Sophie Wörishöffer
Onnen Visser - Der Schmugglersohn von Norderney
Sophie Wörishöffer

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2

Die »Taube« glitt vor frischer Brise dem Lande entgegen. Jetzt war man nahe am Ziel; zwischen der Küste und der Schaluppe befand sich kein Fahrwasser mehr, in welchem noch ein französisches Kanonenboot hätte treiben können – die nötigen Vorsichtsmaßregeln galten daher nur noch der bevorstehenden Landung.

Alle Männer trugen die schwarzen Larven; eine Anzahl Seile und Streifen von altem Segeltuch wurden bereitgehalten.

Die Schaluppe hatte volle Ladung und sogar darüber, sie ging daher sehr tief, so daß der scharfe Kiel schon den Sand des Ufers streifte, ehe noch jemand in den bewegten Fluten Fuß fassen konnte. Das Boot wurde ausgesetzt, die Anker herabgelassen, und während zwei von den Fischern in der Schaluppe blieben, schlichen die übrigen nach links und rechts durch die Dünen.

Heute galt es einen verwegenen Handstreich auszuführen.

Am Strande schritt ein französischer Zollwächter gelangweilt auf und ab. Mit eintönigem Klatschen schlugen die Wellen gegen das flache Ufer, Möwen schrien und der Wind strich kalt über das Wasser daher; den Sohn des wärmeren Himmelsstriches fror es, er gedachte seines schönen Landes und schauderte im Angesichte der kahlen nordischen Küste, des Bildes, das ewig das gleiche blieb, jahraus, jahrein – ewig das gleiche.

Hinter ihm erklangen Schritte; er legte im Fluge das Gewehr an und spähte scharf in die Dunkelheit hinaus.

»Wer da?«

»Sei doch still, Dummkopf!«

»Ah – Perrier, du bist es! Aber wenn der Leutnant käme?«

»Er ist fort!« frohlockte der andere. »Die Offiziere gähnen sich auf dieser Sandscholle zu Tode – dafür haben wir desto größere Freiheiten. Man kann wenigstens plaudern.«

Die beiden Soldaten setzten sich auf den Rand einer niederen Düne. »Lorrain«, flüsterte der zuletzt gekommene, »ich möchte dir einmal einen Vorschlag machen.«

»Gib mir lieber einen Schluck Branntwein.«

»Da nimm, du Schlauch! und jetzt höre mich an. Hier in den Dünen soll ein Warenlager versteckt sein – wenn man es fände!«

»Hm, das wäre verteufelt angenehm. Man löst einen Lizenzschein und verkauft die Geschichte für ein Ei und ein Butterbrot.«

»Um dabei selbst tüchtig zu gewinnen. Wollen wir einmal die Dünen durchsuchen, du und ich?« Lorrain schüttelte den Kopf., »Weißt du denn die Stelle, Perrier?«

»Ziemlich sicher wenigstens. Unter uns – der Peter Witt hat mir einen Wink gegeben! Er fand eine Schlucht, wo größere Vorräte gelagert haben müssen, alle vorhandenen Zeichen verrieten es, aber nun war das Nest leer, die Pascher haben ohne Zweifel ihre Beute auf dem Festlande in Sicherheit gebracht.«

»Natürlich, natürlich. Man muß sie ganz ungestört lassen, damit neue Vorräte herbeigeschafft werden.«

»Das denke ich auch. Die ›Taube‹ des alten Klaus Visser ist heute ausgelaufen, angeblich zum Fischen, aber Peter Witt glaubt, daß wieder eine Ladung Kolonialwaren geborgen werden soll – du, er sitzt in der Nähe des Versteckes auf der Lauer!«

»Und gibt uns ein Zeichen?« rief Lorrain.

»Pst! Er merkt sich den Ort, das ist alles. Morgen, wenn die Schmuggler abgezogen sind, bewacht einer von uns ihre Niederlage und der andere löst bei dem Präfekten in Norden den Lizenzschein. Wir haben das Geld so gut wie in der Tasche.«

»Müssen aber dem langen Esel, der den ganzen Tag mit seinem Orden liebäugelt, eine tüchtige Abgabe zahlen, nicht wahr?«

»Gar nichts!« raunte in vergnügtem Tone der andere, »gar nichts, du! Er begnügt sich mit der Ehre. Sein Rock hat ja noch mehr Knopflöcher, als nur das eine, weißt du, und für so ein buntes Ding verrät dieser Mensch seinen Herrgott und sein Vaterland!«

Sie lachten beide, sie hatten sich in ihre angenehmen Hoffnungen auf Beute dermaßen vertieft, daß es ihnen vollständig entging, als von den höher gelegenen Dünen mehrere dunkle Gestalten langsam herabkletterten. Sowohl Lorrain wie Perrier hielten die Gewehre zwischen den Knien und den Rücken in bequemer Stellung gebogen, sie sprachen von der Möglichkeit, morgen einige hundert Taler in die Tasche stecken zu können, während ihnen ungesehen der Feind immer näher rückte.

Vier Arme erhoben sich geräuschlos, ein dunkler Gegenstand schwebte in der Luft und fiel dann gedankenschnell herab auf die Köpfe der beiden Zollbeamten. Erstickte Laute wurden gehört, Lorrain kämpfte wie ein Verzweifelter gegen den Knebel, welchen ihm Heye Wessel, der Riese, in den Mund stopfte, während Klaus Visser seinen Genossen überwältigte.

Perrier setzte sich in keiner Weise zur Wehr, er stieß vielmehr dem anderen fortwährend in die Rippen, um ihm zu sagen: »So laß doch alles geschehen! Die Leute bringen ja ihr Eigentum zu unserem Vorteil an Land, sie wissen nicht, daß wir ihr Versteck kennen – desto schlimmer für sie selbst.«

Aber Lorrain verstand keinen dieser freundschaftlichen Püffe. Er kugelte mit seinem herkulischen Gegner im Sande umher und die beiden lieferten sich eine regelrechte Schlacht, ehe endlich der Franzose gebunden und geknebelt, mit einem Tuche über den Augen dalag, jetzt außerstande, auch nur noch einen Finger zu bewegen.

Heye Wessel riß die Kapuze ab, er trocknete sich den Schweiß von der Stirn, dann winkte er den anderen; es war ja immerhin besser, wenn die Franzosen auch ihre Stimmen nicht erkannten. Sie entfernten sich etwa zwanzig Schritte vom Kampfplatze und standen nun still, um zu beraten.

»Also der Hund, der Witt, hat unser Versteck ausgespürt!«

»Wir können nun die Ladung nicht dahin bringen.«

»Das steht fest, aber – wo lassen wir sie?«

»Nach Hilgenriedersiel!« entschied der Kapitän.

»Zu wem?« fragte hastig ein anderer.

»Zu meiner Schwester, die gleich hinter dem Deiche wohnt. Wir müssen es wagen, oder einfach die Ladung im Stich lassen. Der Witt soll nicht triumphieren, soll nicht sagen, daß er uns überlistet habe.«

Darin waren alle einig, und dennoch schüttelten sie die Köpfe. So im Dunkeln zu Fuß über das Watt, durch das seichte Meer zwischen der Insel und dem Festlande? – Ein schauriger Gedanke.

»Wieviel Uhr ist es?« fragte der Kapitän.

»Etwa zwölf. Gegen drei kommt die Flut.«

»Wir haben also Zeit genug. Die Schaluppe kann uns später in Hilgenriedersiel wieder an Bord nehmen.«

»Es bleibt nur dies Mittel übrig«, meinte auch Heye Wessel. »Auf! Zwei von uns sind Wattführer – die finden den Weg auch im Dunkeln.«

Niemand antwortete, und so eilte die ganze kleine Gesellschaft zur Schaluppe zurück. Die beiden an Bord gebliebenen Schmuggler wurden verständigt und dann aus einem Versteck im untersten Schiffsraume vier kleine Räder hervorgeholt. Das Boot verwandelte sich in einen Wagen, es wurde im Fluge beladen und außerdem den Männern auf den Rücken geschnallt, was sie irgend tragen konnten.

»Vorwärts – es muß sein!«

»Onnen, du könntest nach Hause gehen«, meinte tief atmend der Kapitän.

Der Knabe erschrak. »Nur mit dir, Vater; wo du bleibst, da bleibe auch ich!«

Und so willigte Klaus Visser denn kopfschüttelnd ein, das Boot wurde bespannt, die beiden Wattführer gingen mit den gegen das Land geschlossenen Laternen voran, ihnen folgten, einer hinter dem anderen, alle übrigen.

»In anderthalb bis zwei Stunden können wir drüben sein«, sagte der Kapitän.

Niemand antwortete; die Gefahr des Unternehmens lähmte alle Herzen. Nur ein Gedanke beherrschte die Leute: »Wenn wir vom Wege abkämen!«

Dünne Birkenstämme bezeichneten die Furt; rechts und links brauste das Meer, bläulich schimmerten im ungewissen Licht die einzelnen Rinnen und Lachen, deren trübe Fluten unter den Füßen der Männer hoch aufspritzten. Man war vor einem wenigstens sicher, vor jeder Begegnung nämlich, daher brauchte kein Stillschweigen zu herrschen. Weder Freund noch Feind würde sich hinauswagen in die grauenvolle Einöde, den feuchten Grund des Meeres, das einige Stunden später rollend und brandend zurückkam, um alles zu verschlingen, was seine wilden Wogen fanden und erwürgten. Unter den Füßen kroch es und flog, huschte nach allen Seiten; jede kleinste Erhöhung war bedeckt mit lebenden Wesen, die einander bekämpften. Große Mantel- und Silbermöwen, Austernfischer, Kampfhähne, Gänsesäger, Brandenten und Lummen bevölkerten das Watt, um auf demselben ihre Nahrung zu suchen; sie saßen in ganzen Scharen beieinander, flogen ab und zu, kreischten und flüchteten, wo sich ihnen die Menschen näherten.

»Halb zwei Uhr vorüber. – Wo sind wir, Uve Mensinga? Du mußt es wissen.«

Der Wattführer nickte. »Haben bald die Hälfte des Weges, Kapitän Visser! – Mehr nach links, Leute – drüben läuft die tiefe Rille.« Sie wechselten ab mit Schieben und Tragen; von allen Stirnen floß der Schweiß. Schien es nicht ringsumher dunkler zu werden anstatt heller?

»Westwind!« sagte Heye Wessel. »Es gibt Regen!«

»Ob die Teekisten dicht halten?«

»Sind alle gut verzinkt. Die ersten Tropfen fallen schon.« Langsam zog eine schwarze Wolke am Horizont herauf, dichter und immer dichter rieselte in schweren Schauern der Regen herab. Binnen weniger Minuten schien alles ringsumher in Wasser verwandelt, es glitzerte und leuchtete, es plätscherte unter den Tritten der Männer.

»Nach links, nach links!« ermahnte Uve Mensinga und auch der zweite Wattführer schob mit kräftigem Ruck den Karren in diese Richtung hinüber. »Siehst du die Stämme, Uve?« fragte er etwas unruhig.

»Ich denke, daß nun gleich wieder einer kommen muß!«

Aber im selben Augenblick brach über seine Lippen ein Schreckensruf. »Das breite Loch!« rief er. »Zurück! Zurück! Wir sind aus der Furt herausgekommen!«

Es brauste in den Lüften wie ferner Donner, die See brandete und der Regen floß in Strömen. Das helle Lachen der Möwe klang schaurig durch all den Graus – dicht um die Köpfe der Männer strich mit schwerem Flügelschlage die große Raubmöwe, als wolle sie sich jetzt schon der Beute versichern.

Und Mensinga schob den Wachstuchhut tiefer in die Stirn.

»Ich muß zurückgehen und die Furt untersuchen«, sagte er.

»Aber bleib um Gottes willen nicht lange. Noch eine Stunde, dann ist die Flut an dieser Stelle.«

»Wir können in vierzig Minuten drüben sein! Das breite Loch liegt, wie ihr wißt, hinter zwei Dritteln des Weges.«

»Ja! Ja! – An diese Nacht will ich denken, solange ich lebe!« –

Dicht nebeneinander, mit pochenden Herzen standen die Schmuggler. Wasser ringsumher, bewegtes, wellenschlagendes Wasser, das schon ihre Füße netzte. Wenn jetzt eine Springflut kam, was dann? Es war der sichere Untergang für alle; sie wußten es.

Wo nur der Wattführer bleibt? Er könnte wohl schon zurück sein!

»Uve!« rief halblaut eine Stimme.

Keine Antwort; nur die Möwe lachte und der Sturm brauste.

»Uve Mensinga, wo bist du? – Gib doch Bescheid!«

Das Licht der Laterne blitzte auf; mit todbleichem Antlitz stand der Wattführer vor seinen Genossen. »Wir müssen ganz vom Wege abgekommen sein – ich bin außerstande, einen der Birkenstämme zu finden.«

Sekundenlang schwiegen alle, das Entsetzliche wirkte lähmend, dann aber sprachen sämtliche Stimmen zugleich:

»Vorwärts, vorwärts, das breite Loch lassen wir rechts liegen!«

»Wir dürfen nicht länger zögern, uns bleiben bis zum Eintritt der Flut nur noch fünfzig Minuten.«

»Aber dann steigt der Boden allmählich an. Wir haben noch eine volle Stunde, und das genügt.«

Wieder schoben vereinte Kräfte das Boot. Eine neue Gefahr tauchte langsam aber sicher aus dem Dunkel herauf; auch der Deich von Hilgenriedersiel hatte eine Wache französischer Zollbeamten. Nur um diesen letzteren in die Hände zu fallen, sollte der furchtbare Weg über das gefahrdrohende Watt zurückgelegt sein? – Das wäre entsetzlich.

»Kennst du dich gar nicht mehr aus, Uve? Und auch du nicht, Lars Meinders?«

Der letztere nickte. »Wir sind in der Furt«, sagte er, »aber zu weit rechts.«

»Hurra!« rief in diesem Augenblick Onnens Stimme, »hier ist eine Birke.«

Die beiden Führer eilten zu ihm. »Links hinüber!« riefen sie. »Jetzt geht noch alles gut!«

Ein sonderbar gurgelndes Geräusch ließ die Männer aufhorchen. Breit und schaumbedeckt rollte eine Welle vor ihre Füße, um im gleichen Augenblick wieder zurückzutreten und zu verschwinden. Das war keine Rinne, keine Vertiefung – so flutete nur das ansteigende Meer, so hob und senkte sich in gemessenen Pausen die Riesenbrust – da, da, es kam wieder – ja, es war das Meer, die Flut. »Eilt euch, eilt euch, so sehr ihr euer Leben liebt!«

Das Boot flog über den nassen Sand, die Schmuggler bissen ihre Zähne zusammen, sie sprachen kein Wort, sie flüchteten nur in toller, atemloser Hast, wie das Leben vor dem Tode flieht, vor dem entsetzlichen Gedanken der Vernichtung.

Ein helles Pünktchen blitzte auf – in weiter, weiter Ferne. Es schien mit jeder verrinnenden Sekunde größer zu werden.

»Licht in Hilgenriedersiel!«

»Das ist nicht das Dorf«, keuchte Lars Meinders. »Es muß dort hinüberliegen!«

»Auch da erscheint ein Licht!«

»Ruhig! Ruhig!« ermahnte der Kapitän. »Wo haben wir denn unsere Augen, Kinder? – Das Meer leuchtet!«

Überall in Nähe und Ferne schienen die Wellen mit flüssigen Feuertropfen besät, überall spielten und glühten schimmernde Brillanten, die sich in ganzen Wogen hoben und senkten. Ein brennendes Meer, brennende windgepeitschte Fluten – so entrollte sich das Bild voll wunderbarer ergreifender Schönheit.

Jetzt leuchtete alles. Weithin von Norderney bis zum Ostfriesischen Deiche schaukelten und schwellten die blitzenden Wassermassen; jede Woge warf funkelnde Rubinen den Schmugglern vor die Füße, jede schien in ihren Flammenschoß die dunklen Gestalten hinabziehen zu wollen auf Nimmerwiederkehr.

»Ob wir die Räder abreißen? Ob wir das Boot treiben lassen?«

»Geduld! Geduld! Seht ihr denn nicht den schwarzen Streifen? Das ist das feste Land!«

»Aber noch weit ab, weit ab! Jesus, mein Heiland, wenn dort Franzosen ständen!«

»In diesem Regen? Die feinen Muttersöhnchen würden ja schier den Schnupfen kriegen! Sie sind ohne Zweifel beizeiten unter Dach und Fach gekrochen.«

»Oder sie werden geknebelt wie drüben die beiden anderen. Alle Hagel, das Wasser steigt!«

Wenn jetzt die Welle heranrauschte, dann standen alle Männer still und hielten sich mit beiden Händen an den Bootsrändern, bis die Gewalt des Andranges nachließ, dann wurde die kurze Pause benutzt, um mit verdoppelter Hast zu laufen.

Ein Kampf, ein Ringen auf Tod und Leben. Jede Woge stieg höher, kam mit stärkerer, vollerer Wucht, jede erschwerte das Gehen auf dem durchweichten Grunde. Wo sich das Salzwasser mit dem vom Regen in den Kleidern der Schmuggler zurückgebliebenen mischte, da schien sekundenlang ein Kochen und Brodeln zu entstehen; Funken fielen herab, es glühte und leuchtete, bis langsam der Schimmer wich und neue Dunkelheit alles umhüllte.

Jetzt gingen die Wogen bis an den Bootsrand. Noch einen einzigen Zoll höher und das sonderbare Fahrzeug, halb Schiff, halb Karren, mußte versinken.

»Da ist der Deich! – Zwanzig Schritte weiter hinaus! – Haltet stand, Leute, haltet noch einige Minuten stand!«

»Pst! – da oben können Posten stehen!«

Die letzte Welle kam, hoch und donnernd schlug sie heran. Einer der Schmuggler stürzte, die übrigen rissen ihn mit vereinten Kräften empor – es war ein Augenblick, in dem alle glaubten, daß nun das Ende, das furchtbare, nahe sei.

»Onnen, wo bist du?«

»Hier, Vater!«

Mit einer Hand hielt der Kapitän die Kiste auf seiner Schulter, mit der anderen den Knaben. Wortlos kämpften in den wenigen Augenblicken zwischen Welle und Welle die abgehärteten seegewohnten Fischer, um den rettenden Strand zu erreichen.

Heye Wessel, der Riese, hatte festen Grund gefunden. Er warf seine Last von sich und faßte Posto, breitspurig, unerschütterlich wie der Koloß von Rhodos.

»Gib mir die Hand, Junge!«

Onnen kam als der zweite an das rettende Ufer, dann folgten mit dem Boote die übrigen. Ihnen nach, donnernd und brausend, stürzten die Wogen.

Stumm, keuchend, mit dem Schweiß der furchtbarsten übermenschlichsten Anstrengung auf den glühenden Stirnen standen die Schmuggler beieinander. Wie eine Riesenflamme glühte weithin das Meer, wie Millionen Diamanten sprühte es aus jeder Woge. Durch dies brandende, ungestüm schwellende Element, durch das wilde, tobende Wasser waren sie stundenweit gewandert, hatten sie die kostbare Ware unbeschadet hinübergebracht auf das feste schützende Land.

»Wißt ihr, wie mir ist?« raunte Heye Wessel. »Ich möchte Hurra schreien, daß alles Donnern und Brüllen der See sich ängstlich dagegen verkröche.«

»Um des guten Gottes willen nicht! Sollen dich die Parlewus hören?«

»Ich tu's ja nicht, Kamerad, aber – man möchte eben seinem Herrgott danken und das kann ich immer am besten, wenn ich einmal ganz gewaltig schreien darf!«

Uve Mensinga versuchte umsonst, mit dem völlig durchnäßten Taschentuch seine Stirn zu trocknen. »Wie sich der Witt da oben in den Dünen ärgern mag«, sagte er grimmig lachend. »Sitzt und lauert immerfort – aber es kommt niemand!«

»Still doch! Still doch! Bedenkt, wenn uns ein Franzose hören würde!«

Sie standen auf dem breiten, langsam ansteigenden Fahrdamm, der von der mehr benutzten Bootstreppe einige fünfzig Schritte weit entfernt war. Hier erwartete man auf keinen Fall Gäste, es ließ sich daher hoffen, daß der Übergang ohne Hindernis möglich sei – wenigstens mußte die Sache erst einmal versucht werden.

Lars Meinders als der schmächtigste und gewandteste von allen kroch in einiger Entfernung vorsichtig bis zur vollen Höhe des Deiches hinauf, dann sah er spähend umher; im nächsten Augenblick gab seine Hand den unten Wartenden ein Zeichen.

»Still!« hieß es. »Feinde in der Nähe!«

Sie horchten mit aussetzendem Herzschlag.

»Macht das Boot leer!« raunte der Kapitän. »Wir müssen im Notfall die Kisten einzeln tragen.«

Sie legten sämtlich Hand ans Werk, dann wurden in aller Stille die Räder abgeschraubt, aus dem untersten Grunde die Riemen hervorgesucht und das Boot zu Wasser gebracht, wo es zwei Männer an Seilen festhielten.

Lars Meinders glitt geräuschlos vom Deiche wieder herab. »Seht dorthin«, flüsterte er, auf das Meer hinaus deutend, »da naht unsere Rettung.«

Aller Köpfe wandten sich der bezeichneten Richtung entgegen. Ein weißes Segel schimmerte nahe am Strande; es war eine Schaluppe, die der Landungstreppe zusteuerte.

»Die ›Taube‹!« rief leise der Kapitän. »Sie kann uns nur ohne die Kisten aufnehmen! Das ist nichts, Meinders.«

Der Wattführer schüttelte den Kopf. »So meine ich's ja nicht, Mann. Onnen, mein guter Junge, gib doch einmal das Zeichen, daß sie da, wo sie jetzt sind, kreuzen und sich nicht aus Sicht entfernen, aber auch nicht näher herankommen sollen.«

Der Sohn des Kapitäns richtete sich höher auf. Dreimal erscholl das ärgerlich klingende Geschrei des Kampfhahnes, täuschend nachgeahmt, so daß es keinerlei Verdacht erregen konnte. Die Männer sahen gespannten Blickes hinüber – an Deck der »Taube« erschien und verschwand gedankenschnell ein blaues Licht, dann war alles dunkel.

»So ist's gut«, nickte Lars Meinders. »Nun gebt mir das Boot, Kameraden, und wenn ihr einen gellenden durchdringenden Pfiff hört, so bringt die Kisten in das Dorf. Laßt mich nur machen!«

»Willst du uns nicht wenigstens einige Erklärungen geben, Lars?«

Der Wattführer stieg in das Boot. »Wäre zu weitläufig«, sagte er. »Ihr habt eure Verhaltungsmaßregeln.«

Und geräuschlos die Riemen in das Wasser tauchend, fuhr er der Bootstreppe zu. Unruhig spähend und horchend blieb das kleine Häuflein der Schmuggler in völliger Ratlosigkeit zurück.

»Vater«, flüsterte Onnen wie aus gepreßter übervoller Brust, »Vater, ein ehrlich Gewerbe wäre mir doch lieber!«

Der Kapitän nickte. »Mir auch, Kind, aber die Franzosen haben uns alle Wege verlegt, haben unser Land ausgeplündert und uns an den Bettelstab gebracht. Wenn wir in Deutschland nichts mehr zu beißen und zu brechen haben, dann müssen wir dem Himmel danken, daß das reiche Frankreich uns seine Arme öffnet, dahin soll's kommen, wenigstens träumt's der freche Korse so.«

Onnens Augen blitzten. »Daß wir Franzosen würden; ganz und für immer, Vater? Daß es gar kein Deutschland mehr gäbe!«

»Ja! Ja!«

»Nie!« rief der Knabe. »Gott kann das Abscheuliche nicht geschehen lassen!«

»Wir wollen's hoffen; einstweilen müssen wir schmuggeln, wenn unsere Kranken und unsere Säuglinge noch ein Stückchen Zucker behalten sollen, die alten Frauen ihren Kaffee und Tee.«

Während dieser Unterhaltung war Lars Meinders bis zur Bootstreppe gerudert, hatte das Fahrzeug lose an einem Pfeiler befestigt und stieg nun die Treppe hinan, aber dermaßen ungeschickt, daß ihn der Wachtposten sogleich bemerkte.

»Qui vive?« rief er aufhorchend in das Dunkel hinein.

Lars Meinders erkünstelte einen halbunterdrückten Schreckensschrei, er polterte die Stufen hinab und plumpste in das Boot, als wolle er schleunigst flüchten.

Der Franzose, beutegierig wie alle diese angeworbenen, durchweg moralisch verkommenen Zollbeamten – der Franzose lief sogleich in die offene Falle des schlauen Wattführers hinein.

»Hierher!« schrie er. »Hierher! Hilfe!«

Eine Sekunde später sah Lars Meinders den Soldaten, welcher am Fahrdamm Wache hielt, schnellen Laufes herbeieilen; über sein ehrliches rotes Gesicht flog jenes stille Lachen, das ihm eigen war, er steckte zwei Finger in den Mund – ein langgezogener Pfiff gellte durch die Luft.

»Das war das Zeichen!« raunte Uve Mensinga.

»Schnell! Lars Meinders ist nicht der Mann, uns irre zu führen.«

Sie nahmen die Kisten wieder auf und Onnen schlüpfte als der erste den Fahrdamm hinan. »Alles leer!«

Wie schwarze Gespenster glitten die Schmuggler hinüber zum Dorfe, sechsmal nacheinander, ungehindert, im Fluge – dann waren alle Teekisten geborgen.

Der Wattführer hatte ihnen den Weg freigemacht, jetzt wußten sie es.

Während die Beamten das Zollboot vom Pflock lösten und sich anschickten, jenes andere Fahrzeug von der »Taube« abzuschneiden, entkamen die wirklichen Pascher ungehindert über den Deich in ein grünes Gärtchen, dessen Hecken ihnen genügende und sichere Verstecke boten. Im Schutze des hohen Walles blühten hier bescheidene Blumen, wuchsen Stachelbeeren und Flieder, sogar ein paar knorrige verkümmerte Apfelbäume, denen aber der salzige Wind die Kronen verdorrt hatte, wie überall am Nordseestrande.

Tief in der Mitte des bäuerlichen Besitzes lag ein niederes strohbedecktes Haus, dem jetzt die Schmuggler ihre Schritte zulenkten.

»Meine Schwester muß schon aufgestanden sein«, sagte flüsternd der Kapitän. »Es brennt Licht in der großen Stube.«

Sie schlichen auf dem schmalen Pfade zwischen dem Hause und der Stachelbeerhecke vorsichtig zum Fenster und Klaus Visser sah hinein. »Na! Na!« raunte er, »was ist denn das?«

Drinnen in der »Döns«, der geräumigen einzigen Stube des Bauernhauses, saß eine ältliche Frau und stützte den Kopf in beide Hände. Die Ellbogen vor sich auf den Tisch gestemmt, sah sie unverwandt ins Leere, während große Tränen, eine nach der anderen, über ihre bleichen Wangen herabrollten.

Außer dieser Frau befand sich niemand im Zimmer.

»Da ist etwas Schlimmes geschehen«, murmelte der Kapitän. »Ich will einmal anklopfen – dann folgt mir nach, Kameraden.«

Er ging um das Haus herum und bald sahen die übrigen, daß er Einlaß begehrt haben mußte, denn die weinende Frau fuhr plötzlich auf und schien zu erschrecken – sie öffnete die Tür wie jemand, der ein großes Glück erwartet, und ließ dann, als der Kapitän eintrat, mutlos die Arme sinken.

Er sprach mit ihr. Die Draußenstehenden sahen ihn die Fäuste ballen. »Herrgott, Herrgott, das ist zu arg!«

Sie alle hatten es verstanden, er winkte ihnen auch schon, und eilends, voll schlimmer Erwartung betraten sie das Haus. Frau Antje, die Herrin desselben, verhüllte das Fenster – sie weinte jetzt noch ärger als vorher.

»Tante Antje«, rief Onnen, »was fehlt dir? Wo ist Onkel Martin?«

Aber nur ein Schluchzen antwortete ihm. »Kinder«, sagte der Kapitän, »die Franzosen haben eine neue infame Schurkerei verübt! Das junge Volk soll zum Kriegsdienst ausgehoben werden, wie ihr wißt. Mancher hat sich beizeiten auf- und davongemacht – na und da stecken sie nun die Väter dieser Flüchtlinge einfach ins Gefängnis, als Geiseln für die Söhne. Schwager Martin Hansen ist gestern mit noch mehreren anderen aus Hilgenriedersiel abgeführt nach Norden.«

Frau Antje weinte bitterlich. »Mein Sohn ein Flüchtling«, schluchzte sie, »und mein Mann ein Gefangener! – Was soll nun aus Haus und Hof, aus dem Geschäft und den kleinen Kindern werden?«

Uve Mensinga näherte sich der unglücklichen Frau. »Was das Geschäft betrifft, so seid außer Sorge, Frau Antje«, sagte er, »der Lars Meinders und ich wollen schon Martin Hansens Dienst als Wattführer mit übernehmen und euch den Lohn getreulich abliefern. Die Pferde versorgt dieser oder jener aus dem Dorfe – und Fische bringen wir euch reichlich ins Haus. Getrost, Frau! Wenn die Not am größten, dann ist die Hilfe am nächsten. Der Korse stößt sich schon irgendwo ein Loch in den Kopf, so daß das Land wieder frei wird vom Übel.«

Er bot treuherzig der Weinenden die Hand und auch Klaus Visser bemühte sich, sie zu trösten, »Laß es gut sein, Antje, ich bin ja kein armer Mann, kann wohl dir und deinen Kindern über die böse Zeit hinweghelfen. Der Martin wird es leicht ertragen, da so ein paar Wochen oder Monate im Loch zu sitzen, er ist ja ein starker, kräftiger Mann.«

Die arme Frau trocknete ihre rinnenden Tränen. »Ich danke euch, Uve Mensinga«, sagte sie seufzend, »und auch dir, Bruder Klaus. Gott möge unser unglückliches Land beschützen! – Wißt ihr schon, was man sich Neues erzählt?«

»Nun?« rief der Kapitän. »Heraus damit!«

»Der Korse marschiert nach Rußland, dafür braucht er so viele Soldaten. Ach, sie sagen ja, daß er sich die ganze Welt untertänig machen will!«

»Holl Pust! (Halte auf!)« lächelte der Kapitän. »Gott stüert de Bööm, dat se nich in'n Heben wast!« (Gott wehrt es den Bäumen, in den Himmel hineinzuwachsen.)

Die vermeintliche Schreckensnachricht schien den Fischern eine heimliche Hoffnung einzuflößen. Nach Rußland! Das konnte ja kein gutes Ende nehmen!

Aber es blieb jetzt für Vermutungen und Pläne keinerlei Zeit übrig; man mußte die Teekisten nach Emden schaffen, ohne einer einzigen der zahllosen umherstreifenden Zollpatrouillen in die Hände zu fallen, und da war guter Rat teuer, bis endlich Onnen einen Ausweg gefunden zu haben glaubte.

»Ich weiß, wie wir es machen!« rief er.

»Nun?« fragte der Kapitän, »und das wäre?«

»Die alte Kutsche, mit der Onkel Hansen seine wasserscheuen Badegäste über das Watt fährt, muß heraus und –«

»Prachtvoll!« unterbrach Klaus Visser, »wir setzen die beiden großen Lederpuppen, von oben bis unten mit Tee gefüllt, hinein. Zufällig sind die Dinger hier bei dem Krämer Hildebrandt in Hilgenriedersiel.«

»Und einen Paß habe ich auch«, meinte Heye Wessel. »Schwerenot, es kommt einem doch gut zustatten, wenn man mit den Schreibern auf der Präfektur zusammen zur Schule gegangen ist und für Geld und ein freundliches Wort so einen gestempelten Papierfetzen erhält, so oft man es wünscht.«

Er zog einen zusammengefalteten Bogen aus der Brieftasche und las den Inhalt vor: »Reisepaß von Emden nach Norderney und auf dem Landwege zurück, für Herrn Kaufmann Poppinga nebst Sohn und Tochter!‹ – Alle Wetter, woher nehmen wir die Tochter! Meine Amke macht sonst die Fahrt mit dem alten Hansen und dreht sich und wispert wie eine richtige Dame, aber die sitzt ja jetzt zu Hause auf Norderney!«

»Schadet nicht!« rief Onnen. »Was Eure Amke kann, das bringe ich auch fertig, Heye Wessel! – Die Base Hurtke – oder Johanna, wie sie lieber hört! – muß mir ihre Sonntagskleider leihen und fort geht es als Fräulein Poppinga nach Emden.«

Der alte Seebär lächelte. »Das hübsche glatte Gesicht dazu hast du Schlingel, bist auch durchtrieben genug für ein lustiges Schelmenstück, aber so lang aufgeschossen sind die Mädels doch selten. Wo sollen wir's abschneiden, am Kopf oder an den Füßen? he?«

»Laßt alles an seinem Platz, Gevatter, ich bleibe im Wagen sitzen und tue ganz ängstlich. Ach, ach – Bruder und Vater sind so krank, man darf sie nicht stören, kein Wort mit ihnen sprechen! Ich weine ein wenig und seufze, das macht die französischen Herzen gleich windelweich.«

Sie lachten alle, selbst Frau Antje streichelte das blühende Antlitz ihres Neffen. »Ich will dir Hurtkes Sonntagsstaat herbeiholen«, sagte sie voll neuen Mutes. »Du mußt doch die Sachen erst probieren.«

Ein paar Flaschen Bier und Branntwein, ein großes Brot und ein Schinken kamen auf den Tisch; dann, nachdem alle gesättigt waren, folgte die »Kostümprobe«, wie Onnen es nannte. Mit dem Hute und der seidenen Mantille ging die Sache vortrefflich, aber unter dem Kleide sahen die Wasserstiefel bedenklich lang hervor, während Base Hurtkes kleine Schnallenschuhe nicht ohne Ach und Weh den derberen Füßen ihres Vetters angepaßt werden konnten. Aber auch das würde sich machen lassen – man braucht ja im Wagen keine Schuhe. Onnen fand den Spaß prachtvoll.

Allmählich begann unter diesen Vorberatungen der neue Tag, und die ganze Schmugglergesellschaft siedelte über in den Wagenschuppen, wo einige Stunden Schlaf die müden Glieder zu weiterer Arbeit stärkten; dann, gegen neun Uhr morgens, entwickelte sich hinter verschlossenen Türen ein eigentümliches Schauspiel.

Frau Antje holte vom Krämer die beiden Lederpuppen, in denen der Tee durch das Land geschickt zu werden pflegte, umfangreiche Männergestalten mit Gesichtern und Perücken, die im Sitzen, namentlich bei etwas zweifelhafter Beleuchtung, von lebenden Menschen nicht so leicht unterschieden werden konnten. Man fuhr sie unter den verschiedensten Namen und auf allen Wegen des Landes schon seit langem umher, und wo sie im Dunkel des Abends hinter irgendeinem Torweg verschwanden, da wurde schleunigst eine Hinrichtung vollzogen – der Kopf fiel ab, der Rumpf neigte sich und der ganze Herr Baron oder Präsident schrumpfte zusammen zur bloßen Mumie, während vierzig bis fünfzig Pfund Tee von flinken Händen in ein sicheres Versteck überführt wurden.

An diesem sonnigen Morgen erhielten die ledernen Herren ihre Füllung als Kaufmann Poppinga und Sohn. Heye Wessel, der Riese, stopfte mit den langen Armen so viele Pfunde Tee in die Puppen hinein, wie diese nur zu fassen vermochten, dann bekleidete man sie auf das ausgesuchteste, zog ihnen Handschuhe an, kämmte Bart und Haar und setzte sie in die große alte Kutsche mit dem tiefen Sitz, den die grünen Gardinen beinahe gänzlich verhüllten. Unterdessen hatte Onnen seine Verwandlung bewerkstelligt, etwas Mundvorrat für ihn war auch in den Wagen gebracht, ein Knecht des Wattführers setzte sich auf den Bock und die Fahrt konnte beginnen.

Onnen hielt sein Kleid zierlich in beiden Händen, er hatte das Gesicht tief verschleiert und über die braunen derben Knabenfäuste ein Paar Handschuhe gezogen; der Paß steckte in dem Arbeitsbeutel, ohne welchen damals kein wohlerzogenes junges Mädchen zu denken war.

»Vorwärts!« rief er lustig. »Wir können gerade bei einbrechender Dunkelheit in Emden sein, wie ich hoffe. An der Westerbutfenne bei Düke Mommsen, dem Gastwirt, gebe ich die Ladung ab, da mag sie Hans Houtrouv in Empfang nehmen.«

Der Kapitän nickte. »Aber hüte dich, Junge, laß lieber den Tee im Stiche als deine Freiheit. Ist alles besorgt, so gehst du zum Vetter nach Larrelt und von dort hole ich dich morgen selbst mit der ›Taube‹ ab.«

»Allstunds, Vater! Und nun: Adjes.«

»Behüt Gott! Adjes, Adjes.«

Der schwere Wagen rumpelte aus dem Gehöft hinaus und die Lederpuppen nickten mit den Köpfen. Onnen fühlte sich hinter seinem Schleier keineswegs behaglich; was er dachte, das war in lauter Bitterkeit getaucht. »Möchten wir doch lieber die Franzosen zum Lande hinausprügeln, als daß sie uns sämtlich zu Schelmenstücken zwingen! – Sitzt man da wie ein angezogener Affe auf dem Jahrmarkt!«

Sobald aber eine französische Streifwache nahte, begann das Vergnügen. Der Kutscher hielt, ein bärtiger Zollwächter trat an den Schlag und fragte nach dem Passe. Onnen reichte ihm das Blatt. »Wir haben so große Eile, mein Herr! – Ach bitte, bitte, der arme Vater ist leidend.«

Die Zollbeamten sahen seine schönen Augen, seine Seufzer und das hübsche verschleierte Gesicht, sie warfen nur einen einzigen Blick auf den Namenszug des Präfekten Jeannesson und gaben dann den Paß zurück. »Alles in Ordnung. Reisen Sie glücklich, Mademoiselle!«

Dann wurden Onnens braune Wangen sehr rot, er ärgerte sich wieder und gab den Lederpuppen Nasenstüber, aber es freute ihn doch, daß Meile nach Meile hinter dem Wagen zurückblieb und daß gegen Abend die Türme von Emden im letzten Sonnenglanz vor seinen Blicken erschienen.

Mehr als zweihundert Pfund Tee steckten in den beiden Puppen, das war ein barer Verdienst von 180 Frank; denn die Franzosen erhoben damals eine Steuer von 90 Frank für den Zentner. Onnen wollte bei Düke Mommsen die Ware am gewohnten Orte verbergen und dann mit Hans Houtrouv, dem Krämer, abrechnen.

Der Wagen fuhr durch das Stadttor und ungehindert bis zur Westerbutfenne. Düke Mommsens Gasthof mit dem großen Dreimaster im Schilde und mit der weiten sauberen Toreinfahrt war erreicht, es dunkelte stark und leise stäubend begann ein feiner Regen herabzuträufeln. Onnen wollte eben mit einem Seufzer der Erleichterung fein jüngferlich aus dem Wagen steigen, als vom Hofe her ein Offizier der Zollwache langsam hervortrat und die Hand auf den Schlag legte, um ihn zu öffnen.

»Ich bitte, mein Fräulein! – Den Paß!«

Onnen gab ohne ein Wort das Dokument – jetzt fühlte er, daß ihm das Herz stärker schlug.

Sollte er wirklich im Hafen Schiffbruch leiden?

»Alles gut!« nickte der Offizier. »Wollen die Herrschaften aussteigen?«

In der Tür erschien in diesem Augenblick Düke Mommsen, der Wirt. Er hatte den Wagen des Wattführers erkannt und beeilte sich, die Aufmerksamkeit des Franzosen abzulenken. »Ach«, rief er, »das sind meine kranken Gäste! – Schnell, Lorenz, schnell, fahre auf den Hof, der alte Herr liebt es nicht, wenn ihn die Leute so ansehen.«

»Monsieur Renard«, setzte er hinzu, »wenn es Ihnen gefällig ist! Das Abendessen wartet!«

Der Franzose nickte stumm; er sah immer dem verschwindenden Wagen nach und wollte dann wie zufällig durch den Torweg gehen, aber der Wirt hielt ihn zurück »Monsieur Renard, auf ein Wort!«

»Nun?«

»Haben Sie das junge Mädchen näher angesehen?«

»Weshalb?« fragte stirnrunzelnd der Offizier. »Ich kenne die Dame nicht.«

»Aber sie ist reich, besitzt viele Tausende!«

Der Offizier zuckte die Achseln. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zum Torweg und ging hinein.

Düke Mommsen lächelte vergnügt. Während der halben Minute, in der er den Franzosen aufgehalten, hatten seine Knechte die beiden Lederpuppen in Sicherheit gebracht, das wußte er.

Monsieur Renard sah zuerst den leeren Wagen, dann das flatternde Kleid des vermeintlichen jungen Mädchens – der Hof lag wie ausgestorben.

Er blieb vollkommen gelassen, aber die Sache erschien ihm verdächtig; zwei Minuten später stand er wieder neben dem Wirt im Gastzimmer.

»Wer sind die Leute, welche soeben kamen, Herr Mommsen?«

»Emdener Bürger«, antwortete dieser. »Ein Herr Poppinga mit Sohn und Tochter, mein werter Monsieur Renard; sie kommen von Norderney.«

Der Franzose nickte. »Ich möchte mit den Herren sprechen«, sagte er in ruhig befehlendem Tone. »Haben Sie die Güte, mich zu melden.«

»Sogleich! Sogleich!«

Er verschwand, um erst einmal Zeit zu gewinnen. »Verfluchte Geschichte! Wem soll ich ihn nun vorstellen? – Onnen, Junge, gib mir den Paß und dann schäle dich aus den Weiberkleidern heraus. Der französische Schuft hat Verdacht geschöpft!«

Er schloß aus Vorsicht die Tür ab, hinter welcher unser Freund verborgen war, und lief dann mit dem von der Präfektur gestempelten Passe zu dem Franzosen zurück. »Die Herren lassen um Entschuldigung bitten«, sagte er, »auch das Fräulein kann Sie heute abend nicht mehr empfangen, aber hier ist der Reisepaß. Das genügt, nicht wahr?«

Der Offizier ergriff das Blatt und hielt es gegen die Lampe. Über sein Gesicht flog ein zufriedenes Lächeln.

»Ich bestehe darauf, die Herren zu sehen«, rief er. »Wo ist das Zimmer derselben?«

»Aber ich begreife nicht«, murmelte Düke Mommsen, »ich begreife wirklich nicht! – Monsieur Renard befiehlt, als ob –«

»Ich diesem Befehle auch Nachdruck verleihen könnte? So ist es, Herr Wirt. In welchem Zimmer finde ich die Herren?«

Er war auf den langen Gang hinausgetreten und wollte eben die erste Tür desselben gewaltsam öffnen, als plötzlich ein Herr heraustrat und ihn ruhigen Blickes ansah, ein junger, sehr vornehm scheinender Mann, dessen halbes Antlitz von einem bis auf die Brust hinabreichenden Barte völlig verdeckt war.

»Mein Herr Offizier«, sagte er, »ich stelle mich Ihnen zur Verfügung. Da der Reisepaß in Ihren Händen liegt, so weiß ich nicht, woran es etwa sonst noch fehlen könnte! Bitte, befehlen Sie!«

Monsieur Renard schien zu erschrecken, »Sie wären Herr Andreas Poppinga?« sagte er in zweifelndem Tone.

»Ja. Wünschen Sie sonst noch etwas?«

Die Blicke des Franzosen verrieten sein Mißtrauen. »Weshalb, wenn Sie hier in Emden wohnen, beziehen Sie ein Hotel, mein Herr Poppinga?«

»Weil ich in einer Stunde wieder abzureisen gedenke«, war die Antwort. »Haben Sie übrigens das Recht, unverdächtige Personen derartig auszufragen, mein Herr?«

Der Offizier drehte sich um, er ließ den Paß auf einen Tisch fallen. »Es ist gut«, sagte er, »Sie können gehen.«

Der Fremde ergriff das Blatt, wie sich jemand auf einen mühevoll errungenen Schatz stürzt. »Lassen Sie in einer Stunde einen Wagen bereitstehen, Herr Wirt, mein Vater und ich reisen weiter nach Bremen, meine Schwester dagegen bleibt hier bei Verwandten.«

»Sehr wohl, Herr Poppinga.«

Der Wirt rieb sich untertänigst die Hände. Damals fand jede Lüge ein williges Ohr, der Betrug war das gewohnte Verkehrsmittel und die kecke Schlauheit das preisgekrönte Verfahren des einen gegen den anderen. Zwei fremde Herren ohne Gepäck oder Legitimation waren am vorigen Abend im Hause Düke Mommsens erschienen und hatten gesagt, daß sie unbemerkt ein paar Rasttage zu halten wünschten – jetzt bemächtigte sich einer derselben des fremden Passes und Namens, er bestellte einen Wagen und ging selbst hastig die Straße hinab, aber der Gastwirt verriet durch keine Bewegung das Erstaunen, welches er empfand, er verdoppelte nur sogleich in Gedanken die Preise der bisher aufgestellten Rechnung und bewunderte die Geistesgegenwart des Unbekannten, der sich auf so dreiste Art in den Besitz des Legitimationspapieres zu setzen gewußt hatte.

Monsieur Renard war fortgegangen. Düke Mommsen eilte in Onnens Zimmer und erlöste diesen aus der Gefangenschaft. »Gottlob«, keuchte er, »es ist alles gut abgelaufen. Der Teufel hole die Franzosen! – So, nun bist du wieder ein Junge; komm mit hinunter, ich denke, du sollst mit den fremden Herren eine Strecke weit fahren, um nur erst einmal aus dem Gesichtskreise des schurkischen Beamten zu verschwinden.«

Onnen folgte ihm in das Gastzimmer. »Wer sind die beiden?« fragte er.

»Weiß ich es? Menschen, denen dein Paß vortrefflich zustatten kam. Nun iß nur erst ein wenig, hörst du – da ist wahrhaftig der eine schon wieder; er sieht aus, als sei ihm ein großes Glück begegnet.«

Duke Mommsen umschmeichelte aalglatt den Fremden, er stellte ihm den Sohn des Kapitäns förmlich vor und erreichte es, daß dieser mitfahren durfte. »Wir werden dich nach Larrelt bringen«, sagte freundlich der Herr. »Lassen Sie nur den Wagen vorfahren, Herr Wirt, und besorgen Sie die Rechnung.«

Von Monsieur Renard war nichts zu sehen. In völliger Dunkelheit fuhren die beiden Fremden mit Onnen auf dem Rücksitz davon und in die Nacht hinaus; sie sprachen sehr eifrig miteinander, aber immer französisch, so daß unser Freund keine Silbe verstand; erst als hinter dem Wagen ein anderes Pferd wieherte, hob einer der Herren horchend den Kopf.

»Man verfolgt uns!«

»Schadet nicht!« versetzte gleichmütig der zweite. »Ich bin auf der Präfektur gewesen und habe unseren Paß nach Bremen ausfertigen lassen; mögen also die Franzosen kommen.«

Der erste sah immer noch aus dem kleinen Hinterfenster der Kutsche. »Ein Einspänner«, sagte er, »zwei Männer sitzen darin. Verfolgt man dich, mein guter Junge?«

Onnen schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Herr.«

»Was bist du denn eigentlich? Ohne Zweifel ein Schmuggler!«

Onnen schwieg. Es war, als drücke ihm eine unsichtbare Hand die Kehle zusammen. Ein Schmuggler! –jemand, der auf verbotenen Wegen ging!

Im gleichen Augenblick schlug einer der Insassen des zweiten Wagens Feuer für seine Pfeife. Obwohl er den aufflammenden Blitz sogleich mit der Hand bedeckte, war doch dem Beobachter Zeit genug geblieben, um sein Gesicht zu sehen – er erschrak heftig und bog den Kopf zurück, als fürchte er, trotz Finsternis und Entfernung selbst erkannt zu werden. »Es ist Lemosy!« sagte er halblaut. »Bei Gott, Lemosy!«

»O – du wirst irren. Das wäre schrecklich!«

»Es ist Lemosy, ich sage es dir.«

»Um Verzeihung«, warf Onnen ein, »der Herr, den Sie da soeben gesehen zu haben glauben, ist Polizeimeister des Departements Ostems.«

»Das wußte ich nicht! Alle Teufel, was fangen wir an?«

»Sie wollen also von diesem Herrn Lemosy nicht gesehen werden?«

»Unter keiner Bedingung!«

»Dann lassen Sie mich nur machen.«

Er öffnete das Vorderfenster und befahl dem Kutscher, einen Seitenweg einzuschlagen.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Da kämen wir ja an das Emswatt!« sagte er verdrießlich.

»Das ist auch unsere Absicht.«

»Na, mir kann's recht sein. Hü, Lotte!«

Er wandte das magere alte Pferd und fuhr in veränderter Richtung weiter; der Fremde beobachtete dabei klopfenden Herzens den zweiten Wagen – ohne zu zögern, nahm dieser die Verfolgung auf, beide fuhren auch jetzt wieder hintereinander.

»Das gilt dem Knaben!« sagte leise der Fremde. »Lemosy hat uns weder gesehen, noch kann er vermuten, daß wir hier sind.«

Der andere strich mit der Hand über die Stirn. »Zum Watt kommen wir, Junge? Werden uns da die Franzosen nicht erreichen können?«

»Ich hoffe nicht. In Larrelt steht ein Wachtposten der Zollbeamten, dahin können Sie auf keinen Fall gehen.«

Der Wagen fuhr auf dem ebenen Kleiwege ziemlich schnell dahin, so daß der feuchte Hauch vom Watt herüber sehr bald die Luft erfüllte. Über dem Schlick (dem zur Zeit der Ebbe trockenliegenden Grunde des Watts) ballten sich Nebelwolken; grau in grau lag baumlos in herzerkältender Öde die ganze Umgegend. Onnen stand aufrecht im Wagen. »Sobald ich deine Schulter berühre, hältst du, Landsmann! – oder ist dir selbst die Gegend genau bekannt?«

»Ganz genau!«

»Gut, dann laß deine Mähre bei dem tiefen Einschnitt des Weges, wo der Kanal ausmündet, ganz plötzlich stillstehen!«

Er beobachtete fortwährend. »Jetzt kommt die Stelle! Öffnen Sie ein wenig die Wagentür und laufen Sie mir getrost nach! – Nun!«

Das Gefährt hielt mit einem einzigen Ruck, so schnell und unerwartet, daß das Pferd des anderen Wagens mit dem Kopfe gegen das Kutschendach stieß und der Einspänner von der Wucht dieses plötzlichen Anpralls auf die Seite fiel.

Beide Insassen stürzten unsanft auf die Straße.

»Hurra!« schrie Onnen. »Mir nach, Poppinga und Sohn! Ha, ha, ha –«

Er hatte mit einem gewaltigen Satz den Schlickgrund erreicht und stürmte vorwärts, gefolgt von den beiden Fremden, welche wie Schatten auf dem grauen, schlüpfrigen Watt neben ihm herliefen.

Während auf der Straße die Kutscher schimpften und die Pferde stampften und wieherten, hatten sich Monsieur Renard und der Polizeimeister Lemosy in aller Eile aufgerafft und waren den Flüchtlingen gefolgt. Mit den genaueren Verhältnissen des fremden nordischen Landes völlig unbekannt, konnten sie Onnens Plan nicht voraussehen und verloren dadurch mindestens zwei Minuten, anderseits aber erwachten auch durch den Sturz auf den Fußboden der Ärger und Verdruß – hitziger als sonst wohl wurde die Verfolgung im selben Augenblick aufgenommen und fortgeführt.

Onnen horchte. »Sie sind hinter uns!« flüsterte er.

»Können aber des Nebels wegen nicht schießen! Vorwärts! Vorwärts!«

»Um Gottes willen!« raunte der Zweite. »Da ist Wasser!«

»Die Ems! – Wir haben Raum genug!«

Weiter und weiter ging die tolle Jagd. Vor den Flüchtigen lag unermeßlich das öde Grau, hinter ihnen erklangen die Schritte der Feinde – näher und näher, wie einer der Herren meinte.

»Laß sie kommen, die verfluchten Franzosen, unter deren Krallen das arme Deutschland aus tausend Wunden blutet, laß sie kommen! Wir sind unserer drei gegen zwei!«

»Aber sie haben Schießwaffen, ich sah es!«

Wie zur Bestätigung dieser Worte knackte in einiger Entfernung der Hahn einer Kugelbüchse. »Ergebt euch!« rief die Stimme des Zollbeamten, »ergebt euch, oder ihr erhaltet eine Kugel zwischen die Rippen!«

Onnen lachte laut, aller Groll seines ehrlichen Herzens drängte sich auf die Lippen. »Nichts von ergeben!« rief er. »Tut euer Schlimmstes, ihr Raubgesindel!« Sie liefen auf Tod und Leben, atemlos, in äußerster Eile. Ihre Pulse jagten, ihre Herzen schlugen zum Zerspringen. –

Hinterher die Verfolger. Langsam minderte sich der Zwischenraum, langsam, aber sicher. Onnen hätte für sich allein längst aus dem Bereich der Feinde herauskommen können, aber die beiden Fremden hielten mit ihm auf dem schlüpfrigen Boden nicht gleichen Schritt und verlassen mochte er sie um keinen Preis.

»Ergebt euch! Steht!«

»Ha! ha! ha!«

Eine Büchsenkugel streifte hart an dem Kopfe des Knaben vorüber, er schwenkte die Mütze und lachte laut. »Bist ein Esel, Franzose, laß dir dein Lehrgeld wiedergeben!«

»Wir sind verloren!« keuchte der ältere der beiden Fremden. »Ich kann nicht weiter laufen.«

Auch der zweite taumelte. »Rette dich selbst, Knabe! Es ist umsonst, wir können nicht weiter!«

»Nein! Nein! – Die Hilfe naht schon!«

Im Nebel regte sich's wie gespenstische Formen, flog vorüber und kehrte zurück – hier ein seltsames Etwas, dort eins, mehr und immer mehr.

Menschenaugen sahen in die Gesichter der Fliehenden, Menschenstimmen redeten sie an. »Hierher! – Schnell! Schnell!«

»Wer seid ihr?« keuchte der vorderste Fremde.

»Gute Deutsche wie ihr! – Die Pest über alles, was französisch ist!«

Kräftige Arme drückten die Widerstandslosen auf einen engen Sitz und fort ging es, ins Dunkle hinein, ehe Sekunden verrannen. Alle dreie waren voneinander getrennt, aber als die beiden Franzosen aus dem Nebel auftauchten, fanden sie die Stelle leer, ihre vermeintlichen Gefangenen hatten unbeschadet den rettenden Hafen erreicht.

Wieder krachten Büchsenschüsse durch die Nacht, wieder folgte das tolle Lachen der Sieger, diesmal vielstimmig, aus Nähe und Ferne zugleich.

Es huschte und eilte über den grauen dampfenden Schlick, es wirbelte durcheinander von sonderbaren Gestalten. Wie ein Volk von Zwergen tummelte sich's auf dem Emswatt, wie Mücken im Sommer umschwärmten spöttische Zurufe die beiden erbitterten Franzosen. Sie hörten alles, sahen aber nichts.

»Monsieur Renard«, sagte kopfschüttelnd der Polizeimeister, »wissen Sie, was ich glaube, oder vielmehr, wovon ich ganz fest überzeugt bin?«

»Nun, Herr von Lemosy?«

Der andere beugte sich näher zu ihm. »Diese Deutschen haben bisher geschlafen«, sagte er, »aber sie beginnen jetzt langsam zu erwachen. Wir werden dann erst die Tatze des Löwen wirklich kennenlernen.«

 

»Bist du es, Heinz Thiedemann?« fragte Onnen.

»Allstunds, junger Herr. Was tust du denn auf dem Emswatt? Willst doch nimmer ein ›Buttjer‹ (Schlammfischer) werden? Das wäre für den Kapitänssohn zu geringe, wie mir deucht.«

Onnen schüttelte traurig den Kopf. »Das ehrliche Gewerbe ist niemals zu geringe, Heinz – du brauchst nicht zu flüchten, wenn dir französische Zollwächter begegnen.«

»Aber du mußtest es, weil du Kontrebande bei dir führtest. Na, darum gräme dich nicht, Junge; die Gelbgesichter sind ja fremde Eindringlinge, denen wir Schoß und Zoll rechtlich nicht zu leisten brauchen, sondern nur, weil sie eben die Gewalt besitzen.«

»Na, Onnen«, fuhr er gutmütig bittend fort, »steige aus, Junge; ich muß fischen, wenn nicht meine Kinder morgen hungern sollen.«

Unser Freund sprang leichtfüßig aus der »Kreie«, dem sonderbaren Fahrzeuge, das seinem Baue nach unseren Kinderschlitten gleicht. Eisenreifen umgeben die unteren Ränder, am Vorderteil befindet sich ein großer offener Kasten und im Hinterteil liegt fest ein ausgehöhlter Block, in den der Buttjer das Knie preßt, um dann mit dem rechten Fuße gleichsam zu rudern oder zu schieben, wobei die »Kreie« mit der Geschwindigkeit des laufenden Pferdes über das Watt schießt.

»Wo hast du deine Reusen, Heinz?«

»Gleich vor uns. Wer war mit dir, Junge? Dein Vater?«

»Nein, zwei ganz Fremde, der Himmel mag wissen, wer sie sind. Ob sie wohl glücklich davonkamen, Heinz?«

»Natürlich. Meine Kameraden werden so wenig einen Verfolgten im Stiche lassen, wie ich selbst es täte. Aha, da beginnt die Jagd!«

Aus dem grauen schlüpfrigen Wattgrunde erhoben sich viereckig angebrachte feste Zäune von Birken- oder Weidengeflecht, die etwa den Flächenraum eines gewöhnlichen Zimmers umschlossen und deren dichte Wände keinen noch so kleinen Fisch hindurchließen. Jede dieser Fanggruben war angefüllt mit zappelnden, ängstlich in den kleinsten Vertiefungen Schutz suchenden Meeresbewohnern, denen jetzt der Buttjer den Garaus machen wollte. »Das habe ich noch nie gesehen«, rief Onnen, mit lebhaftem Interesse die eigentümliche Jagd beobachtend. »Deine Reusen befestigst du zur Ebbezeit, nicht wahr, Heinz?«

»Natürlich. Die Flut geht hoch darüber hinaus, und was mit derselben hineingerät, das findet nachher keinen Rückweg.«

Er sammelte mit beiden Händen große Butten, Schellfische, Schollen, Zungen und Makrelen, endlich hoben beide mit vereinten Kräften einen großen Kabeljau in den Kasten, ein Ungeheuer, das der Schlammfischer gleich an Ort und Stelle schlachtete, um es nur mit sich führen zu können.

Jede Reuse trug ihr Zeichen, das von den Buttjern unbedingt geachtet wurde. Wie Schatten, geräuschlos und mit Windeseile schossen sie im Nebel aneinander vorüber, keiner aber stahl dem anderen auch nur ein einziges jener kleinen silbernen Fischchen, die unter der Bezeichnung »Stinte« in den Handel kommen und die zu Tausenden in allen Rillen und Löchern umherzappelten.

»Wie weit pflegst du zu gehen, Heinz?« fragte Onnen.

»Bis zur Paap (Sandbank in der Ems). Dort liegt ein Langboot, das die Buttjer gemeinschaftlich halten.«

»Und auf dem ihr mich mitnehmt nach Larrelt?«

»Allstunds, junger Herr.«

Die Flut mußte jetzt bald eintreten, schneller und schneller eilten der Schlammfischer und sein Kamerad über das Watt, dessen Nebel sich allmählich zu zerteilen begannen. Hell stand der Mond am nächtlichen Himmel, das Treiben auf dem Schlick beleuchtend, die Arbeit der emsig sammelnden Menschen und den Schmaus der Raubvögel, die mit dem fürlieb nahmen, was jenen zu gering erschien.

Auch hier Kampf und Streit, Flügelschlagen und Schnabelhiebe, auch hier Feldgeschrei und heißes Ringen um den Platz an der großen Tafel, die Gott der Herr für jedes seiner Geschöpfe gedeckt hat und in erbarmender Liebe täglich neu mit Speise füllt. Aufatmend hielten zu beiden Seiten des tieferen Fahrwassers die Schlammfischer mit ihren hochbeladenen Kreien inne.

Vor ihnen lag die Paap, eine öde, langgestreckte, bei tiefster Ebbe von den Meereswellen – die in den Emsfluß hineinströmen und ihn füllen – freigelassene Sandbank.

Weit und breit war kein Boot zu entdecken.

»Was beginnen wir Jetzt?« fragte etwas unruhig der Knabe. »Pst! Ich will es dir gleich erklären. Siehst du da auf dem Sande die großen, träge hingestreckten Tiere?«

»Die Seehunde? Natürlich.«

»Na, dann gib nur acht. Es sind jedenfalls Jäger hier und um ihretwillen ist unser Boot in der Entfernung geblieben.«

Sie hielten sich eine Zeitlang vollkommen lautlos, dann zupfte der Buttjer seinen Genossen am Ärmel und deutete auf die Sandbank. »Jetzt gib acht, junger Herr!«

An der anderen Seite der Paap erschienen in diesem Augenblick fünf oder sechs Männer, die sich sogleich mit lautem Geschrei und Armschwenken der Mitte näherten, wobei die scheuen Seehunde, aus ihrer behaglichen Ruhe aufgeschreckt, kopfüber in das Wasser schossen, gerade dadurch aber in die Hände ihrer Verfolger fielen.

Sobald die großen plumpen Tiere verschwunden waren, erwachte rings umher neues Leben. Zwei Fischerboote kamen von rechts und links herbei; mit allen Kräften wurde ein großes, aus starkem Geflecht verfertigtes Netz zusammengezogen und aufgewunden.

Unter dem Wasser schien ein gewaltiger Aufruhr zu toben. Die Wellen spritzten hoch hinauf gegen das Ufer, schäumten und brodelten, bewegten sich dermaßen, daß die Boote schaukelten; dann, nachdem ein ungeheures, von zwei Fahrzeugen zur Zeit der weichenden Flut ausgesegeltes Netz emporgehoben war, entstand eine plötzliche Stille. In den Maschen zappelten zwei große Seehunde.

»Nur zwei!« rief Onnen. »Und wenigstens zwölf waren vorhanden.«

»Das ist immerhin noch eine gute Jagd. Sehr, sehr häufig gelingt es sämtlichen Seehunden, nicht allein zu entkommen, sondern sogar auch das Netz zu zerreißen!«

Die Fischer ruderten ihre beiden Boote nahe aneinander heran und fünf Männer brachten mit vereinten Kräften die gefangenen Tiere in den großen durchlöcherten Kasten, der wie ein zweites Boot hinter dem ersten durch das Wasser glitt.

Von fernher näherte sich auch das Langboot der Buttjer und außerdem ein weißes Segel, das Heinz Thiedemann nicht gleich erkannte. »Ich glaube, es ist eine Schaluppe«, sagte er, »aber was will sie hier?«

Onnen beobachtete scharf. »Die ›Taube‹!« rief er. »Mein Vater kommt, um mich abzuholen.«

Die Flut rauschte auf, Kreien und Fischkörbe wurden in das Boot geschafft; von frischem Wind getrieben, kam die Schaluppe unter vollen Segeln heran. Heye Wessel hielt Wache am Steuer, er war nicht wenig erstaunt, den Sohn des Kapitäns hier in der Gesellschaft der Schlammfischer zu finden, dann aber lachte er, als ihm der Zusammenhang der Dinge erzählt wurde, recht behaglich und gab dem Buttjer ein reichliches Trinkgeld als Entschädigung für die gehabte Mühe.

Onnens Abschied von seinem Retter war sehr herzlich; der arme Heinz hatte wohl lange keinen so guten Zug getan wie eben heute. Er schwenkte noch die Mütze, als schon die Schaluppe weit ausholte, um zu wenden und wieder in See zu gehen.

Onnen suchte sein Lager, erzählte aber vorher dem aufhorchenden Riesen die Geschichte des letzten Tages, einschließlich des Abenteuers mit den beiden Unbekannten, welche auf so geschickte Weise den Paß erbeutet hatten.

Heye Wessel dampfte ganze Wolken. »Muß doch ein tüchtiger Kerl sein, der Fremde«, meinte er, »einer, der sich nicht ins Bockshorn jagen läßt. Unser Paß für Poppinga und Sohn soll ihm übrigens wohl bekommen – wir hätten den Wisch doch nicht weiter brauchen können, er ist schon gar zu häufig und von den verschiedensten Leuten benutzt worden. Dein Monsieur Renard, der Schnüffler, hat ihn ohne Zweifel früher gesehen und wiedererkannt! – Gerade auf die Nase fiel er, der feine Herr?«

»Gerade auf die Nase!« wiederholte Onnen, schon halb schlafend. »Ha, ha, ha, so sollen sie alle purzeln – alle!«


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