Ludwig Winder
Die nachgeholten Freuden
Ludwig Winder

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8

Die Pariser Friedenskonferenz verbot den Deutschböhmen den Anschluß an Deutschland, die tschechoslowakischen Papiere stiegen. Die Kommunisten wurden aus Kladno verdrängt, die Industriepapiere Prager Eisen und Poldihütte erreichten Phantasiekurse. Elsa witterte überall den alten Mann Dupic, jedes Wort, das sie hörte oder las, meinte ihn, verschwieg geheimnisvoll seinen Namen, alles geschah in seinem Namen. Sie las von den Beschlüssen der Friedenskonferenz und sah Dupic unsichtbar im Schloß von Versailles am Beratungstisch sitzen, sie sah ihn unsichtbar die Militärabteilung führen, die in Kladno die Kommunisten vertrieb, sie glaubte an seine Allmacht und Allgegenwart.

Begegnete sie ihm, so nickte er ihr harmlos-freundlich zu, ein wohlwollender alter Mann. »Wie geht es dem Herrn Papa, verehrtes Fräulein?« rief er ihr im Vorbeigehen zu; oder: »Heute gibt es schönes Geflügel 225 auf dem Wochenmarkt!« oder »In Brüx sind Teuerungskrawalle, versorgen Sie sich mit Butter, im Winter wird nichts zu haben sein.«

Nur selten geschah es, daß sie in seinem blinzelnden Blick, der scheinbar wohlgefällig auf ihrer fliehenden Gestalt ruhte, Spott und Hohn zu finden glaubte. Es geschah, wenn sie sich mit Peter auf der Straße zeigte. Da war in Dupics Augen Spott und Hohn, obwohl er wissen mußte, daß sie, das kleine unerfahrene, ahnungslose junge Mädchen, ihm, dem großen Netzwerfer, Speerwerfer, Menschenfresser, entwischt war. Er mußte wissen, daß die dreißigtausend Kronen, die sie ihm schuldete, seit Wochen einen kleinen Bruchteil ihres Vermögens bildeten. Sie war überzeugt, er wisse auch, daß Peter heimlich den Spekulationen seines Vaters nachging, um Elsa den raschesten Weg zu einem großen Erfolg zu verraten. Dennoch war Spott und Hohn in Dupics Blick. Er konnte nicht wissen, wie sehr sein Spott berechtigt war, wie tief sein Hohn sie traf.

Elsa war in Verwirrung geraten, sie war verwandelt. Vielleicht ahnte es Dupic. Peter ahnte es nicht.

Die Verwirrung hatte sofort nach Elsas Besuch bei Peter begonnen. Sie denkt jeden Tag an diese Stunde zurück. Sie ist ein nüchterner Mensch, sie schätzt den Verstand höher als das Gefühl, sie verachtet ihr Geschlecht. Sie hat ihre starke Sinnlichkeit jahrelang als lästiges Hindernis beiseite geschoben. Sie ist unbeirrbar ihren Weg gegangen.

In der einen Stunde, über die sie jeden Tag nachdenkt, geschieht die Verwandlung. Sie erfährt durch Peter, daß sie ihrem Ziel nahe ist, daß der Wunsch, der 226 sie seit ihrer Kindheit unterjocht hat, endlich in Erfüllung geht – und plötzlich erscheint dieser Wunsch ihr töricht. Die große Sorge, von der sie unerträglich gepeinigt war, ist von ihr genommen – und sie empfindet keine Erleichterung. Sie weiß, daß sie jetzt reich und unabhängig wird – und kann sich nicht freuen. Plötzlich findet sie weder Reichtum noch Unabhängigkeit erstrebenswert. Plötzlich glaubt sie, daß es auf Reichtum und Unabhängigkeit nicht ankommt. Ihre Lebensauffassung scheint ihr schmutzig und beschämend, Dr. Dupics Entschluß, sein Leben einem bösen, hassenswerten Menschen zu opfern, groß und erhaben. Ihr Verstand lehnt sich auf. Sie denkt nach: Bin ich im Begriff, mich in diesen Menschen zu verlieben? In diesem Augenblick ordnen sich ihre Gedanken, sie lacht befreit auf, verlieben, nein, danke schön, keine Gefahr, das tut Elsa Buxbaum nicht.

Sie lacht leise noch im Einschlafen, sie macht sich über ihre alte Vorliebe für Arier lustig, als Sechzehnjährige hat sie die Erfahrung gemacht, daß sie große blonde Männer gern sieht, dieser Vorliebe ist sie treu geblieben, die jüdischen Verehrer mußten es büßen, Lehrer Hirsch, Lehrer Kohn. Schon die Sechzehnjährige hat sich über ihre Schwäche für das Arische lustiggemacht, sie findet diese arischen Studenten, die sich herablassen, mit Jüdinnen auf dem Marktplatz spazierenzugehen, komisch. Mit den jüdischen Studenten kann man ganz anders reden, denkt sie, sofort verstehen sie, was man meint, aber sie regen nur den Geist an, die blonden Hünengestalten hingegen regen den Körper auf. Das waren die Gedanken der 227 Sechzehnjährigen gewesen. Auch jetzt versucht sie, mit Selbstironie über die plötzliche Verwirrung hinwegzukommen. Sie fragt sich: Hat mich wieder das arische Element revoltiert, bin ich wieder sechzehn Jahre alt? Weiß ich nicht genau, daß mein Weg gut ist und daß es herrlich sein wird, sagen zu können: Ich hab' mein Leben selbst gestaltet! Was kümmert es mich, ob ein Herr Dr. Peter Dupic, der einer zweifellos hirnverbrannten Idee sein Leben opfert, mich verachtet? Er verachtet mich übrigens nicht; er ist nicht dumm. Er ist übrigens nicht einmal blond, er ist gar nicht mein Typ. Nicht der Mann, sondern der merkwürdige Ethiker hat mich gefesselt – folglich braucht mir um meine Ruhe nicht bange zu sein.

So beruhigte sich Elsa in den ersten Tagen der Verwirrung. Kurze Zeit darauf traten die Ereignisse ein, die eine sprunghafte Hausse in böhmischen Industriepapieren bewirkten. Sie verfolgte das Steigen der Kurse mit zerstreutem Interesse; sie freute sich, aber es war eine Freude aus Trotz, sie wollte, wollte sich freuen, sie rief sich gleichsam zu: Es ist meine Pflicht, mich zu freuen. Sie unterdrückte gewaltsam die neuen Gedanken und Stimmungen, die sich ihrer bemächtigt hatten; ihr Verstand blieb wachsam. Ihr Verstand sagte ihr: Wie hättest du dich noch vor einem Monat über diesen Umschwung gefreut! Du hättest den Kurszettel, der dir täglich neuen Reichtum bringt, ans Herz gedrückt, du hättest ihn vor Freude in den Mund gesteckt, geschluckt, wie die Katholiken den Leib des Heilands! – Sie überraschte ihren Vater mit der Mitteilung von ihrem Reichtum, sie sagte: »Vater, ich werde reich, 228 hörst du, reich, ein reiches Mädchen, unabhängig, ein unabhängiger Mensch!« Sie erzählte ihrem Bruder: »Meine Aktien sind enorm gestiegen, Karl, ich bin Kapitalistin, du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin!« Der Vater und Karl ließen sich täuschen, der Vater freute sich kindisch, Karl spuckte aus, erklärte, mit Elsa nicht länger unter einem Dach hausen zu können, er mietete – kurz nach seiner Promotion zum Doktor der Rechte – eine elende Dachkammer.

Peter und Elsa begegneten einander selten, er lief ihr manchmal zwischen zwei Krankenbesuchen zufällig in den Weg. Sie studierte sich, wenn sie ihn erblickte, mit unerbitterlicher Objektivität, sie studierte ebenso ihn. Sie fand ihn nicht schön. Er war kein schöner Mann, alles an ihm war zu breit, zu primitiv, Stirn und Mund und Kinn und Schultern, ja sogar die Aussprache. Er machte den Eindruck eines gutmütigen Phlegmatikers. (Vielleicht war sie gerade deshalb bei der ersten Begegnung von seinem Fanatismus ergriffen worden.) Ein solcher Phlegmatiker muß eine Frau nervös machen, ich wollte nicht seine Frau sein, dachte sie. Aber nach jeder Begegnung mit ihm war sie krankhaft erregt. Er schüttelte ihr kameradschaftlich die Hand und lachte: »Fabelhaft steht Poldi, fabelhaft! Sehn Sie nun, wie recht ich hatte? Auf meinen Vater kann man sich verlassen, er hört das Gras wachsen!« Bei der nächsten Begegnung lachte er ihr entgegen: »Poldi steigt noch immer, steigt wie verrückt, man traut seinen Augen nicht, wenn man den Kurszettel liest. Ich schau' jeden Tag nach, weil ich weiß, daß Sie sich freuen werden.« Ist das echt – oder verachtet er mich so sehr, daß er mir229 seine Verachtung nicht einmal zeigt? dachte sie. Welche Tölpelei, mich immer an diese ekelhaften Geldsachen zu erinnern, er müßte doch spüren, wie peinlich mir das ist. Sie hatte Lust, ihm ins Gesicht zu schreien: »Ich will nichts mehr von Kursen hören, mich interessieren die Kurse nicht, ich hasse die Aktien, ich pfeif' auf das Geld, ich will lieber arm bleiben!« Sie sagte aber nichts, sondern lächelte höflich. Er erzählte von den neuesten Streichen seines Vaters, von den Leiden der Armen, er sagte, man müsse ein Mittel finden, das Geld aus der Welt zu schaffen, das Spekulantentum fresse die Menschheit auf. Das war deutlich, jetzt weiß ich wenigstens, welche Meinung er von mir hat, dachte Elsa. Sie zwang sich zu lachen: »Und das sagen Sie einer Spekulantin? Und leisten selber einer Spekulantin Beihilfe?« Er schien verblüfft, er stammelte verlegen: »Wie kommen Sie auf eine solche Idee? Das ist doch . . . etwas ganz anderes! Sie sind doch keine Spekulantin! Nein, was für Witze Sie machen . . .« – »Ich bin eine Spekulantin«, wiederholte sie, »was bin ich denn, warum wollen Sie es beschönigen?« Er blickte sie erstaunt an, lachte hell auf, dann sagte er leise: »Sie glauben, daß ich Sie nicht verstanden habe, aber ich habe Sie sehr gut verstanden, ich glaube nicht, daß ich mich in Ihnen täusche.«

Sie nahm sich vor, ihm auszuweichen, sich vor ihm zu verstecken. Ich will mich nicht von ihm nervös machen lassen, sagte sie sich, er braucht nur den Mund zu öffnen und macht mich schon nervös mit seinen naiven Freudekundgebungen, ich will nicht mehr an ihn denken; sie dachte aber jeden Tag an ihn, und es war sehr 230 sonderbar, daß eine unbeschreibliche Ruhe in ihr war, sobald sie sich die Erlaubnis erteilte, an ihn zu denken, eine Ruhe, die ganz deutlich von ihm ausging. Sie wünschte in der Nacht, wenn sie im Bett an ihn dachte, nicht etwa, daß er zu ihr komme. (Solche Wünsche waren ihr von früher her bekannt, als ganz junges Mädchen hatte sie zuweilen gewünscht, ein bestimmter Mann, an den sie tagsüber gedacht hatte, möge die Tür öffnen und einfach zu ihr ins Bett kommen.) Wenn ich wirklich verliebt wäre, müßte ich in der Nacht unruhig und von Träumen geplagt sein, dachte sie; ich will mir ehrlich eingestehen, was ich eigentlich fühle. Ich schließe die Augen und bilde mir ein, neben ihm zu liegen, das tut meinem Körper wohl. Ich glaube seine braunen Haare auf dem Polster zu sehen und freue mich, daß er nicht blond ist, von seinen braunen Haaren und von seinen braunen Augen geht eine wunderbare Ruhe aus. Wozu soll ich mit mir Verstecken spielen? Ich wünsche sehr, daß er immer in meiner Nähe wäre. Ich wünsche es so sehr, daß ich, wenn ich das haben könnte, gern auf die ganze übrige Welt verzichten wollte. Aber wenn ich ihm begegne, macht er mich nervös, jedes Wort, das er spricht, macht mich rasend.

An einem der nächsten Tage zog er sie in ein Haustor, um ihr mitzuteilen, es sei ihm gelungen, in den Briefwechsel seines Vaters heimlich einen Blick zu werfen, sie müsse sofort zur Bank gehen und die Aktien kaufen, die der Alte soeben gekauft habe. »Gut, daß ich Sie zufällig getroffen habe, ich wollte gerade zu Ihnen gehen, um Ihnen den Tip zu geben. Notieren Sie sich bitte, um welche Aktien es sich handelt, ich weiß 231 auch, zu welchem Limit Sie kaufen müssen.« Er überreichte ihr seinen Rezeptblock, und sie schrieb. »Gehn Sie sofort zur Bank«, sagte er, »es kommt wahrscheinlich bei solchen Geschäften auf jede Minute an.« Während sie schrieb, zitterte ihre Hand; er müßte doch sehen, wie mir die Hand zittert, dachte sie, ein furchtbarer Mensch ist er, gar nichts sieht er; aber wenn er das Zittern meiner Hand sähe, wäre er überzeugt, daß ich aus Geldgier zittre; das geht doch nicht, das macht mich ja krank. Sie riß das Blatt aus dem Rezeptblock und lächelte: »Nett, daß Sie an mich gedacht haben.« – »Das ist sogar außerordentlich nett von mir«, lachte er, »denn ich hasse die Börse und werde wütend, wenn ich etwas von Spekulationen höre.« – »Sie wollen also unbedingt, daß ich unerhört reich werde«, lächelte sie. – »Ja«, lachte er, »unerhört reich müssen Sie werden, das habe ich mir vorgenommen.« – »Wollen Sie mit mir Halbpart machen?« fragte sie. »Wenn Sie mich zu dem Verbrechen des Spekulierens verleiten, sollten Sie eigentlich mithalten, damit ich die Last der Sünde nicht allein zu tragen habe.« – »Gott bewahre«, sagte er ernst; »ich bin ja riesig gern arm, genauso gern arm, wie Sie reich sein wollen. Wenn Sie wüßten, welche sündhafte Freude es mir macht, arm zu sein!« Lachend verabschiedete er sich. Sie blickte ihm nach, nach einer Weile lief sie ihm ein paar Schritte nach, aber er war bereits in einem Haustor verschwunden. Sie blieb stehen, sie dachte: Heute hätte ich es ihm sagen müssen, daß es brutal und gemein von ihm ist, immer nur von Geld und Spekulationen mit mir zu reden. Aber – lieber Gott, ich kann ihm doch nicht sagen, daß ich ihn haben 232 will, keine Reichtümer, sondern ihn, das kann ein Mädchen einem Mann doch nicht sagen, er würde mich dann erst recht verachten. Trotzig, mit zusammengepreßten Lippen, ging sie zur Bank. Wenn ich diese Fatalitäten schon erdulden muß, will ich wenigstens wirklich reich werden, dachte sie und beauftragte die Bank, die Aktien zu kaufen.

Er kam im September und Oktober dreimal zu ihr, um ihr mitzuteilen, welche Papiere sie kaufen oder verkaufen solle; jedesmal bewahrte sie Haltung. Am 14. Oktober besuchte sie ihn nach der Ordinationsstunde und bat ihn, morgen mit ihr zu seinem Vater zu gehen, morgen sei der Verfallstag, sie wolle die dreißigtausend Kronen zurückzahlen und den Wechsel in Empfang nehmen, sie halte es für ratsam, eine dritte Person mitzunehmen, weil sie eine Unterhaltung mit Dupic unter vier Augen vermeiden wolle; ob Peter die Freundlichkeit haben wolle, sie zu begleiten? Er sagte zu, zog lächelnd einen Zettel aus der Tasche: »Ich habe Sie kontrolliert, ich weiß genau, wieviel Sie seit dem Frühling verdient haben, es ist eine ganz hübsche Summe, nicht wahr?«

»Genau die Summe, die ich brauche«, sagte sie.

»Sie werden aber mehr verdienen wollen, als Sie brauchen, die Katze läßt das Mausen nicht, Sie werden weiterspekulieren, nicht wahr?«

Sie sprang auf, ging zum Fenster, wandte ihm den Rücken.

»Nun? Werden Sie weiterspekulieren?« fragte er. Sie drehte sich jäh um und sagte zornig: »Warum müssen Sie mir immer sagen, daß Sie mich für eine 233 gemeine Person halten.« – »Gemeine Person?« lachte er, »gemeine Person – weil Sie spekulieren? Ich selbst habe doch Ihre Spekulationen unterstützt.« – »Eben«, rief sie, »warum tun Sie das? Ich weiß doch, daß Sie das Spekulieren für ein Verbrechen halten. Alles, was ich tu, ist Ihre Schuld. Erklären Sie mir doch, warum Sie mich zum Spekulieren verleiten. Einerseits wollen Sie ein Apostel der Armut sein, ein Ethiker, ein Mensch mit reinen Händen, andererseits leisten Sie einem Verbrechen Vorschub und wollen es noch beschönigen. Möchten Sie mir das nicht endlich erklären?«

Er lächelte: »Sie sagten mir doch ausdrücklich, daß Sie eine bestimmte Summe besitzen müssen, um Ihre Pläne ausführen zu können. Um – Sie drückten sich sehr klar und einfach aus – um glücklich zu werden. Deshalb habe ich Ihnen geholfen. Ich hätte Ihnen auch geholfen, wenn Sie zum Beispiel einen Einbruchsdiebstahl hätten begehen wollen. Ich hätte Ihnen vielleicht sogar bei einem Mord geholfen.«

Sie schloß die Augen und wartete. Das war ja eine Art Liebeserklärung, dachte sie, was wird jetzt noch kommen? Soll ich mich wehren? Soll ich sehr entrüstet sein, wenn er mich anrührt? Wann hab' ich frische Wäsche angezogen? Gestern, glaub' ich, das geht, das ist nicht so schlimm, sie wird noch rein sein. Aber warum zögert er noch, ich halt's ja nicht aus, ich bin schrecklich heiß, ich glühe fürchterlich, ich werde ihn blutig küssen, ich werde mich schamlos benehmen, das spüre ich, jetzt wird mir aber auf einmal übel, eiskalt, jetzt wird nichts mit mir anzufangen sein, ich werde hinfallen wie ein Stück Holz, und er wird in die Apotheke 234 rennen müssen. Vielleicht hat er übrigens eine Hausapotheke, der alte Dr. Springer hat wenigstens früher eine Hausapotheke gehabt, ich war damals ein Kind. Warum läßt er mich so lang' hier stehn, sieht er denn nicht, daß ich mich kaum auf den Füßen halten kann? Mir scheint, jetzt sagt er wieder etwas, aber ich versteh' kein Wort, ich hör' nur ein Gesumm wie aus einem verdorbenen Telephon, schade, wahrscheinlich sagt er gerade jetzt das Wichtigste, vielleicht macht er mir sogar einen Heiratsantrag, ich fühl' mich übrigens schon wieder besser, aber ich hör' ihn nicht reden, es war vielleicht eine Täuschung, vielleicht hat er die ganze Zeit geschwiegen. Aber jedenfalls war er entsetzlich ungeschickt, er hätte mir nicht Zeit lassen sollen, zur Besinnung zu kommen, jetzt bin ich wieder obenauf, jetzt wird er's schwer haben, jetzt könnte ich mich wehren. Gott sei Dank, daß er den richtigen Moment versäumt hat, er hätte mir vielleicht ein Kind gemacht. Komisch, daß wir Jüdinnen noch immer so schreckliche Angst vor einem Kind haben, trotz unserer Aufgeklärtheit, es ist noch immer die größte Schande, die einer Jüdin vor der Ehe zustoßen kann, jedes Verbrechen begehn wir lieber, jedes Verbrechen ist eine kleinere Schande, eigentlich hat sich überhaupt nichts geändert, dieses Vorurteil ist noch genauso stark wie zu Großmutters Zeiten. Wie lange steh' ich jetzt schon bei diesem Fenster? Eine Stunde? Oder eine Sekunde? Ich hör' noch immer nichts. Jetzt mach' ich aber resolut die Augen auf, es muß gehn, muß, muß, muß gehn, also los: Augen auf! – Und dann reich' ich ihm die Hand und geh' durch die Mitte ab wie eine Schauspielerin nach einer Lustspielszene. 235

Sie öffnete sehr langsam die Augen und sah ihn lächeln, er saß noch immer regungslos und lächelte. Er ist doch Arzt, er muß doch gesehn haben, daß mir sterbensübel ist, daß ich fast in Ohnmacht falle, das muß man einem Menschen doch ansehn, selbst wenn man kein Arzt ist, dachte sie.

»Sagten Sie etwas?« fragte sie. »Ich glaube, ich bin jetzt im Stehen beinahe eingeschlafen.« – »Nein, ich hab' Sie nur angesehn, Sie sehen mit geschlossenen Augen ganz verändert aus, so, wie Sie wirklich sind, glaube ich.« – »Was Sie alles sehen«, lachte sie, »das ist ja direkt gefährlich. Aber jetzt muß ich gehn. Sie begleiten mich also morgen zu Ihrem Vater, abgemacht?«

Er geleitete sie bis zur Treppe, sie lief rasch nach Hause, sei lachte auf dem Weg vor sich hin. Er traut sich nicht, er kann keine Liebeserklärung machen, dachte sie, er ist schüchtern wie ein Gymnasiast, dieser riesige Mann, wie herrlich, daß es einen solchen Mann gibt, sogar bei einem Mord hätte er mir geholfen, das glaub' ich ihm ohne weiteres, ihm ja, ihm würde ich alles glauben. Eigentlich hätte ich ihm ruhig sagen können, daß er nicht so schüchtern sein soll, heutzutage kann sich das ein Mädchen schon erlauben, aber ich bin noch schüchterner als er. Vielleicht hat er erraten, daß ich noch nie einen Mann geküßt hab', eigentlich ist es unglaublich: nächsten Monat bin ich fünfundzwanzig – und noch nie ein Abenteuer, nicht einmal der unschuldigste Flirt. Mit fünfundzwanzig Jahren! Aber dafür jetzt – ich hätte mich bestimmt nicht gewehrt, trotz meiner großen Angst. Komisch aber ist, daß ich ihn noch immer nicht schön finden kann, ich kann 236 nicht einmal behaupten, daß er mir imponiert, der Alte imponiert mir viel eher, keine Ahnung hab' ich, warum ich so toll bin, wie soll das ein Mensch begreifen! Aber morgen sag' ich ihm endlich, daß er mir nie wieder mit Kursen und Tips kommen darf und daß ich nie mehr einen Kurszettel anschaun will, auf dem Weg zu seinem Vater kann ich es sagen oder nach dem Besuch, jedenfalls aber morgen.

Sie behob am nächsten Morgen dreißigtausend Kronen von ihrem Bankkonto. Sie hatte mit Peter vereinbart, daß er sie am Nachmittag nach der Ordinationsstunde vor seinem Hause erwarten werde. Als sie kam, stand er schon vor dem Haustor und rief ihr entgegen: »Er ist zu Hause, vor einer Minute hat er am Fenster gestanden.« Ich sag' es ihm später, dachte sie, in diesen zwei Minuten, die wir Zeit haben, kann man nichts Ernstes reden. Sie hatte sich wochenlang auf den 15. Oktober gefreut, mit kindischer Freude hatte sie vor dem Spiegel die Geste einstudiert, mit der sie Dupic das Geld überreichen wollte, unbetonte Nonchalance sollte diese Geste ausdrücken, keineswegs Triumph oder Genugtuung, sondern niederschmetternd unbetonte Nonchalance. Eine Dame, die durch widrige Umstände gezwungen war, mit einem schmutzigen Wucherer in Verbindung zu treten, entledigt sich ihrer Verbindlichkeiten, fertig. Sie dachte jetzt nicht an ihre einstudierte Geste, der Wind zerrte an Peters Mantel, sie fühlte lächelnd, daß es sie glücklich machte, von Peters Mantel berührt zu werden, nur schnell, schnell diesen peinlichen Besuch erledigen, dachte sie, ich lege die dreißigtausend Kronen auf den Tisch und lasse mir 237 den Wechsel ausfolgen, das dauert eine Minute, dann gehn wir zusammen irgendwohin, womöglich vor die Stadt, dann beginnt, dann beginnt, dann beginnt ein neues Leben!

Sie blieben einen Augenblick vor Dupics Wohnungstür stehen. Peter mußte zweimal klopfen. Dupic ging vorsichtig zur Tür, öffnete vorsichtig und tat überrascht: »Das sind Gäste! Bitte weiter, nehmen Sie Platz, Fräulein Buxbaum, nimm dir einen Sessel, Peter, das ist ritterlich, daß du das Fräulein begleitest, sehr ritterlich, das kann ich nur loben, ein junger Mann muß galant sein.« Er zwinkerte listig Elsa zu, sie blieb stehen und sagte: »Ich will Sie nicht lange aufhalten, Herr Dupic, ich komme nur meine Schuld begleichen.« – »Hast du gehört?« schrie Dupic entzückt. »Sie kommt nur ihre Schuld begleichen! Da kannst du sehn, was Tüchtigkeit ist. Diese junge Dame zahlt mir dreißigtausend Kronen zurück, sage und schreibe dreißigtausend Kronen, als ob es dreißig wären – und wie selbstverständlich sie das sagt: ›Ich komme nur meine Schuld begleichen.‹ Aber nehmen Sie Platz, liebes Fräulein, schenken Sie einem einsamen alten Mann fünf Minuten Ihrer kostbaren Zeit, ich freue mich wirklich, Sie bei mir zu sehn.« Elsa setzte sich zögernd, Peter sagte: »Das Fräulein kommt sich den Wechsel holen, du hast ihn doch hoffentlich hier.« – »Gewiß«, nickte Dupic, »hier liegt er in der eisernen Kasse, aber das hätte doch nicht so pünktlich sein müssen, verehrtes Fräulein, ich hätte Sie nicht gemahnt, weder heute noch morgen.« Peter lächelte, Elsa zog das Geld aus dem Handtäschchen, sagte: »Bitte, zählen Sie.« Dupic 238 warf einen Blick auf die Banknoten, ging zur eisernen Kasse, suchte den Wechsel und überreichte ihn Elsa. »So, liebes Fräulein, heben Sie sich ihn zum Andenken auf, hoffentlich hat er Ihnen Glück gebracht.« – »Wollen Sie nicht das Geld nachzählen?« fragte Elsa. »Ich vertraue Ihnen, blind vertraue ich Ihnen«, versicherte Dupic, »aber wenn Sie darauf bestehen, werde ich nachzählen.« Er setzte sich, beugte sich über das Banknotenbündel und begann zu zählen, wobei er einigemal »Spaß!« murmelte; als er etwa die zehnte Tausendkronennote zwischen den Fingern hatte, hielt er inne und sagte, jäh aufblickend: »Jetzt ist Ihnen wohler als heute vor einem Jahr. Erinnern Sie sich noch an unser damaliges Gespräch? Diese junge Dame, Peter, ist keine gewöhnliche junge Dame, du weißt gar nicht, was für eine junge Dame das ist. Obwohl sie das schönste Mädchen von Boran ist, hat sie sich bereit erklärt, meine Geliebte zu werden, falls sie das Geld nicht zurückzahlen könnte, ohne lange Überlegung eingewilligt, das nenne ich großzügig, das nenne ich mutig und tapfer, das ist eine verehrungswürdige, mutige, tapfere junge Dame, Peter! Überlegen Sie sich das gut, hab' ich am 14. Oktober 1918 in diesem Zimmer zu ihr gesagt, ich bin nicht so schön und begehrenswert, wie ich offenbar aussehe, hab' ich gesagt, meine Brust ist über und über mit grauen Haaren bewachsen, ohne Kleider seh' ich aus wie ein Affe, hab' ich gesagt. Aber sie, denk dir nur, sie hat das nicht abgeschreckt, so sicher war sie ihrer Sache, das muß man bewundern, bewundern, sage ich!«

Er beugte sich wieder über das Banknotenbündel und begann noch einmal zu zählen, unterbrach sich aber 239 sofort und lachte: »Ich war die ganze Zeit überzeugt, daß sie in der Lage sein wird, mir das Geld pünktlich zurückzuzahlen, aber ebenso war ich überzeugt, daß sie ihr Wort auch halten wird, falls sie das Geld verliert. Du weißt, Peter, wie wenig ich im allgemeinen von der Anständigkeit der Menschen halte, jeder lügt und betrügt, was das Zeug hält, diese junge Dame aber ist eine Ausnahme, sie hätte unter allen Umständen ihr Wort gehalten, sie wäre unter allen Umständen heute gekommen und hätte gesagt: ›Ich kann den Wechsel nicht einlösen, machen Sie sich bezahlt, wie es abgemacht ist.‹ Das hätte sie bestimmt gesagt; und ohne Aufforderung, ohne Rücksicht auf ihren eventuellen Widerwillen hätte sie sich aufs Folterbett gelegt und ihre Pflicht gewissenhaft erfüllt. Ob sie dich in diesem Fall ebenfalls mitgenommen hätte wie jetzt, ist freilich zweifelhaft.«

Elsa sprang auf und blickte hilflos, in namenlosem Entsetzen, Peter an, er aber lächelte: »Lassen Sie ihn nur reden, er kann Sie ja nicht beleidigen.« – »Was redest du von beleidigen«, rief Dupic, »habe ich etwas Beleidigendes gesagt? Ich, der größte Verehrer dieser jungen Dame! Ich weiß besser als du, was für ein prachtvoller Mensch sie ist, wie gescheit und schön und tüchtig und anständig, vorbildlich in jeder Beziehung – und da will er mir einreden, daß ich sie beleidige! Wie finden Sie das, Fräulein, ist es nicht unverständlich, absolut unverständlich? Und dabei weiß er genau, daß ich selbst alles Erdenkliche getan habe, um Ihre Spekulationen zu unterstützen, ich habe ihm geradezu in den Mund gelegt, zu welchen Spekulationen er Ihnen raten 240 soll, ich habe absichtlich meine Korrespondenz offen liegen lassen, damit er sieht, was Sie kaufen und was Sie verkaufen sollen.«

»Das ist nicht wahr!« rief Peter.

»Wieso nicht wahr?« lachte Dupic. »Du wirst doch nicht glauben, daß du von meinen Geschäften auch nur die blasseste Idee gehabt hättest, wenn es nicht mein Wunsch gewesen wäre, dem geschätzten Fräulein dienlich zu sein. Blicken Sie mich nicht so zornig an, Fräulein. Es wäre direkt naturwidrig gewesen, wenn Sie meine Geliebte geworden wären. Diese junge Dame, hab' ich mir gesagt, ist ein Talent, dieses Talent soll sich entfalten. Wissen Sie, mit welchem Vermögen Peter nach dem Krieg hierher gekommen ist? Nicht einmal dreihundert Kronen hat er besessen, nicht einmal die Miete hat er bezahlen können. Ich wette, daß er auch heute noch nichts hat, obwohl er ein gesuchter Arzt ist. Er wird nie etwas haben. Sie hingegen, liebes Fräulein, Sie wissen, daß die Welt ein Spekulationsobjekt ist. Ich glaube, Sie sind der einzige Mensch, von dem ich noch etwas lernen könnte. Wie Sie zum Beispiel meinen weltfremden, unpraktischen Sohn dazu gebracht haben, sich für Spekulationen zu interessieren und mich auszuspionieren – das war meisterhaft! Das hat mir derartig imponiert, daß ich Ihnen mit Freuden die besten Tips gegeben habe – aus purer Anerkennung. Mein Gerechtigkeitsgefühl hat mich geradezu getrieben, Ihre Tüchtigkeit zu belohnen. Und wie gut Sie es verstanden haben, ihm begreiflich zu machen, daß Ihre Geschäfte nichts Unsittliches sind und daß Sie trotz Ihrer Tüchtigkeit sozusagen ein unschuldiges Kind geblieben 241 sind, ein durch und durch moralischer, ideal veranlagter Mensch, der eigentlich das Geld verachtet! Es wird vielleicht noch so weit kommen, daß Sie ihm verbieten werden, direkt verbieten, Ihnen meine Tips zu verraten, Sie werden ihm vielleicht sogar drohen, daß er Ihre Freundschaft verliert, wenn er es wagt, von Geldgeschäften mit Ihnen zu reden. Und er wird es Ihnen glauben! Er wird Ihnen alles glauben – er wird zerknirscht vor Ihnen in den Staub sinken und zu Ihnen aufblicken wie zu einem Engel!«

Er hatte die letzten Sätze mit komischem Pathos gesprochen, zuletzt verdrehte er sogar die Augen und schwenkte mächtig die langen Arme, als ob er selbst vor Elsa anbetend niederknien wollte. Sie war sehr bleich. Sie blickte unverwandt Peter an, sie schien die Rede nicht durch das Ohr aufzunehmen, sondern von Peters Gesicht ablesen zu wollen. Er wußte es aber nicht, er blickte lächelnd auf seine Hände nieder. Er blieb, nachdem Dupic zu Ende gesprochen hatte, ruhig sitzen, während Elsa mit funkelnden Augen dastand, unfähig, ein Wort hervorzustoßen. Plötzlich begann Peter leise zu lachen, erhob den Blick zu Elsa und lachte weiter, obwohl er jetzt sah, daß sie ganz außer sich geraten war. »Wie können Sie da lachen?« sagte sie, gewaltsam die Stimme dämpfend. Er hörte sofort zu lachen auf und sagte: »War es denn nicht lustig? Ich habe es lustig gefunden. Aber jetzt wollen wir gehn.«

»Herr Dupic muß noch vor meinen Augen das Geld zählen«, sagte sie, sich zur Ruhe zwingend.

»Sofort, mein energisches Fräulein«, grinste Dupic, »sofort bin ich fertig.« 242

Er beugte sich über die Banknoten und zählte lispelnd, dann sperrte er das Geld in die eiserne Kasse und sagte: »All right.«

Elsa ging raschen Schrittes zur Tür. Dupic kam ihr zuvor. »Fräulein!« rief er, »warum eilen Sie so?« Er lehnte sich mit dem Rücken an die Tür, so daß Elsa gezwungen war stehenzubleiben. »Das Wichtigste hab' ich noch gar nicht gesagt. Ich möchte nämlich sehr wünschen, daß es Ihnen gelingt, meinen Sohn dauernd zu fesseln. Ich vermache Ihnen einen beträchtlichen Teil meines Vermögens, wenn Ihnen das gelingt; vielleicht können Sie sogar meine Universalerbin werden.«

In diesem Augenblick faßte Peter die Schultern des grinsenden Mannes an und zwang ihn, scheinbar scherzhaft, die Tür freizugeben. Dupic spürte einen kräftigen Stoß, verzog das Gesicht und taumelte ein wenig zurück, gleichzeitig machten Elsa und Peter sich davon.

Elsa wußte nicht, daß sie lief; Peters lange Beine hatten Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Nur schnell ins Bett, dachte sie, wenn ich nur schon allein sein dürfte, wozu geht er mit, er soll nur nichts reden, jedes Wort würde alles noch verschlechtern. Es war so finster, daß sie nicht sahen, wo der Marktplatz endete, plötzlich waren sie in der Judengasse, Peter hatte noch kein Wort gesprochen.

Vor dem Schulhaus murmelte Elsa: »Gute Nacht.«

Peter ergriff ihre Hand und ließ sie nicht los. »Gute Nacht«, flüsterte Elsa und wandte den Kopf.

»Ich hätte gern noch mit Ihnen gesprochen«, sagte er und ließ ihre Hand frei. – »Ich kann heute keine 243 Konversation machen«, sagte sie heftig und ärgerte sich über den unfreundlichen Ton, den sie angeschlagen hatte.

»Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich mich meinem Vater gegenüber gebunden fühle«, sagte er.

Wie meint er das? dachte sie, soll das heißen, daß er sich an mich nicht binden will? Warum sagt er das jetzt?

»Ich darf an mich nicht denken, solange ich meine Mission nicht erfüllt habe«, setzte er fort.

Mission, dachte sie, was für ein Unsinn, Mission, was geht mich seine Mission an, für heute hab' ich genug, ich kann nicht mehr.

»Das wollte ich Ihnen heute noch sagen«, hörte sie ihn weitersprechen, »weil ich wissen muß, ob Sie warten wollen, bis ich frei werde.«

Sie versuchte, ihn zu verstehen.

»Ich soll auf Sie warten?« fragte sie.

»Ja.«

Was hat das mit seinem Vater zu tun? dachte sie. Kann er nicht seine »Mission« erfüllen und mich trotzdem in die Arme nehmen? In diesem Augenblick fiel ihr ein, was Dupic gesagt hatte. Ich will mich jetzt verkriechen, dachte sie.

»Ich kann heute nicht mehr nachdenken«, flüsterte sie, »ich bin wie zerschlagen. Gute Nacht.«

Sie suchte seine Hand, fand sie im Dunkeln nicht, tastete nach der Türklinke, öffnete. Sie hörte Peters Schritte verhallen, grüßte den Vater und ging in die Küche.

Sie brachte dem Vater das Abendessen und setzte 244 sich zu ihm. Draußen knatterte der Sturm. Der Vater sprach, sie gab Antworten, nach dem Essen saßen sie noch eine kleine Stunde und lasen. Elsa hatte nicht mehr das Bedürfnis, allein zu sein, der Vater störte sie nicht, er meldete sich jede Viertelstunde wie eine vertraute Pendeluhr, dann schwieg er wieder; um neun Uhr ging er schlafen.

Elsa ging in ihr kleines Hofzimmer und setzte sich auf einen schwarzen Holzkoffer, den ihr Bruder hier zurückgelassen hatte. Ihre Füße waren schwer, aber ihr Kopf war seltsam leicht, obwohl sie Kopfschmerzen aufsteigen spürte. Sie bewegte den Kopf wie ein Mensch, der sehr verwundert ist. Sie stand auf und ließ den Fenstervorhang niederfallen, dann lauschte sie, es schien zu regnen, ja, nun schlug es deutlich an die Scheiben.

Wenn er geartet wäre wie ich, hätte er mich einfach in die Arme genommen, statt etwas zu reden oder zu verschweigen, dachte sie. Aber er ist eben anders geartet – und das ist das Schöne an ihm.

Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß es so schön sein kann, an einen Mann zu denken.

Sie entkleidete sich langsam und liebkoste sitzend ihren Körper. Sie küßte zärtlich ihre Knie. Sie hörte ein weiches Klatschen im Hof, das den Regen übertönte. Erschauernd dachte sie: eine Ratte watet über den Hof. Sie zog rasch das Nachthemd an und sprang ins Bett. Sie lag eine Viertelstunde mit geschlossenen Augen. Dann wurde sie schläfrig und drehte das Licht ab.



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