Sophie Wörishöffer
Onnen Visser - Der Schmugglersohn von Norderney
Sophie Wörishöffer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

18

Die Straße von Konstantinopel war passiert; jetzt befand sich das Schiff im Ägäischen Meer. Eine wundervolle, vom Wasser gemilderte Wärme durchwehte die Luft, fremde Segler aller Nationen kreuzten den Weg, leicht wie ein Vogel schwebte die »Anna Elisabeth« über die Wogen.

»Mir fehlt nur eins«, gestand Onnen, daß ich nicht mit in die Masten klettern darf, daß ich den Matrosen müßig zusehen muß.«

Mikosch lächelte. »Hier verrät dich ja keiner, Herr! Frage den Kapitän und verdiene in des Himmels Namen deine Erbsen, ehe du sie issest.«

»Ich darf also offen sagen, daß ich ein Seemann bin?«

»Solange wir an Bord sind, ja.«

Schon in der nächsten Stunde hatte Onnen seine Bitte vorgebracht und bei dem Kapitän die Einwilligung erhalten; jetzt saß er und nähte sich aus einem Stück Segeltuch einen Matrosenanzug. Die gutmütigen Matrosen schenkten ihm einen Strohhut und leichte Schuhe, sie wunderten sich auch nicht, daß er so flott Englisch sprach – Zigeuner sind ja Weltbürger, sie kommen an alle Orte und reden jede Mundart, sie haben ihr Vaterland überall und nirgends.

Nur der Untersteuermann, Mr. Lawrence, schien die Sache etwas seltsam zu finden. »Junge«, sagte er, »du kletterst nicht zum erstenmal in den Mast. Willst du denn Seemann werden?«

»Ich bin es schon seit zwei Jahren!«

» Nun, und weshalb suchst du in diesem Falle keine Heuer? – Doch ich verstehe, dein Vater möchte lieber, daß du mit ihm durch das Land zögest, um –«

Onnen wandte sich ab. »Steuermann, mein Vater liegt jetzt seit acht Monaten oder noch länger in der Erde – die Franzosen haben ihn gemordet.«

Er erzählte dem erstaunten Manne alles bis auf jene Nacht, in der die Schmuggler verraten und auf dem Watt gefangen genommen wurden; von da an kannte der Steuermann alle ferneren Vorgänge selbst. Einer der erschossenen englischen Matrosen war sein Verwandter; das gab zwischen ihm und Onnen viele Berührungspunkte, die unserem Freunde eine Reihe von Vergünstigungen eintrugen. Er durfte, so oft er es wünschte, in die Masten klettern und dort aus schwindelnder Höhe Umschau halten; etwas, das er sehr liebte und täglich zur Ausführung brachte.

Ohne Unfall gelangte das Schiff in den Atlantischen Ozean, hier aber begann erst die eigentliche Gefahr den Franzosen gegenüber. Ihre schnellen Kaper kreuzten fortwährend die Wasserbahn, Scharmützel aller Art mit den Engländern waren an der Tagesordnung – auch die »Anna Elisabeth« sollte dem Schicksal eines solchen nicht entgehen. Eines Tages saß Onnen wieder hoch oben im Mastkorb und beobachtete das geliebte Meer–da schützte er plötzlich die Augen mit den Händen und glitt dann nach kurzer Prüfung gewandt wie eine Katze auf das Verdeck hinab.

»Steuermann, ein Glas! – ein Glas!«

»Hast du etwas gesehen, Junge?«

»Ich glaube, ja!«

Das Wort war kaum gesprochen, als auch schon zehn oder zwanzig Augenpaare unruhig das Meer nach allen Seiten hin beobachteten. Blaue Wölkchen wallten auf, ein dumpfer Donner rollte über das Wasser dahin.

Kanonenschüsse! Die beiden englischen Fregatten mußten mit französischen Schiffen zusammengetroffen und in einen Kampf geraten sein. Der Donner verstärkte sich, folgte schneller und schneller – die »Anna Elisabeth« nahm ihren Kurs dem Schauplatze des Gefechtes gerade entgegen.

Der Kapitän erschien an Deck; er betrat sofort die Kommandobrücke und ergriff das Sprachrohr. »Klar zum Wenden!«

Die Matrosen flogen in die Masten, allen voraus unser Freund. Es rauschte und wogte in den Wolken von Leinen da oben, es knisterte und rollte, dann war mit Windeseile das Manöver vollführt und die Leute konnten ihre heißen Stirnen trocknen.

»Klar ist!«

Das Steuer drehte sich, die »Anna Elisabeth« fiel ab und floh unter dem Drucke aller ihrer Segel, so schnell es Wind und Wellen gestatteten, aus dem Bereiche der Gefahr; schon nach einer Viertelstunde war von den kämpfenden Kriegsschiffen nichts mehr zu sehen und selbst der Donner der Kanonen nur noch schwach vernehmbar, aber Kapitän Rowland behielt trotzdem ein sehr ernstes Gesicht, er verließ das Deck keinen Augenblick und legte auch das Sprachrohr nicht aus der Hand.

»Für uns steht die Entscheidung noch aus«, hörte ihn Onnen sagen. »Wenn wir vom Bord des Franzosen gesehen sind, so müssen wir auf eine Verfolgung gefaßt sein.«

»Aber vielleicht sind die Franzosen besiegt!« rief eine Stimme. Der Kapitän antwortete nicht; er beeilte sich, aus der gewohnten Fahrstraße der Schiffe herauszukommen und ließ die Wachen in den Masten verstärken; das war alles, was er zum Schütze des ihm anvertrauten Gutes an Leben und Wert im Augenblick vornehmen konnte.

Ein banger, unerquicklicher Tag folgte diesem Morgen, ein Abend voll Nebel und beinahe gänzlicher Windstille.

Dumpfe Schwüle lastete auf dem Meer, man konnte an Deck kaum die Hand vor den Augen sehen. Das Licht der Laternen durchdrang nur den allernächsten Umkreis, es war also keinerlei Beobachtung möglich, man mußte sich dem Willen des Himmels waffenlos überlassen.

Der Kapitän stand in diesem Augenblick an Deck, in jenem beugte er sich über seine Karten. »Ach, wenn es Tag wäre – wenn wenigstens der Nebel aufhören wollte!«

So kam der Morgen heran. Gegen vier Uhr wehte eine etwas steifere Brise, die Luft klarte auf, goldig und hell erschien am östlichen Horizont die Sonne.

Ihre Strahlen beleuchteten blasse, erschrockene Gesichter. Kaum hundert Schritte entfernt lag ein französisches Kriegsschiff – ihm entgegen, direkt unter seine Stückpforten, trieb mit Wind und Wellen die »Anna Elisabeth«, jetzt so sicher verloren, als habe sich das Meer aufgetan und sie in seine unergründliche Tiefe hinabgezogen.

Ein Schreckensschrei durchdrang die Luft; der Kapitän sah aus, als sei ihm die Hand des Todes unvermerkt über das männlich braune Antlitz gefahren, als ob jeder Blutstropfen erstarren müßte unter der eisigen Berührung.

Er gab keine Befehle, er sprach kein Wort – hier war alles schon im voraus zugunsten der Franzosen entschieden.

Diese selbst begannen sich zu rühren. Ihr Schiff zeigte an allen seinen Außenteilen die schweren Stunden, welche ihm der Feind bereitet hatte; Segel und Tauwerk waren zerschossen, an den Masten hingen große Splitter, die Schanzkleidung fiel zerbrochen und durchlöchert herab, an manchen Stellen fehlte sie ganz. Zimmerleute in großer Anzahl waren beschäftigt, auszubessern, zu dichten und zu ergänzen – auf dem Vorderdeck legte man gerade die Opfer des letzten Tages auf lange, mit einer Kanonenkugel beschwerte Bretter, um sie in die Tiefe zu versenken, aber alle Arbeit stockte, aller Blicke wandten sich, als hinter den Nebelmassen der englische Kauffahrer in Sicht kam. »Beute! – Beute!« – Was die Kanonen der Kriegsschiffe zerstört hatten, das sollten jetzt die Waren im Raume der »Anna Elisabeth« ersetzen.

Ein Boot fiel herab, ein Offizier und zwölf Soldaten kamen an Bord des unglücklichen Schiffes, erklärten es mit seinem ganzen Inhalt für das Eigentum der französischen Krone und die Besatzung für Gefangene, dann begann die Überführung derselben auf das Kriegsschiff, welches jetzt Bord an Bord mit dem Kauffahrer auf den Wellen lag.

Die Luken wurden ohne Umstände mit Beilhieben erbrochen, dann wandten sich die Räuber naserümpfend ab. »Talg und Buchweizen – fi donc!« Die Franzosen hätten etliche Näschereien, Schokoladen und Konfitüren lieber genommen.

Die Leute waren erbost, sie würden am liebsten mit der Faust über die Engländer hergefallen sein. Gestern ein blutiger Kampf, während der ganzen Nacht Arbeit und Unruhe – das hatte ihre Stimmung sehr verschlechtert.

Umsonst spähten die Engländer über das weite Meer hinaus, umsonst beteuerten die Passagiere, daß sie friedliche Privatleute seien und mit den Streitigkeiten der beiden feindlichen Mächte nichts zu tun hätten – sie alle wurden durch Kolbenstöße vorwärtsgetrieben und an Bord des Kriegsschiffes gebracht, während eine Anzahl Matrosen zur Führung der »Anna Elisabeth« auf diese überging und mit einigen Offizieren den Dienst sofort antrat. Der Wechsel vollzog sich sehr schnell; es schien, als fühlten sich die Franzosen noch durchaus nicht sicher.

Das Verdeck ihres Schiffes bot einen trostlosen Anblick. Blutlachen bedeckten den Boden, Splitter und Trümmer lagen überall, vierzehn Tote bildeten in den Umhüllungen alter Segel auf ihren Brettern den schauerlichen Hintergrund der Szene. Wimmern und Ächzen tönte aus dem Innern der Fregatte herauf. Über hundert Verwundete lagen auf Stroh, Segeltuch und Matten, zwei Ärzte mit einer starken Anzahl von Krankenwärtern bemühten sich um die Unglücklichen, deren jammervoll zerschossene Glieder vor Schmerzen zuckten.

Laute Verwünschungen empfingen die englischen Matrosen, Kranke und Gesunde spien ihnen ungestraft ins Gesicht; der Offizier, welchem sie vorgeführt wurden, sah es, ohne davon Notiz zu nehmen.

»Parlez-vous français?« schrie er in grober Weise dem Kapitän entgegen.

»No Sir – do you speak english?«

»Unteroffizier, bitten Sie Monsieur Lebonnier!«

Der Gerufene erschien, und es fand sich, daß er ein paar Brocken englisch zu radebrechen verstand, genug, um den Gefangenen ihr schreckliches Schicksal auseinanderzusetzen. Im selben Raume mit den ächzenden Verwundeten, auf den bloßen Planken des Schiffes, ohne Stühle, Stroh oder Betten erhielten sie ihre Plätze angewiesen, während zugleich die täglichen Rationen für sie bestimmt wurden, nämlich drei Lot Fleisch und anderthalb Pfund Brot, dazu für Mann und Tag eine Flasche Wasser. Von Tee oder Kaffee, von Butter oder Gemüse war keine Rede. Mikosch legte die Fingerspitzen auf Onnens Schulter. »Für mich mache ich mir gar nichts daraus«, flüsterte er, »ein Zigeuner kennt keine Bequemlichkeit, keine Ansprüche – aber wie wird es meinem armen Bären ergehen? Wenn ihn die Franzosen töten, so finde ich ein Mittel, das Schiff in den Grund zu bohren!« »Mikosch!«

»Ich halte Wort, Herr, verlasse dich darauf. Mein alter Ruff bleibt nicht ungerächt!«

»Noch lebt er«, tröstete Onnen. »Ich will einmal versuchen, ob sich nichts erfahren läßt – einige französische Worte spreche ich ja auch.«

Alexei sah mit seinen klugen Augen zu den beiden anderen hinüber. »Haltet euch nur vorläufig ganz ruhig«, flüsterte er. »Der Haß ist so groß, daß er jeden Augenblick zu Tätlichkeiten übergehen kann. Die Kerle beobachten uns und würden am liebsten mit ihren Fäusten über uns herfallen.« »Nur über die Engländer, denke ich!«

»Das ist es ja eben – der Unterschied wird zu spät gemacht werden.«

So saßen denn unsere drei Freunde im Winkel beisammen und hörten von der anderen Seite des großen Raumes das Klagen der Verwundeten, zuweilen ihre wilden Fieberphantasien, ihre Sterbeseufzer. Die Luft war von Miasmen erfüllt und drückend heiß, das wenige Wasser mehr als nur lauwarm. Um zwölf Uhr mittags kam das Essen, steinhartes Brot und dampfende Sehnen vom Salzfleisch – das Genießbare der verschiedenen Stücke hatten die Franzosen für sich behalten. Auch zur Mahlzeit gab es keinen Tisch; als einer der Matrosen mit erbitterter Miene auf den ihm als Mittagsmahl zuteil gewordenen Knochen hinwies und dabei Worte in den Bart brummte, die offenbar wenig schmeichelhaft klangen, da spie der französische Soldat als Antwort auf seinen Teller, eine Roheit, die von den übrigen Söhnen der großen Nation mit lautem Gelächter begrüßt wurde.

»Monsieur John Bull hat Hunger, der arme Kerl!« rief einer. Ohne ein Wort zu sprechen, erhob sich der Engländer vom Fußboden. Seine Augen blitzten, die breite Brust arbeitete gewaltsam, die Arme wirbelten wie Mühlenflügel durch die Luft, hie und da blutige Nasen oder blaue Flecke zurücklassend – nur mit äußerster Anstrengung rissen ihn seine Gefährten von dem viel kleineren Franzosen, dessen Gesichtsfarbe vor Wut in das Bläuliche hinüberspielte.

Der Engländer wurde gefesselt in das Schiffsgefängnis überführt, dann mußten sich die Gefangenen von Herrn Lebonnier eine lange Rede vorhalten lassen, eine Verwarnung, welche von den Kriegsartikeln handelte und entsetzliche Drohungen in sich schloß. Die Wachen am Eingange des Schlafraumes wurden verstärkt, niemand erhielt Zutritt zu den unglücklichen Engländern, denen nicht einmal möglich war, ihren Durst zu löschen oder einen Augenblick frische Luft zu schöpfen.

Mikosch verlangte den Kapitän zu sprechen – es wurde ihm abgeschlagen.

Von den Verwundeten starben an diesem Schreckenstage noch drei; wieder sank der Abend herab auf den schwimmenden Bau, das Fieber der Kranken wurde stärker, bis es in lautes Toben überging, die Verzweiflung der Gefangenen stieg von Stunde zu Stunde.

Um sie herum ein Flüstern und Ächzen, ein Weinen und Schreien in allen Tonarten. Das Röcheln des Todes schlug an ihr Ohr, das Jammern äußerster Verzweiflung; sie fühlten das Klopfen des Blutes in den Schläfen wie einen stechenden Schmerz, sie glaubten ersticken zu müssen in der vergifteten, unerträglichen Luft. Eins – zwei – drei – wie endlos war die Nacht voller Qualen! Da – horch! An Deck ein Laufen und Rufen, Kommandoworte, Gerassel von Waffen, von verschobenen Planken und Stückpforten, endlich der Befehl: »Klar Schiff!«

Mikosch hob den Kopf. »Klar Schiff? – Das bedeutet Kampf!« Wie elektrisiert horchten die übrigen. Allgemeine Unruhe beherrschte das Fahrzeug – dann plötzlich durchdrang der Donner einer ganzen Breitseite den vorherigen Lärm, wie etwa das Rollen der Brandung die leise Menschenstimme übertönt. Vom Bord des Franzosen wurde der eiserne Gruß erwidert; ein Toben, das nichts einzelnes mehr unterscheiden ließ, verbreitete sich über die ganze Umgebung. Onnen und Alexei sahen aus der schmalen Luke, gegen die die Wogen in jedem Augenblick hoch aufspritzten – sie erkannten zwei größere Schiffe, welche den Franzosen in ihre Mitte genommen hatten und von beiden Seiten bombardierten. Mitten in dem allgemeinen Lärm erhob sich plötzlich die Stimme des Bären; Ruff brüllte, höchstwahrscheinlich vor Furcht, er begriff nicht, was um ihn her vorging.

Ein Freudenschrei brach über die Lippen des Zigeuners. »Mein Tier lebt! – Hurra, nun mag geschehen, was da wolle!« Onnen und Alexei beobachteten aus verschiedenen Luken die Lage der Dinge. Zwei englische Fregatten bedrängten den Franzosen immer näher und näher und doch hielt sich dieser noch tapfer gegen beide Feinde – der Kapitän wollte Zeit gewinnen, um einen höllischen Plan auszuführen.

Das große kupferne Becken aus dem Mitteldeck wurde mit Kohlen gefüllt und die Kanonenkugeln darauf gelegt; eine Viertelstunde später sollten sie die englischen Schiffe in Brand setzen. Onnen sah zu den Gefangenen hinüber. »Wollen wir das dulden?« fragte er.

»Aber wie läßt es sich verhindern?« »Wenigstens den Versuch können wir doch machen.« Die Franzosen fielen oben an Deck wie Ähren unter dem Messer des Schnitters. Schon die vorige Nacht hatte schwere Opfer gefordert – jetzt ließen sich die entstandenen Lücken kaum noch ausfüllen. Das Blut sickerte von den Treppen, Tote und Sterbende versperrten den Weg, der Rauch verdichtete die Luft so sehr, daß niemand den anderen deutlich sah.

Die Engländer, dreiundzwanzig an der Zahl, drangen Schritt für Schritt gegen das Kohlenbecken vor; mit ihnen unsere Freunde. Sprechen oder einander hören konnte niemand; die Franzosen handhabten eifrig den Blasebalg, sie drehten die Kugeln und hielten alles bereit, um im gegebenen Augenblick das mörderische Geschoß abzusenden. Onnen sah jede Bewegung, er überwachte den ganzen Plan, und als die Kugeln glühten, da gab er den Leuten von der »Anna Elisabeth« ein Zeichen.

Sie waren sämtlich im Herzen entschlossen gleich ihm, sie hatten längst den kecken Gedanken begriffen und handelten in wortloser Übereinstimmung so, wie es der Augenblick erforderte. Sechs bis zehn aus ihren Reihen warfen sich auf die Franzosen, während andere die zahlreichen umherliegenden Waffen ergriffen und ihrerseits dem Feinde im Innern seines eigenen Schiffes den Krieg erklärten.

Onnen und Alexei packten mit den Zangen die erste glühende Kugel und schleuderten sie an Deck unter die Reihen der Franzosen, eine zweite folgte nach, die Kleider der umherliegenden Toten fingen Feuer, ein panisches Erschrecken faßte die Soldaten. Eins der beiden englischen Schiffe erhielt durch die augenblickliche Verwirrung an Bord des Franzosen die langerwartete Gelegenheit zum Entern. Wehrlos gemacht, unfähig, nach drei Seiten hin zu kämpfen, mußten es die Franzosen ruhig geschehen lassen, als Englands tapfere Söhne mit Beilen bewaffnet ihr Schiff betraten und sich für die Herren desselben erklärten. Ihre kräftigen Arme hieben die von den glühenden Kugeln getroffenen Stellen aus dem Holzwerk heraus, das Feuer wurde gelöscht und das Schießen eingestellt; auf der Stätte einer grenzenlosen Verwirrung, eines wilden entsetzlichen Durcheinanders lag bleierne Stille – die der Vernichtung, der Verzweiflung. Mikosch und mehrere andere waren dem Schalle nachgegangen, bis sie an das Gefängnis des Bären kamen, dann hatten sie die Tür erbrochen und den armen Kerl hervorgeholt. Ruff ließ die Zunge aus dem Maul hängen, er lechzte vor Durst und trank jetzt, als ihm Mikosch Wasser aus den Fässern brachte, gleich zwei Eimer voll. Die Engländer hatten sich ihren Landsleuten zugesellt, alle miteinander räumten unter den Franzosen, lebenden und toten, gründlich auf. Was noch atmete, das wurde in die Lazarette geschafft, alle entwaffnet und gefangengenommen, wobei die Söhne der großen Nation den Unterschied kennenlernen konnten, welcher zwischen ihren eigenen Gewohnheiten und denen der Engländer bestand. Sie hatten die friedliche Besatzung eines Kauffahrers mit unmenschlicher Härte behandelt, ihnen selbst entzogen dagegen die Briten kein solches Recht, das der Mensch dem Menschen in jeder Lage des Lebens schuldet; sie waren Gefangene, aber sie erhielten dasselbe, was auch die Engländer aßen, gute Hängematten und einen Schlafraum, der nicht mit verpesteter Luft erfüllt war und in dem es weder Verwundete noch Tote gab. Kapitän Rowland erstattete seinen Bericht, nach dessen Anhörung beide Schiffe die Jagd auf den geraubten Kauffahrer sogleich begannen, während die französische Fregatte als Kriegsbeute mit nach Helgoland genommen wurde.

Erst am dritten Tage kam die »Anna Elisabeth« in Sicht und verschwand dann noch zweimal; ehe die, Kriegsschiffe sie überholten. Ein Kanonenschuß ohne Ladung gebot den Franzosen, beizudrehen, sie gehorchten aber erst, als eine Kugel durch das Takelwerk flog und nun waren Schiff und Ladung gerettet. Aus den mörderischen Kämpfen der jüngsten Vergangenheit hatten nur gegen fünfzig französische Soldaten ganz unverletzt entrinnen können; sie standen mehr als tausend Engländern gegenüber, so daß ihr Schicksal von vornherein entschieden war. Die beiden Fregatten brachten abermals französische Beute nach Helgoland. Es war an einem milden, windstillen Sommerabend, als der Anker vor der einsamen nordischen Felseninsel in die Tiefe rasselte. Schiff an Schiff füllte die offene Reede, Boote fuhren dazwischen hin und her – unendlich öde und verlassen lag der steinige, unwirtliche Strand.

Ein Boot brachte die Passagiere der »Anna Elisabeth« an das Ufer. Alle diese Leute, zehn an der Zahl, wollten nach Hamburg; wie sie aber dahin gelangen sollten, das wußte vorläufig noch niemand. Die Franzosen bewachten die Mündungen der Elbe, Weser und Ems mit Argusaugen, kein noch so unbedeutendes Fahrzeug kam heraus oder hinein, ohne genau durchsucht zu werden, kein Mensch ohne Paß durfte die Grenze überschreiten. Mikosch hatte echte, vollwichtige Legitimationspapiere – er war überzeugt, auch ein Schiff zu finden.

Onnen und Alexei umwanderten die kleine Insel und sahen die niederen armen Fischerwohnungen, in denen selbst das Brot als Leckerbissen galt. Die genügsamen Leute aßen während der guten Jahreszeit frische und im Winter getrocknete Fische, zu denen höchstens einige Klöße aus grobem Mehl kamen. Nur einzelne Badegäste und wohlhabendere Einwohner konnten sich den Luxus besserer Mahlzeiten gestatten.

Als der Abend hereinbrach, hatte Mikosch seinen Streifzug durch verschiedene Schenken im Unterland beendet; er kam sehr zufrieden in die Herberge zurück und berichtete, daß die Fahrt nach Hamburg morgen vor sich gehen werde.

»Es ist eine Vierländer Bark hier«, sagte er. »Die Hamburger Elbinseln versorgen das ganze umliegende Gebiet mit jungem Gemüse, auch nach Helgoland kommen sie – da können wir also die Fahrt mitmachen.«

»Aber«, setzte er halb und halb seufzend hinzu, »in das Kriegsgetümmel kommen wir sofort wieder hinein – der russische General Tettenborn und der dänische Oberst von Hafner halten Hamburg noch besetzt, die Franzosen aber stehen in Harburg und können zu jeder Stunde in die unglückliche, außer dem Gesetz erklärte Stadt wieder einrücken.«

»Weshalb gehen wir dann nicht direkt nach Bremen und von dort nach Ostfriesland, Alter?«

Der Zigeuner schüttelte den Kopf. »Durch das feindliche Heer? – Und was könnte es dir nützen, Herr? Noch ist Norderney, sind Emden und Norden von den Franzosen besetzt; du dürftest dich in deiner Heimat nicht blicken lassen.« Onnen schwieg; er erkannte die Richtigkeit dieser Bemerkung, aber nicht ohne tiefes Bedauern. Da vor ihm die offene See und die vielen, vielen Schiffe – es schien so leicht, so einfach, hinauszusteuern und mit günstigem Winde in zwölf bis zwanzig Stunden vor Norderney anzulaufen! – Aber unübersteigliche Hindernisse lagen zwischen dem Plane und seiner Ausführung. Am andern Morgen ging die Bark unter Segel. Eine Anzahl Frauen mit kurzen, buntumsäumten vielfaltigen Röcken und korbartigen Strohhüten saß strickend neben Bergen von leeren Körben und Säcken auf dem Verdeck; Männer mit samtnen Kniehosen und langen, enganschließenden Strümpfen dampften ihre kurzen Fuhrmannspfeifen oder unterhielten sich mit leiser Stimme über die politischen Ereignisse der Gegenwart; jedes Gesicht trug den Ausdruck banger Sorge, die Züge waren blaß und vergrämt. »Hamburg wird bombardiert!« ging es von Mund zu Mund. »Mit glühenden Kugeln beschossen! Der Unmensch Davoust ist auf der Wilhelmsburg, er will die ganze Stadt in Brand stecken.« »Fremdes Volk in allen Gassen, zweifelhafte Freunde hier und offene Feinde dort – Hamburg ist heute schlimmer daran als jemals. Es hat nichts mehr zu geben, seine Bewohner verhungern, sein Handel ist untergraben, Millionen sind geraubt worden, um die unersättliche Gier der Franzosen zu befriedigen.« Ein halblautes Schluchzen ging durch das Schiff; die Frauen weinten still vor sich hin, die Männer standen mit geballten Fäusten. So trostlos wie hier waren im vorigen Jahre die Verhältnisse in Ostfriesland nicht gewesen; Onnens Herz schwoll hoch im Gefühl eines Hasses, der ihn ganz beherrschte. Wenn es ihm irgendwie möglich war, so wollte er als Freiwilliger eintreten, um die räuberischen Feinde von Deutschlands Boden vertreiben zu helfen. Einen Tag und eine Nacht schaukelte das Schiff auf den Wellen der Elbe; Cuxhaven kam in Sicht, Glückstadt, Stade, dann Blankenese und Altona; – endlich war der Jonashafen erreicht, und neue Hiobsposten stürmten auf die Ankommenden herein. »Die Veddel (eine Elbinsel, über welche heute die Pariser Bahn hinwegführt) ist verloren, das Bataillon Hanseaten, fünfhundert Mecklenburger und ebensoviele Freiwillige sind aufgerieben oder gefangen!«

»Auf der Wilhelmsburg (eine andere Elbinsel) ist das zweite Bataillon in einen Hinterhalt gelockt worden – unsere armen Jungen mußten in den Gräben und Gaten ertrinken.« »Ach, daß Gott erbarm!«

Die Frauen schluchzten laut, die Männer wurden in den Strom dieser bitteren, brennenden Tränen, dieser herzerschütternden Verzweiflung mit hineingezogen. »Unsere Jungen! Unsere Jungen! – Wir sollen sie niemals wiedersehen!«

»Das ganze zweite Bataillon ist vernichtet, das erste auf der Veddel zusammengehauen oder in Gefangenschaft geraten – Tausende von Müttern und Vätern haben ihre Söhne verloren; ganz Hamburg schreit zum Himmel um Hilfe in der Not.« »Und was das Schlimmste ist«, fügte eine Stimme hinzu, »die Kosaken verlassen uns, sie stehen schon marschfertig hinter dem Letzten Heller (Wirtshaus bei Wandsbeck)!« »Und die Dänen, welche bisher aus nachbarlicher Freundschaft unsere Wachen bezogen, haben für morgen Marschordre.« Mikosch winkte seinen beiden Genossen. »Kommt«, sagte er, »es macht ganz mutlos, die Leute so weinen zu sehen. Diese armen Weiber, während sie auf Helgoland um Wurzeln und Blattgemüse feilschten, hat man ihre Söhne meuchlings ertränkt! – Laßt uns eilen, ein Quartier zu bekommen; wir müssen vor allen Dingen erfahren, ob wirklich die Stadt bombardiert werden soll oder nicht.«

Onnen sah zum Michaelisturm hinauf. »Ist es nicht Sturm, was sie da läuten? – Ich glaube es.«

»Natürlich!« rief ihm ein Vorübergehender zu. »Jetzt ist es nicht die Zeit, um Bären tanzen zu lassen. Eisern fallen die Würfel! Geht zum Bauhof und nehmt das Gewehr in die Hand, Zigeuner, dann tut ihr das Rechte.«

»Wir sind schon unterwegs dahin, Freund!« Onnen legte die Fingerspitzen auf des Alten Schulter. »Mikosch, du hast mich wie ein Vater beschützt seit der Stunde, wo ich halb verhungert im russischen Walde lag und keine andere Hoffnung hatte, als die auf deine Barmherzigkeit – aber das, was ich heute von dir erbitte, ist mehr noch als Brot und Obdach. Laß mich frei, laß mich mit meinen Landsleuten kämpfen! Ich kann jetzt nicht tatlos zusehen.«

Mikosch lächelte. »Das sollst du auch nicht, Herr. Geh zunächst mit uns in das Quartier im Eichholz, lerne das Haus kennen, damit du es wiederfindest, und dann richte dich ein, wie es dir beliebt. Brauchst du Geld, so sprich nur!«

Onnen schlang ungestüm auf offener Straße seine beiden Arme um den Nacken des braunen Mannes. »Gar nichts!« antwortete er gerührt, von dem Sturmläuten aller Kirchen, von dem Treiben und Drängen auf den Straßen leidenschaftlich erregt, »gar nichts, Alter. Du darfst nur nicht verlangen, daß ich mir's bei dir wohl sein lasse, indes mein Volk weint und sich auf den Wällen schlägt–aber ich will immer zu dir zurückkehren; wo du bist, da soll meine Heimat sein. Ist's so recht?«

»Na, komm nur erst und laß uns ein Quartier suchen! Ich werde dir wahrlich kein Hindernis in den Weg legen!«

Auf allen Straßen drängte und wogte das Volk. Wie damals in Smolensk und Moskau zogen ganze Karawanen zu den Toren, um dem hereinbrechenden Verhängnis womöglich noch zu entrinnen, aber nur Frauen und Kinder verließen die Stadt, alle Männer, selbst alle größeren Knaben blieben zurück, um auf den Wällen gegen die Franzosen zu kämpfen. Es war eine wahnwitzige Hoffnung, welche die unglücklichen, zur Verzweiflung getriebenen Menschen erfüllte; aber sie kennzeichnete das erwachte patriotische Gefühl und war in ihrer echten Begeisterung so ansteckend, daß sie alles, was in Hamburg lebte, gewaltsam mit sich fortriß.

Gerüchte der verschiedensten Art wurden laut. Bald hieß es, daß der Herzog von Braunschweig mit zwanzigtausend Mann eintreffen werde, bald wieder, daß von Schwerin und Wismar eine Abteilung Schweden nahe oder daß General Tettenborn nach Hamburg zurückkehren wollte; aber von alledem geschah nichts, der Tag verging ohne ein bemerkenswertes Ereignis, alle verfügbaren Truppen standen auf dem Bauhof und von Minute zu Minute wurde das Bombardement erwartet.

Die Nacht war milde und ruhig, rings um Hamburg her standen die Bäume im schönsten Frühlingsgrün; leise bald und dann wieder schmetternd sang die Nachtigall in den Gebüschen. In den ruhigen Wellen der Elbe spiegelte sich der Sternenhimmel mit seiner ganzen königlichen Pracht – wer die Augen schloß, der hätte vom Garten Eden träumen können, von dem Schöpfungsfrieden der ersten Tage, ehe noch die Sünde in die Welt kam und mit ihr der Tod und das ganze Heer jener Feinde, die seitdem den Menschen umlagern und mit denen er kämpfen muß bis an sein Grab.

Stille, tiefe Stille. Eine Kirchenuhr schlug eins, hie und da widerhallte gleich einem Echo der Ton, dann folgte hell und klar ein Choral, gespielt von den gestimmten Glocken der Petrikirche; wer die frommen Klänge hörte, der faltete unwillkürlich seine Hände. »Beschütze Hamburg, Vater im Himmel, wehre dem Tyrannen, der es bedroht!«

Eine dichtgedrängte Menge von entschlossenen Männern füllte die Wälle. Wenn in dieser Nacht eine Landung versucht worden wäre – die Franzosen hätten mit gereizten Tigern statt mit Menschen kämpfen müssen.

Einmal hatte die Stadt unter ihren räuberischen Fängen geblutet, einmal das Unerhörte erduldet; kein Herz konnte den Gedanken an eine Wiederkehr solchen Elendes ruhig ertragen, keines das schreckliche Schicksal für möglich halten.

Sie warteten alle. Sie wollten über den verhaßten Feind herfallen wie jener Russe, der dem polnischen Offizier die Kehle durchbiß – sie waren zum äußersten, zu jeder Verzweiflungstat entschlossen.

Es schlug halb zwei von allen Türmen; schon gab es Stimmen, die von leeren Gerüchten sprachen. Wenn die Franzosen angreifen wollten, weshalb sollten sie dann noch zögern, die Zeit unnütz verstreichen lassen?

»Vielleicht kämpfen sie schon jetzt mit den Braunschweigern!«

»Das ist möglich! Ja, ja, so wird es sein!«

Und dann zerriß der Schleier. Von dem nahen Wilhelmsburg herüber klang ein Kanonenschuß – die erste glühende Kugel fiel in Hamburgs Straßen.

Ein Schrei aus Tausenden von Kehlen begleitete den Flug des verderbenbringenden Geschosses, das am Bauhof auf das Pflaster fiel und dort, ohne zünden zu können, zerplatzte. Jetzt war das Bombardement eröffnet.

Die zweite Kugel folgte schon nach einer Minute der ersten; auch sie schadete nicht eigentlich, aber Schreck und Angst stiegen immer mehr. Das Dach des Bauhofsgebäudes war gestreift worden – die Menge wich bestürzt zurück.

»Es liegt Pulver darin!«

»Sechsunddreißig Fässer mit Patronen!«

»Allmächtiger Gott, wenn eine Explosion käme!«

Der Platz um das alte Gebäude wurde im Augenblick leer, nur die Wachtposten blieben und mit ihnen ein kleines Häuflein entschlossener Männer. Unter den letzteren befand sich natürlich unser Freund.

Der wachthabende Offizier schickte eine Ordonnanz zum Obersten von Heß, und schon nach zehn Minuten erschien dieser vor dem bedrohten Hause. Alles Bürgermilitär wurde zum Domplatz kommandiert; der Bauhof sollte preisgegeben werden.

Oberst Heß musterte jene Gruppe von Männern, die schweigend in seiner Umgebung blieb. »Hamburger!« rief er, »es liegen sechsunddreißig Fässer mit Patronen hinter jener Tür! Habt ihr eure Vaterstadt lieb genug, um sie herauszuholen? Ich möchte nicht gern Soldaten dazu befehligen!«

» Hurra für Hamburg!« war die einstimmige, begeisterte Antwort. »Den Schlüssel her – wir warten nur darauf, Hand anzulegen!« Die Türen wurden geöffnet, und während des ununterbrochenen Kugelregens arbeiteten etwa zwanzig Männer unter vollständiger Nichtachtung der Gefahr mit allen ihren Kräften an dem Transport der Patronen, deren eine, wenn von einem Funken getroffen, imstande gewesen wäre, ganze Straßen, Tausende von Menschen dem sichern Untergange zu weihen. Die Fässer wurden vorsichtig gerollt und hüben und drüben in Eimern ganze Ströme von Wasser bereitgehalten, um im Notfall eine etwa anlangende glühende Kugel sogleich übergießen und löschen zu können.

Aber eine nach der anderen fiel und Gott beschützte Hamburg; von allen Brandgeschossen, welche Davoust in die Stadt werfen ließ, hat keine ein Menschenleben vernichtet, keine einen erheblichen Schaden bewirkt.

An der nächsten Straßenecke hielten Wagen und brachten die gefährliche Ladung in ein entferntes Gewölbe der Neustadt; es wurde sowohl das Pulver als auch die Patronen von den mutigen Männern hinausbefördert, ohne daß sie in der Erfüllung dieser schweren Pflicht einen Augenblick gezögert hätten.

Zu dem Obersten von Heß gesellten sich zwei Herren, der eine in Zivilkleidung, unter welcher man jedoch den ehemaligen Offizier sofort erkannte, der andere in königlich dänischer Stabsuniform, Hamburgs Retter, der Oberst von Hafner und dessen intimster persönlicher Freund, Baron Andreas von Liliencron, dänischer Oberst außer Dienst. Beide beobachteten die Räumung des Bauhofes und letzterer legte sogar gelegentlich selbst Hand ans Werk. »Du weißt es, Hafner«, sagte er lächelnd, »die gefährlichen Unternehmungen sind meine besondere Leidenschaft!«

»Die deinige wohl auch, Zigeuner«, wandte er sich dann zu Onnen. »Weshalb wärest du sonst hier, Bursche?«

Unser Freund hob den Kopf. Sein hübsches, in diesem Augenblick mit Schweiß bedecktes Gesicht war dunkelrot, seine Augen blitzten.

»Ich bin kein Zigeuner, Herr Offizier, ich bin ein deutscher Mann wie Sie!«

»Fehlgeschossen!« lächelte der andere. »Ich bin ein Däne!«

Dabei rollte er die Fässer mit über das Pflaster und ließ dann für alle, die ihre Kräfte der Vaterstadt so opferfreudig widmeten, reichliche Erfrischungen bringen. »Du gefällst mir, Junge«, sagte er, Onnens lockigen Kopf streichelnd, »wie heißt du ? Und wenn du wirklich ein Deutscher bist, wie kommst du in diese Vermummung?«

Onnen erzählte bescheiden und alle drei Herren horchten mit lebhaftem Interesse. »Also du warst in Moskau und Smolensk«, rief der Baron, »du hast ganz Rußland kennengelernt? Bei deiner Jugend ein großer Gewinn für die Zukunft. Wenn es dir Spaß macht, so besuche mich in den nächsten Tagen und bringe auch den Bären mit, hörst du? – Ich wohne am Schweinemarkt, in dem Hause unter den Bäumen.«

Onnen dankte höflich, ohne jedoch das dargebotene Geldgeschenk des Barons anzunehmen. Es war jetzt vier Uhr morgens, das Bombardement hatte aufgehört und der Bauhof seinen Inhalt herausgegeben; auch das Schießen von den Wällen begann zu ermatten – hüben und drüben bedurfte man gleich sehr der Ruhe.

Mehrere Hamburger begleiteten unsern Freund zur Herberge im Eichholz, wo Mikosch wachend saß, unfähig, die Augen zu schließen, bevor sein Schützling in den sicheren vier Wänden wieder angelangt war. Er streckte ihm beide Hände entgegen, seine Stimme klang unsicher vor tiefer Bewegung. »Nun, da bist du ja, Herr«, sagte er, »ich habe mich deinetwegen sehr geängstigt.«

Onnen sah gerührt in das braune Gesicht des Alten. »Nenne mich nie wieder Herr, Mikosch, hörst du? Ich bin dir von Herzen dankbar für alle deine Treue, ich habe dich lieb, ›König Mikosch!‹«

Und dann erzählte er ihm von den Ereignissen am Bauhof, von der Einladung des Barons und alledem, was er gesehen hatte. Der Zigeuner spitzte die Ohren. »Da gibt es eine gute Belohnung, du – ich will den Bären putzen und ihn gehörig füttern, damit er recht willig wird.«

Onnen lächelte. »Ich glaube, daß für Geld und gute Worte gegenwärtig kaum noch etwas zu erlangen ist«, versetzte er. »Die Preise sind ganz unerhört.«

Mikosch seufzte. »Weiß schon, Kind, weiß schon – eben darum müssen wir ja Trinkgelder erlangen. Ein Pfund Butter kostet zwei preußische Taler, ein Pfund Mehl neun Groschen und ein Spint Roggen sogar drittehalb Taler. Denke dir, eine kleine Steckrübe sechs Groschen! – Und Ruff verzehrt gegen vierzig auf einmal!« Onnen lachte. »Da mußt du die Aussicht auf eine Schenke noch ein wenig in die Ferne rücken, Alter.«

Der Kopf des Zigeuners wiegte immer langsam von einer Seite zur anderen; er hob wie verstohlen die Hand mit dem Tuche und trocknete große Tropfen von seiner Stirn. »Du«, sagte er, »ich habe eine böse Nachricht erhalten – das Königreich Dänemark macht Bankrott!«

»Und du besitzt dänische Kassenscheine, Alter?«

Der Häuptling nickte nur, seine Hand zitterte. »Das ist ein schwerer Schlag«, murmelte er endlich.

»Aber er betrifft doch nur das Geld«, tröstete Onnen. »Mir hat man den Vater gemordet, die alte Mutter hilflos hinausgestoßen und Hab und Gut geraubt! – Du kannst den verlorenen Schatz wiedergewinnen, Mikosch!«

Der Zigeuner richtete sich straffer auf, seine Brust atmete tiefer. »Ja, ja«, rief er, »denke nur nicht, daß ich ein Geizhals sei, mein Junge. Laß fahren dahin! – Aber so ein bißchen weh tut's doch, das zu verlieren, was man Pfennig um Pfennig unter jahrelanger Mühe zusammengetragen hat. Ich muß es eben zu vergessen suchen – du hättest mir ja in dieser Nacht tot ins Haus gebracht werden können, und das wäre schlimmer gewesen.«

»Noch schlimmer? Mikosch, hast du mich lieber als dein Geld?«

»Ja, Herr, tausendmal ja! Ich habe dich von Herzen lieb!«

Und Onnen antwortete nichts, er küßte den Alten, er fühlte tief, daß kein käuflicher Besitz der Erde ihr höchstes Gut, die Liebe eines treuen Herzens, ersetzen kann.

Der Rest der Nacht verstrich ohne Störung, ebenso der folgende Tag. Ruff wurde herausgeputzt, Mikosch schenkte, was bei ihm nicht alle Tage vorkam, seiner Frisur und seinem Gesicht eine gründliche Säuberung, dann gingen alle drei zum Schweinemarkt, wo in dem Hause vor dem Ausgang der Spitalerstraße schon neugierige Kindergesichter hinter den Fenstern die Ankunft des Bären erwarteten. Ruff wurde mit Jubel begrüßt, er erhielt hier sogar noch Äpfel und Zucker, und selbst der lebenslustige Baron lachte herzlich, als das Kartenspiel zwischen dem Zigeuner und dem gelehrigen Vierfüßler begann. Onnen mußte erzählen, die Baronin bewirtete alle ihre Gäste auf das reichlichste und später lud ihr Gemahl sogar den jungen Norderneyer ein, häufiger ins Haus zu kommen.

»In vierzehn Tagen ziehen wir nach Altona«, sagte er, »dort stehen uns ein großes Haus und ein Garten am Quäkerberg zur Verfügung; Ruff kann jederzeit junges Gemüse fressen und auch dir selbst denke ich einen Herzenswunsch zu erfüllen. Einer meiner Freunde in Emden, ein französischer Offizier, besorgt dir ein Briefchen an deine Mutter und ebenso die Antwort zurück.«

Onnen sprang auf, dunkelrot vor Freude. »Herr Baron«, stammelte er, »ich bin der Sohn eines einfachen Fischers – wie komme ich zu der Ehre –«

Der Baron lachte. »Daß dir ein Aristokrat gern einen rechten Gefallen erweisen möchte, mein hübscher Junge? Hat dich der ›Baron‹ so sehr erschreckt? Dann laß dir sagen, daß ich auch noch königlich dänischer Erb-Erz-Bannerherr bin, daß ich das Recht besitze, allemal wenn ein König gekrönt wird, die Reichsfahne zu tragen! – Komm her, Junge, gib mir die Hand; ein Herz, das warm für seine Mitgeschöpfe schlägt, ist mehr wert als alle Titel und Würden!«

Onnen schlug zögernd ein und der Baron streichelte lächelnd sein erglühendes Gesicht. »Da siehst du meine liebe Frau«, sagte er, »sie war als Mädchen eine Leibeigene, wie du sie in Rußland kennengelernt hast. Ich schätze nur den Menschen, nie aber die äußeren Verhältnisse – dich habe ich ganz ins Herz geschlossen, weil du mutig bist, und das ist die hervorragendste Eigenschaft eines Mannes.«

»Papa!« rief in diesem Augenblick der vierzehnjährige älteste Sohn des Hauses. »Papa, siehst du, ich bin auch mutig! Der Bär drückt mir die Hand!«

Alles lachte, als Ruff umherging und jedem mit seiner gewaltigen Tatze zum Abschied die Hand schüttelte. Mikosch erhielt ein glänzendes Trinkgeld, er war von dieser neuen Bekanntschaft sehr eingenommen und meinte, daß Onnen ein wahres Glückskind sei. »Schreib nur gleich an deine Mutter«, riet er, »aber sei schlau, nenne keinen Namen und keine Adresse, denn der Brief könnte doch immerhin aufgefangen werden.«

Das hatte unser Freund auch schon gedacht, er hütete sich, irgendeine Spur zu verraten, schrieb aber stundenlang der alten Frau über seine sämtlichen Erlebnisse und fragte nach allen denen, welche in der Heimat zu den näheren oder ferneren Erinnerungen seiner Jugend gehörten; dann brachte er den Brief in das Haus des Barons.

Der sonst so lebensfrohe Herr war diesmal ernst. »Das Bombardement beginnt wieder«, sagte er, »die Stadt schwebt in höchster Gefahr. Geh nicht hinaus, mein Junge, du kannst, da alle Vorräte an Munition sicher geborgen sind, draußen nichts nützen.«

»Aber wenn irgendwo ein Feuer entstände?« wagte Onnen einzuwenden.

Der Baron zuckte die Achseln. »Brennt nur ein einzelnes Haus, so wird man es wohl löschen, aber ich fürchte, daß die ganze Stadt in Flammen aufgeht. Der Senat hofft immer noch auf den Beistand fremder Mächte – stattdessen sollte er die Stadt beizeiten übergeben.«

Onnen empfahl sich, nachdem ihm der Baron die Besorgung seines Briefes fest versprochen hatte, und dann ging er durch die Stadt, um diese zu besehen. Oberst Hafner hatte den Befehl, Hamburg zu verlassen und sich nach Altona zurückzuziehen, natürlich befolgen müssen, die Dänen waren also fort und mit ihnen mehrere Kanonenboote, welche bisher den Hafen bewacht hatten. Der ganze Hamburger Berg, die heutige Vorstadt St. Pauli, befand sich im Zustande äußerster Aufregung; die Brücke vor dem nach Altona führenden Millerntor wurde unter ihren hölzernen Bogen mit Teertonnen belastet und von oben mit geteertem Stroh umwickelt, so daß der Zugang der Stadt in jedem Augenblick durch Flammen und durch die gänzliche Vernichtung der Brücke unmöglich gemacht werden konnte. Auf diese Weise war der Hamburger Berg schutzlos preisgegeben, denn auch die Zugbrücke am Dammtor hatte man der Zerstörung geweiht; eine Anzahl von Pionieren stand bereit, sie in jeder Minute zu durchhauen.

Bange Unruhe herrschte in der ganzen Stadt, in jedem Herzen. Bald hieß es, daß Mecklenburger, bald, daß Schweden einrücken würden; niemand wagte zu hoffen, und doch konnte auch niemand den Gedanken an eine abermalige Franzosenherrschaft ohne Grauen, ohne die Absicht des äußersten, leidenschaftlichsten Widerstandes ertragen. Am Hafen standen Hunderte von Männern und beobachteten die Einschiffung einer Kompanie Hanseaten, die auf dem sogenannten Admiralitätsschiff, dem einzigen, das die Stadt besaß, nach Abzug der Dänen Wache halten sollten.

Diese Leute waren keine Seesoldaten, kannten nichts von dem Dienst auf einem Schiffe und hatten ohnehin keine Führer; es sah traurig genug aus, als sie ungeschickt an Bord kletterten und daselbst bei jedem militärischen Manöver anstießen oder den Halt verloren.

Der Abend sank herab, heller Mondschein beleuchtete den Hafen und die näherliegenden Inseln; das umbuschte Grasland vor St. Pauli dagegen, die zahllosen kleinen Kanäle zwischen den Weiden blieben im Halbdunkel. Steinwärder, die Wilhelmsburg und mehrere unbebaute Eilande sind sämtlich durch schmale Elbarme miteinander verbunden; von ihnen bis zum Festlande beträgt die Entfernung etwa eines Büchsenschusses Weite – an diesem Abend lagen sie im Zwielicht der ziehenden, bald den Mond verhüllenden, bald wieder zurücktretenden Wolken.

Es war vielleicht elf Uhr, als von der Wilhelmsburg die erste Flamme aufblitzte – das Bombardement mit glühenden Kugeln hatte abermals begonnen.

Ein Weheschrei tönte zum Himmel, aller Blicke kehrten sich gegen die bedrohte Stadt. Zwei, drei Geschosse auf einmal – wie lange würde Gott Gnade schenken und alle diese Kugeln harmlos gleich Regentropfen auf dem Pflaster zerschellen lassen?

Wieder heulten die Sturmglocken, wieder rasselten die Spritzen aus ihren Schuppen hervor, erklangen Rufe und Trommelsignale; ein betäubender Lärm, gemischt aus Wutausbrüchen und Angstgeschrei, erfüllte rings die Luft.

Immer mehr Kugeln, immer mehr. Niemand ahnte bis jetzt, zu welch einem verwegenen Handstreich diese Nacht benutzt werden sollte.

Aller Aufmerksamkeit war den zerstörenden Geschossen zugewendet; kein Mensch bemerkte, daß sich's auf der Elbe, zwischen den Inseln zu regen begann, daß etwa sechzehn Boote und ein großes Schwimmfloß, bedeckt mit dunklen Gestalten, zum Vorschein kamen.

Auch die Leute auf dem Admiralitätsschiff sahen sämtlich zur Stadt hinüber. Dort standen ihre Häuser, lebten ihre Lieben; sie beobachteten angstvoll die Richtung jeder Kugel, sie berechneten, ob dieselbe da eingeschlagen haben könne, wo eben die Stätte lag, für welche ihre Herzen bebten.

Am Ausguck kein Posten, am Steuer kein Posten, die Kanonen verrostet, die Takelage in Unordnung, die Anker tief im Hafenschlamm begraben, so lag das Schiff, und seine Besatzung sah hinüber zum Lande, ohne den Inseln einen einzigen Blick, ja auch nur einen Gedanken zu schenken.

Auf einem so bedeutenden Strome wie die Elbe kommen und gehen in den Häfen überhaupt zu jeder Stunde so viel Boote, daß niemand sie mehr beachtet. Hie und da zerstreut, scheinbar unabsichtlich näherten sich jene siebzehn Fahrzeuge dem Admiralitätsschiff.

Der Widerschein der Kugeln beleuchtete den Himmel und die hohen Giebelhäuser der alten Kaufmannsstadt – noch hatte keine Brandrakete eingeschlagen.

»Gott verläßt Hamburg nicht! Wir werden doch gerettet!«

Und dann erscholl vom Bord des Schiffes ein Schreckensschrei: »Die Franzosen! Die Franzosen!«

Eine allgemeine Unruhe bemächtigte sich der am Lande Stehenden. »Wo sind sie? Wo?«

Wie die Katzen, an Strickleitern und Entertauen hängend, erkletterten die flinken Söhne des Südens, nachdem sie sich leise herangeschlichen hatten, das Verdeck. Binnen wenigen Minuten entbrannte ein Kampf, der ganz nach indianischem Muster geführt wurde. Die Franzosen hatten keine Schießwaffen mitgebracht, den Hanseaten waren die ihrigen gleich beim ersten Anprall entrissen worden – Mann an Mann, Brust an Brust wurde der Kampf ausgestritten, bei dem die glühenden Gefühle des gegenseitigen Hasses fast allein als Gesetz und Kommando galten.

Auf je einen Hanseaten kamen zehn oder sechzehn Franzosen; die Übermacht behielt wie immer den Sieg, das Verdeck triefte von Blut, hie und da fielen zwei eng aneinandergeklammerte Soldaten in das Wasser, ein furchtbarer Tumult tönte zum Lande hinüber.

Die Franzosen hatten endlich mit vereinten Kräften die Anker aus dem Schlamm hervorgezogen, das Schiff war flott und begann zu treiben; es schien, als erwecke dieser Umstand die entsetzten Zuschauer aus ihrer Erstarrung.

»Sollen wir uns das Admiralsschiff stehlen lassen?« rief eine Stimme.

»Auf sie! Auf sie! Wir haben ja Boote genug!«

»Die Soldaten am Millerntor müssen uns ihre Waffen geben!«

Ein Teil der Männer lief den ziemlich weiten Weg vom Strande bis zum Tor hinauf, ein anderer riß die vielen Jollen von ihren Pflöcken los. Das Wasser bedeckte sich mit Fahrzeugen, das Deck des Schiffes mit bunt zusammengewürfelten Gestalten; hie und da blitzte ein Messer, ein Schuß durchdrang die Stille der Nacht – immer mehr und mehr befreiten sich die Hamburger von der Gewalt der Räuber, immer häufiger stürzte Mann nach Mann in die Elbe.

Onnen und noch ein anderer kämpften mit drei Franzosen um den Besitz des Steuerrades. Die Angreifer wollten das Schiff hinausbringen in den Strom und es dann an geeigneter Stelle auffangen, die Verteidiger dagegen ihre Feinde gefangennehmen und das Fahrzeug ans Ufer treiben.

Niemand von den Umstehenden sah mehr nach Hamburg hinüber; wer kein Boot fand, der schwamm hinaus, um wenigstens im Wasser noch zwischen seinen bloßen Fäusten einen der verhaßten Gegner zu erdrosseln oder die in den Jollen Wache Haltenden totzuschlagen. Da galt keine Kriegsregel, kein Kommando, da gab es keinen Pardon; der Bestohlene hielt den Dieb gepackt und erwürgte ihn, das war alles.

Onnen lag am Boden, über ihm schwang ein Franzose das Messer und war im Begriff, es dem wehrlosen Gegner in die Brust zu stoßen, als plötzlich derbe Fäuste ihn packten und rückwärts auf die Planken warfen. Alexei hatte den Freund überall gesucht, war dem Strome der erregten Menge gefolgt und kam gerade früh genug, um einen Todesstreich abzuwehren. Er lachte, seine weißen Zähne glänzten. »Das Schiff ist gerettet, Herr!« rief er lustig. »Steh auf!«

Von allen Seiten kletterten die Hamburger an Bord, Schüsse knallten, in wilder Hast suchten die Franzosen zu entfliehen – langsam treibend, dem Zuge der Wellen folgend, glitt das Schiff auf den Strand.

Blut sickerte von allen Planken, Blut glänzte im Widerschein des roten Lichtes, das die Brandraketen warfen. Soviel schwere, schreckliche Nächte Hamburg während der Franzosenherrschaft durchlitten – die auf den 22. Mai des Jahres 1813 war der grauenvollsten, schrecklichsten eine.

Elf Franzosen gerieten in Gefangenschaft, einige wenige konnten schwimmend die Elbinseln erreichen – weitaus die meisten ertranken. Aber mit ihnen auch viele Hanseaten, viele junge, blühende Leute, deren Angehörige während dieser Schreckensstunden, ihre beste Habe in der Hand, Wache hielten, von Augenblick zu Augenblick erwartend, daß die nächste Kugel einschlagen und Tod und Vernichtung unter das friedliche Dach tragen werde.

Auch diesmal geschah kein Unglück. Als Onnen und Alexei in die Herberge kamen, hatte das Schießen aufgehört und für den Augenblick löste sich die bange, furchtbare Spannung der Nerven.

Wieder ein Tag, an dem die Waffen ruhten. Draußen auf dem Hamburger Berge fischte man die Leichen der Gefallenen und Ertrunkenen am Strande und mit Booten aus dem Wasser. Die Kompanie Hanseaten, welche höchstens eine Stunde lang das Admiralsschiff zu bewachen gehabt hatte, war bei dieser Gelegenheit bis auf zwölf Mann zusammengeschmolzen, alle übrigen lagen tot auf dem Grunde des Stromes oder wurden in langen Zügen durch die Stadt zu den verzweifelnden Ihrigen getragen. Wer sein Kind, seinen Bruder vermißte, der suchte händeringend, der fragte und horchte, der sah mit Todesangst unter die verhüllenden Tücher der Bahren, um sich dann seufzend, im Augenblick erleichtert, abzuwenden oder mit lautem Verzweiflungsschrei auf einen geliebten Toten zu stürzen.

Vor dem Dammtor bewegten sich auf den Kirchhöfen fortwährend schwarze Gestalten, Stunde um Stunde erhielt das Grab seine Opfer; bitterer und immer bitterer wurde in der ganzen Stadt die Stimmung. Es gab Leute, welche bei den fortwährenden Beerdigungs- und Totenzügen in Krämpfe fielen, es gab solche, die den nahen Untergang der Welt prophezeiten, und wieder andere, von deren bleichen Lippen verworrene Worte fielen, arme Seelen, deren Kräfte den gehäuften Schrecknissen nicht gewachsen waren. Zwischen allen diesen standen ganze Scharen, die an allen Straßenecken ihre Hände ausstreckten und laut nach Brot schrien. Der Hunger, der nagende furchtbare Hunger hatte seinen Einzug gehalten.

Von den Bäumen verschwanden die jungen Blätter, vom Boden das Gras – man hatte es gekocht und zu essen versucht.

Tote Pferde, Katzen und Hunde gaben willkommenen Braten. Hie und da in den Straßen oder auf den Wällen lag eine gekrümmte stille Gestalt, das Gesicht abgezehrt bis zum Skelett, die Hände wie Krallen. Scheuen Blickes flohen die Vorübergehenden. – »Der ist verhungert, dahin! An wen kommt jetzt die Reihe?«

»Brot! Brot!« Wie wahnsinnig riefen es die Armen; haufenweise durchzogen sie die Straßen und begannen sich zusammenzurotten vor den Häusern der Bäcker und Krämer. »Brot! – unsre Kinder verhungern!«

In der Nacht flogen dann die Kugeln. Man schlief jetzt trotz dieses Umstandes vor Ermattung, vor gänzlicher Kraftlosigkeit; man lag unter dem Dache, das im nächsten Augenblick durchschlagen werden konnte, in einer Art von bleiernem Stumpfsinn.

Allmählich immer mehr und beängstigender füllten sich die Krankenhäuser, trug man aus den engbevölkerten Gängen und Höfen die Leichen Gestorbener hervor. Der Typhus war ausgebrochen; zu allen schon vorhandenen Schrecken gesellten sich die einer verheerenden Epidemie.

Die allgemeine Unzufriedenheit, die Unruhe und Aufregung wuchsen von Stunde zu Stunde. Die größere Hälfte der Senatsmitglieder hatte Hamburg verlassen, die Wachen wurden nicht mehr bezogen, die Bürgerwehr unter dem Obersten von Heß war aufgelöst. Langsam hob ein grinsendes Gespenst aus den Nebeln der Zukunft sein Medusenantlitz – die Anarchie, das Aufhören aller Ordnung.

Die einen tobten und verlangten Brot, ohne zu begreifen, daß es keine Vorräte mehr gab; die anderen legten todesmatt ihre Hände in den Schoß – die wenigen besser Gestellten flohen nach Altona.

Und nachts flogen die Brandraketen, hie und da treffend, entweder in ein Haus oder in die Elbe oder in ein Schiff. Es brannte zuweilen, aber ohne großen Schaden anzurichten – man kümmerte sich um nichts mehr.

Nur die Unruhe unter den Hungernden wurde größer. Man plünderte die Bäckerläden, man drohte und murrte laut.

Dann schienen die Franzosen die Geduld zu verlieren. In der Nacht zum 29. Mai verzehnfachten sie ihre Anstrengungen; anstatt mit einzelnen Kugeln die Bürger mehr zu erschrecken als zu schädigen, eröffneten sie ein vollständiges Bombardement.

Es zischte und glühte, es zerschlug die Dächer und Gesimse, taghell war die Nacht erleuchtet, Hunderte von Kugeln überschütteten die Stadt und die Elbe.

Oberst von Heß verließ Hamburg; der Senat, soweit er noch gegenwärtig war, beriet und beriet, ohne zu einem Entschlüsse gelangen zu können, und auf den Straßen gärte ein Tumult, der in jedem Augenblick zum offenen Losbrechen aller wilden, zügellosen Elemente führen konnte.

Am Johannesbollwerk standen Oberst Hafner und Baron Liliencron nebeneinander. »Etwas muß geschehen«, erklärte letzterer, »oder Hamburg ist verloren.«

Der Oberst nickte. »Ich glaube es auch. Der Senat ist zu keiner Übergabe zu bewegen und doch kann er die Stadt nicht halten.«

»Hast du Näheres gehört?« fragte der Baron.

»Ich war ja heute morgen bei der Sitzung zugegen. Man fürchtet, daß die Franzosen der Stadt eine Kontribution auferlegen werden, an der sie zugrunde gehen muß.«

»Und will sie daher lieber gleich mit Stumpf und Stiel zu Asche verbrennen! – Ich möchte dir einen Vorschlag machen, Hafner!«

Eine Handbewegung antwortete ihm. »Bitte!«

»Wir beide müssen hinüber zum General Vandamme und ihm die Dinge vorstellen. Wenn er friedlich einzieht und keinerlei Strafen verhängt, so sollen ihm Hamburgs Tore offen stehen – du nimmst dem Senate gegenüber für diesen Vorschlag die Verantwortung auf dich, nicht wahr?«

Der Oberst nickte. »Das wohl, aber –«

»Laß mich ausreden. Du willst sagen, daß dir der General völlig fremd sei – gut; ich dagegen kenne ihn persönlich von Paris her.«

Der Oberst sah auf die Elbe hinaus. »Eine böse Fahrt«, sagte er, »aber du hast recht, Andreas. So allein läßt sich's machen. Freilich, wenn wir irgendeinen Menschen finden, der uns in solcher Nacht hinüberrudert.«

»Dafür laß mich sorgen. Die Sache soll ganz und gar Geheimnis bleiben – ich ziehe nur den jungen Norderneyer ins Vertrauen; er und ich rudern.« Die beiden Herren begaben sich in ein nahegelegenes Wirtshaus, und Onnen wurde durch einen Burschen herbeigeholt. Hinter ihm erschien Mikosch; der Alte wollte wissen, was man mit seinem Schützling beabsichtige.

»Nehmt mich mit, ihr Herren«, bat er eindringlich, »zur Not kann ich auch rudern! Die Kugeln fliegen wie Schneeflocken – ich hab einen Abscheu vor dem Wasser.«

Der Baron lachte ihn aus. »Leg dich aufs Ohr, Alter, träume von güldenen Dukaten und überlasse andern Leuten die Wasserpartien. Dein Junge schwimmt natürlich wie ein Fisch, er nimmt die Breite der Elbe zweimal, wenn es sein muß.«

»Gewiß!« rief Onnen. »Gewiß! Ich rudere die Herren hinüber.« Der Baron drückte in die Hand des alten Häuptlings ein Geldstück. »Halt den Schnabel, Zigeuner. Der Junge soll ja doch ein Mann werden, kein altes Weib. So, nun vorwärts in die Jolle!«

Das nächste beste Fahrzeug wurde vom Pflock gelöst und Onnen fand nur noch gerade Zeit genug, um dem ängstlich dastehenden Mikosch zum Abschied die Hand zu drücken. »In zwei Stunden bin ich ja, will's Gott, wieder hier, Mikosch. Geh du ruhig zu Bette!«

Mikosch schüttelte stumm den Kopf; er sah das Boot hinausschießen auf das Wasser und wie in ein Meer von Glut und Glanz tauchen; seine Hand bewegte sich, als wolle er hinübergreifen – dann kauerte die dunkle Gestalt neben einem an der Kette liegenden Fahrzeuge und blieb regungslos wie ein Steinbild sitzen.

Der Baron ruderte von einer, Onnen von der anderen Seite. Mitten hinein in den Strich der Kugeln glitt die Jolle, rechts und links fielen sie in das hoch aufspritzende Wasser, gleichsam widerwillig, zischend und dampfwirbelnd. Oft nur auf Schrittweite entging das kleine Fahrzeug dem Verderben.

Onnens Herz schlug schneller. Drüben am Ufer der Wilhelmsburg standen französische Wachtposten – wenn ihn einer derselben zufällig erkannte, so war er verloren. Den Deserteur konnte keine Macht der Erde beschützen.

Aber freilich, das ließ sich nur schwer denken. Sein einziger wirklicher Feind, Adam Witt, lag tot in Rußlands Erde, ebenso Oberst Jouffrin; es würde keinem Menschen einfallen, in dem Zigeuner, der sich selbst so keck dem Löwenrachen näherte, einen fahnenflüchtigen Soldaten zu suchen.

Einmal streifte eine Kugel den Bootsrand. Es schaukelte und spritzte – während eines Augenblickes hatten doch die Herzen aufgehört zu schlagen.

In Hamburg flammte ein Feuer; das Brausen eines tausendfältigen Geräusches und Tobens klang herüber, auf den Elbinseln Moorburg, Ochsenwärder und Ellernbrook knatterte Kleingewehrfeuer; Kanonendonner grollte dazwischen – man kämpfte und die Franzosen schienen Sieger. Ganze Scharen von größeren und kleineren Fahrzeugen glitten über die Fluten, schattenhaft, wie Gespenster; Uniformen schimmerten darin, Waffen, Knöpfe, leises Wimmern trug der Wind hinaus auf das Wasser.

Die Hanseaten waren von Ochsenwärder vertrieben; jetzt galt es nur noch, das unmittelbar vor Hamburg im Hafen liegende Steinwärder zu nehmen, dann konnten die Franzosen in die besiegte Stadt einziehen.

»Es ist höchste Zeit«, sagte leise der Baron.

Jetzt war das Boot über den Strich der fallenden Kugeln hinaus und endlich lag es am Strande der Wilhelmsburg.

Ein Wachtposten schlug an. »Qui vive?«

»Ein dänischer Offizier und seine Begleiter! Wir wünschen Seine Exzellenz, den Herrn General Vandamme zu sprechen.«

Onnen blieb im Boot zurück. Den Wachtposten kannte er nicht, aber es schien ihm doch besser, das Land zu vermeiden; er sah, wie die beiden Dänen, von dem ersten Posten an den anderen überliefert, im Dunkel verschwanden und dann wurde alles still.

Gleichförmig schlugen die Wellen an das Ufer. Schuß um Schuß krachte von den anderen Inseln herüber, Wolken blauen Pulverdampfes zogen durch die Luft; hüben und drüben tobte der Kampf zwischen den beiden Nationen, deren Haß so in Fleisch und Blut übergegangen war, daß er nimmer wieder weichen zu können schien.

Onnens Gedanken flüchteten aus dem Wirrsal ringsumher zu dem stillen Dache, unter welchem jetzt seine alte Mutter schlief. Wenn sie gewußt hätte, wie nahe ihn die Gefahr von allen Seiten her umdrohte!

Sein Brief mußte bereits in ihren Händen liegen, der Baron hatte es ihm gesagt – nach fünf bis sechs Tagen konnte er eine Antwort haben. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken an eine Nachricht aus der Heimat; wie ein Glück ohnegleichen erwartete er diese Zeilen von der Hand seiner alten Mutter. Ganz Ostfriesland war noch von den Franzosen besetzt, ebenso Bremen, an die Rückreise wollte der vorsichtige Mikosch fürs erste nicht denken – gerade deswegen freute sich Onnen so sehr auf den Brief. Ob wohl die Mutter noch in Uve Mensingas Haus wohnte? Ob der brave Wattführer für sie sorgte wie ein Freund in der Not?

Immer tiefer versenkte er sich in grübelnde Gedanken. Rings um ihn her erloschen die Lichter der bogenförmig über die Elbe geschleuderten Kugeln, verstummten die Geschütze und das Toben des Kampfes auf den Inseln; erst die Stimme des Barons weckte den jungen Menschen aus seinen Träumereien. »Halloh, Junge, schläfst du denn da im Boot?«

»Gewiß nicht, gnädigster Herr!«

Und Onnen fuhr auf. »Sie schießen nicht mehr!« rief er ganz verwirrt.

Die beiden Offiziere lachten. »Nein, sie schießen nicht mehr. Dem Himmel sei Dank, das Unglück ist abgewendet!«

»Hafner«, setzte der Baron rasch hinzu, »meinen Namen laß dem Senate gegenüber nur ganz aus dem Spiel. Ich bin mitgefahren, um dir bei dem General, da ich ihn persönlich kenne, eine Audienz zu verschaffen, weiter nichts.«

»Mehr war auch nicht nötig«, versetzte lächelnd der Oberst.

Das Boot glitt zurück nach Hamburg und legte am Johannesbollwerk wieder an. Aus dem Schatten der Häuser erhob sich eine dunkle Gestalt – Mikosch streckte beide Hände aus, stumm, aber mit einer Bewegung, als wolle er den jungen Menschen an seine Brust ziehen.

Onnen sprang ihm entgegen. »So lange hast du gewartet, Alter?«

Auch der Baron legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wie die Henne, als sie das Entenküken ausgebrütet hatte!« sagte er lachend, aber doch gerührt. »Na, da hast du den Jungen wieder, brauner Geselle! – Adieu übrigens, ihr alle; meine Frau wußte, was ich für diese Nacht beabsichtigte, sie steht am Fenster und ängstigt sich.«

Er drückte die Hand des Obersten, dann eilte er davon, und nun trennte sich die ganze kleine Gesellschaft, aber nicht eher, als bis der Offizier unserm Freunde für den geleisteten Dienst eine Bezahlung angeboten hatte. Onnen dankte bescheiden. »Herr Oberst, ich möchte die Erinnerung an diese Nacht nicht für etwas Geld so gleichsam verkaufen! Bitte, erlauben Sie mir, es auszuschlagen!«

Das wurde mit freundlichen Worten gewährt und nun konnten sich Mikosch und Onnen nach Hause begeben. Alle Straßen waren voll von Menschen, hundert Meinungen und Vermutungen wurden laut; man stritt hin und her, der Gedanke an eine Verständigung zwischen dem Senate und den Franzosen gewann immer mehr Boden, wurde aber in sehr verschiedener Weise aufgenommen. »Nun sind wir verloren!« schrien außer sich die einen.

»Im Gegenteil, wir sind gerettet!«

»Ein Landesverräter, wer das behauptet!«

Und dann entspannen sich Straßenkämpfe, an denen ganze Gruppen von Personen jedes Alters und Standes teilnahmen. Die Nacht ging über in den Tag, das Treiben wurde immer ärger, die Haltung drohender und gereizter. Alles scharte sich um das Rathaus, alles erwartete mit steigender Spannung irgendeine Nachricht, eine Proklamation oder einen Tagesbefehl; etwas Entscheidendes mußte geschehen sein, das fühlte man.

Gegen neun Uhr morgens erschien eine amtliche Bekanntmachung, des Inhaltes, daß die Stadt kapituliert habe und daß sogleich als Vorläufer der Franzosen vier Bataillone Dänen einrücken würden. »Es ist Hamburg Gnade versprochen worden«, hieß es, »ein Kriegsgericht soll nicht gehalten und eine Kontribution nicht eingefordert werden, aber binnen zwölf Stunden müssen wir die Tore öffnen und alle Gewehre am Bauhof abliefern.«

Ein Schrei der Verzweiflung folgte diesen Worten; als stehe ein Einfall reißender Tiere zu erwarten, so lief die Bevölkerung ratlos durcheinander.

»Wer die Achtung vor sich selbst, die Liebe für sein Vaterland noch nicht verloren hat, der liefert seine Waffen nicht ab! – Ich sterbe, aber ich gebe den Feinden keine Kugel, um sie deutschen Männern ins Herz zu schießen!«

»Brav gesprochen. Wir weigern uns!«

»Und werdet schmählich bezwungen!« rief eine andere Stimme.

»Das wollen wir erst sehen. Ich schlage vor, alle Gewehre in die Kanäle zu werfen, hierhin und dorthin, dann sind sie für den Augenblick wenigstens unbrauchbar gemacht!«

»Das ist ein gutes Mittel! Schnell!«

»Laßt uns Generalmarsch schlagen!«

»Aber die Bürgergarde ist ja aufgelöst!«

»Wir bilden eine neue, wenn auch ohne den flüchtigen Obersten!«

»Es sind noch viele andere Offiziere auf und davon!« sagte jemand.

»Schadet nicht – laßt sie laufen. Wir werden ja auch ohne diese Herren unsere Gewehre in die Kanäle werfen können.«

Und der Tambour setzte sich in Bewegung. Das bekannte »Kammerad kumm, Kammerad kumm!« schallte durch Hamburgs Straßen.

Erstaunte Gesichter sahen durch Türen und Fenster; Frauen fielen in Ohnmacht. Stand der Feind vor den Toren? Was gab es? Die sonderbar unmilitärisch aussehenden Gestalten der Bürgerwehr in blauer Uniform mit Käppi und weißem Bandelier erschienen auf den Sammelplätzen. Wo war der Anführer, wo die Offiziere!

Fort – spurlos verschwunden, alle auf dänisches Gebiet übergegangen, solange ihnen noch Zeit blieb. Niemand traute den Franzosen, niemand wollte den Kopf in die Schlinge stecken; unter wieviel nichtigen Vorwänden die Kreaturen Napoleons ihre Versprechungen zu umgehen verstanden, das wußten ja die Hamburger nur zu wohl.

Ängstlich sahen die Bürgergardisten einander an. Was nun? Hier forderte man sie auf, die Waffen abzuliefern und sich durch ihre persönliche Haltung der Kapitulation anzuschließen; dort hieß es: »Weigert euch! Weigert euch! Vernichtet die Gewehre, zerbrecht die Bajonette!«

Beide Ansichten fanden ihre Vertreter. Ganze Haufen ältlicher Bürger, ruhige Leute, die den Widerstand gegen eine Behörde für Sünde hielten, ehrsame Handwerksmeister begaben sich ohne Aufenthalt zum Bauhöfe und lieferten alles ein, was sie an Waffen besaßen, das Küchenbeil und den Säbel, der noch von Großvaters Zeiten herstammte, nicht ausgenommen; wieder andere, jüngere und gebildetere Leute, trugen unter Gesang und Fahnenschwenken ihre militärische Ausrüstung in die Kanäle oder zerschlugen alles an den Ecksteinen.

Während dieser Vorgänge ließ eine dritte Partei die Sturmglocken läuten und Alarm schlagen. Auch hier fand sich ein Wortführer. »Auf! Auf! baut Barrikaden! deckt mit euren Körpern die Wälle und Tore! Schlagt zu Boden, was von Ergebung spricht!«

Eine Schar von Schülern des Johanneums, von den jüngeren Söhnen der Reichen, sammelte sich um die Führer dieser aufrührerischen Richtung. »Nehmt den Tollhäuslern da doch die Waffen weg!« rief eine Stimme.

»Welcher vernünftige Mensch wirft denn die kostbarsten Verteidigungsmittel ins Wasser? – Man muß die Leute zwingen, sie herauszugeben!«

»Oder man fischt sie wieder auf!«

Gesagt, getan. Einer schleuderte das Gewehr in den Kanal, der andere sprang nach und zog es schleunigst wieder hervor, ein dritter, einer von der ängstlichen Partei, nannte alle beide Landesverräter.

Während der Nacht wurden die Häuser mehrerer flüchtig gewordener Offiziere in Brand gesteckt; diejenigen, welche ihrer Aufregung, ihrer Erbitterung nicht Herr zu werden vermochten, schossen ohne Ziel, ohne Grund auf den Straßen oder trafen auch mit vorbedachter Sicherheit heimlich ein Herz, für das ihre Kugeln schon längst bestimmt gewesen.

Wieder lagen Tote, mit dem Gesicht nach unten, auf den Wällen; niemand bemerkte sie. An den Ecksteinen, neben den gehäuften Trümmern zerschlagener Waffen standen finster blickende Wächter; der einrückende Feind sollte erkennen, daß nicht alle Bewohner Hamburgs sich der Übergabe geneigt erwiesen hatten.

So brach der Morgen an, der des 30. Mai 1813. Eine Stafette aus dem Hauptquartier des General Vandamme hatte den Einzug der Dänen auf neun, den der Franzosen auf elf Uhr vormittags angekündigt – schon kurz nach acht begann das leidenschaftliche Treiben in den Straßen allmählich nachzulassen und gegen neun war alles todesstill, die Fenster verhüllt, die Türen geschlossen, Weg und Stege leer.

Im Innern der Häuser herrschte dumpfe Stille; selbst Männer weinten. Erschossen und ertrunken die einen, geflüchtet die anderen – so hatte jede Familie ihr besonderes Leid zu tragen, so sahen alle mit der Hoffnungslosigkeit des äußersten Schmerzes in die Zukunft. Wovon leben? Wovon Tausende habgieriger Feinde ernähren und ihre bekannten ungemessenen Forderungen befriedigen?

Hamburg war »außer dem Gesetz« erklärt, es war dem Tyrannen Davoust und seinem Helfershelfer Vandamme – »Wut« und »Verdammt« im Volksmunde – mit gebundenen Händen überliefert. Was würde folgen?

Man hatte allerdings versprochen, keine Kontribution auszuschreiben, aber wie lange erinnerten sich meistens Napoleons Generale eines gegebenen Wortes? Bis die Taschen leer waren. Dann wurde zur Exekution ein Grund gefunden und der Bürger war ausgeplündert.

Einige Vertrauensselige schüttelten die Köpfe. »Hamburg kapitulierte unter der Bedingung, keinerlei Strafgelder zu bezahlen – das müssen die Franzosen halten.«

»Das halten sie keine vierzehn Tage lang!«

Ein Grauen schüttelte jedes Herz. Unbestimmte Bilder jener entsetzlichen Leiden, die nun hereinbrachen, jener Folterqualen der nächsten Zukunft, erfüllten das Bewußtsein aller. Außer dem Gesetz erklärt von einem Eroberer ohne Gewissen – wen sollte der verlassene kleine Staat um Beistand anflehen? Wem seine Verzweiflung klagen.

Es schlug neun. In der Ferne erklangen Trommeln – das waren die Dänen, die Verbündeten der Franzosen, sonst aber befreundete Nachbarn, mit denen Hamburgs Bewohner im besten Frieden verkehrten. Sie besetzten ruhig die von den Bürgergardisten verlassenen Wachen und zogen dann in die Kasernen. Erst als die Scharen Napoleons einrückten, erschien der gefürchtete wirkliche Feind.

Eine Stafette aus dem Hauptquartier zu Wandsbek sprengte voraus und überbrachte dem Senat einen Befehl, vorläufig folgendes bereit zu halten: »Je sechzigtausend Rationen: Brot à 56 Lot, Branntwein à 1/8 Liter, Fleisch à 20 Lot, Bier à 1 Liter, außerdem Salz, Essig, Brennmaterial und fünfzig lebende Ochsen.«

Die Boten des Senats liefen durch die Stadt und fragten und baten. Eine schnell zusammengesetzte Kommission begab sich auf die Dörfer hinaus, um Vorräte zur Stelle zu schaffen.

Es wurde elf Uhr – der Augenblick, wo die Franzosen erscheinen sollten, war da.

Von einer Gruppe Unzufriedener zur anderen ging Oberst Mettlercamp, der Chef des dritten Bataillons der aufgelösten Bürgerwehr, und redete den Leuten zu, sich keine Widersetzlichkeiten zu gestatten. Er traf den richtigen Ton, um gerade die Erbittertsten, Entschlossensten zu gewinnen. »Leute«, sagte er, »spart eure Kräfte für künftig; wer weiß, was noch geschieht. Es kommt vielleicht der Tag, wo Hamburg seiner Söhne bedarf, wollt ihr alsdann fehlen?«

Das half. In so manchem Auge blitzten Tränen, so manche Brust barg kaum die Fülle des Wehs, aber doch blieb selbst der Leidenschaftlichste unter diesen jungen Leuten ruhig. Die Franzosen zogen ein, ohne Widerstand zu finden.

Onnen hatte schon vorher erfahren, daß es die zweiunddreißigste Militärdivision sei, welche Hamburg besetzen sollte – er atmete auf. Die, zu der seine Bekannten gehörten, war die einunddreißigste; es gab also nichts zu fürchten.

In größter Ordnung, ohne irgend einen Übergriff, ja ohne persönliche Bemerkungen hielten die Truppen ihren Einzug – wieder, wie in Moskau, durch todesstille, verödete Straßen. Bataillonsweise verteilt, nahmen sie die zahlreichen Marktplätze in Beschlag und nun entwickelte sich ein seltsames Treiben.

Von den Bagagewagen packten die Soldaten ihre Marschzelte und schlugen sie auf, während sogleich alle Brunnen der Stadt militärische Wachen erhielten; die Mannschaften durften nichts genießen, als was vor ihnen der Lieferant oder Verkäufer selbst probiert hatte – sie hielten unser deutsches Volk für fähig, die Soldaten des Feindes reihenweise und heimtückisch zu vergiften.

Auf dem Großneumarkt, Zeughaus- und Gänsemarkt, an der Esplanade und auf dem Spielbudenplatz brannten die Biwakfeuer der Franzosen – die Türen der Petrikirche wurden gewaltsam geöffnet und dort alle Offizierspferde untergebracht; dann befahlen die Machthaber für den Abend eine Illumination.

Die Stadt prangte im Kerzenlicht, aber sie schien ausgestorben. Nur das Militär bewegte sich auf den Straßen, sonst niemand. Aber ja doch! die Leichenträger. In den unteren Schichten der Bevölkerung wütete die pestartige Krankheit mit immer steigender Gewalt; wohin das Auge sah, da erblickte es Särge, meist platte, mit irgendeinem Tuche barmherzig verhüllte weiße Kisten, in denen man die unglücklichen Opfer ohne Sang und Klang hinaustrug zum letzten Bette. Niemand war da, um der Seuche energisch entgegenzutreten, niemand half den Armen oder tröstete sie, nur für die Soldaten wurde insoweit gesorgt, daß man schleunigst ein größeres Lokal, das des Lombards, ausräumte und zum Hospital einrichten ließ.

Eine Bekanntmachung jagte die andere. Der hamburgische Korrespondent, die noch heute erscheinende älteste Zeitung Hamburgs, mußte ihren Titel ändern und zum zweitenmal als Journal du département des bouches de l'Elbe in die Welt hinausgehen.

Eines Morgens kam der Befehl für alle nicht in Hamburg ansässigen Fremden, sich bei dem französischen Polizeidirektor zu melden und ihre Legitimationspapiere mitzubringen. Sie sollten dann entweder eine Erlaubnis zum Bleiben oder einen sofortigen Ausweisungsbefehl erhalten.

Mikosch beruhigte seinen Schützling. »Meine Pässe sind in Ordnung«, sagte er. »Schlimmstenfalls gehen wir nach Altona, obwohl ich lieber hier bleiben möchte – die Soldaten haben allerlei Wertstücke in den Taschen, geraubte Gegenstände natürlich, Silber und Gold aus den Kirchen von Moskau, aber unsre Hamburger Juden geben ihnen gutes Geld dafür, und das werfen sie mit vollen Händen weg, sobald Ruff erscheint und eine Pfeife Tabak raucht oder ein Lied spielt. Gestern hatte ich auf dem Zeughausmarkt in weniger als drei Stunden über zehn Rubel zusammengebracht.«

Onnen hörte ihn kaum. »Muß ich mitgehen?« fragte er unruhig.

»Jedenfalls, Herr! Auch Alexei.«

So zogen denn alle drei befohlenermaßen zum Polizeiamt, wo sich die Menge auf den Treppen und in den Gängen drängte; lauter blasse verkümmerte Gesichter, Frauen in Trauer, Krüppel, Kinder und junge Mädchen.

Alle diese Unglücklichen erwarteten von den Lippen der Machthaber den Schicksalsspruch, welcher sie vielleicht binnen weniger Minuten ins Verderben stürzen mußte. Wenn es hieß: Fort! – wohin sollten sie sich dann wenden? Das ganze benachbarte Gebiet war von den Franzosen besetzt, Altona mit Arbeitskräften jeder Art überfüllt; es gab keine Zuflucht, die den Bedauernswerten offengestanden hätte.

Zitternd, oft todesblaß legten sie ihre Dokumente auf den Tisch. Die Fragen des Beamten waren in jedem Falle dieselben. »Zahlen Sie Steuern und wieviel?«

Hieß es: Nichts, ich bin ein armer Schreiber oder Lohndiener, eine Krankenwärterin, eine Näherin, dann erfolgte rasch der Bescheid »Binnen vierundzwanzig Stunden hinaus!«, und wenn die Betroffenen dagegen protestieren oder flehentlich bitten wollten, so schoben ein paar bereitstehende Gendarmen sie kurzweg zur Tür und andere Personen kamen an die Reihe.

Nur eine Ausnahme kehrte immer wieder. War der Vorzeiger eines Passes ein kräftiger Mann, so erhielt er ohne alle Weitläufigkeiten die Erlaubnis, in der Stadt zu bleiben. Frauen und Kinder, alte Familienväter wurden samt und sonders ausgewiesen.

Jetzt kam die Reihe an den Zigeuner. »Russische Pässe? Hm, hm!«

Zwei Beamte flüsterten halblaut, dann mußten Onnen und Alexei vortreten. Prüfende Blicke musterten ihre Gesichter, ihre jungen kräftigen Gestalten – der Protokollführer nickte zufrieden. »Ihr könnt bleiben, solange ihr wollt!«

Ein Schmerzensschrei von den Lippen eines Weibes unterbrach den Franzosen. »Das sind Zigeuner«, rief die Unglückliche, »fahrendes Gesindel, Diebe – und solche Menschen dürfen nach Belieben in Hamburg bleiben, während eine Mutter mit sechs Kindern auf die Straße geworfen wird. Ist das gerecht, ist es christlich?« »Hinaus!« donnerte der Beamte.

Die Frau drohte ihm, sie war außer sich. »Was habe ich den Franzosen getan?« schrie sie. »Was kümmert sich wohl ein armes Weib um die Händel der Großen? Ich will hier in Hamburg Kranke pflegen und mit meiner blutsauren Arbeit sechs Kinder redlich ernähren – das Recht soll man mir lassen.«

»Ja! Ja!« riefen andere Stimmen. »Jagt dafür das landfremde Gesindel hinaus!« Man scharte sich um die Frau und verhinderte die Gendarmen, sie vor die Tür zu setzen. »Da ist der blinde Tiroler«, schrie einer aus dem Haufen, »man kennt ihn seit zwanzig Jahren als Straßensänger; er hat seine Gönner, seine Freunde – weshalb muß der Alte jetzt plötzlich fort?«

Die Gendarmen zogen ihre Seitengewehre, Männer und Frauen fielen ihnen in die Arme, es entstand ein Tumult, der in eine Schlägerei überging und den beide Parteien noch draußen auf der Straße fortsetzten. Der Pöbel hielt es mit den Ausgewiesenen, die Beamten bekamen Beistand von den Soldaten, und so wurde schließlich die erste Anstifterin des Streites mit blutendem Gesicht und zerrissenen Kleidern ins Gefängnis geschleppt. Der Volkshaufen wälzte sich dem Zuge nach, man heulte und pfiff, die Soldaten erhielten Steinwürfe – noch stundenlang dauerte das Toben, dem neue bittere Bedrängnisse folgen sollten.

Zwölf Stunden später erschien ein Tagesbefehl, in dem Versammlungen, Vereine und gesellige Zusammenkünfte aller Art, auch fremde Zeitungen, Bilder und Broschüren verboten wurden. »Sind mehr als acht Personen beieinander«, hieß es, »so gilt das als Verstoß gegen dieses Gesetz; die Schuldigen werden sofort erschossen; Frauenzimmer mit Ruten gepeitscht und eingekerkert.«

Ein Weheschrei ging durch ganz Hamburg – trotz seiner Grausamkeit, seines bitteren Unrechtes war aber dieser Befehl doch nur ein Vorläufer des weit größeren Erschreckens, das am selben Tage nachfolgte.

Ein Bescheid aus dem Hauptquartier des Kaisers gebot, aller Versprechungen ungeachtet, dem Senate die Herbeischaffung einer Strafsumme von achtundvierzig Millionen Mark; zugleich wurde Marschall Davoust beauftragt, Hamburg in eine Festung zu verwandeln und über die Veddel hinweg durch eine Brücke mit dem benachbarten Harburg zu verbinden.

Die Stadt soll zehntausend Arbeiter stellen, hieß es, was an dieser Zahl fehlt, das ist aus den Häusern zu holen oder von den Straßen aufzugreifen, ohne Ansehen der Person oder des Standes. Ferner soll im ganzen Umkreise der Stadt und in einer Breite von sechshundert Schritten alles dem Boden gleich gemacht werden. Die betreffenden Häuser sind zu verbrennen.

»Also darum!« rief Mikosch. »Nun begreife ich, weshalb sämtliche arbeitsfähige Männer in der Stadt bleiben durften.« »Du meinst, wir müßten Schanzen bauen?« »Natürlich! Hätte ich das gewußt, so wären wir vorher ausgerückt.« »Ja, du lieber Himmel, wenn wir arbeiten, so muß man uns doch auf jeden Fall auch gebührend bezahlen.«

Der Alte schnitt ein Gesicht. »Wer es erlebt, der wird es sehen«, brummte er.

Am Abend dieses Tages ging Onnen, seinen Paß in der Tasche, durch die Stadt, um sich nach Altona in das Haus des Barons zu begeben. Jetzt konnte der Brief seiner Mutter möglicherweise schon angelangt sein, und er sehnte sich so sehr, ihn zu erhalten.

Der Abend war regnerisch und dunkel, die Elbe an den Vorsetzen schlug große Wellen; Onnen fühlte sich zum erstenmal seit langer Zeit unruhig und verstimmt. Die Aussicht, für den Feind Schanzen zu graben, ärgerte ihn über alle Maßen und doch ließ sich der Sache nur schwerlich entgehen. Zehntausend Arbeiter konnte der Senat nicht liefern.

Da sah er vor sich im Zwielicht einer knarrenden, schwachbrennenden Öllampe die Gestalt eines älteren Mannes, der ihm bekannt erschien. Irgendwo mußte ihm dieser Fremde schon begegnet sein.

Onnen blieb etwas zurück. Wer ihn kannte, der hielt sein Geschick in offener Hand, der hatte die Mittel, ihn den Franzosen und damit dem sichern Tode auszuliefern – es war besser, keine Begegnung herbeizuführen.

Der Fremde ging zu einem jener schmalen Eingänge, die in der Hafengegend vielfach große Speicher bergen, dort blieb er stehen und hielt scharfe Umschau, während sich Onnen hinter eine vorspringende Haustreppe versteckte. Ein Lichtstrahl der Laterne traf in diesem Augenblick das Gesicht des Unbekannten und Onnens Herz schlug plötzlich vor Überraschung schneller. Der Mann da vor ihm war Geerd Kluin, der Bruder seiner Mutter.

Von diesem hatte er nichts zu fürchten.

Aufspringen und bis zu dem schmalen Gange laufen war eins, aber dennoch kam unser Freund zu spät. Nur der Regen schlug ihm entgegen und der Wind fing sich in dem engen Schlot, aber kein Mensch war zu entdecken.

Onnen sah umher. Geerd Kluin konnte nur hier verborgen sein, sonst nirgends – auf der offenen Straße hätte er ihn ohne allen Zweifel bemerken müssen.

Halb und halb zögernd ging er weiter. Rechts und links öffneten sich neue, noch schmalere Gänge, oft kaum breit genug, um zwei Personen zugleich hindurchzulassen, alle bewohnt, alle mit dem Rinnstein in der Mitte und erfüllt von einer schrecklichen, die Lungen erstickenden Luft. Kinderstimmen erklangen hinter den Fenstern, hie und da huschte durch den Regen ein Mensch oder miaute, im Winkel auf einem Schmutzhaufen hockend, eine Katze, sonst war alles leer und öde.

Onnen ging geradeaus, so daß er hinter sich immer die offene Straße und darüber hinweg die knarrenden Masten der Schiffe erkennen konnte. Eine Art von Grauen hinderte ihn, sich seitwärts in das Gewirr dieser dunklen Gänge und Höfe hineinzuwagen; er, der die Freiheit so sehr liebte, fürchtete sich förmlich vor den sargartig engen Mauern, deren schwarze Farbe die Dunkelheit nur noch zu erhöhen schien, deren Dachtraufen das schmutzige Naß in Strömen auf das Pflaster ergossen. Sollte er wirklich weitergehen?

Es war gewiß besser, umzukehren und die Herberge aufzusuchen. So in den durchnäßten Kleidern konnte er unmöglich nach Altona gehen und sich dem Herrn Baron melden lassen – die Nachfrage mußte auf morgen verschoben werden.

Im Begriff, sich der offenen Straße wieder zuzuwenden, hörte er in einem gerade vor ihm liegenden, vier Stockwerke hohen dunklen Gebäude ein Geräusch und sah zugleich, daß sich die Haustür leise bewegte, etwa wie vom plötzlich entstehenden Zugwind geschaukelt – er öffnete sie vollends und blickte hinein.

Alles dunkel; gerade vor ihm lag offen eine breite Treppe.

Onnen kletterte hinauf; das Verlangen, den Bruder seiner Mutter zu sehen, war übermächtig, es beherrschte ihn ganz. Seit länger als einem Jahr von der Heimat getrennt, ohne Nachricht, ohne Verkehr mit irgendeinem Glied seiner Familie, fühlte er sich oft so drückend einsam, so verlassen – und gerade diese Stimmung war durch den unerwarteten Anblick seines Onkels mächtig erregt worden. Geerd Kluin würde ihn ja nicht verraten, das wußte er gewiß.

Immer leise weitergehend, fragte er sich, was denn bei diesem Eindringen in ein fremdes Haus im Grunde zu fürchten sei? Von den Franzosen nichts, denn er trug seinen Paß in der Tasche – aber vielleicht von den Bewohnern des sonderbaren Hauses. Es schien leer; rechts und links waren alle Türen verschlossen.

Unser Freund kletterte bis zum Dachboden hinauf – kein Mensch begegnete ihm. Er klopfte an alle Türen, niemand gab Antwort. Geerd Kluin wohnte also nicht hier, oder er wollte keinen Besuch empfangen.

Onnen ging bis zum obersten Stock wieder hinab. Hinter einer angelehnten niederen Tür oder Luke schimmerte ein Stück des abendlich dunklen Himmels, Regentropfen schlugen bis auf den Gang hinein und zugleich klappte wieder unten die Haustür – der Zugwind entstand also durch diese Verbindung.

Onnen öffnete die Luke und sah vor sich eine jener schmalen, eisernen Brücken, die in den alten Stadtteilen Hamburgs von einem Hause zum anderen führen und als Schutzmittel gegen die Gefahren einer Feuersbrunst immer in den höchsten Stockwerken angelegt sind. Er trat hinaus und faßte gedankenschnell die gegenüberliegende Luke – sie war offen.

Ob Geerd Kluin diesen Weg genommen hatte? Aber weshalb war er dann nicht durch die Tür des anderen Hauses gegangen?

Onnen spähte in das Dunkel des fremden Gebietes hinein. Die Brücke lag nach hinten, einem Gewirr enger Höfe zugekehrt – es schien dem jungen Manne, als tönten Stimmen aus dem unteren Stockwerk zu ihm herauf.

Er tastete sich weiter und kam zur Treppe – nun hörte er es deutlich. Mehrere Personen sprachen durcheinander, also gab es in diesem Gebäude wenigstens Menschen, man würde ihn anhören und ihm vielleicht Geerd Kluins Wohnung sagen können. Er ging durch einen Korridor, aus den Fugen einer Tür schimmerte Licht – er hob die Hand, um zu klopfen.

Da packte ihn plötzlich im Dunkel eine kräftige Faust. »Wer ist hier?« rief die Stimme eines Mannes.

Onnen suchte ihn sogleich von sich abzuschütteln. »Wohnt in diesem Hause Herr Geerd Kluin?« fragte er.

»Faule Fische!« klang es zurück. »Wer bist du, Bursche? Wie gelangtest du überhaupt hierher?«

»Durch das Nebenhaus – ich suche den Herrn, dessen Namen ich Ihnen soeben nannte. Nun aber lassen Sie mich los, oder es gibt ein Unglück.«

Der Unbekannte öffnete mit plötzlichem Ruck die Tür. Ein Strom von Licht flutete den beiden Männern entgegen; in einem weiten, sehr unwirtlichen Räume saßen an langen Tafeln etwa hundert oder noch mehr Herren jedes Alters, die sämtlich den höheren Ständen anzugehören schienen und eifrig miteinander sprachen. Auf den Tischen lagen Briefe und Zeitungen; ein gewaltiger Schreck schien bei Onnens Anblick die Teilnehmer dieser geheimen Gesellschaft jählings zu erfassen, sie schwiegen wie vom Blitz getroffen.

Onnens Führer schob diesen in den Saal. »Ein Zigeuner!« sagte er voll Erstaunen. »Ich fand ihn hier auf dem Gange.« Noch immer herrschte Todesstille. Ein älterer Mann erhob sich und winkte unserem Freunde. »Erzähle, Bursche«, sagte er in gebieterischem Tone, »wie bist du hierhergekommen und was suchst du?«

Onnen sprach freimütig, er schilderte offen und wahrheitsgemäß den Hergang der Dinge, dann fragte er bescheiden nach dem, den er zu finden wünschte. »Wohnt Herr Kluin in diesem Hause?« Der Herr zuckte die Achseln. »Kluin?« wiederholte er, »kennt ihn jemand unter Ihnen? Ich wenigstens nicht.« Ein allgemeines Nein beantwortete die Frage. »Der Name ist natürlich erfunden«, sagte jemand. »Ein Vorwand!«

»So muß man sich des Burschen versichern – es steht ja zu viel auf dem Spiel.«

»Das denke ich auch. Die Geschichte, welche uns der junge Mensch erzählt, klingt mindestens unwahrscheinlich.«

»Sie erlauben, Herr!« wandte sich, offenbar mit Absicht den Namen weglassend, ein jüngerer Mann zu dem ersten Sprecher, »aber ich möchte mich mit unserem ungeladenen Gaste einen Augenblick unterhalten. Höre einmal, Bursche«, wandte er sich dann zu dem vermeintlichen Zigeuner, »bist du nicht derselbe, welcher in Begleitung eines älteren und noch eines dritten Mannes von deinem Stamme gegenwärtig hier in Hamburg einen zahmen Bären zeigt? Ich glaube dich gestern an der Alster gesehen zu haben!«

»Da war ich auch, Herr!«

»Du bist also der, welchen ich meine?«

»Ja!«

»Sieh! Sieh! Dann fällt mir's auf, daß du heute ein so reines Deutsch sprichst; gestern schienst du nur Russisch zu verstehen.«

Onnen errötete stark, aber er schwieg.

»Gestehe es nur, Bursche, du bist nicht das, was die Welt in dir sehen soll. Dein Haar und dein Gesicht sind gefärbt – du umgibst dich mit Heimlichkeiten!«

Jetzt hob Onnen den Blick, in seinen ehrlichen blauen Augen flammte es plötzlich auf. »Gestehen Sie nur, Herr«, sagte er mit lauter Stimme, »diese nächtliche Versammlung in einem Speicher hat politische Zwecke – Sie umgeben sich mit Heimlichkeiten!«

»Du unverschämter Patron!«

Und der junge Herr sprang auf, um unsern Freund zu packen. Onnen erwartete ihn festen Fußes und ein Kampf zwischen den beiden Streitenden wäre unvermeidlich gewesen, wenn nicht der Vorsitzende in gebieterischer Weise die Hand erhoben hätte. »Ruhig da! – Komm hierher zu mir, du!« Onnen blieb, wo er war. »Mit welchem Rechte duzen Sie einen erwachsenen Menschen, Herr? Ich bin fast achtzehn Jahre alt.«

»Einen Zigeunerburschen pflegt man immer mit du anzureden, mein Lieber! Komm indessen hierher zu mir, ich möchte dir gerade ins Auge sehen.«

Onnen gehorchte, furchtlos traf sein Blick den des ändern. »Ich wußte vom ersten Augenblick an, wer Sie sind, Herr Oberst Mettlercamp!«

»Ach – und du kamst in dies Haus als Spion?«

»So wahr mir Gott helfen möge, nein!«

Der Oberst lächelte. »Wer bist du, junger Mensch, sprich ganz aufrichtig zu denen, in deren Gewalt du dich befindest. Ich halte dich für einen Deutschen!«

Onnen nickte, »Das bin ich auch – ich mag's nicht verleugnen. Wir sind quitt, meine Herren, Ihre Versammlung ist den Franzosen gegenüber ebenso strafbar wie meine Namensveränderung oder die Farbe in meinem Gesicht.«

»Du liebst sie also nicht, die Franzosen?«

»Ich?« rief Onnen. »O Gott – Hörten Sie nie, daß auf Norderney brave, ehrliche Leute, unbescholtene Familienväter von den Franzosen erschossen wurden, nur weil sie eine Schiffsladung voll Kaffee geschmuggelt hatten? Hörten Sie nie, daß ohne Gesetz und Recht bald danach die ganze Jugend der Ostfriesischen Inseln nächtlicherweile zum Dienst in der Armee gepreßt wurde? Nun, einer der Gemordeten war mein Vater, einer der gewaltsam Entführten bin ich, jetzt seit den Tagen von Witebsk französischer Deserteur und Bärenführer, weil eben der alte Zigeuner der einzige Freund ist, den ich überhaupt im Augenblick besitze.«

»Und nun«, fuhr er tiefatmend fort, »nun wissen Sie alles. Wenn Sie mir morgen auf der Straße wieder begegnen, dann können Sie mich dem nächstbesten Franzosen als Deserteur bezeichnen – ich lasse Ihnen gleichsam meinen Kopf als Pfand vollständiger Verschwiegenheit.«

Oberst Mettlercamp streckte plötzlich die Hand aus. »Schlag ein, Junge, du gefällst mir! Sieh, ich nenne dich immer noch du, obgleich du ein erwachsener Deutscher bist! – Wir, die du uns hier siehst, beraten eben die Bildung einer Hanseatischen Legion, die sich im richtigen Augenblick mit Preußen vereinigen und dem korsischen Räuber die Zähne zeigen wird. So, nun hast du hundert Köpfe als Pfand für die Sicherheit deines eignen.«

Onnen dankte bescheiden. »Ich kann jetzt gehen, nicht wahr? – Aber freilich, ist mir vorher noch eine Bitte gestattet?« »Sprich sie wenigstens erst einmal aus, mein Junge.«

»Soll mein Name den ihrigen beigefügt werden dürfen? – Ich heiße Onnen Visser! Schreiben Sie mich ein in die Liste der Getreuen, und rufen Sie mich, wenn es gilt, loszuschlagen. Ich möchte der erste, der allererste sein, dessen Arm sich gegen die verhaßten Franzosen erhebt.«

»Bravo!« riefen mehr als nur eine Stimme. Der Angreifer von vorhin schüttelte sogar Onnens Hand, während ihn der Oberst eintrug in die Liste derer, welche später auf Frankreichs Boden so blutige Lorbeeren ernten sollten. Er wurde von mehreren Mitgliedern der geheimen Versammlung in ihre Wohnungen eingeladen, dann brachte ihn der Wächter wieder bis an die Brücke, und nun mußte er seinen weiteren Weg im Dunkel der Treppen allein suchen.

Tastend gelangte er hinab in den zweiten Stock und wollte eben von dort noch tiefer steigen, als seine Hand statt des Geländers einen lebenden Körper ergriff. Der Mensch war vollständig in die Ecke gedrückt, er regte kein Glied und sprach keine Silbe; selbst als ihn Onnen leise schüttelte, blieb er doch stumm.

Ein unangenehmer Gedanke packte plötzlich die Seele des jungen Mannes. Von denen da drinnen kannte niemand den Namen Geerd Kluins, das hatte er gehört – zur Zahl der Versammelten konnte also seiner Mutter Bruder nicht gerechnet werden. Was wollte er hier?

Onnen beugte sich nahe zum Gesichte dessen, den seine kräftigen Hände gefangen hielten. »Geerd Kluin«, flüsterte er, »bist du es?«

Ein Zucken schien den Körper des Unbekannten zu durchfliegen, aber er antwortete auch jetzt noch nicht, nur seine Hände begannen leise zu zittern.

»Kennst du mich nicht, Onkel?« flüsterte Onnen.

»Was? – Was? – Es gibt gar keinen Geerd Kluin! – Unsinn das, Unsinn! Ich heiße Martin Kracht – ja gewiß, Martin Kracht. Meinen Paß habe ich in der Tasche.«

Onnen hatte bei dem ersten Laute die Stimme erkannt. »Und ich heiße Onnen Visser«, sagte er leise. »Ich bin deiner einzigen Schwester Sohn! Kennst du mich jetzt, Onkel Geerd?«

»Gott! Ach Gott!«

Ein Schluchzen klang durch das Dunkel. »Ich bin krank – ich bin so unsäglich elend!«

»Und du hast keine Nachricht von zu Hause, Onkel?«

»Keine, keine – hier heiße ich ja Martin Kracht!«

Onnen empfand ein unbeschreibliches Mitleid. »Komm«, sagte er, »komm, Onkel Geerd, was tust du denn eigentlich hier? Hast du mich vorhin nicht gehört, als ich heraufstieg?«

»Ja doch, ja, aber was kümmerte mich jemand, den ich gar nicht zu kennen glaubte? – Wo bist du gewesen, Onnen?«

»Ich sah dich an den Vorsetzen gehen und folgte dir in dies Labyrinth. Was suchst du hier, Onkel Geerd?«

»Nichts, nichts. Aber wo warst du so lange, Kind?«

»Drüben im ändern Speicher, Onkel!«

»So, so, begegnete dir niemand? Hörtest und sahst du nichts Auffälliges, Verdächtiges, mein Junge?«

»Durchaus nichts!«

»So – hm, hm, das ist schade! Ich muß hier noch bleiben, Onnen. Ein Geschäftsfreund erwartet mich.«

»Obgleich es fast Nacht geworden ist, Onkel? Geh nur mit mir, du sollst meine Geschichte hören – die meines armen Vaters kennst du ja doch!«

Geerd Kluin seufzte. » Schwager Visser – ach ja, ich weiß. Es waren Schiffer aus Emden hier, die erzählten von dem schrecklichen Unglück Weißt du, wie mich das Heimweh quält – ich kann dir's nicht sagen! Aber zwischen mir und Norderney steht ja der falsche Paß – die Franzosen sind so schnell mit dem Todesurteil bei der Hand! Die Kugel zischt und du bist gewesen, ehe der Hahn kräht.«

Es rann kalt über Onnens Rücken herab; er zog den Alten mit sich auf die Straße, und beide gingen dann im strömenden Regen zur Herberge am Eichholz. Geerd Kluin liebte das Geld noch ebenso innig wie früher, das erkannte Onnen sehr bald, aber in allem übrigen war er trostlos verändert.

»Hier sitzt mir's«, sagte er, auf die Brust deutend. »Ich kann das Stechen nicht mehr loswerden. Onnen, bemerktest du wirklich in dem Speicher nichts Verdächtiges?«

»Das fragst du nun schon zum zweitenmal, Onkel. Was sollte denn nach deiner Meinung in dem alten Gerümpel vor sich gehen?«

Geerd Kluin wiegte den Kopf. »Hier in Hamburg gibt es gar nichts mehr zu verdienen, du, gar nichts mehr – ich kam mit so großen Erwartungen hierher, ach Gott, und ich habe hungern müssen. Alle Wege versperrt, alle Hoffnung betrogen, das ist der Zustand, in dem ich lebe – natürlich als Martin Kracht, hörst du, nenne mich niemals anders.«

»Gewiß nicht, Onkel. Aber du wolltest mir erzählen, was dich in den unbewohnten Speicher führte.« »Ja, ja – du bist meiner Schwester Kind, Onnen, bist mein Blutsverwandter. Willst du mir beistehen?«

»Erst laß hören, um was sich's handelt!«

Der immer noch vor Frost zitternde alte Mann rückte ihm näher. »Ich wandre so in den Straßen umher«, raunte er, »zwecklos, arbeitslos, ich mache mich bei den Soldaten beliebt, wo es möglich ist, und erwische hie oder da einmal ein Stück Brot und einen Schluck Branntwein – zu verdienen gibt es ja nichts. Da sah ich denn eines Abends nacheinander mehrere sehr bekannte Herren bei der Neumannsstraße und später auch einige beim Johannesbollwerk in die Gänge einbiegen,, das fiel mir auf. Oberst Mettlercamp war dabei, ein Mönckeberg, ein Goßler, ein Amsink, ein Godeffroy. Was suchen diese Leute in den Höfen der untersten, bittersten Armut? – Ich beobachte sie seitdem, ich stehe in Wind und Wetter auf der Lauer. Onnen, wenn es möglich wäre, eine Zusammenkunft zu entdecken – mein Junge, dann könnte für mich noch alles gut werden!«

»Wie meinst du das, Onkel?«

»Nun, das ist doch leicht genug zu verstehen, Kind. Acht Personen gelten als unerlaubte Versammlung – wenn ich daher das Lokal finde, wenn ich Beweise erhalte, dann ist mein Glück gemacht. Der Maire Rüder zahlt für derartige Mitteilungen große Summen, ich weiß es – man könnte ja die Sache ein wenig aufbauschen, könnte von einem bevorstehenden Aufruhr sprechen. Ich erhielte dann vielleicht einen Paß auf meinen wirklichen Namen. Man muß es nur anzufangen wissen!«

Onnen fühlte, wie ihm das Blut heiß ins Gesicht stieg. »Du wolltest doch unmöglich die Leute den Franzosen verraten?« fragte er hastig.

Geerd Kluin schien sehr ärgerlich. »Verraten!« brummte er, »verraten! Wie du gleich auffährst! Ich will meinen eignen, ehrlichen Namen wieder erlangen, damit ich nach Norderney zurückkehren kann, das ist alles. Falsche Pässe macht jetzt niemand mehr; die Franzosen fackeln nicht, das wissen die Leute.«

Onnen schüttelte den Kopf. »Ein Verrat wäre es aber doch auf alle Fälle, Onkel. Du mußt den Gedanken fallen lassen.«

»Niemals!« rief der Alte. »Hast du persönlich den Hunger und den Frost kennengelernt, Junge? Bist du obdachlos gewesen, krank, verlassen? Das alles habe ich ertragen – dabei verschwinden die zarten Rücksichten. Fange ich eine geheime Versammlung ab, so denunziere ich die Teilnehmer. Basta.«

Onnen versuchte nicht, seinen Onkel zu einer bessern Ansicht zu bekehren. »Ich an deiner Stelle würde es anders machen«, sagte er nach einer Pause.

»So! Und wie denn?«

»Ich ließe mir Geld aus der Heimat schicken. Du hast ja in unsern Dünen dein Vermögen aufbewahrt.«

Geerd Kluin beobachtete unruhig das offene Gesicht des jungen Mannes. »Mein Vermögen!« sagte er ärgerlich, »Vermögen! Ich bin ein armer Mann, der höchstens einen Sparpfennig besitzt. Kein Mensch kennt die Stelle, wo das Geld liegt.« »So mußt du sie irgendeiner vertrauten Person nennen. Meiner Mutter zum Beispiel – da gehst du ja doch sicher.«

Der Alte murmelte in sich hinein. »Sicher gehen«, sagte er, »sicher gehen – ja, wenn die Menschen ehrlich wären! Irgend jemand stiehlt mir mein Geld; der, den die alte Frau hinausschickt, um es zu holen, oder der, dem es anvertraut wird. Nein, nein, ein Geheimnis, das mehr als eine Person kennt, ist nicht länger ein solches.«

Onnen schwieg. Es war Nacht geworden, die Zigeuner schliefen längst, auch ihm selbst fielen die Augen zu. Geerd Kluin teilte für diese Nacht das Strohlager des jungen Mannes, aber auch im Schlafe kam ihm der Gedanke an die Versammlung, welche er belauschen wollte, nicht aus dem Sinn.

»Sie sitzen doch im Speicher«, murmelte er, »doch! – Ein andres Mal! – Der dumme Junge hat Gewissensbedenken! – lächerlich. Ich will wieder Geerd Kluin werden – Geerd Kluin!«

Onnen wachte noch; er dachte nur eins: »Ich will den Obersten warnen.«


 << zurück weiter >>