Ludwig Winder
Die nachgeholten Freuden
Ludwig Winder

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Erster Teil

1

Am 2. Juli 1918 abends kamen die vier Telegramme aus Schloß Boran an. Die vier Aristokraten gerieten in Bewegung. Boran in Böhmen, dunkler, vergessener Klang! In dieser Stunde starben an der Piave und bei Asiago zwölfhundert Menschen. Dennoch nahmen die vier hohen Offiziere sofort kurzen Urlaub. Sie waren die Gutsnachbarn des Grafen Thun, sein Schicksal ging ihnen näher als Kaiser und Reich. Den jungen Kaiser kannten sie kaum, das Reich war nicht zu retten, niemand wußte es besser als sie. Auch Thun, dachten sie, wird nicht zu retten sein; aber der Hilferuf des Freundes hatte ihr Innerstes angerührt. Am Abend des 5. Juli erreichten sie böhmischen Boden.

In dieser Nacht schliefen der Graf und die Gräfin Thun nicht. Was kann ich machen, dachte der Graf. Was verstehe ich von Hypotheken, von Kühen, von Milchwirtschaft, wie hätte ich den Zusammenbruch verhindern sollen, ich halbblinder Mann. Ich kann ja nicht einmal mehr mühelos Noten lesen, vielleicht werde ich ganz erblinden, was dann? Es handelt sich nicht um mich. Mir genügt mein Klavier, mehr brauch' ich nicht. Aber Alice, wie soll sie leben, wenn sie nichts mehr zu verschwenden hat? Aber Allegra, mit ihren zwanzig Jahren, wird der junge Mensch sie nicht sitzenlassen, wenn er hört, daß die Braut nichts hat? Nein, 8 um Allegra ist mir nicht bange, die bringt sich durch. Aber Alice! Noch immer verlangt sie, daß man Königliche Hoheit zu ihr sagt. Immer, selbst in den besten Zeiten, war ich der arme Graf, zu dem sich die Königliche Hoheit herabgelassen hat. Immer, obwohl sie es nie gesagt hat, war es in ihren Augen: Mesalliance, Mesalliance, Mesalliance! Das war damals, als wir noch drei Schlösser hatten, wie wird es jetzt erst werden?

Die Gräfin stand in ihrem Schlafzimmer bei der offenen Balkontür und blickte in den Park. Nach Sonnenuntergang war sie seit einundzwanzig Jahren an jedem Sommerabend vor diese Tür auf den Balkon gegangen und hatte gewartet, bis die Abendglocken in der kleinen Stadt zu dröhnen begannen. Jetzt gab es kein Abendgeläute mehr, aus den Glocken hatte man Kanonen gemacht. Das ganze Schloß war unbeleuchtet, dunkel der Rasen, dunkel standen die Bäume. Die Gräfin hielt sich an der Tür fest, den ganzen Tag hatten ihr die Beine gezittert, sie konnte nicht mehr stehen, nicht mehr denken. Sie wußte nicht, daß sie immer noch dachte: Meine Kastanienalleen! Meine Wiesen! Meine Pferde! Dann fielen ihr wieder die Telegramme ein, sie hatte sie aufgesetzt, sie hatte auch die Briefe an die vier Freunde entworfen, alles sie, nicht einmal das hatte er getan. Vielleicht wirken die Telegramme.

Warten. Warten. Am Morgen war noch immer kein Antworttelegramm da. Um elf Uhr kam der junge Graf Königsegg, der Dragoneroberleutnant, den zerschossenen Arm in der Binde. Mittags, beim Dejeuner, blickten der Graf und die Gräfin unaufhörlich die Tür an. 9 Graf Königsegg fragte leise Allegra: »Was haben sie beide?« Die Gräfin stand unvermittelt auf, jetzt war ihr alles einerlei, sie wollte schlafen.

Um drei Uhr ertönten Hupen im Hof. Es hallte und heulte, als ob mehrere schlafende Hunde plötzlich angeschossen worden wären. Vier hohe Offiziere stiegen aus. Hermann Thun ging ihnen langsam, zögernd entgegen und geleitete sie in den Roten Saal.

Auch die Gräfin hatte die Signale gehört, sie stand schon in der Tür des Roten Saals. Immer noch schön, immer noch zu schön für ihn, dachte der Prinz Rohan und beugte sich zu der nervösen, sommersprossenübersäten Hand nieder. »Rohan . . . Kinsky . . . Colloredo . . . Waldstein . . .« sagte die Gräfin in ihrem feierlichen, überraschenden Tonfall, als die vier Herren eingetreten waren. Sie nennt unsre Namen, wie man bei einer spiritistischen Séance die Namen Toter nennt, dachte der schweigsame Graf Colloredo-Mansfeld. Prinz Rohan suchte ein Wort, das die Spannung lösen sollte, erblickte Allegra und den Dragoneroberleutnant und rief erfreut: »Da ist ja das Brautpaar!«

»Steh stramm, kleiner Oberleutnant«, lachte die Komtesse.

»Immer lustig, Allegra«, stellte der Prinz fest.

Das Wort »lustig« schien alle Anwesenden zu erschrecken. »Wir müssen noch heute nach Innsbruck zurück«, sagte Graf Waldstein hastig.

Um vier Uhr begann im Arbeitszimmer des Grafen Thun die Konferenz. Die jungen Leute hatte man verabschiedet. Die Gräfin nahm zwischen dem Prinzen und dem langen Grafen Kinsky, der als Musterökonom 10 und tüchtiger Finanzmann galt, Platz. Hermann Thun blieb an der Tür stehen.

Er stand schmächtig und unscheinbar im ungeheuren Durchzug der blendenden Sonnenstrahlen, das bärtige Kinn in das helle Grau des Rockes gepreßt. Die kurzsichtigen, beinahe blinden Augen versuchten nicht, die Umrisse der Freunde zu erkennen. Die braunbehaarten kleinen Pianistenhände griffen zweimal leidenschaftlich, dann noch einmal resigniert in die Luft. Die Finger blieben gekrümmt, wie im Krampf, an der Hosennaht liegen. Es sah aus, als hätte der Graf im Traum einen Akkord auf dem Klavier anschlagen wollen, aber die Tasten waren wie durch Zauberei plötzlich nicht mehr da.

»Ich habe das Opfer dieser Reise von euch verlangt«, begann er, »weil ich . . .« Er stockte; er legte die Hand auf den kurzen braunen Vollbart und lächelte plötzlich: »Jetzt erst fällt mir auf, daß ich der einzige Zivilist geblieben bin.«

»Sei froh«, sagte der Prinz mit einem um Nachsicht bittenden Blick auf die drei Offiziere.

»Ich bin kein kriegerischer Mann«, setzte Thun fort.

»Laß das jetzt gut sein«, unterbrach ihn Graf Kinsky, »wir haben, denk ich, wichtigere Sachen zu besprechen.«

Die Gräfin war aufgestanden. Ihre hohen Reiterinnenbeine zitterten kaum merklich, wie nach einem sehr anstrengenden Ritt. Das heiße, ungeduldige Gesicht der Blondine sah in diesem Augenblick häßlich aus. Die Sommersprossen traten unnatürlich groß 11 hervor, sie lagen wie hundert zorngerötete Pupillen auf der zartgewölbten Stirn und auf den allzu hastig gepuderten weißen Wangen. Sie trat neben den Grafen Thun und sagte: »Wir können den Kupka rufen, wenn du den Vortrag nicht selbst halten willst.«

»Danke, Alice. Bitte, nimm Platz, es wird schon gehen«, flüsterte Thun. Er begann:

»Also viel hab' ich ja nicht zu erzählen, die historische Entwicklung und die Endsummen hab' ich euch geschrieben. Es handelt sich darum, ob ihr erstens in der Lage seid, in diesem Augenblick überhaupt Transaktionen vorzunehmen, zweitens in welcher Form. Am liebsten wär' es mir, wenn einer von euch mir Boran ganz abnähme; dann wär' ich aus dem Schlimmsten heraus. Schönwalde darf ich nicht verkaufen, das wißt ihr, außerdem gehört uns kein Ziegel mehr in Schönwalde. Die andern Besitzungen sind längst verkauft. Bleibt also nur Boran: das Schloß mit dem Park, der Wald und die Felder, alles zusammen 9600 Hektar. Ihr kennt ja das alles vielleicht besser als ich. Ein Haus auf dem Marktplatz gehört auch noch zu dem Komplex.«

»Du willst also unbedingt verkaufen«, sagte der Prinz.

»Ich muß.«

Der Graf blickte, weitere Fragen erwartend, die Herren an. Die Gräfin starrte in die Luft.

Graf Kinsky stand auf, sagte: »Die Ziffern, die du mir geschrieben hast, können nicht stimmen, das ist ja ganz unmöglich«, setzte sich wieder, legte sein Notizbuch auf den Tisch, begann zu rechnen. Alle Blicke 12 hefteten sich auf dieses in Adelskreisen berühmte Notizbuch. Wenn der Kinsky sein Notizbüchel zieht, verdient er in drei Minuten eine Million, pflegte man im Jockeiclub zu sagen. Er rechnete nicht lange, klappte das Notizbuch zu, fragte: »Sag einmal, mein Lieber, hast du auch andre Schritte unternommen? Ich mein' . . . ähnlich wie früher einmal?«

Der Fuchs läßt sich nicht ein, dachten die drei Offiziere. Thun antwortete mit ungewohnter Hast:

»Weißt du . . . das ist so eine Sache. Der alte Kaiser hat uns dreimal rangiert. 1905,1909 und einmal knapp vor dem Krieg. Nach seinem Tod war eigentlich nichts mehr von der Seite zu erwarten. Früher war meine Frau die Verwandte, die Wittelsbacherin. Da hat man uns nicht fallenlassen. Jetzt – sind andre Verwandte da. Ich hab' zwar dieser Tage an den Kaiser geschrieben und gestern telegraphiert, aber Antwort ist noch keine da. Wird auch keine kommen.«

Kinsky zog noch einmal sein Notizbuch, sagte wie im Selbstgespräch: »Das sind ja unglaubliche Summen.« Er blickte auf: »Hast du eine Ahnung, Hermann, wie wir alle heut ausschaun? Wir gehn einer Katastrophe entgegen, alle miteinander. Die Katastrophe ist eigentlich schon da. Einer kommt früher dran, der andre später. Was dich betrifft, so hab' ich zwar einstweilen nur einen sehr unvollkommenen und – hoffentlich – nicht ganz richtigen Überblick . . .«

»Eben«, fiel die Gräfin ein und drückte auf einen Glockenknopf. »Ich lass' den Kupka kommen. Er soll detaillierten Vortrag halten, damit die Herren ein genaues Bild bekommen.« 13

Kupka, der Wirtschaftsdirektor, hatte offenbar in nächster Nähe auf dieses Zeichen gewartet. Schon stand er in der Tür, eine Mappe und drei grüngebundene Bücher von riesigem Format unter dem Arm. Sein Vortrag dauerte beinahe eine Stunde. Alle Herren hatten einen großen Bogen Papier und zwei gespitzte Bleistifte vor sich liegen. In der ersten halben Stunde machten alle vier Notizen, sogar der Prinz, der nur aus Höflichkeit zuhörte. Dann begann einer nach dem andern mit dem Bleistift zu spielen und das Papier zu vernachlässigen. Nur Kinsky, der sein aufgeschlagenes Notizbuch zwischen dem Mittelfinger und dem Zeigefinger der linken Hand hielt, schrieb alle Ziffern mit, stenographierte manches und verglich die von Kupka vorgetragenen Aufstellungen mit den Ziffern des Notizbuches.

Thun hatte sich gleich nach Kupkas Erscheinen einen Sessel zum Fenster geschoben. Dort saß er nun wie einer, den die Welt nichts mehr angeht. Die Nervosität war aus seinen Zügen gewichen, das faltenreiche Gesicht hing schlaff in den weichen Kragen. Die Augen waren halb geschlossen, als wollten sie sich dem grellen Sonnenlicht entziehen. Er sah wie ein Einschlafender aus, aber ein Zucken um seinen Mund verriet zuweilen eine fast beleidigende gleichmütige Ironie, die vielleicht den vier Herren, vielleicht den Bemühungen Kupkas galt. Die Gräfin war wie umgewandelt. Der vorlesende alte Mann verdoppelte seinen Eifer unter der Suggestion ihres Blicks und strich bedächtig-verlegen den weißen buschigen Schnurrbart. Je schärfer die Einzelheiten der Finanzkrise hervortraten, desto 14 lebhafter wurde die Gräfin. Sie wollte den Vortragenden gewaltsam antreiben. Bei einer komplizierten Stelle hieb sie mit dem rechten Fuß auf den Teppich ein, als triebe sie einem zu langsamen Pferd die Sporen in die Weichen. Bei manchen Stellen, die geeignet waren, auf die Zuhörer schlechten Eindruck zu machen, sagte sie atemlos, beinahe pfeifend »Weiter, weiter!«, als hätte sie Angst, Kupka könnte gerade jetzt das Taschentuch ziehen und eine gefährliche Pause eintreten lassen. Bei Berechnungen, die das Bild günstig zu verändern schienen, klopfte sie mit den Nägeln der linken Hand auf den Tisch und stieß hervor: »Wie? Wie ist das, Kupka? Noch einmal, bitte.« Diese Manöver waren so plump, so naiv, daß die Tendenz keinem der vier Herren entgehen konnte. Keiner erlaubte sich die verstohlenste Andeutung eines Lächelns. Der Prinz, der die Gräfin als Kind gekannt hatte – er war der erste Anbeter der sechzehnjährigen Prinzessin gewesen –, dachte erschüttert: Daß gerade sie das mitmachen muß! Und es wird ihr doch nichts nützen. Kinsky blickte die Gräfin einigemal irritiert an, sie störte ihn, er hatte absolute Ruhe zum Arbeiten nötig; endlich gelang es ihm, sich so vollkommen abzuschließen, daß er für die Erregung der nervösen Dame kein Auge und kein Ohr mehr hatte.

Kupka war eben im Begriff, seine Bücher zuzuklappen und den Vortrag mit einem kurzen Resümee zu schließen, als der siebzigjährige Kammerdiener Richard klopfte. Er brachte ein Telegramm. Die Gräfin riß es ihm aus der Hand, öffnete, las, rief ihren Mann. Er las zweimal, rief dem Wirtschaftsdirektor zu: »Moment, bitte, Kupka; einen Augenblick!« Dann leiser: 15 »Es wird die Herren interessieren. Eine Depesche vom Privatsekretariat des Kaisers: ›Vertrauenswürdige Persönlichkeit heute zu Ihnen gereist. Ankunft Boran sechs Uhr. Privatsekretariat Seiner Majestät‹.«

»Jetzt ist gleich Viertel sechs«, sagte der Prinz. »Übrigens: Privatsekretariat! Das hat's früher auch nicht gegeben. Wenn das Exzellenz Paar erlebt hätte!«

»Das ist gut, das ist sehr, sehr gut, daß der Kaiser eingreift«, sagte Kinsky, »die Sache ist nämlich so schwierig . . . Sind Sie fertig, Herr Ökonomierat?«

Kupka errötete, weil dieser Titel ihm nicht zukam. »So gut wie fertig, Exzellenz«, verbeugte er sich. »Nur noch zwei Sätze.«

Diese zwei Sätze, die sehr lang wurden, fanden keine Aufmerksamkeit mehr. Kinsky, der befürchtete, Kupka könne aus Verlegenheit kein Ende finden, unterbrach ihn: »Das wissen wir alles schon, lieber Herr Ökonomierat. Neues haben Sie wohl nicht mehr hinzuzufügen.«

»Gewiß, Exzellenz, ich bin fertig«, sagte Kupka und atmete tief auf.

»Also danke schön, Kupka; das Weitere machen wir schon allein«, sagte die Gräfin.

Kupka ging. Die vier Gäste blieben stumm. Thun wartete, sagte endlich: »Ich dank' euch, daß ihr so geduldig zugehört habt. Es war ja recht langweilig.«

»Es war leider sehr interessant, mein Lieber«, sagte Kinsky, »interessanter, als ich gewünscht hätte, denn genau so, wie's jetzt bei dir aussieht, wird es in kurzer Zeit bei mir und bei uns allen aussehn. Ist ja kein Wunder. Da sagen die Leute noch, der Großgrundbesitz 16 wird im Krieg reich. Jahrelang hat man keine Arbeiter, alles liegt darnieder, die Felder werfen nichts ab, das Vieh ist futsch, was halbwegs taugt, hat man requiriert, es ist einfach trostlos. Weiter. Jetzt haben wir vier Jahre Krieg. Dauert der Krieg noch lang, so sind wir eo ipso verloren, denn der Krieg frißt alles restlos auf. Ist der Krieg aber eines Tages zu Ende, so kommt das Chaos. Daß wir den Krieg gewinnen, ist ausgeschlossen. Bei uns gibt das jeder zu, vom Gottsöbersten angefangen. Nach einem verlorenen Krieg werden wir alle, wie wir da sitzen, einfach wegrasiert. Wegrasiert, sag' ich euch. Vielleicht wird man uns nicht aufhängen, das ist aber auch das einzige, was wir erhoffen dürfen. Alles andre kann man sich einfach nicht schwarz genug ausmalen. Gehören wird uns gar nichts mehr.«

»Sei so gut«, sagte Rohan.

»Ja, richtig, du bist ja Optimist«, sagte Kinsky, ohne eine Miene zu verziehen. »Es ist vielleicht gescheiter, ich lass' euch zuerst reden; dann kann ich mir vielleicht das, was ich zu sagen hab', ersparen. Wir wollen ja nicht über unsre Zukunft philosophieren, sondern beratschlagen, ob und wie Boran zu retten wär'. Habt ihr euch aufgeschrieben, um welche Summen es sich handelt?«

Die drei Offiziere bejahten. Graf Waldstein, der bis zu diesem Augenblick stummer Zuhörer gewesen war, ging, offensichtlich gegen Kinskys Ton demonstrierend, auf Thun zu, reichte ihm beide Hände und sagte mit großer Herzlichkeit: »Liebster, Bester, was wir tun können, soll unbedingt geschehn. Das eine steht von vornherein fest.« 17

Der Prinz beeilte sich, aufspringend ebenfalls zu erklären: »Da gibt's überhaupt nichts zu reden. Das versteht sich von selbst.«

»Schön«, sagte Kinsky, mit einem Blick auf Colloredo, der ruhig sitzen geblieben war. »Wir zwei möchten natürlich von Herzen gern dasselbe sagen. Aber wer kann heute, ich bitte: heute – das heißt: vielleicht kann einer von euch. Bitte, äußert euch.«

Schweigen. Der elegante Prinz blickte wie ein beschämter Schulknabe zu Boden. Die Gräfin schloß die Augen.

»Es scheint, daß sich kein Kriegsgewinnler unter uns befindet«, lächelte Kinsky.

Waldstein setzte sich und versuchte einen Anfang zu machen: »Es müßte doch irgendwie gehn. Freilich bin ich allein kaum in der Lage . . . Vier Millionen hab' ich Kriegsanleihe gezeichnet, die kann man nicht verkaufen, sonst wird man wie ein Hochverräter behandelt. Es gibt sogar eine eigene Kriegsanleihespionage. Der Rest liegt zwar gut aufgehoben in der Schweiz, aber es ist nicht sehr viel, es kommt bei der Summe, die wir jetzt gehört haben, kaum in Betracht.«

»Das ist es: die Kriegsanleihe, die Kriegsanleihe!« sagte der Prinz bedeutend lauter, als er sonst zu sprechen pflegte. »Die hat uns schön hineingelegt!«

»Also, bitte –: noch konkreter! Wer hat etwas Konkretes zu sagen, einen konkreten Vorschlag«, fragte Kinsky mit leiser, ironiegetönter Stimme.

Schweigen.

»Vielleicht weißt du selbst was Gescheites?« fragte Rohan, ein wenig indigniert. 18

»Das hängt davon ab«, erwiderte Kinsky. »Das hängt davon ab, ob Sie, Hoheit, und du, mein lieber Hermann, ernstlich verlangt, daß man euch Boran abnimmt. In diesem Fall nämlich wär' ich außerstande. Meine Herren, versucht's doch, heute ein großes Gut mit Wald oder auch nur einen Felderkomplex zu verkaufen! Wo jeder Käufer genau weiß, daß ihm vielleicht schon in einem Monat das Ganze einfach weggenommen werden kann, wenn der Krieg aus ist. Man kauft doch nicht so eine Riesensache, um sie nach ein paar Wochen zu verschenken. Also mit dem Kaufen, das ist einmal nichts. Etwas anderes wär' es, wenn wir zusammen den Versuch machen wollten, die dringendsten Gläubiger zu befriedigen. Bevor wir uns diesbezüglich entschließen, wäre abzuwarten, was die Persönlichkeit bringt, die der Kaiser schickt.«

»Wie gesagt: ich steck' zu tief mit der Kriegsanleihe drin, sonst brauchte ich keine Minute zu überlegen«, fiel Waldstein rasch ein.

»Meine Herren«, ertönte plötzlich die tiefe Stimme der Gräfin, »wir danken verbindlichst, wir sind sehr verbunden. Sprechen wir nicht mehr von dieser Angelegenheit. Ein Kauf kommt für die Herren nicht in Betracht, das scheint klar zu sein. An einer Gläubigerumgruppierung ist uns nichts gelegen. Neue Verbindlichkeiten, neue Wechsel, neue Schuldscheine, um die alten einzulösen . . . das hat keinen Sinn. Wir haben genug davon. Betrachten wir also die Sache als erledigt.«

Die vier Herren waren konsterniert. Kinsky bemühte sich, der Gräfin auseinanderzusetzen, es handle sich um eine einfache Transaktion im Rahmen des 19 Üblichen, der Prinz verlangte, Thun möge die Gräfin beruhigen, umstimmen, zur Vernunft bringen. Sie verbat sich jede Fortsetzung der Unterhaltung, ließ in einem anderen Zimmer Tee servieren, beschäftigte absichtlich mehrere Diener in dem Zimmer, so daß man nichts besprechen konnte. Sie riß die Konversation an sich und plauderte, scheinbar in strahlender Laune, von Kindererziehung, Tänzerinnen, Modebüchern, Generalstabsberichten, Skandalaffären.

Endlich gelang es Thun, einen Augenblick mit ihr allein zu sein.

»Warum alle Brücken abbrechen?« flüsterte er.

»Weil sie um ihr Geld zittern.«

»Auf den Kaiser möchte ich mich nicht verlassen.«

»Auf keinen Menschen, Hermann.«

»Was aber dann?«

»Gar nichts.«

Sie kehrten zu den Gästen zurück. Die vier Herren rieten hin und her, wer es wohl sein werde, dessen Kommen das kaiserliche Privatsekretariat angekündigt hatte. Zweifellos einer der Ihrigen, obwohl der Kaiser seit einiger Zeit auch bürgerliche Offiziere mit den delikatesten Missionen betraute. Colloredo meinte, es sei ein Wunder, daß der Kaiser, der die alten Namen nicht liebe, auf einen Brief reagiert habe. »Warten wir's ab«, sagte Kinsky bedächtig. Waldstein zog den Prinzen und Kinsky in eine Ecke und schlug sofortige Abreise vor. »Wir unternehmen diese Reise nach Böhmen, ohne die gräßlichen Unannehmlichkeiten zu scheuen, und dann wird man behandelt wie ein lästiger Geschäftsmann«, sagte er. Kinsky mahnte zur Geduld; es 20 handle sich nicht um die Empfindlichkeiten der Gräfin, sondern um Thun, um den guten braven Kerl. Eine Stunde müsse man warten.

Es schlug sechs, niemand kam. Die Gräfin zerrte an ihren Fingern, als ob sie zu enge Handschuhe abstreifen wollte. Um halb sieben lief sie aus dem Zimmer und beobachtete verstohlen an einem Fenster die Allee, die das Schloß mit dem Marktplatz verband. Um halb acht sagte der Prinz zu Thun: »Wollen wir also noch einmal die ganze Sache vernünftig besprechen? Ist ja ein Unsinn, auf diese mysteriöse Persönlichkeit zu warten, die nicht kommen wird.« – »Sie erlaubt es nicht«, sagte Thun mit einem beinahe pfiffigen Blick auf die Gräfin. Der Prinz blickte den Mann verständnislos an. Merkwürdiger Mensch! Er schien gar nicht zu begreifen, um was es ging. Er schien den Starrsinn seiner Frau nicht nur zu billigen, sondern für äußerst vernünftig zu halten.

Einige Minuten später verließen die Offiziere in ihren Automobilen das Schloß und die Stadt.

 


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