm das Blut heiß ins Gesicht trat. Die Begriffsverwirrung, von welcher Monsieur de Jeannesson gesprochen hatte, war wirklich im höchsten Maße vorhanden.

»Eins vergißt du, Georg!« sagte er in ernstem Tone.

»Und das wäre, Herr Pastor?«

»Du solltest hinzufügen: Wenn Gott will!«

Der junge Mensch lächelte. »Es wird gelingen«, sagte er zuversichtlich. »Wenn ich mich jetzt auf die Straße begeben und mit lauter Stimme rufen würde: ›Heraus Kameraden, die Stunde ist da!‹ – dann sollten Sie sehen, wie schnell die Franzosen geschlagen wären, ins Meer gejagt, vernichtet! Aber es geht nicht; wir müssen warten, bis die Gefangenen am Lande sind, da wir ja leider keine Möglichkeit besitzen, die drei Kanonenboote mit Erfolg anzugreifen. Das englische Schiff hat nicht Soldaten genug und geht auch zu tief, es kann die seichte Reede gar nicht berühren.«

Ein Gefühl des innigsten Mitleids durchflutete das Herz des Predigers. Wenn der verwegene Plan scheiterte – welch eine Verzweiflung mußte dann unausbleiblich an die Stelle dieser freudigen Zuversicht treten!

»Sieh nach deiner Schwester, mein Junge«, sagte er, indem er dem stattlichen Burschen die Hand drückte, »und wenn du vor deinem Vater stehst, so lasse dir nichts anmerken. Er hat sich mühsam durchgekämpft bis zur Ruhe; du darfst sie ihm nicht stören!«

Georg nickte. »Ich will mich zusammennehmen, Herr Pastor, gewiß, ich will es. Aber wenn wir losschlagen, müssen Sie dabei sein! Sie kennen doch meines Vaters Stimme? Ein Löwe muß vor ihm die Segel streichen. Ach, wie wird er ins Zeug gehen, wenn die kleinen Gaskogner vor uns davonlaufen gleich aufgescheuchten Hasen!«

»Stille, stille – du lobst den Tag vor dem Abend und das tut niemals gut!«

Er überzeugte sich, daß das junge Mädchen unter den Händen der Wirtschafterin zum Bewußtsein zurückgekehrt sei, und dann ging er fort, um auch die Frau des Kapitäns aufzusuchen und ihr das schwere Schicksal nach Möglichkeit tragen zu helfen. Georgs Begeisterung tat ihm weh, er wußte nicht weshalb, aber das Gefühl war unabweislich.

In dem niederen Zimmer des Visserschen Hauses traf er eine ganz andere Szene. Frau Douwe schien zu wissen, weshalb er kam, sie stand aufrecht neben dem Tische, ruhig und gefaßt, aber bleich wie der Tod, selbst ihre Lippen waren weiß – unverwandt sah sie dem Eintretenden entgegen.

Er grüßte sie ohne viele Worte, nur mit den Augen, den Händen, dann schloß er die Tür des Nebenzimmers, wo Onnen im sanften Schlummer der Genesung lag.

»Er braucht nicht zu hören, was wir sprechen, meine gute Frau Visser«, sagte er leise. »Ich bringe Euch von unserem lieben alten Klaus die herzlichsten Grüße!«

Frau Douwe nickte. Alles an ihr schien wie versteinert, sie klagte nicht, weinte nicht, aber aus dem blassen Gesicht sprach ein so furchtbarer Jammer, daß es den Geistlichen im tiefsten Herzen rührte. »Ihr dürft zu ihm kommen, liebe Frau Visser«, fuhr er fort, »jetzt gleich. Der Kapitän läßt Euch bitten.«

Die arme Frau nickte. »Ich will's tun, Herr Pastor. Ich will hingehen, Klaus soll mich stark finden in der Stunde des Abschieds.«

Der Prediger faßte sanft ihre arbeitsharte Hand; seine Stimme bebte. »Weint, arme Frau«, sagte er halblaut, »weint, damit Euch das Leid nicht überwältige. So viel Ruhe ist unnatürlich!«

Frau Douwe schüttelte den Kopf. »Das darf ich nicht, ehrwürdiger Herr! Ach, Ihr wißt nimmer, wie sehr ich mich nach den Tränen sehne, aber sie müssen doch im tiefsten Herzen bleiben, sonst würfe mich der Jammer zu Boden, ließe ich ihn erst einmal aufkommen.«

Sie nahm ihr Tuch und zog es durch die Hand; der Prediger sah wohl, daß sie sich kaum aufrechthielt. »Soll ich Euch begleiten, arme Frau?« sagte er freundlich.

Sie nickte. »Wenn Ihr die Güte haben wollt, Herr Pastor!«

Dann öffnete sie die Tür der angrenzenden Kammer. Im Bette lag Onnen und schlief ruhig; auf seine Wangen war die Röte der Gesundheit zurückgekehrt und nur ein schmerzlicher Zug um die Lippen bewies, daß er sich im Traume wie im Wachen mit dem trostlosen Schicksal seines Vaters beschäftigte. Jetzt drehte er den Kopf. »Hier bin ich!« murmelte er. »Vater! – Vater!«

Frau Douwe streckte die Hand aus. »Für ihn ist's, daß ich nicht weine, Herr Pastor, daß ich so ruhig umhergehe und tu', als könnte es mir nichts anhaben. Ich muß ja leben um des armen Jungen willen!«

In diesem Augenblick erwachte Onnen; er richtete sich hastig auf, sein hübsches Gesicht wurde sehr bleich. »O, Herr Pastor«, rief er, »haben die Franzosen – ist –«

»Sei ganz ruhig, mein Junge«, beschwichtigte ihn der Prediger, »es ist bis jetzt nichts geschehen. Schlafe nur, das bringt dir am ersten die Gesundheit zurück.« Aber Onnen schüttelte den Kopf. »Ich möchte gerade jetzt aufstehen«, antwortete er, »ich fühle mich ganz wohl. Willst du ausgehen, Mutter?«

Sie nickte nur. »Frau Raß bleibt bei dir, mein Kind. Ich komme bald wieder.«

»Wohin gehst du denn, Mutter?«

»Mit mir!« versetzte gelassen der Prediger. »Leb' wohl, mein guter Junge.«

Er schloß die Tür und führte dann freundlich tröstend die gebeugte Frau bis zum Ufer, wo ein Boot der Franzosen sie aufnahm und an das Schiff brachte. Ein Grauen lief durch alle ihre Adern, als sie die Masten der »Hortense« sah. »Herr Pastor«, flüsterte sie, »es ist mir just, als müsse das Herz in Stücke brechen!«

Er drückte nur leise ihre Hand. »Gott geleite Euch, arme Frau – ein Mensch, ein Freund, und wenn er es noch so redlich meint, kann da nicht tragen helfen!«

Das Boot glitt über die Wellen und einige Minuten später war vom Bord der »Hortense« ein Stuhl herabgelassen, um die alte Frau aufzunehmen.

Die Schiffstreppe war dunkel; ein Unteroffizier führte an seiner Hand die alte Frau in den Raum hinab zu dem bedauernswerten Manne, dessen Weib sie seit länger als einem Vierteljahrhundert gewesen und dessen Stimme sie nun zum letztenmal hören sollte. Frau Douwe ging aufrecht, festen Schrittes, aber sie wußte kaum, was um sie her geschah, es lag wie ein Nebel vor ihren Augen.

Den Gefangenen waren die Fesseln abgenommen worden; der Kapitän konnte, obwohl er nicht aufzustehen vermochte, doch seiner Frau die Hände entgegenstrecken – er sprach kein Wort, ihm war es, als werde seine Kehle von einer Eisenfaust zusammengepreßt.

Die beiden Kinder Heye Wessels befanden sich bei ihrem Vater; Amke weinte angstvoll vor sich hin und auch Georg hatte hier im Innern des französischen Schiffes seine frühere Zuversicht völlig verloren. Der beabsichtigte Handstreich konnte doch immerhin mißlingen oder das Leben der Gefangenen im Tumult gefährdet werden, jetzt erst fiel's ihm ein und verjagte aus seinem jungen Herzen den Siegesrausch, in welchem er bisher schwelgte. Auf seiner Stirn standen große Tropfen, er kämpfte mit den mächtig heraufquellenden Tränen.

Der Engländer Malcolm stützte den Kopf in die Hand, Lars Meinders schrieb an seine junge Frau einen Abschiedsbrief, den ihm Amke besorgen wollte – nur leises Weinen, die Laute der bittersten Trauer klangen durch den halbfinsteren Raum!

»Eins versprichst du mir, Mutter«, bat der Kapitän, »Onnen soll niemals schmuggeln! Und wenn die gegenwärtigen Verhältnisse noch jahrelang andauern – er soll sich an dem Schleichhandel nicht mehr beteiligen. Willst du ihm das sagen als letzten Gruß von mir?«

»Ja, Vater!«

Er küßte liebevoll ihre blassen zuckenden Lippen. »Es ist nur eine kurze Strecke Weges, Mutter – dann sind wir wieder vereint. Im Alter gehen ja die Jahre so schnell, weißt du, und vorläufig braucht dich unser Junge noch sehr notwendig – du mußt leben für ihn, meine arme Douwe!«

»Ja! – Ja!«

Er beugte sich näher zu ihr. »Mutter, hast du es mir recht von Herzen verziehen, daß ich gegen deinen Willen auf den Schmuggelhandel ging? Sag mir's, grollst du nicht?«

Da sah sie ihn an. »Ich – dir? Ach, Klaus, zuweilen war ich heftig, hab' als junge Frau in früheren Tagen meine Launen gehabt – heut tut mir's so weh, daran zu denken. Ich möcht', ich wär' eine bessere Frau gewesen.«

Er streichelte ihr runzelvolles Gesicht. »Uns waren friedliche, glückliche Jahre beschieden, Mutter, wir lebten einträchtig und hatten unser gutes Auskommen – du bist die beste vortrefflichste Frau, welche ich jemals kennengelernt und warst es immer.«

Er zog von der rechten Hand den Trauring und gab ihn der unglücklichen Frau. »Da, Mutter, du hast ihn mir als junge Braut geschenkt und er begleitete mich seitdem in alle Häfen der Erde, in Not und Tod – nun trage den treuen Gefährten zur Erinnerung an mich – willst du das?«

Frau Douwe konnte nicht antworten, ihre mühsam behauptete Kraft brach zusammen. Als der Ring nicht mehr am Finger des Kapitäns steckte, sank sie lautlos in tiefer Ohnmacht zurück.

Klaus Visser seufzte schmerzlich. »Georg, mein Junge«, sagte er, »komm her und erbarme dich meiner armen Alten. Der Abschied wird nur schwerer, je länger wir ihn hinausschieben; geht, Kinder, und Gott sei mit euch!«

Heye Wessel stand auf; er hielt Sohn und Tochter fest an die Brust gedrückt. »Adjes, Amke, bleib gut, hörst du! Ihr seid jung, ihr lernt vergessen, das Glück lacht auch für euch wieder. So, so, du mußt nicht weinen, Kind, dein Bruder ist fast schon ein Mann, er wird dich beschützen und von hier fort zum Onkel nach Marienhafen bringen, nicht wahr, Georg? Adjes, mein Junge, hab' immer Gott vor Augen, hörst du! Deine Mannesehre muß dir allezeit heilig sein!«

Ein gepreßtes: »Ja, lieber Vater!« rang sich aus der Brust des jungen Mannes. Er, der vorher so zuversichtlich gewesen, weinte wie ein Kind, er fiel mit beiden Armen seinem Vater um den Hals. »Leb wohl! Leb wohl!«

Der französische Unteroffizier kam und berichtete schonend, daß die Besuchsstunde vorüber sei. Wie im halben Traume reichte Georg dem Kapitän und dem Wattführer die Hand, dann half ihm der Soldat, die ohnmächtige Frau an Deck zu bringen, und alles war vorbei.

Im Herzen des jungen Mannes erhob sich ununterdrückbar eine Stimme, die ihm zuflüsterte, daß er seinen Vater nie – nie auf Erden wiedersehen werde.

 

Unterdessen stand Onnen am Fenster und spähte auf die Straße hinaus. Seine getreue Hüterin, Frau Raß, war sehr schweigsam, von ihr erfuhr er nicht viel, sondern mußte sich in die Küche schleichen, um Folke Eils zum Sprechen zu bringen.

»Hört mal, Alte, war nicht heute morgen ein fremder Mann hier?«

Sie seufzte kläglich. »Das geht dich gar nichts an, Kind.«

»Aha«, rief er, »nun weiß ich schon genug! Gestern abend schlichen auch Leute in den Holzstall und Ihr habt ihnen eine Mahlzeit gebracht. Das geht gegen die Franzosen – man will den Vater und seine Gefährten heraushauen!«

Er sprang davon. Weder Frau Raß noch Folke Eils konnten ihn halten; wie der Blitz lief er in den Holzraum und atmete tief, als ihm zwei bekannte Gesichter entgegensähen, Baltrumer Fischer, die hier versteckt waren, um morgen in aller Frühe zur Hand zu sein.

»Abel Voß und Tieze Holtmann!« flüsterte er. »Ach, nun bin ich gesund – ich kann mit von der Partie sein. Erzählt mir alles, Leute!«

»Sprich nur nicht so laut. Junge. Überall lauern Spione!«

Und dann berichteten sie flüsternd von dem Plane, den Uve Mensinga und Georg Wessel entworfen hatten. Später kam der letztere selbst hinzu, Onnen erfuhr, daß sein Vater am nächsten Tage erschossen werden solle, aber wie vorher Heye Wessels Sohn, so lebte er sich ganz hinein in den Gedanken einer erfolgreichen Rettung, so berauschte er seine Seele an der Hoffnung auf ein keckes Vorhaben, von dem noch in Ostfriesland die spätesten Zeiten mit Bewunderung sprechen sollten; das bestimmt war, den Franzosen eine derbe Lehre zu geben und in erster Linie des Vaters teures geliebtes Leben vor den Kugeln der Soldaten zu bewahren.

Georg schüttelte heimlich den Kopf. Auf seine jubelvollen Hoffnungen war ein Reif gefallen und hatte sich nicht wieder bannen lassen.


 << zurück weiter >>