Ludwig Winder
Die nachgeholten Freuden
Ludwig Winder

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9

Elsa hatte die Selbstbeherrschung verloren, sie konnte nicht schlafen, nicht essen, stundenlang lief sie, die Hände an die Ohren gepreßt, im Zimmer umher. Der Vater machte sie wahnsinnig, er ahnte nicht, daß sie seine Stimme nicht mehr ertragen konnte. Er meinte es gut, er wollte das Beste. Hundertmal hatte Elsa ihn um Schonung gebeten, hundertmal begann er aufs neue: »Der Lehrer Hirsch oder der Lehrer Kohn.« Es war eine fixe Idee. Zwei Jahre lang hatte er geschwiegen, eines Abends war die fixe Idee wieder aufgetaucht. Solange sie gehungert hatten, war es ihm unmöglich gewesen, an die Zukunft zu denken; jetzt, mit vollem Magen, eine gute Zigarre im Mund, hatte er den Mut, alte Pläne wieder aufzunehmen, vor allem den Lieblingsplan, Elsa zu verheiraten. Den Lehrer Hirsch oder den Lehrer Kohn konnte sie jederzeit heiraten, beide hatten erklärt, auf Elsa warten zu wollen, beide waren anständige, solide Männer, beide fragten von Zeit zu Zeit beim Vater an, ob Elsa noch immer nein sage. Beide waren von ihr schwer gekränkt worden, sie begriffen nicht, daß Elsa Ekel vor ihnen empfand. Der Vater dachte: Nur Geduld, sie wird es schon billiger geben. »Meine Kinder wollen hoch hinaus.« Er war fest 103 entschlossen, Elsas Weigerung nicht ernst zu nehmen. Ein Lehrer, erklärte er ihr täglich, könne freilich nicht große Sprünge machen, aber die Chancen des Berufs seien unerwartet günstig geworden, die letzte Gehaltsregulierung bedeute einen unerhofft großen Erfolg. Nicht für die alten Lehrer, an denen sich der Staat zweifellos versündigt habe, wohl aber für die junge Generation, die nach einigen Dienstjahren geradezu nobel bezahlt werde. Lehrer Hirsch und Lehrer Kohn – beide seien jung, für eine Lehrerstochter ohne Mitgift gebe es da überhaupt nichts zu überlegen. Beim Frühstück begann er schon: »Lehrer Hirsch« oder »Lehrer Kohn«, den ganzen Tag mußte sie die beiden Namen hören, noch nach dem Gutenachtgruß öffnete der Vater schlaftrunken die Tür und murmelte: »Lehrer Hirsch . . .«

Ich muß wissen, was ich will, sagte sie sich; klar war ihr nur, was sie nicht wollte. Alles, was an Ghetto erinnerte, war ihr verhaßt. Die kleinen niedrigen Häuser in der Judengasse, die sich noch immer duckten wie vor fünfhundert Jahren; die Verwandten und Nachbarn, die sich hier wohl fühlten; die linkischen Freier, die nicht ahnten, daß sie Elsa nur Abstoßendes zu bieten hatten; das Leben einer jüdischen Lehrersfrau, die, gläubig oder widerwillig, jeden Samstag auf der Galerie im Tempel sitzen muß. Sie wußte sehr genau, was sie nicht wollte; sie ahnte sehr unklar, was sie wollte. Geld, ja; aber mit Geld allein wäre nicht viel erreicht. Einen Mann – vielleicht; aber keiner hatte ihr bis jetzt so gefallen, daß sie gewünscht hätte, seine Frau zu werden. Geld und Männer, was gibt es noch? Beim 104 Durchblättern illustrierter Zeitschriften in der Gemeindebibliothek stiegen manche Wünsche auf, keinem hing sie länger als eine Stunde nach, nach reiflicher Überlegung fiel ihr das ernüchternde Wort ein: »Romantik«. Sie haßte Romantik. Unter Romantik verstand sie Gemütsbewegungen und Glücksvorstellungen, die abseits vom Weg zum Endziel lagen. Das Endziel aber lag leider sehr romantisch im Nebel. Es hieß: Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Freiheit. Geld allein war nicht das Endziel, nur die Vorbedingung, die Voraussetzung. Geld macht frei, Geld macht unfrei; nur wer Geld hat, kann die hemmenden Nebensächlichkeiten ausschalten und zu sich selbst gelangen. Das war Elsas Überzeugung.

Ihre Gedanken umkreisten den unbegreiflichen Mann Dupic. Der Vater hat alles verdorben, damit muß man sich abfinden, sagte sie sich, nach dem Bittgang des Vaters redete sie sich ein, sie wäre ohnehin nicht zu Dupic gegangen, jede andere eher als sie. Aber als der Vater gutmütig und ahnungslos immer peinigender für den Lehrer Hirsch, für den Lehrer Kohn Stimmung zu machen versuchte und nicht zu bewegen war, ihr wenigstens eine kleine Schonzeit zu bewilligen, entschloß sie sich, allen Bedenken zum Trotz zu Dupic zu gehen, mochte was immer daraus entstehen. Es entsprach ihrer Art, jeden Schritt genau zu überlegen, gefühlsmäßig zu tun, was die Vernunft befahl. Jetzt schaltete Elsa vorsätzlich die Vernunft aus, ihr Gefühl sagte ihr, in diesem Augenblick sei es das einzig Vernünftige, unvernünftig zu sein. Sie wußte nicht, was sie sagen werde. Sie blickte instinktiv 105 ungewöhnlich lang in den Spiegel und dachte verwundert: Das bin ich. Der alte Mann wird mir nichts antun können, Angst brauche ich nicht zu haben. Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, werde ich die Situation beherrschen.

Sie verschmähte es, sich wie die andern unter dem Schutz der Dunkelheit zu Dupic zu stehlen, sie ging um drei Uhr nachmittags in sein Haus. Da niemand auf ihr Klopfen antwortete, trat sie ein. Dupic saß am Telephon, sie hörte ihn in den Apparat sprechen: »Poldi wird steigen, nur kaufen, es wird ganz toll werden!« Elsa hielt den Atem an, Dupic wendete den Kopf, erblickte Elsa und rief ins Telephon: »Also es bleibt dabei. Schluß!«

Ein düsteres und dennoch grelles Grün legte sich vor Elsas Augen, sie wußte nicht, daß es die grünen Vorhänge waren, die sie irritierten. Plötzlich saß sie neben Dupic an einem großen Tisch und las immer wieder das Kalenderblatt: Montag, 14. Oktober. Sie empfand: Der 14. Oktober ist der Wendepunkt in meinem Leben. Sie blickte Dupic nicht an, sie fürchtete, sein Blick könnte sie zaghaft, furchtsam machen, sie sammelte sich, indem sie die große Vierzehn auf dem Kalenderblatt anstarrte, sie dachte: Poldi, das sind wahrscheinlich Aktien, Poldi kauft er also, das ist vielleicht wichtig.

Hätte sie den Mann angeblickt, so wäre ihr nicht entgangen, daß sie in einem günstigen Augenblick gekommen war. Dupic sah freudig erregt, fast übermütig aus. Vor fünf Minuten hatte man ihm telephonisch mitgeteilt, der tschechische Abgeordnete Stribrny kündige namens des sich bereits bildenden tschechischen Staates die Aufteilung des Großgrundbesitzes an. Es kam, 106 wie Dupic es vorausgesehen hatte, der neue Staat existierte noch nicht, aber die Aufteilung des Großgrundbesitzes kündigte man bereits an, es war ein natürlicher Vorgang, man rächte sich am alten Adel, man wollte nicht mehr die kleinen Königreiche dulden, die der alte Adel innerhalb des Staates errichtet hatte. Wieviel wird man den Großgrundbesitzern beschlagnahmen? Dupic dachte nach, grinste, das Königreich Schwarzenberg wird dran glauben müssen, das Königreich Fürstenberg, der Raudnitzer Lobkowitz, alle, alle. Auch ich hätte dran glauben müssen, wenn ich die ganzen 9600 Hektar als Königreich Boran auf meinen Namen hätte schreiben lassen. So aber gehören mir nur hundert Hektar, sage und schreibe hundert Hektar, und meinen neunzehn Leuten gehören je fünfhundert Hektar, geehrte Herren, ihr seid gescheit, aber so gescheit wie ihr war ich längst, von fünfhundert Hektar könnt ihr mir vielleicht hundert Hektar nehmen, im schlimmsten Fall hundertfünfzig, mehr aber keinesfalls, damit habe ich gerechnet, damit bin ich einverstanden, bitte sehr, mit größtem Vergnügen.

»Welcher Glanz in dieser Hütte!« rief er strahlend. »Das hätte ich nie zu hoffen gewagt. Ihr Herr Papa hat mir angst vor Ihnen gemacht. Sie sind so stolz, sagt er. Sie kommen trotzdem zu mir, das ist schön, das ist aber andrerseits auch nicht schön, denn zu einem jungen Mann kämen Sie nicht. Sehn Sie, in einem gewissen Alter kann man sich über nichts mehr restlos freuen.« Er lachte, sie lächelte, sie dachte: In Wirklichkeit ist alles noch viel schwerer, als man sich's vorstellt. »Mein Vater hat mir erzählt, daß Sie so schön eingerichtet 107 sind«, sagte sie und wurde rot, das Zimmer war nahezu kahl, in der Mitte stand der Tisch, in einer Ecke die eiserne Kasse, sonst gab es nichts zu sehen als die grünen Vorhänge. Daß ich gerade das Dümmste sagen muß, dachte sie, an dem Grad meiner Verlegenheit wird er erkennen, wie sehr er mir überlegen ist. Er schien sich aber nicht an ihrer Verlegenheit zu weiden, sondern sagte: »Bitte sehr, ich will Ihnen meine Wohnung zeigen.« Sie stand auf, er ging zu der Tür, die ins zweite Zimmer führte, er lächelte: »Ihr Vater hat, wenn ich mich recht erinnere, nur mein Arbeitszimmer gesehn; hier beginnt meine eigentliche Wohnung.«

Eröffnete die Tür. Überrascht blieb Elsa stehen: sie erblickte ein großes Zimmer, das wie eine Bildergalerie wirkte, an jeder Wand hingen je zwei große Bilder, in der Mitte stand ein vergoldeter Tisch mit leuchtender Onyxplatte, vor jedem Bild ein vergoldeter Sessel. Elsa hatte nie Gelegenheit gehabt, wertvolle Bilder zu sehen, aber instinktiv erriet sie, daß sie außerordentlichen Kunstwerken gegenüberstand. »Diese zwei sind von Rubens«, erläuterte Dupic, »die andern sind Schule Rubens, auch ziemlich erstklassig, wie man mir sagt. Ich versteh' ja nichts davon. Aber schön sind sie schon, das seh' sogar ich.« Elsa setzte sich eher erstaunt als bewundernd. Dupic legte die bläuliche Hand auf einen Goldrahmen und lachte: »Über dieses Bild hab' ich unlängst etwas in einer Zeitung gelesen. Eine großartige Beschreibung von einem Fachmann unter dem Titel ›Ein verschwundener Rubens‹. Aufenthalt unbekannt, schreibt der gute Mann. Das glaub' ich, daß der Aufenthalt unbekannt ist.« Er lachte, öffnete die nächste Tür und lud ein: »Bitte weiter.« 108

Elsa saß noch immer; hübsche paar Millionen müssen diese Bilder gekostet haben, dachte sie, er wird sie aber billig erworben haben, der alte Gauner, wahrscheinlich hat er irgendeinen ruinierten Fürsten samt den Bildern aufgekauft wie den Grafen Thun. Poldi, wie war das, was hat er ins Telephon gesprochen? »Poldi wird steigen, nur kaufen, es wird ganz toll werden!« Das muß ich mir merken. Poldi, Poldi, Poldi. Warum lernt man in der Schule nicht, was Poldi ist? Daß das Haus Tudor im Jahre 1485 in England zur Regierung gelangt ist, weiß ich noch heute, das hat man mir so gründlich eingetrichtert, daß ich es lebenslänglich wissen werde. Was geht mich das Haus Tudor an? Was Poldi ist, hätte man mir erklären sollen, das wäre wichtiger gewesen. Eigentlich gemein: zum erstenmal seh' ich diese wunderbaren Bilder und denk' an Poldi, ich bin kein feiner Mensch. Sie zwang sich, ihre ganze Aufmerksamkeit den Bildern zu widmen, die Anstrengung war erfolglos, die Bilder sagten ihr nicht viel, die Farben sind schön, dachte sie, die dicken Weiber sehen prächtig aus, aber war es unbedingt notwendig, diese dicken Weiber zu verewigen? Heutzutage würde übrigens kein Maler so dicke Weiber malen. Warum bin ich nicht hingerissen, es sind doch Bilder von Rubens! Jetzt erst fiel ihr auf, daß die abscheulich ornamentierten grasgrünen Wände den Eindruck verdarben. »Sie hätten diese gräßlichen Mauern abkratzen und entsprechend malen oder tapezieren lassen sollen«, sagte sie, »dieses geschmacklose Muster paßt nicht zu den Bildern.« – »Das ist richtig«, sagte Dupic, »aber für wen soll ich die Wohnung malen lassen? Ich empfange 109 meine Besucher im ersten Zimmer, die übrige Wohnung zeig' ich keinem Menschen, die Leute, die hier zu mir kommen, interessieren sich nur für meine eiserne Kasse, die steht im ersten Zimmer.«

Elsa stand hastig auf, folgte ihm ins nächste Zimmer.

Es war ein mit Biedermeiermöbeln vollgepfropfter Raum, offenbar ein Speisezimmer, das aber unbewohnt und verwahrlost aussah. Die Türen der nächsten Zimmer standen offen, Dupic und Elsa gingen rasch durch. Er muß einmal eine komplette Biedermeiereinrichtung im Ramsch gekauft haben, dachte sie und sagte höflich: »Sehr hübsch, sehr nett.«

»Jetzt zeig' ich Ihnen meine eigentliche Wohnung«, sagte er und führte Elsa in zwei Bauernstuben von fast exotisch anmutender Echtheit. »Hier wohne ich, in diesen beiden Stuben« – er öffnete die letzte Tür – »und hier ist die Küche, sie hat einen eigenen Eingang von der Schloßallee.«

»So etwas hab' ich noch nie gesehn«, staunte Elsa.

»Das gibt's auch nirgends hier«, erklärte er, »das ist nämlich die ehemalige Wohnung meiner Eltern, die schlepp' ich immer mit, wenn ich übersiedle, in der Beziehung bin ich konservativ. In diesem Bett hat mein Vater geschlafen. In diesem Bett hat meine Mutter geschlafen mit ihren Liebhabern. Man soll nichts vergessen. Man soll nicht trachten, seine Jugend zu vergessen, das kann man nämlich ohnehin nicht. Man soll sich's gemütlich machen auf dem Grab seiner Jugend, dann geht's einem gut. In keinem Bett kann ich so gut schlafen wie in dem Bett meiner Mutter.«

»Nein, diese Küche«, staunte Elsa, »das ist ja wie aus 110 dem Mittelalter, jeder einzelne Gegenstand ist ein Museumsstück, was ist das hier zum Beispiel?« Sie wies auf ein längliches hölzernes, außen buntbemaltes Gefäß.

»Das hat zum Buttern gedient«, lachte er, »da wurde die Milch hineingegossen. An dieses Stück knüpft sich übrigens eine hübsche Erinnerung. Stellen Sie sich vor, ich komme einmal nach Hause, ich war vielleicht zwölf Jahre alt, da liegt ein Kerl im Bett meiner Mutter, und in der Küche finde ich die Mutter ohne Kleider, wie sie Gott geschaffen hat, am Herd hantierend, sie wollte dem Kerl offenbar ein Essen kochen. Sie sieht mich kommen, verliert den Verstand und springt einfach in dieses Gefäß hinein, in die Milch. Sie können sich denken, wie ich gelacht habe. Ja, so lustige Kindheitserinnerungen hat nicht jeder.«

»Warum erzählen Sie mir das«, sagte Elsa ärgerlich. – »Als Zeichen meines Vertrauens«, lächelte er, »sonst pflege ich nicht so mitteilsam zu sein. Ich weiß nicht warum, aber zu Ihnen habe ich unbegrenztes Vertrauen.«

Es wird immer schwieriger, dachte Elsa; wenn er solche Töne anschlägt, kann ich ihn unmöglich um etwas bitten. Und ich weiß noch immer nicht, was ich eigentlich verlangen soll.

»Wissen Sie, was das ist, dieses Mitschleppen von derartigem Erinnerungskram?« sagte sie. »Eine ganz böse Art von Sentimentalität ist das, ich hätte Ihnen so etwas nicht zugetraut.«

»Gibt es auch gutartige Sentimentalität?« lachte er.

Sie begann sich zu fürchten, die Küche und die 111 beiden Bauernstuben hatten etwas Unheimliches, fast Gespenstisches. Nur schnell zurück ins Arbeitszimmer! Wie beruhigend war nun die Nüchternheit dieses fast kahlen Raums; nur die grünen Vorhänge irritierten sie wieder, jetzt wußte sie es aber und sagte: »Was verstecken Sie hinter diesen Vorhängen?« – »Nichts Interessantes«, erwiderte er und hob die Vorhänge; »ein Bett. Wenn ich während der Arbeit müde werde, pflege ich hier auszuruhn.« – »Oder wenn es Ihnen in der Nacht in Ihrer Bauernstube ungemütlich wird«, sagte sie. Er grinste. Ich muß Poldi kaufen, dachte sie, dieses Telephongespräch war ein Wink des Schicksals. Jetzt oder nie.

Sie setzten sich, sie schwiegen. Dupic wußte, sie wolle jetzt ihr Anliegen vorbringen. Seine kleinen grauen Augen blickten Elsa kühl, selbstbewußt, gelassen an. Er schien nicht gesonnen, das Gespräch zu beginnen. Sie senkte den Blick, er lächelte ein wenig boshaft. Du mußt anfangen, ich werde dir die Aufgabe nicht erleichtern, schien dieses Lächeln zu sagen.

Sie warf den Kopf zurück und sagte: »Ich will von Ihnen Geld.«

Er ging zur eisernen Kasse. Er hatte ihr so rasch den Rücken gewendet, daß sie nicht wußte, wie ihr Anliegen aufgenommen worden war. Er fragte: »Wieviel soll es denn sein?«

Seine Stimme verriet nicht, ob er spöttisch oder wohlwollend fragte. Sie blickte seinen langen, vorgebeugten Rücken an und sagte, scheinbar ruhig:

»Dreißigtausend Kronen.«

Er drehte sich langsam um: »Wieviel?« 112

»Dreißigtausend Kronen.«

Die Entschlossenheit ihrer dunklen Augen machte ihr junges schmales Gesicht kindlicher. Neugierig-amüsiert fragte er: »Wozu brauchen Sie so viel Geld?«

»Darüber dürfte ich nicht befragt werden. Das wäre die erste Bedingung.«

Er lächelte: »Und welche Bedingungen stellen Sie noch?«

Nun lächelte auch sie, schüttelte den Kopf und wies mit einer eckigen Armbewegung, die dem schmalen Mädchenkörper unerwartete Grazie gab, nach der eisernen Kasse.

Er setzte sich, beugte sich vor: »Ihr Papa war bescheidener. Er hat sich nur tausend geben lassen.«

»Wenn Sie so anfangen, will ich lieber gleich gehn«, sagte sie und rührte sich nicht.

»Ich erwähne das nur, weil Sie wahrscheinlich nicht wissen, wieviel das ist: dreißigtausend Kronen.«

»Das weiß ich sehr gut, Herr Dupic.«

Er schien nachzudenken, stand auf, schloß die eiserne Kasse, setzte sich neben Elsa: »Welche Sicherheit können Sie mir bieten?«

Sie lachte auf: »Ich? Das wissen Sie doch genau, daß von Sicherheit keine Rede sein kann. Ich will Ihnen das Geld von heute in einem Jahr zurückzahlen. Ich will gern hohe Zinsen zahlen, bestimmen Sie, bitte, wieviel Prozent.«

Er fuhr auf, besann sich aber rasch und sagte leise, sehr höflich: »Sie scheinen nicht zu wissen, daß ich keine Zinsen nehme. Ich gebe Geld her – aus Liebhaberei, aus Langeweile, ich weiß selbst nicht warum. Es ist für 113 mich – ein Spaß. Ein Amüsement. Aber dreißigtausend Kronen . . .«

»Was sind dreißigtausend Kronen, wenn man so viel Geld hat wie Sie«, sagte sie und lehnte sich zufrieden zurück, wie jemand, der ein unwiderlegliches Argument vorgebracht hat.

Er musterte die Gestalt. Er kniff die Augen zu und sagte: »Sie haben recht.«

»Das ist nett, daß Sie mir das Geld geben«, lächelte sie.

»Auf ein Jahr«, sagte er trocken. »Bis zum 15. Oktober 1919. Wenn Sie mir an diesem Tag das Geld nicht zurückgeben können, werden Sie sich als von mir gekauft zu betrachten haben. Eigentlich hatte ich nicht mehr die Absicht, mir eine Geliebte zu nehmen; aber da sich eine so schöne Gelegenheit bietet . . . Sie sind ein zu hübsches Mädchen.«

Sie hatte die Augen geschlossen, ihr Gesicht war weiß geworden und regungslos wie das Gesicht einer Toten. Was ist das? Spricht er mit mir? dachte sie. Natürlich, mit wem denn, es ist ja sonst niemand anwesend, natürlich spricht er mit mir, es ist ja ganz selbstverständlich, daß er mir so antwortet, ich hab's ja gewußt, daß er beiläufig so antworten wird, ich verlange dreißigtausend Kronen von ihm und besitze keinen Heller, womit soll er sich bezahlt machen? Es ist sogar anständig von ihm, daß er nicht sofort . . ., daß ich erst nach einem Jahr und nur, falls ich das Geld nicht zurückgeben kann . . . Ist das aber komisch! Warum bin ich so überrascht? Ich war feig, ich wollte nicht nachdenken, nicht wissen, wie dieser Besuch ausfallen muß, 114 deshalb hab' ich nichts erwogen, keinen Gedanken aufkommen lassen, das heißt, gedacht hab' ich mir schon, was er sagen könnte, aber ich war von vornherein entschlossen, mich bis zur letzten Minute vor diesem Gedanken zu verstecken. Es war beiläufig so, wie wenn man heimlich den Verdacht hat, daß man Brustkrebs hat, Tante Mali hat mir das genau geschildert, noch im Wartezimmer beim Doktor hat sie sich eingeredet, daß es nichts ist, nichts sein kann, noch im letzten Moment hat sie sich gezwungen, an nichts Schlimmes zu denken, ich bin ein Hypochonder, hat sie sich gedacht, wozu bin ich eigentlich zum Arzt gegangen, ich hätte so viel zu tun, die Feiertage sind vor der Tür, und ich hab' gar nichts vorbereitet, ich muß trachten, heute noch eine Gans aufzutreiben, sonst haben wir an den Feiertagen nichts Ordentliches zu essen, das hat sie gedacht, eine Minute später hat der Doktor gesagt, die kranke Brust muß herausgeschnitten werden. Da ist sie beinahe in Ohnmacht gefallen, obwohl sie es doch vorher gewußt hatte, ausdrücklich hat sie mir gesagt: Ich war felsenfest überzeugt, daß es Brustkrebs sein wird. Genau so hab' ich es jetzt gemacht. Ich hab' ganz genau gewußt, was er verlangen wird, ich hab' mir auch schon alle Möglichkeiten ausgemalt, die mir im schlimmsten Fall offenstehn, falls ich das Geld nicht zurückzahlen kann, ich könnte durchbrennen oder ich könnte ihn in der Notwehr erwürgen und dann sagen, er hat mich vergewaltigen wollen. Komisch! Jetzt weiß ich, daß ich alle diese Gedanken im Kopf herumgewälzt hab', Gott weiß wie lange schon, vielleicht schon damals im Park, nach der ersten Begegnung. 115

Ein kleines damenhaftes Gelächter zerriß die Stille. Elsa blickte ruhig und freundlich auf und sagte: »Einverstanden. Kann ich das Geld gleich haben?«

Dupic schien überrascht. Seine kleinen grauen Augen wurden starr und streng, sie wurden größer, es war merkwürdig, wie groß diese Augen in einer Sekunde geworden waren. Er reißt sich nicht um mich, er wollte nur auskneifen, dreißigtausend Kronen sind offenbar ein zu hoher Preis für eine Jungfrau, dachte Elsa und verzog spöttisch den Mund.

»Haben Sie sich alles gut überlegt?« fragte Dupic streng.

»Gewiß«, erwiderte sie gelassen.

Er starrte sie an, warf sich mit einem Ruck auf die andere Seite des Sessels und grinste: »Meine Brust ist über und über mit langen grauen Haaren bewachsen. Ich sehe aus wie ein Affe.«

Ungeduldig stand sie auf: »Haben Sie das Geld bei der Hand?«

Er sperrte den Schreibtisch auf, dann schrieb er. Elsa unterschrieb, was er ihr vorlegte, er betrachtete die energische Unterschrift und verwahrte das Papier. Dann gab er ihr einen Scheck auf dreißigtausend Kronen.

»Bei der hiesigen Filiale der Unionbank bekommen Sie das Geld ausgezahlt«, sagte er.

Sie legte den Scheck zusammengefaltet in ihr Täschchen, reichte Dupic flüchtig die Hand und ging.

Am Eingang des Bankgebäudes studierte sie den ausgehängten Kurszettel. Endlich fand sie: Poldihütte. Der Kurs sagte ihr nichts, aber das eine stand 116 wenigstens fest, daß sie Poldi kaufen konnte, ohne einen Menschen in ihre Pläne einweihen zu müssen.

Sie wies in der Bank den Scheck vor und erklärte, Poldi kaufen zu wollen. Die Aktien ließ sie im Depot. Ein Restbetrag von kaum neunhundert Kronen blieb übrig.

Dem Vater erzählte sie nichts. Sie ging schon um neun Uhr schlafen, obwohl sie wußte, daß sie keinen Schlaf finden werde. Sie dachte nicht an das Gespräch mit Dupic. Morgen nach dem Mittagessen werde ich sehn, wie Poldi steht, dachte sie. Noch vierzehn Stunden. Noch dreizehn Stunden. Noch zwölf Stunden.

Um Mitternacht schlief sie ein.

Der Vormittag wollte kein Ende nehmen. Nach dem Mittagessen ging sie zur Bank und fragte, da vor dem Eingang noch immer der alte Kurszettel hing, nach den heutigen Wiener Kursen. Soeben war der Bericht aus Wien telephoniert worden. Poldi stand etwas niedriger als gestern.

Sie wollte es nicht glauben. Am Abend kam die erste Zeitung mit den Wiener Kursen. Es ist eine ganz kleine Differenz, tröstete sich Elsa. Ich darf nicht die Nerven verlieren.

Am nächsten Tag fiel das Papier wieder. Es fiel Tag für Tag. Elsa schlief wenig, sie träumte, kaum eingeschlafen, von Dupic. Sie hatte immer denselben Traum, sie erwachte mit ekelverzerrtem Gesicht, sie hatte etwas Würgendes im Mund und erinnerte sich, Dupic hatte im Traum ihren Mund an seine Brust gedrückt. Sie wagte nicht mehr, in der Bank zu fragen, am Abend kaufte sie die Zeitung und wußte, bevor sie den 117 Kurs gesehen hatte: wieder gefallen. Am fünften Tag zeigte sich Dupic in der Judengasse, Elsa stand am Fenster, blickte ihm nach, sie dachte nicht an ihre Träume, sie hatte sofort wieder die Sicherheit, Poldi werde steigen. Vielleicht nicht morgen, aber bestimmt in einer Woche oder in einem Monat. Von diesem Augenblick an war sie ruhig.

Am 19. Oktober stand Wilsons Antwort auf Österreichs Bitte um Frieden in der Zeitung. Wilson legte das Schicksal der Monarchie in die Hände der Tschechen und Südslawen. Die Wiener Börse war wie gelähmt. Am 25. Oktober gingen plötzlich einige böhmische Industriepapiere in die Höhe. »Hausse in Poldi«, meldete die Zeitung. Der alte Gauner, dachte Elsa, alles hat er gewußt.

An diesem Tag wurden die Verluste der letzten Tage nahezu wettgemacht.

Am 28. Oktober wurde in Prag die Gründung der Tschechoslowakischen Republik ausgerufen. Elsa kümmerte sich nicht um den Tumult, sie erwartete die Börsenberichte. Noch immer besserten sich die Kurse, aber es ging langsam vorwärts. Am 31. Oktober waren die Aktien 32 000 Kronen wert. Elsa brauchte den zehnfachen, den zwanzigfachen Betrag zur Verwirklichung ihrer Pläne, sie wollte selbständig, unabhängig sein, ein solides Geschäft beginnen, eine kleine Fabrik besitzen. In der Aufregung der Umsturztage geriet die Börse wieder ins Stocken, Poldi begann wieder langsam zu fallen, die Bank sagte, der gewiegteste Spekulant könne in diesen unruhigen Zeiten nicht wissen, ob er morgen Millionen gewinnen oder verlieren werde. 118

Der Vater sprach noch immer von Lehrer Hirsch und Lehrer Kohn. Wie grauenhaft das alles ist, dachte Elsa, am meisten graut mir vor mir selbst, der Gedanke an die Spekulation haftet mir an wie Krätze. Von allen Seiten bin ich umstellt.

 


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